TANITH LEE

 

 

Herr der Nacht

Erster Roman von der Flachen Erde 

 

 

Tanith Lee-Werkausgabe, Band 7

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Die Autorin 

Das Buch 

 

HERR DER NACHT 

 

ERSTES BUCH: Lichter Untergrund 

TEIL EINS 

1. Ein Sterblicher in der Unterwelt 

2. Sonnenschein 

3. Der Alptraum 

TEIL ZWEI 

4. Die sieben Tränen 

5. Ein silbernes Halsband 

6. Kasir und Ferashin 

 

ZWEITES BUCH: Lug und Trug 

TEIL EINS 

1. Der Stuhl des Ungewissen 

2. König Zoraschads Tochter 

3. Der Sternen-Pavillon 

TEIL ZWEI 

4. Diamanten 

5. Eine Liebesgeschichte 

6. Liebe in einem Spiegel 

 

DRITTES BUCH: Der Köder für die Welt 

TEIL EINS 

1. Süß wie Honig 

2. Schesael und Dresaem 

3. Nächtlicher Zauber 

TEIL ZWEI 

4. Der Zorn der Zauberer 

5. Ein geflügeltes Schiff 

6. Sonne und Wind 

 

Die Autorin

Tanith Lee.

(* 19. September 1947, + 24. Mai 2015).

 

Tanith Lee war eine britische Horror-, Science Fiction- und Fantasy-Schriftstellerin und Verfasserin von Drehbüchern. Sie wurde viermal mit dem World Fantasy-Award ausgezeichnet (2013 für ihr Lebenswerk) und darüber hinaus mehrfach für den Nebula- und British Fantasy-Award nominiert.

Im Laufe ihrer Karriere schrieb sie über 90 Romane und etwa 300 Kurzgeschichten. Sie debütierte 1971 mit dem Kinderbuch The Dragonhoard; 1975  folgte mit The Birthgrave (dt. Im Herzen des Vulkans) ihr erster Roman für Erwachsene, der zugleich auch ihren literarischen Durchbruch markierte.

Tanith Lees Oevre ist gekennzeichnet von unangepassten Interpretationen von Märchen, Vampir-Geschichten und Mythen sowie den Themen Feminismus, Psychosen, Isolation und Sexualität; als wichtigsten literarischen Einfluss nannte sie Virginia Woolf und C.S. Lewis.

Zu ihren herausragendsten Werken zählen die Romane Trinkt den Saphirwein (1978), Sabella oder: Der letzte Vampir (1980),  Die Kinder der Wölfe (1981), Die Herrin des Deliriums (1986), Romeo und Julia in der Anderswelt (1986), die Scarabae-Trilogie (1992 bis 1994), Eva Fairdeath (1994), Vivia (1995), Faces Under Water (1998) und White As Snow (2000).

1988 gelang ihr mit Eine Madonna aus der Maschine (OT: A Madonna Of The Machine) ein herausragender Beitrag zum literarischen Cyberpunk; eine Neu-Übersetzung der Erzählung wird in der von Christian Dörge zusammengestellten Anthologie Cortexx Avenue enthalten sein.

Ihre wichtigsten Sammlungen von Kurzgeschichten und Erzählungen sind: Red As Blood/Tales From The Sisters Grimme (1983), The Gorgon And Other Beastly Tales (1985) und Nightshades: Thirteen Journeys Into Shadow.

Tanith Lee war seit 1992 mit dem Künstler John Kaiine verheiratet und lebte und arbeitete in Brighton/England.

Sie verstarb im Jahre 2015 im Alter von 67 Jahren.

 

Der Apex-Verlag widmet Tanith Lee eine umfangreiche Werkausgabe.

Das Buch

 

 

 

Zu jener Zeit, als die Erde noch keine Kugel war, sondern eine flache Ebene, unter der die Dämonen hausten und über der die Götter thronten, beherrschte Azrharn die Unterwelt, und er war einer der Mächtigsten der Finsternis.

Nachts stieg er in der Gestalt eines bezaubernd schönen Jünglings an die Oberfläche, um dort den Menschen nachzustellen und um mit ihnen seine grausamen Scherze zu treiben.

Doch Azrharn, der Herr der Nacht, wusste sehr wohl, dass seine Macht nur so lange währte, wie Menschen auf der Erde existierten. Und so war er bereit, sich für sie zu opfern, als ein Wesen sie bedrohte, das noch weitaus grausamer war als er: der Hass.

 

Der fünfbändige Zyklus von der Flachen Erde gilt als Tanith Lees populärste Fantasy-Serie und überdies als Klassiker der Fantasy-Literatur.

 

»Tanith Lee ist eine der stärksten und intelligentesten Erzählerinnen auf dem Gebiet der Heroic Fantasy.« 

(Publisher's Weekly) 

HERR DER NACHT

 

 

 

  

  ERSTES BUCH: Lichter Untergrund

 

  TEIL EINS

 

 

   1. Ein Sterblicher in der Unterwelt

 

Eines Nachts nahm Azrharn - Prinz der Dämonen und einer der Herren der Finsternis - um sich zu amüsieren die Gestalt eines großen, schwarzen Adlers an. Er flog nach Osten und Westen, seine gewaltigen Flügel schlagend, nach Norden und Süden, denn in jenen Tagen war die Erde flach und schwamm auf dem Ozean des Chaos.

Er beobachtete die beleuchteten, feierlichen Prozessionen von Menschen, die unter ihm dahinkrochen, mit Laternen so klein wie Funken, und die Brecher des Meeres, die an den felsigen Küsten in weiße Blüten zerplatzten. Er überflog mit einem ebenso verächtlichen wie ironischen Blick die hohen steinernen Türme der Städte und ihrer Tore und ließ sich für einen Augenblick auf dem Segel irgendeiner kaiserlichen Galeere nieder, auf der ein König und eine Königin saßen und sich an Honigwaben und Wachteln ergötzten, während die Ruderer an den Riemen zerrten; und einmal faltete er seine tintenschwarzen Flügel auf dem Dach eines Tempels zusammen und lachte laut über der Menschen Vorstellungen von den Göttern.

Als er schließlich - eine Stunde bevor die Sonne aufgehen sollte - zur Mitte der Welt zurückkehrte, hörte Azrharn, der Prinz der Dämonen,  eine Frau weinen, so einsam und bitterlich wie der Winterwind. Voller Neugierde ließ er sich an einem Bergabhang, der so kahl war wie ein Knochen, neben der Tür einer armseligen, kleinen Hütte zur Erde nieder. Dort lauschte er und nahm augenblicklich seine Menschengestalt an - denn, da er war, was er war, konnte er jegliche gewünschte Form annehmen - und trat ein.

Eine Frau lag vor den erschöpften Flammen ihres ersterbenden Feuers, und er sah sofort, dass sie, wie es die Gewohnheit der Sterblichen war, ebenfalls im Sterben lag. Aber in ihren Armen hielt sie ein neugeborenes Kind, das mit einem Schal bedeckt war.

»Warum weinst du?«, verlangte Azrharn fasziniert zu wissen, während er in unfassbarer Schönheit an der Tür lehnte, sein Haar leuchtend wie ein blauschwarzes Feuer und in all die Herrlichkeit der Nacht gekleidet.

 »Ich weine, weil mein Leben so grauenvoll gewesen ist, und weil ich jetzt sterben muss«, sagte die Frau.

»Wenn dein Leben grauenvoll war, solltest du froh sein, es zu verlassen; trockne daher deine Tränen, die dir in jedem Fall nichts nützen werden.«

Die Augen der Frau trockneten tatsächlich, und Zorn blitzte in ihnen auf, nahezu so lebhaft wie die kohlschwarzen Augen des Fremden.

»Du Niederträchtiger! Die Götter mögen dich verfluchen, weil du gekommen bist, mich in meinen letzten Augenblicken zu verhöhnen. All meine Tage waren Kampf, Qual und Schmerz, aber ich wollte ohne ein Wort zugrunde gehen, wäre es nicht für diesen Jungen, den ich erst vor wenigen Stunden auf die Welt gebracht habe. Was wird aus meinem Kind werden, wenn ich tot bin?«

»Zweifellos wird es auch sterben«, sagte der Prinz, »was dich mit Freude erfüllen sollte, wenn du siehst, dass es vor all der Pein verschont bleiben wird, von der du erzählst.«

Darauf schloss die Mutter die Augen und den Mund und verschied auf der Stelle, als ob sie es nicht länger hätte ertragen können, in seiner Gesellschaft zu verweilen. Als sie jedoch zurückfiel, ließen ihre Hände den Schal los, und der Schal entfaltete sich wie die Blütenblätter einer Blume und enthüllte den Säugling.

Ein tiefer Stich traf da den Prinzen der Dämonen, denn das Kind war von außerordentlicher und vollkommener Schönheit. Seine Haut war weiß wie Alabaster, sein feines Haar hatte die Farbe von Bernstein, seine Glieder und Gesichtszüge waren so sorgfältig und wunderbar geformt, als ob ein Bildhauer es geschaffen hätte. Und als Azrharn dastand und es anstarrte, öffnete das Kind die Augen, und sie waren .von tiefstem Blau, wie Indigo. Der Prinz der Dämonen zögerte nicht länger. Er trat vor und nahm das Kind und hüllte es in die Falten seines schwarzen Umhangs.

»Sei getrost, oh, Tochter des Elends und des Jammers«, sagte er. »Am Ende hast du dennoch wohlgetan, durch deinen Sohn.«

Und er eilte hinauf in den Himmel in der Gestalt einer Sturmwolke, das Kind noch immer an sich geschmiegt wie einen Stern.

Azrharn trug das Kind zu jenem Ort am Mittelpunkt der Erde, wo Berge aus Feuer wie dünne, gezackte Speere riesigen Ausmaßes gegen einen Himmel aus ewigem Donner und Dunkel aufgerichtet standen. Über allem lag der karmesinrote Rauch vom Brennen der Berge, denn nahezu jede Felsenspitze hatte einen kraterähnlichen Flammenschacht. Dies war der Zugang ins Land der Dämonen, ein Ort von schrecklicher Schönheit, an den Menschen, wenn überhaupt, nur selten gelangten. Doch als Azrharn in seiner Wolkengestalt darüber hinweg eilte, hörte er das Kind in seinen Armen furchtlos kichern. Kurz darauf wurde die Wolke in den Rachen eines der höchsten Berge gesaugt, wo keine Flamme brannte, aber umso tiefere Dunkelheit herrschte.

Nach unten verschwand der Schacht, durch den Berg und unter die Erde, und mit ihm flog der Prinz der Dämonen, Herr über die Vazdru, die Eschva und die Drin.

Zuerst war da ein Tor aus Achat, das aufsprang bei seinem Kommen und klirrend hinter ihm zufiel, und nach dem Tor aus Achat ein Tor aus blauem Stahl und zuletzt ein schreckliches Tor, gänzlich aus schwarzem Feuer; jedoch jedes der Tore gehorchte Azrharn. Schließlich erreichte er die Unterwelt und schritt in die Stadt der Dämonen, Druhim Vanaschta; da nahm er eine Silberpfeife heraus, die wie das Schenkelbein eines Hasen geformt war, und blies darauf. Und sofort kam ein Dämonenpferd herbeigaloppiert, und Azrharn sprang auf seinen Rücken und ritt schneller als jeglicher Wind auf der Erde zu seinem Palast. Dort gab er das Kind in die Obhut seiner Eschva- Dienerinnen und warnte sie, dass ihre Tage in der Unterwelt nicht länger angenehm für sie sein würden, wenn dem Jungen irgendein Leid widerfahren sollte.

Und so war es in der Stadt der Dämonen, in Azrharns Palast, wo das Kind aufwuchs, und all die Dinge, die es kannte und mit denen es daher auf natürliche Weise vertraut wurde, waren von Anfang an die fantastischen, brütenden und mit Zauber beladenen Dinge von Druhim Vanaschta.

Ringsumher war Schönheit, aber Schönheit von einer bizarren und erstaunlichen Art; indessen war es die ganze Schönheit, die das Kind zu Gesicht bekam.

Der Palast indes - außen von schwarzem Eisen, innen von schwarzem Marmor - wurde beleuchtet vom unveränderlichen Licht der Unterwelt, einem Glanz so farblos und kühl wie Sternenlicht auf Erden, indes vielmals strahlender, und dieses Licht strömte in Azrharns Hallen durch riesige Fensterflügel aus schwarzem Saphir oder düsterem Smaragd oder dem dunkelsten Rubin. Außerhalb lag ein Garten mit vielen Terrassen, wo ungeheure Zedern mit silbernen Stämmen und pechschwarzen Blättern wuchsen und Blumen von farblosem Kristall. Da und dort war ein spiegelgleicher Teich, in dem bronzene Vögel schwammen, während liebliche Fische mit Flügeln in den Bäumen saßen und sangen, denn die Gesetze der Natur unter der Erde waren völlig verschieden von denen auf der Erde. In der Mitte von Azrharns Garten spielte ein Springbrunnen; doch er war nicht von Wasser sondern von Feuer, einem scharlachroten Feuer, das weder Licht noch Hitze spendete.

Jenseits der Palastmauern lag die ausgedehnte und wunderbare Stadt, deren Türme aus Opal und Stahl und Kupfer und Jade hinaufragten in die Glut des niemals sich wandelnden Himmels. Keine Sonne ging jemals auf in Druhim Vanaschta. Die Stadt der Dämonen war eine Stadt der Finsternis, ein Ding der Nacht.

So wuchs das Kind auf. Es spielte in den Marmorhallen umher und pflückte die Kristallblumen und schlief in einem Bett aus Schatten. Als Gefährten hatte es die wunderlichen Phantomgeschöpfe der Unterwelt, die Vogelfische und die Fischvögel, und auch seine Dämonenammen mit ihren blassen und verträumten Gesichtern, ihren nebligen Händen und Stimmen, ihrem Ebenholzhaar, in dem sich Schlangen schläfrig wanden. Manchmal pflegte es zu der Fontäne aus kaltem, roten Feuer zu laufen und sie anzustarren, und dann pflegte es seine Ammen zu bitten: »Erzählt mir Geschichten von anderen Orten.« Denn es war ein forderndes, wenn auch reizendes Kind. Dennoch konnten die Eschva-Frauen von Druhim Vanaschta nur schwach auf dieses Verlangen reagieren und zwischen ihren Fingern Bilder weben von den Taten ihrer eigenen Gattung, denn die Menschenwelt war ihnen wie ein brennender Traum, ohne Bedeutung, außer um entzückenden Zauber in ihr anzuwenden und Bosheit, die für sie überhaupt keine Bosheit war, bloß die richtige Ordnung der Dinge.

Ein anderes Wesen kam und ging im Leben des Kindes, und über dieses Wesen konnte es nicht so leicht Rechenschaft abgelegt werden wie über die hübschen, sinnleeren Frauen mit ihren sanften Schlangen: Es war der schöne, große und schlanke Mann, der plötzlich hereinzukommen pflegte mit einem Rauschen seines Umhangs wie die Schwingen eines Adlers und seinem blauschwarzen Haar und seinen magischen Augen, der nur eine Sekunde zu bleiben pflegte, lächelnd herabblickte und dann verschwunden war. Keine Gelegenheit, diese wunderbare Person nach Geschichten zu fragen, obgleich das Kind mit Gewissheit fühlte, dass sie jede Geschichte kennen würde, die es gäbe, kein Raum in der Tat, um mehr zu tun als stumm seinen Blick voll Verehrung und Liebe anzubieten, bevor jener gleich einem Adler Umhang seinen Träger hinweggetragen hatte.

Die Zeit der Dämonen glich keineswegs der menschlichen Zeit. Im Vergleich: ein sterbliches Leben blitzte vorbei wie der Flügelschlag einer Libelle. Daher schien das Kind, während der Prinz der Dämonen seinen eigenen mitternächtlichen Geschäften in und außerhalb der Welt der Menschen nachging, den Mann, zu dem es hinaufblickte, nur ein- bis zweimal jährlich zu sehen, während Azrharn vielleicht sozusagen zweimal täglich zur Kinderstube gegangen war. Dennoch fühlte sich das Kind nicht vernachlässigt. In seiner Verehrung nahm es kein Recht für sich in Anspruch, um irgendeinen Gefallen zu bitten - tatsächlich dachte es noch nicht einmal an so etwas. Was Azrharn anbetrifft, so wies die Häufigkeit seiner Besuche auf sein großes Interesse an dem Jungen hin - oder jedenfalls auf sein großes Interesse an seinen Vermutungen, was aus dem Jungen werden würde.

 

So wuchs das Kind zu einem Jugendlichen von sechzehn Jahren heran.

Die Vazdru, die Aristokratie von Druhim Vanaschta, beobachteten ihn manchmal, wenn er über die hohen Terrassen des Palastes ihres Herrn ging, und manch einer mochte bemerken: »Dieser Sterbliche ist tatsächlich wunderschön; er strahlt wie ein Stern.« Und ein anderer würde antworten: »Nein, eher wie der Mond.« Und dann pflegte irgendeine königliche Dämonin sanft zu lachen und zu sagen: »Mehr wie ein anderes Licht des Erdenhimmels, und unser wunderbarer Prinz sollte am besten vorsichtig sein.«

Schön war der junge Mann, genau wie Azrharn es vorausgesehen hatte. Aufrecht und schlank wie ein Schwert, weiß die Haut; und mit seinem Haar wie strahlend roter Bernstein und seinen Abendaugen gab es gewiss wenige in der Unterwelt, die so außerordentlich waren, und weniger noch in der darüber liegenden Welt.

Eines Tages, als er im Garten unter den Zedern spazieren ging, hörte er die Eschva-Dienerinnen seufzen und sich in der Hüfte beugen wie Pappelhain im Wind, welches die Form darstellte, wie sie ihrem Prinzen huldigten. Und als er sich eifrig umwandte, erblickte der junge Mann Azrharn, der auf dem Weg stand. Es schien dem Sterblichen, dass dieser besondere Besucher weit länger als vorher ferngeblieben war; vielleicht hatte ihn irgendein verwickelteres Unternehmen als gewöhnlich auf der Erde festgehalten, das Beugen einer sanften Gesinnung oder der Untergang eines noblen Königreiches, so dass möglicherweise vier oder fünf Jahre im Leben des jungen Mannes verstrichen waren, ohne dass er ihn gesehen hatte. Nun brannte dort sein dunkler Glanz so ungeheuerlich, dass der Sterbliche eine Regung verspürte, seine Augen wie vor einem großen Licht abzuschirmen.

»Nun«, sagte Azrharn, Prinz der Dämonen, »es scheint, ich habe in jener Nacht auf dem Hügel eine ausgezeichnete Wahl getroffen.« Und als er näherkam, legte er seine Hand auf des jungen Mannes Schulter und lächelte ihn an. Und diese Berührung war wie ein Speerstoß aus Schmerz und Lust und das Lächeln wie der älteste Zauber der Zeit, so dass der Sterbliche keine Worte fand, nur zittern konnte.

»Nun wirst du mir gut zuhören«, sagte Azrharn, »denn dies ist die einzige harte Lehre, die ich dir erteilen werde. Ich bin der Herrscher dieses Ortes, dieser Stadt und dieses Landes, und ebenso bin ich der Meister vieler Zaubereien und ein Gebieter der Finsternis, so dass die Dinge der Nacht mir gehorchen, sei es auf der Erde oder unter ihr. Dich jedoch will ich mit vielen Gaben versehen, die allgemein den Menschen nicht verliehen sind. Du sollst mir sein mein Sohn, mein Bruder und mein Geliebter. Und ich will dich lieben; denn als solcher, der ich bin, gebe ich meine Liebe nicht leichtfertig, aber einmal gegeben, wird sie nicht wanken. Doch bedenke dies: wenn du mich jemals dir zum Feind machen wirst, wird dein Leben. sein wie Staub oder Sand im Wind. Denn was ein Dämon liebt und verliert, das wird er zerstören, und meine Macht ist die gewaltigste, die du vermutlich je erfahren wirst.«

Aber der junge Mann starrte in Azrharns Augen und sagte: »Wenn ich dich erzürnen sollte, mein Gebieter, dann würde mein einziger Wunsch sein zu sterben.«

Darauf neigte Azrharn sich herab und küsste ihn.

Der Kopf des Sterblichen verschwamm, und er schloss die Augen.

Azrharn führte ihn zu einem Pavillon aus Silber, in dem die Teppiche dick waren wie Farn und nach nächtlichen Wäldern rochen, und dunkelglänzende Tücher hingen herab wie Wolken über dem Mond.

An diesem fremdartigen Ort, teils wirklich, teils rätselhaft, wägte Azrharn noch einmal die herangewachsene jungfräuliche Schönheit seines Gastes ab, indem er den elfenbeinernen Körper liebkoste und mit seinen Fingern das Bernsteinhaar kämmte, das er so schätzte. Der Jüngling lag sprachlos vor Entzücken unter der Berührung des Dämons. Er schien aufgezehrt vom hitzelosen Brennen der Feuerfontäne im Garten. Er war ein Instrument, das eigens für einen einzigen Meistermusiker entworfen war. Nun stimmte der Meister seinen Körper und erweckte die Nervensaiten seines Fleisches zu einer höchst empfindsamen und spannungsvollen Pein. In der Umarmung Azrharns lag nichts Rohes oder auch nur Drängendes. Ewige Zeit stand dem Liebesakt von Seiten Azrharns zu Gebote, Lustgenüsse, die aufwogten und sich vom einen über den anderen ergossen, anhaltend und ohne Maß. Geschmolzen und wiedergeformt im grenzenlosen Hochofen, wurde der Jüngling schließlich zu einem einzigen pulsierenden Resonanzboden für dies aufsteigende Motiv. Dann wurde ein schrecklicher und wunderbarer Ton in ihm zum Klingen gebracht, der das wartende Gefäß, das er geworden war, bis zum Rand erfüllte. Der Phallus des Dämons (weder eiskalt noch brennend), drang in ihn ein, wie ein König in ein erobertes Königreich eindringt; voll Verehrung, sein Eigen durch das Recht der Hingabe. Der Phallus war ein Turm, der das Tor durchstieß, den Scheitelpunkt des Zufluchtsortes seiner inneren Welt. Die dunklen Farben des Pavillons vermischten sich mit der Dunkelheit jener drohenden und unverschlossenen Augen, die ihn mit einer schrecklichen, grausamen, schonungslosen Zärtlichkeit betrachteten. Der Leib des Sterblichen glühte auf, entflammte und zerbarst in Millionen Schauder von unsagbarer Wonne, die letzten Musikakkorde, die Kuppel des Turmes, der das Dach des Himmels im Gehirn zerschmetterte.

So sank er zurück im Delirium, mit dem Geschmack von Nacht, Azrharns Mund, auf seinem eigenen.

 

 

 

 

  2. Sonnenschein

 

Azrharn gab dem Jüngling einen Namen: Sivesch, was in Dämonensprache der Helle, Schöne, bedeutete oder vielleicht auch der Gesegnete. Er machte Sivesch zu seinem Gefährten und überhäufte ihn mit vielen unglaublichen Gaben, wie er versprochen hatte. Er verlieh ihm die Fähigkeit, mit einem Pfeil weiter und geschickter zu schießen als irgendein anderer, Mensch oder Dämon, und mit einem Schwert zu kämpfen, als ob er zehn Schwertarme in seinem einen berge. Durch Berühren seiner Stirn mit einem Jade-Ring befähigte er ihn, jede der sieben Sprachen von der Unterwelt zu sprechen und zu lesen und mit einem Perl-Ring jede der sieben Sprachen der Menschen. Und mit einem Zauberspruch, der älter war als die Welt selbst, machte er ihn immun gegen jegliche Waffe, Stahl oder Stein, Holz oder Eisen, Schlangen- und Pflanzengift oder Feuer. Nur vor dem Wasser konnte er ihn nicht beschützen, denn die Ozeane gehörten zu einem anderen Königreich als die Erde und hatten ihre eigenen Herrscher. Azrharn plante jedoch, eines Tages den Jüngling zu den kalten, blauen Ländern von Oberwelt zu bringen und die Wächter der Heiligen Quelle zu überlisten, um Sivesch einen Unsterblichkeitstrunk zu geben.

In der Zwischenzeit gab es viel zu entdecken und zu tun für den jungen Mann, denn von nun an streifte er nicht nur mit dem Prinzen Druhim Vanaschta umher und nahm an all ihren wunderhaften Vergnügungen teil, sondern er ritt auch neben ihm durch die wilden Einöden von Unterwelt. Azrharn hatte ihm mit all den andern Gaben ein Dämonenpferd zu reiten gegeben, eine Stute  mit einer Mähne und einem Schwanz, die blauem Rauch glichen, und der bemerkenswerten Fähigkeit übers Wasser zu laufen. Azrharn und Sivesch pflegten zusammen über die Seen der Unterwelt zu galoppieren, unter Bäumen aus Silberdraht oder Knochen, oder mit blutroten Spürhunden an den Ufern des großen Schlafflusses zu jagen, wo weißer Flachs wuchs wie Binsen. Azrharn jagte an jenen Gestaden weder Wild noch Hasen oder nicht einmal Löwen, denn die kleinen Grausamkeiten der Menschen waren nichts im Vergleich zu den riesigen Grausamkeiten von Dämonenart. Die Vazdru jagten die Seelen schlafender Menschen, die schrill schreiend vor den Hunden davonliefen; indes waren es nur die Seelen der Wahnsinnigen und jener, die dem Tode nahe waren, welche die Hunde fangen und reißen konnten, und selbst diese entkamen am Ende immer - es war für die Dämonen bloß ein Sport. Und Sivesch, der keine Erinnerung hegte an das, was er war, und keine anderen Gesetze kannte als die Gesetze der Finsternis, jagte fröhlich und gedankenlos mit seinem Gebieter.

Schließlich begann Azrharn sich nach der Erde oben zu sehnen. Da nahm er Sivesch ebenfalls mit. Sie reisten natürlich bei Nacht, denn kein Dämon liebte den Tag der Welt. Azrharn stieg aus dem Vulkanschacht auf wie ein Adler, aber er hatte Sivesch in eine Feder an seiner Brust verwandelt. Hinauf in den Himmel flogen sie, und die Feder zitterte an ihm. Dort unten loderten die Krater der Feuerberge, dort oben leuchtete das Gesicht des Mondes, eingerahmt in seinen Himmelsmantel mit den Sternen wie darüber geworfene Diamanten. Niemals sah ich solchen Glanz gesehen wie diesen, dachte Sivesch. Die Fontäne im Garten gibt weder Licht noch Wärme. Er war, obwohl er es vergessen hatte, ein Kind der Erde. Seine sterbliche Seele streckte sich ihr blind entgegen.

Als Azrharn sah, dass Sivesch an der Welt Gefallen fand, kam er, um viel Zeit in ihr zu verbringen.

Manchmal pflegten sie in der Tracht von Reisenden die nächtlichen Städte der Menschen zu besuchen und heimlich in königliche Schatzhäuser einzudringen. All die Edelsteine und Metalle, die sie dort fanden, pflegte Azrharn in Haufen von Staub oder welken Blättern zu verwandeln, denn solcherart war sein Vergnügen. Und oft führten sie eine Karawane in der Wüste irre oder ein Schiff, damit es an den Zähnen einer unfreundlichen Küste zerschelle. Doch all diese Dinge waren für Azrharn kindische Spiele; seine Bosheit war von einer weit größeren und bei weitem feineren Art. Indessen gefiel es Azrharn, zu sehen, wie freudig und unbedenklich Sivesch ihm in allem gehorchte und wie geschickt der Jüngling war. Azrharn ging auf ihn ein wie auf ein geliebtes Kind.

Dann eines Nachts, als sie auf ihren Dämonenpferden aus der Unterwelt mit den rauchigen Mähnen die Hügel irgendeines irdischen Königreiches herunterritten, wo sie Feuer und Mord hinter sich gelassen hatten, kamen sie zu einem alten, verschrumpelten Hexenweib am Straßenrand. Sobald sie der Reiter und ihrer fremdartigen Pferde ansichtig wurde, rief sie aus: »Gesegnet sei der Name des Dunklen Gebieters und möge er mir kein Leid zufügen.«

Worauf Azrharn lächelnd antwortete: »Die Zeit hat dich mit ihren Klauen schon genügend gezeichnet.«

»Das hat sie wahrhaftig«, jammerte die Hexe und ihre Augen glitzerten gierig. »Will der Dunkle Gebieter mir noch einmal meine Jugend gewähren?«

Darauf lachte Azrharn kalt: »Ich gewähre nicht oft Wünsche, Hexe. Aber obwohl ich dir deine Jugend nicht gebe, sehe ich doch zu, dass du nicht älter wirst«, und ein Blitz zuckte von seiner Hand und streckte die Hexe nieder. Es war niemals weise, einen Dämon um eine Gefälligkeit zu bitten.

Doch die Hexe starb nicht sofort, und als sie da lag, starrte sie Sivesch an. Sie bemerkte das schöne Gesicht, und da sie vermutete, dass er sterblich war, sagte sie: »Verachte mich, wenn du kannst. Auch du bist ein Narr, Erdgeborener, dass du dein Vertrauen setzt in Dämonenart und eine Stute aus Rauch und Nacht reitest. Was Dämonen lieben, das erschlagen sie zuletzt, und die Geschenke von Dämonen sind Fallstricke. Gehe nirgends hin auf einem Pferd, das schwindet, denn deine Träume werden dich verraten.« Dann fiel sie zurück und sagte nichts mehr.

Inzwischen war die Morgendämmerung nahe, und Azrharn war ungeduldig, zum Mittelpunkt der Erde zurückzukehren. Aber Sivesch, den die Worte der Hexe seltsam beunruhigt hatten, stieg ab und beugte sich über ihren Körper. Als er da kniete, ließ ihn eine wundersame Blässe am Himmel wieder aufblicken, und am Rand der Hügel sah er ein Glühen wie eine brennende Rose.

»Was für ein Licht ist das?«, fragte er Azrharn verwundert und erfüllt von  Ehrfurcht.

»Dies ist das Licht der Morgendämmerung, das ich verabscheue«, antwortete der Prinz. »Komm, steig auf dein Pferd und lass uns eiligst reiten, denn ich möchte auf keinen Fall die Sonne sehen.«

Aber Sivesch kniete auf der Erde wie in Trance.

»Komm nun, oder ich muss dich hier zurücklassen«, sagte Azrharn zu ihm.

»Bin ich denn erdgeboren, wie diese Frau gesagt hat?«

»Das bist du. Für dich mag die Sonne vielleicht hübsch aussehen, aber für die Herren der Finsternis ist sie ein Ding von grausiger Hässlichkeit.«

»Mein Gebieter«, rief Sivesch aus, »lass mich hierbleiben – nur für einen Tag. Lass mich die Sonne sehen. Ich kann nicht ruhen, ehe ich dies getan habe. Und doch«, fügte er hinzu, »wenn du mir befiehlst, mit dir zurückzukehren, so muss ich es tun, denn du bist mir teurer als irgendetwas.«

Das besänftigte Azrharns Gefühle. Er wollte den jungen Mann nicht bleiben lassen, aber er sah Unbehagen voraus, wenn ihm eine Ansicht der Erde bei Tageslicht verweigert würde.

»So bleibe denn«, sagte Azrharn, »für einen Tag.« Dann warf er ihm eine kleine Silberpfeife in der Form eines Schlangenkopfes zu und sagte: »Blase darauf in der Abenddämmerung und es wird mich zu dir hinziehen, wo immer du auch bist. Und nun leb wohl.« Dann grub er die Sporen in sein Tier und galoppierte davon, schneller als ein Gedanke, und Siveschs Stute, die – als sich der Himmel erhellte -  gestampft und gewiehert hatte, floh ebenfalls davon.

Sivesch spürte eine plötzliche Furcht bei seinem Zurückgelassensein in der Welt der Menschen, allein auf den Hügeln neben dem Leichnam der Hexe und mit dem schrecklichen, blendenden Glanz der Dämmerung, die den Osten erfüllte. Aber dann begann in ihm ein Glücksgefühl anzuschwellen, das wuchs wie eine Melodie in seinem Herzen. Genauso hatte er gefühlt, als Azrharn in Druhim Vanaschta zum ersten Mal zu ihm gesprochen hatte, nur diesmal konnte er keinen Grund finden außer dem Licht über den Hügeln.

Zuerst kam Jadegrün, dann Rubinrot, dann eine Scheibe aus Gold, aus der Strahlen schossen wie Flammenpfeile und die ganze Welt in lodernde Helligkeit versetzten. Dann erfüllten solche Farben das Land, wie sie der Sterbliche, der in der Unterwelt gelebt hatte, niemals gesehen hatte, solche Grüns, solche Safrangelbs, solche Rots - sein ganzer Körper schien sich mit ihnen zu erhellen wie die Welt Feuer zu fangen schien von der Sonne. Niemals hatte er in Azrharns mitternächtlichen Hallen oder den schattig glänzenden Straßen der Dämonenstadt eine vergleichbare Pracht gesehen. Er stand da und brach darüber in Tränen aus wie ein verlorenes Kind, das plötzlich nach Hause findet.

Während des ganzen Tages  wanderte Sivesch in den Tälern und den Abhängen umher, und was er dort tat, weiß niemand. Vielleicht bezauberte er die wilden Füchse, ihm zu folgen, oder die Vögel der Luft, auf seiner Hand zu sitzen; vielleicht hielt er bei der Hütte eines Hirten und fand dort ein hübsches Mädchen, das ihm einen Trunk Milch in einer irdenen Schale brachte, und einen tieferen Trunk, vielleicht, aus jener anderen Schale, mit der die Götter Frauen betraut haben. Was immer er auch tat, als die Sonne wie eine feurige Flut im Meer versank, lag er erschöpft auf dem Hügel und schlief ein und dachte nicht daran, die Pfeife zu blasen, die Azrharn ihm gegeben hatte.

Alsbald kam Azrharn, wie ein tintenschwarzer Wind über das Land ziehend, und suchte nach ihm. Sivesch war nicht weit gestreift; der Prinz hatte keine Mühe, ihn zu finden. Azrharn war ärgerlich, doch als er ihn schlafen sah, seine schönen Augen vor Müdigkeit fest geschlossen, ließ er seinen Ärger ruhen und weckte den Jüngling mit einer sanften Berührung. Sivesch richtete sich auf und blickte umher, und bald machte er Azrharn im Wind ausfindig.

»Du hast versäumt, mich zu rufen«, sagte Azrharn, »so musste ich kommen, um nach dir zu suchen wie dein Sklave oder dein Hund.« Jedoch sprach er mit ruhiger Stimme und leicht amüsiert.

»Vergib mir, mein Gebieter, aber ich habe so viel gesehen...«

»Erzähle mir nichts davon«, sagte Azrharn schroff. »Ich hasse die Dinge des Tages. Nun steh auf, und ich will dich nach Druhim Vanaschta bringen.«

So kehrten sie zurück, der Jüngling mit seiner Rede eingesperrt in seinem Mund und Trauer auf seinem Gesicht, denn er wünschte all die Freude, die er in der Welt empfunden hatte, mit Azrharn zu teilen, da er ihn liebte.

Und wie kalt die Stadt erschien, und wie düster, all seine Juwelen und sein Glanz schwanden dahin vor der Helligkeit der Sonne. Das ewige, kühle Licht von der Unterwelt war dagegen wie ein Eishauch auf seine Seele.

Azrharn sah all dies in Siveschs Augen, aber wie zuvor tat er seinen Ärger beiseite. Er beabsichtigte, das Gemüt des jungen Mannes zu zerstreuen.

Azrharn rief die Drin zusammen, die geschickten zwergenhaften Schmiede der Unterwelt, und ließ sich von ihnen in einer einzigen Nacht einen gewaltigen Palast auf einem hochgelegenen Ort Druhim Vanaschtas erbauen. Er bestand aus Gold, einem Metall, das gewöhnlich nicht in der Gunst von Dämonen stand, und war beleuchtet von tausend vielfarbigen Lichtern und umgeben von einem Burggraben voll vulkanischem Magma. Solch ein Bauwerk hatte kein Gegenstück, nicht einmal unter den mannigfaltigen Zierden der Stadt. Sivesch staunte darüber, aber er konnte seine Gedanken nicht vor Azrharn verbergen, denn das Gold war nicht wie das Gold der Sonne, und das Magma im Schlossgraben wärmte ihn nicht.

Als nächstes versammelte Azrharn sein Volk zu einem Fest. Er führte Sivesch leicht am Arm und schritt mit ihm durch die Reihen der glitzernden Gäste. »Es ist Zeit, dass du Frauen kostest, mein Lieber. Du musst dir eine Braut nehmen«, sagte er. »Sieh, hier unter den Vazdru und den Eschva sind die magischsten Schönheiten meines Königreiches. Wähle, und jegliche von ihnen soll dein sein.« Sivesch schaute umher, doch die lieblichen Gesichter der Dämonenfrauen waren wie Papiermasken, ihr schwarzes Haar düster, ihre Augen wie träge Pfühle und die Bewegungen ihrer Gliedmaßen wie die von Schlangen. Er wurde noch bleicher von Qual und konnte nicht antworten. Azrharn strich bloß über sein Haar und lächelte.

 

Er ging allein in der Nacht zu dem Hügel, wo er Sivesch schlafend gefunden hatte. Dort nahm er die Gestalt eines schwarzen Wolfes an und grub mit seinen Klauen in der Erde. Nach kurzer Zeit fand er einen kleinen keimenden Samen. Eiligst ergriff er den Samen und huschte in seiner geschwindesten Form, der eines zündenden Blitzes, zurück zur Unterwelt. Dort im dunklen Garten, neben der Fontäne aus Feuer, pflanzte er den Samen in die Erde und sprach gewisse Worte darüber und streute gewisse Pulver darauf... Bald darauf ließ er Sivesch rufen.

Sivesch stand neben dem Prinzen der Dämonen und zuerst sah er nichts, außer der frisch umgegrabenen Erde. Dann breitete sich von der Mitte des Beetes her ein Spalt aus wie ein sich ringelnder Wurm, und nach dem ersten sechs weitere. Kurz darauf kam eine Öffnung zum Vorschein, und heraus drängte sich die Spitze von etwas Wachsendem wie die Schnauze eines Maulwurfs.

»Oh, mein Geliebter, was ist das?«, fragte Sivesch zwischen Schrecken und Faszination.

»Ich habe eine seltsame Blume für dich gepflanzt«, antwortete Azrharn, und indem er seinen Arm um des jungen Mannes Schultern schlang, hieß er ihn warten und schauen.

Der Schössling der geheimnisvollen Pflanze kam nun herausgekrochen. Sobald er sich von Erde freigeschüttelt hatte, begannen Blätter und Knospen hervorzusprießen, obgleich sie meist ebenso schnell verwelkten wie sie entstanden. Eine Knospe jedoch schwoll an dem Stängel wie eine Blase, schwoll an zu einer ungewöhnlichen Größe und platzte auf. In ihrem Innern stand eine ausgewachsene Blüte, die in ihrer Form am ehesten dem geschlossenen Kelch der Magnolie glich, die Farbe von blassestem Violett, aber rosenfarben geädert.

Das war wunderbar genug; der junge Mann hielt den Atem an. Aber was danach kam, war noch weitaus wunderbarer.

Die festgeschlossenen Blütenblätter der Blume öffneten sich verstohlen eins nach dem andern und enthüllten hinter sich je ein anderes von einem tieferen und noch hinreißenderem Blau, bis schließlich die ganze Blüte weit ausgebreitet war wie ein Fächer. Und im Herzen der Blume lag ein Mädchen, nackt, zwischen den Flammen ihres Haares.

»Da die Frauen meines Landes nicht hübsch genug waren, um dir zu gefallen«, bemerkte Azrharn, »habe ich dir eine Frau aus einer Erdenblume wachsen lassen. Sieh, ihr Haar ist weizengelb, ihre Brüste weiße Granatäpfel und ihre Lenden Honigtau.« Er führte Sivesch zu der Blume, beugte sich vor und hob das Mädchen heraus; und als ihre weißen Füße das Herz der Blume verließen, gab es einen kleinen knackenden Laut wie beim Brechen eines Pflanzenstängels. Sogleich öffnete das Mädchen die Augen: sie waren so blau wie der Erdenhimmel.

Azrharn, der Prinz der Dämonen, legte mit einem heimlichen Lächeln ihre Hand in Siveschs Hand und das Mädchen lächelte, als ob sie ihn nachahmen wollte, ebenso und schaute in Siveschs verwirrtes Gesicht. Und so süß waren dieses Lächeln und diese Lieblichkeit, dass Sivesch die Sonne vergaß.

 

 

Ihr Name war Ferashin, Blüten-Geborene. Sivesch lebte mit ihr in Einklang für die Zeit eines Jahres der Sterblichen in seinem Palast in Druhim Vanaschta.  Azrharn hatte ihn viele der Wege des Liebens gelernt. Dämonen waren nicht nur einer einzigen Straße zugetan, einem einzigen Raum in dem unermesslichen Schatzhaus. Die wonnevolle Tür des einen Zimmers führte in ein anderes. Ferashin, mit dem Honigtau ihrer Lenden, ihrer Apfelsüße und ihrem Weizenfeld-Haar, auf das sie ihren Geliebten und sich selbst wie auf einen geschmeidigen Teppich aus duftendem Gold bettete, war so reif für Siveschs Lust wie die Erde.

Sicher ist, dass er sie in dieser Zeit liebte, und es mag sein, dass sie ihn liebte. Sie war nicht von der Art der Dämonen, obgleich von Dämonen geschaffen. Noch war sie menschlich. Sie war ein Geschöpf von Erdensamen und übernatürlichem Mutterboden. Sie trug den Stempel beider.

So lebte Sivesch für ein Jahr in etwa wie vorher, jagte in den Wildnissen von der Unterwelt, gab Feste in der unterirdischen Stadt, ging manchmal des Nachts mit Azrharn über die Erde und kehrte zuletzt über den magmagefüllten Burggraben zu seinem Blumen-Weib zurück. Und wenn er sie auch verehrte, so betete er immer noch den Prinzen der Dämonen an vor allem anderen, um o mehr wegen dieses letzten Geschenkes, das er ihm gegeben hatte. Es mag sein, dass auch irgendein Zauber über ihn verhängt war, wenn er ihre Hand ergriff, denn ansonsten ist es merkwürdig, dass er so lange und vollständig die Tageswelt vergaß, dass er sich damit begnügen konnte, sie bei Nacht zu besuchen, und dass er sogar die Seelen der Menschen  am Schlaffluss jagen konnte.

Aber selbst der Prinz der Dämonen konnte nicht alles voraussehen, und so war es Ferashin selbst, die den Zauber brach. Sie war von der Welt gekommen, wenn auch Dämonen sie schufen, und ihr Herz war immer noch das Kerngehäuse des Samens, der den Gesetzen der Natur gehorcht und sich nach Licht und Luft sehnt.

Plötzlich, am letzten Tag des Jahres, als sie sich vom Bett erhob, murmelte sie zu Sivesch, ihrem Ehemann: »Ich träumte einen gar wunderlichen Traum, während ich schlief. Ich träumte, ich lag in einer Höhle und hörte ein Bronzehorn im Himmel erschallen, und ich wusste, dass es mich rief. So erhob ich mich und kletterte ihm über die steilen Treppen der Höhle entgegen. Der Weg war sehr beschwerlich, aber zuletzt erreichte ich eine Tür, und als ich sie aufstieß, kam ich draußen auf eine Wiese, und darüber war eine bezaubernde Schale, ganz in Blau, mit einer kleinen, eingesetzten Scheibe aus Gold, und obwohl sie so klein war, strahlte die Scheibe ein Licht aus, welches das Land erfüllte von einem Ende zum anderen.«

Als Sivesch ihre Worte hörte, schien sein Herz in ihm zu springen und zu entflammen, und er erinnerte sich sofort an die Morgendämmerung, als er die Sonne gesehen hatte. Es war, als ob ein Schatten auf alles um ihn her gefallen wäre, außer in seine Brust und sein Gehirn, die in Flammen standen. Er schaute auf die schöne Ferashin, und sie war wie eine Gestalt aus Nebel. Der Palast um sie beide herum war düster wie gelbes Blei. Er rannte hinaus in die Stadt; ihre Pracht war erkaltet, sie war ein Grab. Dann, als er verwirrt in den Straßen des Grabes umherlief, traf er Azrharn.

»Ich sehe, du hast dich an die Erdenwelt erinnert«, sagte der Prinz der Dämonen mit einer Stimme aus Eisen. »Was nun?«

»Oh, mein Gebieter, mein Gebieter, was kann ich tun?« rief Sivesch weinend. »Das Fleisch meiner Mutter ruft mich aus ihrem Grab in der Erde oben. Ich muss zurückkehren zum Land der Menschen, denn ich kann nicht länger in der Unterwelt verweilen.«

»So willst du leugnen, dass du mir irgendeine Liebe schuldest«, sagte Azrharn mit einer Stimme aus Stahl.

»Mein Gebieter, ich liebe euch mehr als meine Seele. Wenn ich euch verlasse, wird es für mich sein, als ob ich die Hälfte von mir in eurem Königreich zurückließe. Aber hier leide ich Folterqualen. Ich kann nicht bleiben. Die Stadt ist ein Schatten und ich bin ein blinder Wurm, der in ihr umherkriecht. Habt deshalb Mitleid mit mir und lasst mich gehen.«

»Dies ist das dritte Mal, dass du mich erzürnt hast«, sagte Azrharn mit einer Stimme aus tiefstem Winter. »Überlege dir gut, ob du wünschst, mich zu verlassen, denn ich werde meinen Zorn nicht länger mehr beiseite tun.«

»Ich habe keine Wahl«, sagte Sivesch, »keine, mein Gebieter aller Gebieter.«

»Dann geh!«, sagte Azrharn mit einer Stimme des  Todes. »Und gedenke später dessen, was du verworfen hast und warum, und wer es ist, der dir dies sagt.«

Dann ging Sivesch mit bleiernen Schritten zum Stadtrand von Druhim Vanaschta, und überall auf dem Weg zogen die Dämonen sich vor ihm zurück. Die großen Tore öffneten sich. Ein Wirbelwind riss ihn nach oben und schleuderte ihn durch den Rachen des Vulkans und heraus auf die Erde, nach der es ihn schmerzlich verlangte.

Auf diese Weise kehrte Sivesch zurück in die Welt der Menschen und wandelte von Kummer gepeinigt unter der Sonne.

 

 

 

 

  3. Der Alptraum

 

Dies war Siveschs Tragik: während er nicht länger ertragen konnte, in der Stadt unten zu leben, kannte er doch kein anderes Leben, und während er sich nach der Sonne der Welt sehnte, die ihn verlassen hatte, so sehnte er sich nun genau so sehr nach der dunklen Sonne von Druhim Vanaschta - Azrharn.

Er war ein Prinz gewesen, in einem Palast, mit Pferden und Jagdhunden und einem schönen Weib. Nun arbeitete er für die Hirten auf den Hügeln und in den Tälern, trieb die rauen Ziegen den ganzen Tag lang in der Hitze und schlief des Nachts in einem Zelt aus Tierhaut oder in einem kleinen Steinhäuschen am Wegesrand. Seine Bezahlung war eine Scheibe groben Brotes und eine Handvoll Feigen; er trank aus Bächen, wie es die Ziegen taten. All dies bedeutete ihm nichts. Die Sonne war sein Beweggrund. Er beobachtete, wie sie aufging, er sah sie vorbeiziehen wie einen feurigen Vogel, er beobachtete, wie sie jenseits der Welt versank und die Raben der Finsternis sich versammelten. Die Sonne war seine Freude, seine Glückseligkeit. Die Hirten wunderten sich, wenn sie ihre Herden über das Land trieben, über den fremdartigen und schönen Jüngling, der viel seiner Zeit damit verbrachte, nach oben zu starren. Er machte sich niemanden zum Freund unter ihnen, obgleich er sanft und bescheiden war. Sie dachten, er mochte eines reichen Mannes Sohn sein, der in schwere Zeiten geraten war. Er sprach mit keinem Wort über seine Vergangenheit, doch manchmal hörten sie ihn im Schlaf einen Namen rufen, den manche von ihnen kannten, und es versetzte ihre Gemüter in Furcht. Denn im Schlaf starrte die Seele Siveschs, während sie im Schlaffluss wanderte, über die wilden Länder seines Traums und hielt Ausschau nach dem Dunklen Gebieter und seinen jagenden Hunden.

Er weigerte sich, all das, was Azrharn ihm gesagt hatte, als wahrhaftig anzuerkennen. Er wollte nicht glauben, dass der Prinz ihm jemals ein Leid zufügen könne. Er liebte vollkommen und mit seinem offenen, sterblichen Herzen; und er trug den Schmerz über seinen Verlust wie eine schwere Last, die er niemals abzusetzen wünschte. Azrharn, der ihn ebenso geliebt hatte, würde seinen Verlust in ähnlicher Weise tragen, und da Sivesch niemals verletzen konnte, was er liebte, so konnte Azrharn es auch nicht. In all den Jahren in der Unterwelt hatte Siveschs großzügige, melancholische Natur wenig gelernt von der Dämonen Art.

Eines Tages erreichten die Hirten eine Stadt, wo sie ihre Ziegen auf dem Markt verkaufen wollten. Es war eine Erdenstadt, und für Sivesch war sie sehr hässlich und schrecklich. Es hatte keine Armut oder Krankheiten, elende Hütten oder Bettler in Druhim Vanaschta gegeben, nur seltene Gärten und schlanke Minarette aus Metall, während die Dämonenrasse gefällig anzusehen war. Nach einiger Zeit hatte Sivesch genug. Er überließ die Hirten ihren Handelsgeschäften und lief aus der Stadt und weiter zur Meeresküste. Dort setzte er sich in tiefstem Gram auf einen Felsblock, und kurz darauf schwamm die Sonne unter dem Wasser, und die Nacht wehte herunter vom Land.

Für eine lange Zeit hatte er die Nacht gemieden, indem er seinen Kopf unter Ziegenfelle gesteckt hatte und schnellstens eingeschlafen war. Es schmerzte ihn, sich in Erinnerung zu rufen, wie er und Azrharn nachts über die Erde geritten waren und den Menschen Teufelsstreiche gespielt hatten. Teilweise hatte er auch begonnen, die Übel zu verstehen, die sie in der Welt unter dem kalten Mond begangen hatten. Verwirrung bedrängte ihn und ein Gefühl schrecklichen Verlustes. Doch diesmal blieb er an der Küste, denn es schien ihm, als ob sein Herz in dieser Nacht brechen müsse. Beinahe war er froh darüber.

So saß er da. Und die Sterne grinsten wie nackte Dolche. Schlaf, der Fischer, kam vielleicht ein- oder zweimal zu ihm, .verließ ihn dann wieder, sein hauchdünnes Netz im Schlepptau, um seinen Fang betrogen.

Um Mitternacht flüsterte ihm ein Wind ins Ohr. Er kündigte von einer fremdartigen Musik.

Sivesch lauschte und erhob sich. Er hörte eine wundersame, schleppende Melodie, traurig und verträumt; sie passte zu seiner Stimmung. Er schaute hinauf aufs Meer. Er sah ein Wunder. Der Mond war vom Himmel gefallen und  schwamm dort draußen. Aber dann schloss er die Augen und schaute nochmal, und durch den blassen Strahlenkranz, der es umgab, sah er ein unglaubliches Schiff. Es war geformt wie eine große Blume aus getriebenem Silber, in deren Mitte sich ein schlanker Silberturm aufreckte in die Nacht; sein Dach glich einem Diadem. Und in dem Turm, gerade unterhalb des Diadems, erstrahlte ein einzelnes, rubinrotes Fenster. Das Schiff hatte weder Segel noch Ruder. Vor seinem Bug war eine Bewegung, ein Glitzern des Sternenlichts auf nasser, uralter Haut, und kräuselnder Schaum: riesige Bestien zogen das Fahrzeug durch die Wellen wie ein Gespann von Streitrossen einen Triumphwagen ziehen würde. Was sie waren - ungeheure Wale oder vielleicht sogar Drachen -, hätte Sivesch nicht sagen können. Er stand und schaute, und während er noch schaute, wendete das Schiff und kam näher zum Land.

Überall um ihn herum schien die liebliche, kummervolle Musik zu ertönen. Die gewaltigen Bestien arbeiteten sich mühsam vorwärts, das Schiff glitt ihnen nach. Sivesch lief eine Strecke weit ins Meer, bis die Wellen sich an seinen Knien brachen. Er schaute noch immer: das Fenster öffnete sich weit. Zum Vorschein kam ein Gesicht.

Siveschs Schwäche war seine Liebe für Schönheit. Wie andere Reichtümer liebten oder Vergnügen oder Macht, so liebte er diese. Und daher betete er Azrharn an, und eine Zeitlang Ferashin, die Blüten-Geborene, und daher verehrte er das Licht des Feuers und zuletzt den Herren aller Feuer, die Sonne. So schaute er hinauf in das Gesicht des Mädchens, das sich vom Turm herabneigte, und sie wurde die Summe von alledem.

Nachdem so viel von Schönheit gesprochen wurde, wie ist es möglich, von ihr zu reden? Keine Worte sind mehr übrig auf Erden in irgendeiner Sprache, die dies vermögen. Solche Worte verschwanden von der Welt, als sie in einer kataklastischen Umwälzung sich freischüttelte vom Ozean des Chaos, die sie in Form einer der Bälle zurückließ, wie kleine Kinder sie beim Spielen in die Luft werfen.

Indes war etwas von Ferashin in ihr und ebenso etwas von Azrharn, und sie schien von ihrem Fenster her wie die Sonne; und wie die Sonne enthüllte sie sich langsam aus ihren Tüchern und ließ Schritt für Schritt den Glanz ihrer silbernen Nacktheit auf Sivesch fallen, die ihn blendete, bis dass er zitterte und seine Lenden sich mit Feuer füllten.