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Über das Buch

 

Hate Speech hat eine lange Tradition im Internet. Anfangs waren vor allem Einzelnedavon betroffen, schlimm genug. Doch längst wissen wir um das destruktive Potenzial dieser Pöbeleien für die Gesellschaft. Wutbürger, Extremisten, Trolle, Fremdenfeinde und Frauenhasser dominieren die Zommentarspalten in den sozialen Netzwerken. Die von Hannes Ley gegründete Facebook-Gruppe #ichbinhier kämpft täglich für die Verbesserung des Diskussionsklimas. Immer dann, wenn Wortwahl und Inhalte in Hass abzugleiten drohen, steuern die Hashtag-Nutzer gegen. Denn wo sich Lügen und Hassreden zusammentun, entfaltet sich ein Potenzial, das die Gesellschaft spalten kann. Mit Zivilcourage und gegenseitiger Unterstützung können engagierte Bürger viel bewirken – Hannes Ley zeigt, wie es gelingen kann.

»Während sich die Welt noch fragt, was man gegen Hass im Internet tun kann, haben die Netzbürger von #ichbinhier es herausgefunden – und in diesem Buch aufgeschrieben.«
Sascha Lobo

 

Über den Autor

 

autor

Credit: © Arne Weychardt

HANNES LEY
ist selbstständiger Kommunikationsberater in Hamburg. Ende 2016 hat er die Facebook-Gruppe #ichbinhier gegründet. Sie ist in nur einem halben Jahr auf rund 37.000 Mitglieder angewachsen.

HANNES LEY
mit Carsten Görig

#ichbinhier

Zusammen gegen Fake News und Hass im Netz

 

KAPITEL 1

Es reicht!

»Seine Eier gehören abgeschnitten. Danach in einen kleinen Käfig nur von Raubtieren umgeben, damit sie ihn (aufessen) – schön langsam Stück für Stück. Der gehört nicht in den Knast, sondern gleich in die Hölle.« Mike T.,

Facebook-Post am 26. 6. 2017

Ich wollte mich nicht mehr damit abfinden, Sätze wie diese einfach zu ertragen. Ich wollte, dass Menschen, die so etwas schreiben, Gegenwind bekommen, dass sie merken, dass es nicht in Ordnung ist, andere Meinungen herabzuwürdigen, Menschen zu beschimpfen, ihnen mit Prügel, Vergewaltigungen oder Mord zu drohen. Ich wollte nicht mehr. Und habe deshalb #ichbinhier gegründet.

Weil ich möchte, dass sich etwas in unserer Diskussionskultur ändert. Weil ich fürchte, dass die Art und Weise, wie auf Facebook miteinander gestritten wird, nicht nur extrem unerfreulich ist, sondern sogar die Grundlagen unseres Zusammenlebens, unser gesellschaftliches Miteinander infrage stellt. Weil ich glaube, dass es vielen Menschen so geht wie mir und dass wir gemeinsam mehr erreichen als allein. Weil man in dem ganzen Schmutz, der durch Facebook gespült wird, die Hoffnung verlieren kann, wenn man Einzelkämpfer ist. Weil man manchmal Menschen braucht, bei denen man sich verstanden fühlt. Weil eine Gruppe mehr ist als eine Sammlung von Individuen. Weil man auf Facebook besser wahrgenommen wird, wenn man viele Leute im Rücken hat.

Es gab keinen Masterplan für #ichbinhier. Fünf Tage vor der Gründung von #ichbinhier hatte ich noch keine Ahnung, dass ich die Gruppe machen würde, ich hatte noch nicht einmal eine Idee davon. Ich hatte nur, wie viele andere, das Gefühl, dass sich die Stimmung in unserer Gesellschaft deutlich verändert – und das nicht unbedingt zum Besseren. Gerade im Internet, auf sozialen Plattformen wie Facebook oder Twitter, wurde der Umgang miteinander immer aggressiver. Diskussionen in den sozialen Netzwerken mündeten immer schneller in gegenseitigen Beschimpfungen, die bald in Androhung körperlicher Gewalt endeten. Der Kompromiss als Grundlage demokratischen Handelns schien immer deutlicher von einer totalitären Rechthaberei abgelöst zu werden.

Welt im Wandel

Die Stimmung hatte sich schon in den Jahren vor 2016 langsam geändert. Das lag auch an einer Welt, die immer größere Aufgaben bereithielt. Für viele Menschen fühlte sich das an, als ob die Welt aus den Fugen gerät: In den arabischen Staaten wurden demokratische Bewegungen bekämpft, was auf der einen Seite im syrischen Bürgerkrieg mündete, auf der anderen Seite das Terror-Regime des sogenannten islamischen Staates möglich machte. Dessen Mitstreiter wurden auch in Europa aktiver und schienen sich in einem Wettstreit um Menschenverachtung und Grausamkeit zu befinden. In Paris, Nizza, London oder Berlin gab es Anschläge mit vielen Toten, parallel dazu mussten Millionen von Menschen aus den bombardierten Städten Syriens flüchten, um ihr Leben zu retten.

Auch im Osten schien die Lage nicht besser: Die ukrainische Revolution endete für die östlichen Landesteile in einem von Russland mit befeuerten Bürgerkrieg und der Annexion der Krim durch den großen Nachbarn. Dass dabei noch ein malaysischer Passagierjet abgeschossen wurde, passte in die undurchsichtige Lage. Ein parallel dazu stattfindender Informationskrieg im Internet machte zudem klar, dass soziale Medien auch für Kriegsparteien zur Verbreitung von Propaganda immer wichtiger werden. Verschwörungstheorien wurden so hoffähig gemacht. Erst spät wurde klar, aus welcher Richtung die Kommentare kamen und vor allem: dass diese wohl von russischen Trollen zur vorsätzlichen Täuschung benutzt werden sollten. Sie stellten alles infrage, was faktisch bewiesen war und fingen nach wenigen Wortwechseln an, wild zu schimpfen.

Spätestens seit 2015 sehr viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, drehte sich auch bei dieser Frage der Wind. Im Osten machte sich Russland in der Ukraine breit, in Syrien steigerte sich ein brutaler Bürgerkrieg, in Deutschland wurden Bewegungen wie Pegida stark, die Angst vor den Flüchtlingen schürten. Auch weil im Sommer 2015 tatsächlich viele von ihnen nach langen und gefährlichen Reisen ankamen.

Und dann entschieden sich mit Großbritannien und den USA zwei Länder für Isolationismus und Populismus, genährt durch einen stetigen Strom von Lügen, Hass und Halbwahrheiten. Viele für sicher gehaltene Errungenschaften standen auf einmal auf dem Prüfstand. Unsere Gesellschaft, unsere Welt schien aus den Fugen zu geraten. Bei mir kam das zusammen mit etwas, was ich mit einem ironischen Lächeln als Midlife-Crisis bezeichnen würde.

Aufs Motorrad

Ich war unzufrieden mit meiner beruflichen Situation. Ich war und bin Kommunikationsberater, habe Kunden aus der Tabakindustrie betreut, Automobilfirmen, Pharmaunternehmen. Die Bösen, wie viele sagen würden. Ich glaube daran, dass es gut ist, wenn auch solche Unternehmen offener werden, mit ihren Kunden und Gegnern reden, sich Problemen stellen. Ich helfe dabei. Auch wenn ich mich immer wieder gefragt habe, was wohl mein früheres Ich dazu sagen würde. Der Hannes Ley, der in Ostfriesland aufgewachsen ist. Der als Punk die Ordnung infrage gestellt hat und dessen Eltern ihn in lange Gespräche über Politik und Gesellschaft verwickelt haben. Der gelernt hat, dass ein Gespräch immer besser ist als Schweigen. Dass zu einem Gespräch nicht nur jemand gehört, der Worte ausspricht, sondern auch jemand, der sie hört.

Vielleicht war es eine innere Unterhaltung zwischen dem Hannes Ley von damals und heute, die mich im Spätsommer 2016 dazu brachte, meinen Job hinzuwerfen, mir ein Motorrad zu kaufen und mit dem Autozug in die Schweiz zu fahren, um dort über die Alpenpässe zu fahren. Auch das war nicht geplant. Sonst hätte ich nicht nach zehn Kilometern anhalten müssen, um mir erst einmal warme Kleidung zu kaufen, weil ich entsetzlich gefroren habe. Ich wollte einfach raus, machen, worauf ich Lust hatte. Den Kopf frei bekommen, verstehen, wohin es als Nächstes gehen soll. Ich war bereit für einen Wechsel, für neue Ideen.

Im Shitstorm

Dafür brauchte es aber noch zwei Dinge: Einen Anstoß und eine Idee. Die kamen kurz vor Weihnachten 2016. Zuerst traf einen Bekannten von mir ein großer Shitstorm. Ein Shitstorm ist genauso hässlich wie das Wort, das ihn bezeichnet. Er funktioniert ungefähr so: Jemand tut, sagt oder schreibt etwas, das anderen nicht gefällt. Daraufhin brandet ein Sturm der Entrüstung durch das Internet, Foren werden mit Pöbeleien gefüllt, auf Facebook und anderen Kanälen kommt es zu einer Flut von Beleidigungen. Das Opfer geht im Shitstorm unter.

Gerald Hensel wurde von so einem Sturm erfasst, weil er als Digitalstratege Firmen darauf hingewiesen hat, dass ihre Internet-Anzeigen auch in Umfeldern erscheinen könnten, die für sie vielleicht ungünstig sind, und sie vielleicht klären sollten, wo automatisierte Anzeigen überall auftauchen. Als Werbender kommt man leicht in den Ruf, inhaltlich zu unterstützen, wo die eigene Anzeige erscheint. Wessen Werbeanzeige neben YouTube-Videos voller Verschwörungstheorien oder Naziparolen erscheint, wird leicht mit dem Video assoziiert. Wenn eine Anzeige auf Breitbart zu sehen ist, befindet sie sich in einem Umfeld von Lügen und Bösartigkeit. Eine klare Sache eigentlich.

Daraus wurde abgeleitet, dass Hensel dazu aufrief, rechte Webseiten zu boykottieren. Besonders der Autor Henryk M. Broder schoss scharf gegen Hensel, schließlich war sein Blog »Achse des Guten« angeblich betroffen. Was übrigens nicht stimmte, da Hensel ihn ausdrücklich ausgenommen hatte. Die Folgen für Gerald Hensel waren drastisch. Er gab seinen Job bei einer hochkarätigen Werbeagentur auf und musste einige Wochen abtauchen. Broder hingegen sonnte sich darin, es mal wieder jemandem richtig gezeigt zu haben. Ich war schockiert.

Was vielleicht naiv war, schließlich war das nicht der erste Shitstorm, über den ich gehört hatte, aber es war der, der mir besonders naheging. Was war mit so wichtigen Grundlagen für unser Zusammenleben passiert? Wohin waren Empathie und Menschlichkeit verschwunden? Wie konnte man diese als wichtige Werte wiedereinführen?

Die Idee für eine Lösung kam unerwartet, wenige Tage vor Weihnachten 2016. Ein Freund aus Schweden besuchte mich und erzählte mir von #jagärhär, auf Deutsch: #ichbinhier. Eine Facebook-Gruppe, so sagte er, die sich in Schweden gegen Hass im Internet wendet und damit erfolgreich ist. Schon 60.000 Mitglieder hatte sie zu dem Zeitpunkt. In meinem Kopf begann es zu rattern. Noch am selben Tag schrieb ich Mina Dennert an, fragte sie aus. Mina Dennert ist Journalistin aus Göteborg und Gründerin von #jagärhär. Sie hat ein Konzept entwickelt, mit dem sie Hassrede bekämpfen will, mit dem Menschen wieder zu friedlichen Diskussionen zurückkehren können. Ich schlug ihr vor, einen deutschen Ableger von #jagärhär zu gründen, der #ichbinhier heißen sollte. Eine Gruppe, die keiner politischen Richtung angehört, sondern in der sich verschiedene Vorstellungen treffen, die aber eines eint: der Wunsch nach einem respektvollen Umgangston.

#jagärhär
Das schwedische Vorbild

Dass die Idee aus Schweden kommt, ist kein Zufall. Genau wie Deutschland war Schweden eines der Länder, die 2015 viele Geflüchtete aus dem syrischen Bürgerkrieg aufgenommen haben. Im Vergleich zur Bevölkerung noch viel mehr als Deutschland. Und genau wie hierzulande gab es zwar großzügige Hilfe für die Menschen, doch auch Ablehnung. Und die äußerte sich in immer stärker und lauter werdendem Hass. Was sich vor allem auf Facebook deutlich zeigte. Mina Dennert ist dagegen angegangen, auch weil sie sich in einer anderen Tradition sieht, weil sie an traditionelle Werte ihres Landes glaubt:

Die skandinavischen Länder haben nämlich eine lange Geschichte des Miteinander-Redens, was auch ein Grund dafür war, dass es mich immer wieder nach Norden gezogen hat. Ich habe einen Teil meiner Ausbildung in Dänemark gemacht, habe in Schweden gearbeitet. Und schätzen gelernt, dass man sich dort gegenseitig zuhört, Unterhaltungen gemächlicher ablaufen, nachdenklicher. Das wirkt für manchen Deutschen etwas langsam, da man aber uns Friesen Ähnliches unterstellt, habe ich mich dort immer wohlgefühlt.

Mina Dennert war schockiert über Dinge, die sie auf Facebook lesen musste. »Eine Nachbarin, eine Frau, die immer nett war, entpuppte sich online als fürchterliche Hass-Posterin. Ich war geschockt, habe angefangen zu zittern, als ich das gelesen habe«, sagt sie der schwedischen Nachrichtenseite Nyheter24. An diesem Punkt entschließt sie sich, aktiv zu werden im Netz, nicht mehr wegzuschauen. Sie will die schwedische Tradition des Redens bewahren und auch dort etablieren, wo sich Schnelligkeit und Hass ausbreiten: auf Facebook.

Auch hier waren wir uns einig, schließlich geht es mir – so merkwürdig altmodisch das auch in meinen durch Punk geprägten Ohren immer wieder klingt – um Moral, um Anstand und Menschlichkeit. Ich will niemandem meine Meinung aufdrängen, aber ich wünsche mir, dass Diskussionen möglich sind, in denen jeder frei reden kann. Ohne dabei beleidigend zu werden und ohne andere Menschen auszugrenzen. Für mich ist das eine der Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens. Und sie scheint immer weniger zu gelten.

Das hat viel mit neuen Kommunikationswegen im Internet zu tun, mit neuen Möglichkeiten, sich zu vernetzen, zu organisieren, und auch mit dem Gefühl, sich dort Sachen erlauben zu können, die man sich sonst nicht trauen würde. Begonnen hat das im Internet recht früh. Mit den Trollen. Sie sind einer der Wegbereiter des Hasses – auch wenn sie anfangs eigentlich nur spielen wollten.

KAPITEL 2

Das Hassen lernen:

Wie das Internet vergiftet wurde

»Die sollen sich im Wald treffen und sich gegenseitig umbringen!! Ist das so schwer oder was? So machen sie der Polizei auch keine Probleme oder den Menschen, die da leben.« Marion M.

Facebook-Post am 29. 5. 2017 auf Bild.de

Die Wurzeln des Hasses

Eigentlich hätte man vieles von dem, was heute den Umgangston im Netz ausmacht, schon ahnen können, als das Internet noch etwas Exotisches war. Zur Jahrtausendwende ungefähr. Eine Sprache voller Beschimpfungen und mangelnder Toleranz gegenüber Menschen mit anderer Meinung war auch da schon zuhauf zu finden. Die Foren von Onlinediensten wie dem Computerverlag heise.de zum Beispiel waren schon voll von hässlichen Kommentaren, Beleidigungen, gegenseitigen Beschimpfungen. Flamewars nannte man das damals, einen aufflammenden Krieg. Der startete meist unerwartet, entzündete sich an einer missverständlichen Formulierung oder einem schiefen Argument. Oder er ging einfach los, weil jemand Lust darauf hatte, Öl ins Feuer zu gießen, eine aufgeheizte Diskussion entgleisen lassen wollte.

Nur: Damals ging es meist um Glaubensfragen rund um den Computer. Die Frage zum Beispiel, ob Windows das bessere Betriebssystem ist, MacOS oder gar Linux. Und wenn Letzteres, welche der zig verschiedenen Varianten die beste ist: Red Hat, Debian oder Suse. Fragen, die unter Systemadministratoren scharf ausgefochten wurden und deren Argumentation schnell ein kritisch unterirdisches Niveau erreichten. Doch gleichzeitig Fragen, die den Rest der Menschheit nur am Rande interessierten. Es waren die Nerds, so das damals gängige Vorurteil, die Computerfreaks, die zu lange vor dem Bildschirm sitzen, Pizza essen, Cola trinken und dabei vergessen haben, wie man vernünftig miteinander umgeht.

Im Grunde war schon damals klar, dass die Kommunikation im Netz schwierig ist und nicht einfacher werden würde. Und schon damals war eigentlich klar, dass es dafür zwei entscheidende Gründe gibt, die den Nährboden für alles bildeten, was danach kam, für Beschimpfungen, Hass, Gerüchte, Verschwörungstheorien: Zum einen sieht und hört man sein Gegenüber nicht. Gesten, ein Augenzwinkern, ein Zusammenzucken: Alles, was normalerweise in einer Kommunikation wichtig ist, findet dort nicht statt. Es zählt das geschriebene Wort und die Art und Weise, wie man dieses interpretiert, welches Motiv man dem Absender unterstellt. Zum anderen ist es die Anonymität und der damit zusammenhängende Glaube an das Internet als rechtsfreien Raum: Oft genug versteckt man sich hinter Kürzeln, Spitznamen oder am besten gleich hinter einer falschen Identität. Was wiederum dazu führt, dass man sich sicher fühlt und sich noch drastischer benehmen kann.

Eine Strafe hat man ja nicht zu fürchten – das ist eine Haltung, die sich bis heute gehalten hat. Selbst bei Facebook, wo ja viele Menschen unter ihrem eigenen Namen schreiben, scheint es immer noch so zu sein, dass Kommentarschreiber sich immun fühlen, keinen Ärger fürchten, keine Strafe. Sie haben vergessen, dass sie Verantwortung für ihre Kommentare tragen und sehen das Internet als Spielplatz für Hasssprache an, als eine Welt, die nichts mit den Regeln der realen Welt zu tun hat.

Vielleicht hätte man schon damals genauer hinschauen sollen, vielleicht hätte man einen Weg gefunden, Pöbeleien und Beleidigungen einzudämmen. Vielleicht hätte man vermeiden können, dass dieser Ton auch in politischen Debatten hoffähig wurde. Das ist nicht geschehen. Zuerst haben die anderen Kommentarschreiber genervt geantwortet, später hat man die Pöbler einfach machen lassen und sich darüber amüsiert. Ein Lieblingssatz unter einem Schreihals-Kommentar: »Ich geh mal Popcorn holen.« Wie im Kino vor einem Actionfilm. Wortgefechte galten als Volksbelustigung, die für Foren zuständigen Firmen oder Verlage sind nur in seltenen Fällen eingeschritten. Die lauten Wüter hatten Narrenfreiheit – und haben sie oft genug noch heute. Sie sind nämlich nicht ausgestorben, sondern leben weiter. Sie haben sich nur verändert. Beziehungsweise: Sie haben sich weiterentwickelt und spezialisiert.

Gegen sie vorgegangen wird immer noch viel zu selten: Gerade in den sozialen Medien fühlen sich nur wenige dafür verantwortlich, Hassschreiber zu benennen und auszuschließen, selbst bei den Facebook-Auftritten der großen Medien ist wenig Moderation zu spüren. Wobei doch gerade die wissen sollten, wie schlecht das für die Außenwirkung ist.

Heute ist es schwierig, diese Anfänge rückgängig zu machen, den Geist wieder in die Flasche zu holen, das Internet von seinem Ruf als rechtsfreien Raum zu befreien und klarzumachen, dass auch hier Gesetze gelten, dass Anstand und Moral auch hier angebracht sind.

Das Internet galt in seiner Frühzeit als Ort, an dem alles erlaubt war. An dem man Filme und Musik herunterladen konnte, sich Software einfach umsonst holen. Und so wie die Film- und Musikindustrie Wege finden mussten, gegen Raubkopien und illegales Streaming vorzugehen, wie Medien lernen mussten, mit ihren Angeboten überhaupt Geld zu verdienen, müsste auch im zwischenmenschlichen Bereich eine neue Form gefunden werden, um den Troll der Frühzeit auszutreiben.

Unter Trollen

Ein Troll ist der Prototyp der heutigen Hassredner. Ein Troll im Internet hat wenig zu tun mit nordischen Sagenwesen oder den drei Steingiganten, die den Hobbit Bilbo und seine Zwergenbegleitung als kleines Nachtmahl verspeisen wollten – auch wenn die Internet-Trolle oft ähnlich tumb und destruktiv wirken wie diese. Der Internet-Troll ähnelt eher einer Comicgestalt: dem Römer Tullius Destructivus, der in »Streit um Asterix« von Cäsar ausgesandt wurde, um Zwietracht im gallischen Dorf zu verbreiten. Er verbreitet Lügen, manipuliert Leichtgläubige und spinnt Intrigen. Wo er auftaucht, färben sich die Sprechblasen im Heft grün, um die giftige Sprache deutlich zu machen. Wo ein Internet-Troll auftaucht, geschieht Ähnliches, auch wenn sich die Kommentare leider nicht grün färben – sie wären so viel besser zu erkennen.

Der Begriff des Internet-Trolls tauchte erstmals 1990 in einer Newsgroup auf und leitet sich von dem englischen Begriff »trolling with bait« ab, was übersetzt »Fischen mit Schleppangeln« bedeutet. Dabei geht es darum, mit einem Köder möglichst viele Fische zu fangen. Wer trollte, war ein Troll. Newsgroups waren übrigens die frühen Vorläufer heutiger sozialer Netzwerke, Foren, in denen man sich zu bestimmten Themen austauschte. Der Troll hatte also schon früh sein ideales Umfeld gefunden.

Für den Internet-Troll ist ein hämischer oder bösartiger Kommentar der Köder. Auf ihn sollen sich die anderen Schreiber stürzen, dabei möglichst das eigentliche Thema der Diskussion vergessen und genervt bis ärgerlich reagieren, also anbeißen. Der Troll mischt sich so in eine Diskussion ein und versucht, sie völlig entgleisen zu lassen. Das ist sein eigentliches Ziel. Oft genug schafft er das, schließlich kennt er die wichtigen Reizthemen, mit denen er Mitdiskutanten so reizen kann, dass sie sich nur noch ihm widmen. Wer zum Beispiel unter einen Artikel zu Videospielen zuerst einen Kommentar abgibt, in dem alle Spieler als Möchtegern-Killer und Spiele als Mordsimulation bezeichnet werden, kann sich ziemlich sicher sein, dass es in den folgenden fünfzig Kommentaren einzig und allein um seinen Einwurf und nicht um das eigentliche Thema des Artikels geht.

Für ihn – die meisten Trolle sind laut neueren Studien männlich – ist das ein Gewinn. Er hat die Aufmerksamkeit und amüsiert sich, während eine möglicherweise gewinnbringende Diskussion einfach erstickt wurde. Seine Motive sind nicht immer klar, oftmals geht es darum, sich über Menschen lustig zu machen, sich darüber zu amüsieren, wie sie gegen jemanden ankämpfen, dem völlig egal ist, was er schreibt. Hauptsache, man kann damit jemanden mal so richtig ärgern und sich aus der Verantwortung stehlen. Schließlich wird kaum jemand darauf kommen, wer sich hinter Pseudonymen wie L33tm8 oder Pr0G8 versteckt. Es ist das Netzäquivalent zum nächtlichen Beschmieren von Hauswänden – nur: Die Gefahr, erwischt zu werden, ist deutlich geringer. Der Schaden, den er anrichtet, ist allerdings langfristig deutlich größer: Er beschädigt kein Eigentum, sondern schadet dem Gemeinschaftssinn.

Während früher hauptsächlich in Newsgroups – einer Art Vorläufer der heutigen Foren – getrollt wurde, hat sich das Trollen inzwischen ausgebreitet und ist auch in anderen Bereichen des Netzes zu einem beliebten Sport geworden. Den Trollen geht es darum, Diskussionen zu sprengen, Menschen gegeneinander aufzubringen. Dazu ignorieren sie die Grundsätze einer Gruppe, verletzen bewusst Moral und Anstand und stacheln Konflikte an, lösen sie gar erst aus. Etwas, dass wir auch in Facebook-Diskussionen immer wieder erleben.

Menschen, die sticheln und andere reizen wollen, gab es schon immer. Nur: In Vor-Internet-Zeiten kannte man diese Menschen meist, wusste, wie man sie nehmen kann oder machte einfach einen Bogen um sie. Dazu kam, dass es nur wenige gab, die sich komplett aus der Gemeinschaft ausschließen wollten und denen zudem klar war, dass zu derbe Pöbeleien auch mal vor einem Richter enden konnten.

Der Internet-Troll dagegen ist anonym. Zumindest arbeitet er in dem Glauben, dass er nicht entdeckt werden kann. Und diese Anonymität versetzt ihn in den Glauben, keine Gesetze mehr achten zu müssen, die simpelsten Regeln des Miteinanders ignorieren zu dürfen. Der Internet-Troll ist ein asoziales Wesen in sozialen Netzwerken.

Man hätte die Trolle einfach länger ignorieren können. »Don’t feed the Trolls« – Trolle bitte nicht füttern – ist schließlich nicht umsonst zu einem der Ratschläge geworden, die in Diskussionsforen am meisten gegeben werden. Vielleicht hätten sie irgendwann aufgegeben. Doch das nächste Problem zeigte sich bald: Manche Trolle wendeten ihre Energie nicht mehr nur dafür auf, Gruppen von Menschen zu nerven. Sie nahmen sich einzelne Menschen vor. Das Trollen war nicht mehr nur gemein, es wurde gemeingefährlich. Spätestens dann, als 4chan auftauchte und einige seiner Mitglieder vor nichts mehr zurückschreckten.

For the Lulz

»Hi, hier ist Mitchell, ich rufe vom Friedhof aus an.« Anrufe wie dieser erreichten die Eltern von Mitchell Henderson mehr als ein Jahr nachdem sich ihr Sohn das Leben genommen hatte. Ein Siebtklässler aus Minnesota, der bis dahin ein ganz normales Teenagerleben geführt hatte. Was 2008 auch hieß, dass er eine MySpace-Seite gepflegt hat, auf der er sich selbst darstellte. Nach seinem Tod wurden Mitglieder von 4chan auf ihn aufmerksam. Das ist eine der größten Forumsplattformen des Internets. Ein Rechtschreibfehler in einer online gestellten Beileidsbekundung reichte ihnen, um aus Mitchells Tod einen gigantischen Witz zu machen. Zumindest für sie. Nicht so sehr für Mitchells Familie und Freunde. Und auch nicht für viele Menschen, die danach an der Reihe waren, ihren Spott zu spüren, ihre Art von Witz ausbaden zu müssen. Hendersons Familie war nämlich nur das erste Opfer einer Machtdemonstration junger Männer.

4chan ist eigentlich ein Internetdienst, der Foren zur Verfügung stellt, auf denen Bilder geteilt werden können, ein Imageboard. Das ist nichts Außergewöhnliches, viele andere Dienste machen Ähnliches. Doch keine andere Plattform hat ein Forum, das /b/ auch nur im entferntesten ähnelt. /b/ ist das bei Weitem größte Unterforum von 4chan und hat nahezu keine Regeln. Wer hineinschaut, wird daraus nicht schlau. Nach unverständlichen Prinzipien kollidieren dort politische Diskussionen, Penisbilder und Unterhaltungen über den besten Hustensaft. Das kann schon in der nächsten Minute durch Bilder von Waffenschränken, nackten Brüsten und einem Bild von englischem Frühstück abgelöst werden. / b/ ist anarchisch, durchsetzt von unerträglich zotigem Humor, unverständlichen Diskussionen in nicht nachvollziehbaren Kürzeln. Und gleichzeitig nicht nur der Geburtsort der inzwischen im ganzen Internet verbreiteten Katzenbilder, sondern auch der Anonymous-Bewegung, die hinter einer aus »V for Vendetta« entliehenen Guy Fawkes-Maske für eine bessere Welt kämpft. Und auch eine der Geburtsstätten der Alt-Right, der neurechten Bewegung, die nicht zuletzt einen Präsidenten Trump möglich gemacht hat.

Die Nutzer von 4chan /b/ nennen sich / b/tards – eine Anspielung auf das englische retard, eine abwertende Bezeichnung für Menschen mit geistiger Behinderung. Und sie scheinen vor allem ein Ziel zu haben: Die Grenzen des guten Geschmacks dauerhaft zu unterbieten. Das wäre nicht so schlimm, wäre man sich untereinander einig und bliebe bei 4chan.

Das Problem: Die Mitglieder des Forums haben ihren Spielplatz in die Welt jenseits des Netzes erweitert. Daraus folgte zum einen eine Organisation wie Anonymous, aus der die Occupy-Bewegung entstand, zum anderen aber auch eine wichtige Erkenntnis: Wenn man in einer anonymen Masse mitmacht, kann man sich nahezu alles leisten. Und muss keine Strafe fürchten.

So konnten die 4chan-Mitglieder alles über Mitchell Henderson herausfinden und mit der Macht der Masse über eine trauernde Familie herfallen. Die MySpace-Seite des Jungen wurde gehackt, das Bild des Toten gegen einen Zombie ausgetauscht. Hendersons Satz, dass er einen iPod verloren hat, wurde als Grund für den Selbstmord hingestellt, ganze Bildergalerien mit iPods, Hendersons Gesicht und albernen Sprüchen entstanden. Nichts war heilig, wenn man es lustig fand. »For the Lulz« heißt das bei 4chan, eine Erweiterung von LOL, dem Internet-Kürzel für »laughing out loud«, laut loslachen. Lulz ist aber kein lautes, sondern ein hämisches Lachen, eine Art von Schadenfreude, die ihre Opfer erniedrigt, um sich selbst zu erheben.

Und so hat 4chan zwar mit der Anonymous-Bewegung die Grundlage für Occupy Wallstreet gelegt, die die Welt verbessern wollte. Zum anderen führte die »For the Lulz«-Seite mit ihrer Freude, anderen Leid zuzufügen, zu einer Bewegung, die in Europa wenig beachtet wurde, in den USA aber inzwischen als Testlauf für das gesehen wird, was im Präsidentschaftswahlkampf 2016 zu beobachten war: Gamergate, Keimzelle einer rassistischen und frauenfeindlichen Politik, die sich bald mit der Alt-Right verbinden sollte.

KAPITEL 3

#ichbinhier:

Gegen Hass

Schnellstart

Am Anfang ist es denkbar einfach: Mina Dennert schickt mir die wichtigsten Dokumente. In ihnen wird die Zielsetzung ihrer Gruppe beschrieben, die Vorgehensweise erklärt. Ich schaue mir viel von ihr ab, übernehme viele Sachen und versuche doch, eigene Akzente zu setzen. #ichbinhier sollte nicht einfach nur ein deutscher Ableger von #jagärhär sein, sondern auf eigenen Füßen stehen. Das ist auch Mina Dennerts Wunsch. Sie hat mit ihrer eigenen Gruppe genug zu tun und möchte, dass wir unabhängig voneinander sind und arbeiten. Dennoch unterstützt sie mich bei vielen Fragen noch heute, ist immer ansprechbar und gibt gute Tipps. Ein großer Vorteil: Ich verstehe Schwedisch, weshalb ich die Dokumente schnell übersetzt habe. Eine befreundete Grafikerin entwirft unseren Schriftzug, gibt uns ein Gesicht nach außen. Gemeinsam mit ein paar Freunden kümmere ich mich um die Anfänge der Gruppe, organisiere die ersten Wochen, bin Gruppenmitglied, Administrator und Moderator zugleich. Und bekomme viel zu wenig Schlaf, aber das macht mich zufrieden. Schließlich ist das ein Zeichen dafür, dass es in großen Schritten vorangeht.

»Guten Morgen #ichbinhier! Fast 300 neue Mitglieder am ersten Tag. Hammer!!! Und weiter geht’s.« Diese Zeilen konnte ich schon am 22. 12. 2016 schreiben. Einen Tag nachdem die Gruppe offiziell gestartet ist. Ich bin erstaunt, wie schnell alles geht, wie schnell man mit wenig Menschen eine Bewegung starten kann, wie schnell aus einer Idee eine konkrete Gruppe wird – die dazu noch rasant wächst.

Über die Weihnachtstage hinweg wird es ruhiger, auch Silvester gehen wir feiern und schlafen dann Neujahr aus. Um dann aber voll durchzustarten. Und es gibt viel zu tun, gleich am Jahresanfang 2017. In Amerika wird Donald Trump als Präsident vereidigt, in Osteuropa wird weiter eifrig daran gearbeitet, die Demokratie abzubauen und in der Türkei ist Präsident Erdoğan auf dem besten Wege dazu, eine Diktatur nach seinen Vorstellungen zu errichten. Es sind viele Themen, die hitzig auf Facebook diskutiert werden, viele Themen, die Hasspostings geradezu anziehen. Viel Arbeit für #ichbinhier.

Ich lade Freunde und Bekannte ein, #ichbinhier beizutreten, stelle uns spontan bei Save Democracy in Hamburg vor, eine Gruppe, die verschiedene Initiativen bekannt machen will, die sich um die Demokratie sorgen. Zudem kenne ich durch meinen Beruf viele Menschen, die so gut vernetzt sind, dass sie mit wenig Aufwand viele weitere Menschen erreichen, was #ichbinhier schon in den ersten Wochen einen immensen Zulauf beschert.