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Für Moni

unser Schiff des Lebens ist kein Luxusliner
Es ist alt, es ist schon oft überholt worden
An manchen Stellen blättert der Lack ab
Doch kein Sturm kann ihm etwas anhaben
Denn es ist unsinkbar
Es heißt Liebe

Titelidee: Manfred H. Krämer

ISBN Taschenbuch

978-3-86476-085-3

ISBN E-Book EPUB

978-3-86476-512-4

ISBN E-Book PDF

978-3-86476-513-1

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Seit 1542

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© Verlag Waldkirch Mannheim, 2017

Manfred H. Krämer

RiverMord

Ein Flusskreuzfahrt-Krimi

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Inhalt

Vorbemerkung des Autors

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Anhang

Nachwort

Solo & Tarzan

Vorbemerkung des Autors

Dies ist der achte Band der Reihe um die „Zufallsermittler“ Solo und Tarzan. Sämtliche Bücher sind in sich abgeschlossene, selbstständige Geschichten. Es ist also völlig gleich, ob Sie Ihr Lesevergnügen mit „Tod im Saukopftunnel“ oder mit dem vorliegenden Band beginnen. Da meine beiden Hauptpersonen seit ihrer „Geburt“ 2004 mittlerweile ein recht turbulentes Leben hinter sich haben und es in den einzelnen Krimis immer mal wieder zu Erinnerungen daran oder kurzen Rückblicken kommt, würde die umfassende Einführung der beiden Protagonisten zu Beginn der Handlung einfach zu viel Raum beanspruchen. Auch würde dies die Stammleser, die mir seit dem ersten Band die Treue halten, nur langweilen. Deshalb habe ich beschlossen, für Neueinsteiger und „Nochmal-nachlesen-Woller“ im Anhang in einem speziellen Kapitel Solo und Tarzan ausführlich vorzustellen und in einen kurzen Rückblick auf die Ereignisse der letzten 13 Jahre einzugehen. Somit starten wir sofort mit der eigentlichen Handlung, was der Dramaturgie und dem Spannungsbogen sicher gut bekommt. Daher meine Bitte an alle, die zum ersten Mal einen Solo & Tarzan-Krimi lesen: Zäumen Sie das Pferd einfach von hinten auf und lesen Sie das Letzte zuerst, machen Sie sich zunächst mit der selbstbewussten Solo und dem bodenständigen, leicht tollpatschigen Tarzan bekannt. Sie werden sie mögen. Mit all ihren Marotten und Macken, mit ihren Launen und ihren Träumen.

Ich wünsche Ihnen spannende Unterhaltung

Ihr Manfred H. Krämer

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Prolog

Der Priester war tot. Interessiert beobachtete der Junge das verzerrte Gesicht mit den starren, glanzlosen Augen. Das Luftschnappen, das Zucken, die linke Hand, die sich in Höhe des Herzens zitternd in die Soutane verkrallt hatte – vorbei. Stille. Als hätte jemand auf einer Fernbedienung die Stopp-Taste gedrückt. Ein Herzanfall? Der Junge wusste es nicht, vermutete es aber.

„Ruf an!“, hatte der Pfarrer befohlen. Panisch zuerst, dann flehend: „Ruf an! Ruf die Hundertzwölf!“ Dann war er rückwärts getaumelt und in seinen Sessel gefallen. „Ruf an …“, jetzt nur noch heiser flüsternd. Das Telefon stand auf dem Schreibtisch des Pfarrbüros. Der Junge hätte nur die Hand ausstrecken müssen. Dann war der rechte Arm des Pfarrers kraftlos zur Seite gesunken.

Die Stricknadel fiel lautlos auf den abgewetzten Teppich. Nie wieder würde sie sich in sein Ohr bohren. Nie wieder würde er den Druck der stumpfen Spitze auf seinem Trommelfell spüren. Nie wieder die keuchende Anweisung, stillzuhalten, hören. Gleich würde es vorbei sein. Für immer. Der Junge glaubte einen Ausdruck des Verstehens in den brechenden Augen des Mannes zu erkennen. Gefolgt von der entsetzten Erkenntnis, dass sein Ministrant nicht anrufen würde.

Kamen Pfarrer eigentlich automatisch in den Himmel? Der Junge glaubte das nicht. Zumindest nicht in diesem Fall. Franz Gustaf Sengewarth würde in der Hölle schmoren.

Der Junge erhob sich, schlug das Kreuz und verließ das Büro.

Es war kurz vor 18:00 Uhr an jenem eisigen Januartag. Niemand sonst war in dem aus rotem Sandstein erbauten, neogotischen Gebäude, in dem es immer zog. Im Tagesraum der Ministranten schlang er sich den langen blauen Wollschal um den Hals und zog sich seine dicke Winterjacke an. Er holte seine HSV-Mütze aus einer der Taschen und setzte sie auf. Er ging durch den düsteren Flur, öffnete die schwere Eichentür und atmete die frische, mit Schnee vermischte Luft in tiefen Zügen ein. Sorgfältig zog er die Türe ins Schloss. Es war vorbei. Die etwas verstimmte Stundenglocke von St. Michael begann zu schlagen. In manchen Fenstern flimmerte Fernsehlicht, der Schneefall wurde stärker. Ein scharfer Nordostwind fegte durch die Gassen und Straßen der Kleinstadt. Bald waren die Fußspuren des Jungen nicht mehr zu sehen. Vorbei. Frei?

Kapitel 1

In dem ein Urlaub platzt und jemand, der auf einem Schiff lebt, ausgerechnet eine Flusskreuzfahrt bucht, damit seiner Ehe nicht schon wieder das Gleiche passiert.

Dreizehn Jahre später:

„Schau mal, wir müssen noch nicht einmal Schlange stehen!“ Tarzan schob zwei Koffer neben sich her, Solo zog einen großen Trolley. Beide hatten Rucksäcke auf dem Rücken. Eine 14-tägige Kreuzfahrt erfordert schon eine gewisse Grundausstattung an Bekleidung. Tatsächlich: im Terminal 1 des Frankfurter Flughafens war der Bereich vor den Schaltern der Fluggesellschaft Emirates fast leer. Etwa zwei Dutzend Leute standen dort und starrten fast ausnahmslos auf ihre Handys. Die Bodenstewardessen saßen auf ihren Plätzen und zeigten ein angespanntes Lächeln.

„Kein Wunder …“, Solo zeigte mit der freien linken Hand auf die Reihe der Bildschirme an der Wand. „EK 044 – Dubai – 09:40 Uhr – Cancelled“, war dort zu lesen.

Sie schaute Tarzan fragend an. Der zuckte die Schultern.

„Die Mädels werden uns sicher sagen, was da los ist.“ Mit diesen Worten steuerte er den nächstgelegenen Schalter an.

„Moin.“ Umständlich kramte er die Tickets und ihre Pässe aus seinem Rucksack und legte sie der jungen Angestellten auf den Tresen.

Deren Eyeliner war verwischt und ihre dunklen Augen schimmerten feucht.

„Guten Morgen, Sie haben für Flug EK 044 gebucht? Tut mir leid, der Flug wurde storniert. Für weitere Informationen haben wir einen Extra-Schalter in Halle 2 geöffnet, bitte melden Sie sich dort.“

„Warum storniert? Hat der Copilot vergessen vollzutanken?“

„Tarzan!“ Solo rief ihren Mann zur Ordnung, der betroffen feststellte, dass der jungen Frau Tränen über die Wangen liefen.

„Abgeschossen.“

Solo und Tarzan wandten sich entgeistert zu dem arabisch aussehenden Mann im teuren Maßanzug um, der plötzlich neben ihnen stand.

„Gerade eben über Al Dschasira reingekommen.“ Er zeigte auf sein Smartphone. „Ich bin Suhai al Roumi. Es stimmt mich traurig, unter diesen Umständen Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Solo und Tarzan stellten sich ebenfalls vor und alle drei entfernten sich ein paar Schritte vom Schalter. Der Mann sprach akzentfreies Deutsch und vermittelte einen seriösen Eindruck. Bestimmt irgendein CEO oder Unterscheich oder so, dachte Tarzan.

„Das Flugzeug ist über dem Nordiran vom Radar verschwunden“, fuhr der Mann fort. „Es gab angeblich keinen Notruf. Mehrere Zeugen wollen am Nachthimmel einen Feuerball gesehen haben. Alles Gerüchte, aber Al Dschasira behauptet, Quellen zu haben, die von einem Abschuss durch russische Kampfflugzeuge sprechen. Wahrscheinlich aus Versehen. Schauen Sie: N24 bringt es jetzt auch.“ Er machte eine Kopfbewegung zu einem großen Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand, vor dem sich eine aufgeregt diskutierende Menschenmenge versammelte.

„Ach du Scheiße“, entfuhr es Tarzan und der Geschäftsmann nickte mit säuerlichem Lächeln. „Das ist normalerweise nicht meine Ausdrucksweise, aber diesen Gedanken hatte ich auch sofort im Kopf. Bitte entschuldigen Sie mich, meine Geschäftspartner warten.“ Damit verließ er sie in Richtung der Emirates-Lounge.

Tarzan war blass geworden und Solo sah auch nicht besser aus.

„Das glaube ich jetzt nicht …“, flüsterte sie und sah Tarzan aus weit aufgerissenen Augen an.

„Komm!“, sagte der nur und strebte so schnell er mit dem Gepäck konnte, dem Ausgang zu.

„Wo willst du denn hin? Tarzan, warte doch! Tarzan!“ Sie schulterte ihren Rucksack und zerrte den Trolley hinter sich her, während Tarzan schon durch die gläserne Schiebetür lief. Draußen blieb er stehen, ließ die Koffer los und drehte sich zu Solo um. Sein Gesicht unter der grauen Schiebermütze war verzerrt.

„Siehst du das Taxi da?“ Er deutete auf den ersten Wagen in der langen Reihe wartender Fahrzeuge. „Da hocken wir uns jetzt rein und dann ab nach Hause. Ich hab’ die Schnauze gestrichen voll von Urlaub.“ Er reckte das Kinn vor und funkelte seine Frau angriffslustig an. Solo kniff die Augen zusammen und stellte sich dicht vor ihn. Sie legte beide Hände an seine Oberarme und atmete tief ein.

„Ich sag dir was, mein Freund: Ich auch! Und zwar so was von!“ Dann drückte sie ihn an sich und barg ihren Kopf an seinem Hals.

„Taxi?“ Eine stämmige Frau mit verfärbten Haaren stand plötzlich neben ihnen.

„Was kostet es nach Lampertheim?“, fragte Tarzan.

„Scheißegal, was es kostet, fahren Sie uns nach Hause!“, fiel ihm Solo ins Wort.

„Det is doch mal’n Wort, wa?“, lachte die Frau und öffnete die Heckklappe.

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Eineinhalb Stunden später saßen Solo und Tarzan auf dem Oberdeck der Lady Jane und stocherten lustlos in zwei Tiefkühlpizzen herum. Die Schiebetür zum Wohnzimmer stand offen und im Fernsehen wurde gerade der vierte oder fünfte Experte interviewt. Trümmerteile der Boeing 777 waren in unwegsamem Gelände im türkisch-iranischen Grenzgebiet in einem Umkreis von über fünfzig Kilometern niedergegangen. An Bord hatten sich 322 Passagiere und 15 Besatzungsmitglieder befunden. Es werde davon ausgegangen, dass niemand die Katastrophe überlebt habe. Zur fraglichen Zeit war eine Staffel russischer Su 34 Jagdbomber im betreffenden Luftraum unterwegs, die sich auch an der Suche nach der Absturzstelle beteiligte. Die russische Militärführung schloss einen Abschuss des Zivilflugzeugs durch Angehörige dieser Staffel kategorisch aus. Unbestätigten Angaben zufolge sollten mindestens 122 Westeuropäer, darunter auch Deutsche, an Bord von EK 043 gewesen sein.

Tarzan schob seinen Teller von sich, erhob sich und ging ins Wohnzimmer, wo er den Fernseher ausschaltete. Dann machte er sich am Schrank zu schaffen und kam mit zwei doppelten Whisky wieder auf das Freideck.

„Danke“, sagte Solo, „fürs Abschalten und für den Sprit. Gute Idee.“

„Slainthe mhath“, prostete ihr Tarzan zu, „fliegen wir im Herbst eben nach Malle, oder so.“

„Ich flieg’ so schnell nirgendwo mehr hin. Du weißt, dass ich so schon nervös genug bin, wenn ich mich in eine dieser Legebatterien zwängen muss. Ne du, Kreuzfahrt sehr gerne, aber nur, wenn ich da zu Fuß oder mit dem Auto hinkomme.“

„Heißt nein.“

„Exakt.“

Am Nachmittag packten sie zusammen das Gepäck wieder aus. Ihre Laufklamotten ließ Solo auf dem Bett liegen. Auf Tarzans fragenden Blick schaute sie ihn müde an.

„Ich muss raus. Allein. Ich muss mich jetzt einfach mal so richtig kaputtrennen. Kannst ja beim Schorschi für später einen Tisch reservieren. Hab’ heute keinen Nerv zum Einkaufen.“ Tarzan nickte und packte seine Lieblings-T-Shirts in den Schrank.

„Ich geh’ da nachher selber hin. Laufen mag ich heute nicht, aber ein kleiner Spaziergang auf dem Damm wird mir gut tun.“

„Hey“, Solo schaute ihrem Mann in die Augen. „Lass uns trotz der verpatzten Reise an unserer Beziehung basteln. Wir haben in den nächsten drei Wochen keine Termine. Wir sollten öfter was zusammen unternehmen.“ Tarzan sagte nichts. Zu groß war der Kloß im Hals. Er schaute die hochgewachsene Frau mit den dunkelroten kurzen Haaren nur an.

„Ach komm, du Arsch …“ Mit einem schnellen Schritt war sie bei ihm und lag in seinen Armen. Zwei Minuten oder länger standen sie so vor ihrem Bett, auf dem die Reisegarderobe für zwei Wochen Kreuzfahrt verstreut war.

Arsch … Tarzan atmete tief ein. Wie recht sie hatte. Was war er für ein Arsch gewesen. Ehebruch verjährt niemals. Wie Mord. Genau genommen ist es ja auch so was Ähnliches wie ein Mord. Totschlag zumindest. Vor über vierzehn Jahren hatte er seine Beziehung erschlagen. Mit seinem eigenen kleinen stumpfen Gegenstand.

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Er griff nach seiner Armeejacke und setzte sich die graue Schiebermütze auf sein immer lichter werdendes Haupthaar.

„Bis nachher.“

„Ciao.“

Tarzan vergrub die Hände in den ausgebeulten Taschen der ausgebleichten Jacke und verließ das Wohnschiff über den schmalen Eisensteg, der es mit dem Ufer verband. Die Lady Jane war ein ehemaliges Fahrgastschiff und lag seit Jahren im Lampertheimer Altrhein, unweit der Brücke, die auf den Biedensand führte. Eine Halbinsel, die zum Teil Naturschutzgebiet war, aber auch landwirtschaftlich genutzt wurde. Tarzan überquerte den Parkplatz und erreichte den Spazierweg auf dem Hochwasserdamm, hinter dem das ehemalige Restaurant „Fährhaus“ schon seit mehreren Jahren auf einen neuen Pächter wartete. Er hörte die Metalltür am Steg ins Schloss fallen und drehte sich um. Die schlanke Gestalt seiner Frau winkte ihm kurz zu und fummelte dann an ihrer Sportuhr herum. Er winkte zurück und setzte sich in Bewegung.

Schorschis Restaurant lag in etwa anderthalb Kilometern Entfernung den Damm entlang. Schorschi hieß eigentlich Georgios und betrieb zusammen mit seiner Frau Despina das griechische Restaurant „Ambrosia“, welches zu einem großen Teil für die Ernährung von Solo und Tarzan sorgte. Es gehörte zum Wassersportverein Lampertheim.

Tarzan genoss den kleinen Spaziergang, nickte entgegenkommenden Menschen freundlich zu und trauerte den entgangenen Kreuzfahrtfreuden nicht wirklich nach. Urlaub auf einem Luxuskahn voller Millionäre und affektiertem Personal, welches ihn beim Ordern von einem großen Pils und Pommes-Schranke mit Rindswurst verständnislos anstarrte … Nein danke.

Er betrat das Lokal über die Terrasse, die um diese Zeit nur spärlich besetzt war. An einem der Tische saß mit einem Bier vor sich ein grauhaariger Mann mit markantem Kinnbart und beobachtete die Kanufahrer, die ihre Boote aus dem Wasser holten und auf Böcken ablegten.

„Moin, Käpt’n“, begrüßte ihn Tarzan und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Erstaunt wandte der Mann sich zu ihm um.

„Moin, moin, Tarzan. Haben sie dich nicht in den Flieger gelassen? Ich denke, ihr seid unterwegs in den Orient?“

Werner Reuters war ein alter Freund von Solo und Tarzan, der nur ein paar hundert Meter entfernt in einem kleinen Haus wohnte, welches unmittelbar an der großen Steganlage stand, an der auch die Frischling vertäut war. Die kleine Fähre fuhr im Sommerhalbjahr zwischen Lampertheim und Worms und konnte auch gechartert werden. Der Anleger für die Passagiere befand sich in unmittelbarer Nähe von Solo und Tarzans Wohnschiff. Der erfahrene Schiffmann hatte damals den Transport der altersschwachen Lady Jane in die Werft nach Speyer organisiert (Solo & Tarzan 5, Kohlemord, 2012).

„Nix Orient …“ Tarzan begrüßte Georgios und bestellte ein Weizenradler. „Der Flieger wurde abgeschossen. Wir haben es erst auf dem Flughafen erfahren …“

„Ach, das war euer Flieger?“ Werner Reuters stellte sein Glas ab, aus dem er gerade trinken wollte, und verzog das Gesicht. „Hab’s vorhin im Internet mitgekriegt. Meine Frau und ich sind die Strecke auch schon geflogen. Paar Jahre her, aber das ging mir dann doch unter die Haut. Verdammt…“ Jetzt nahm er doch einen tiefen Zug aus seinem Bierglas.

Georgios brachte Tarzans Radler, worauf der gleich einen Tisch auf der Terrasse für das Abendessen bestellte.

Tarzan prostete Werner zu und die beiden Männer beobachteten wortlos einige Minuten das Treiben der Wassersportler am Ponton. Werner brach als erster das Schweigen.

„Und? Was macht ihr jetzt? Urlaub zuhause ist kein Urlaub. Die Frauen kommen da meistens auf ganz blöde Ideen: renovieren, putzen, streichen und so’n Kram.“

Tarzan nickte. Diesen Gedanken hatte er auch schon gehabt.

„Vielleicht kann ich sie überreden, ab Hamburg oder Genua eine Kreuzfahrt zu machen. Da kann ich mit dem Auto hinfahren. Solo krieg ich die nächsten zwei Jahre garantiert in keinen Flieger rein. Aber ob ich da noch was kriege?“ Werner sah ihn verschmitzt an.

„Wieso muss es denn immer die große weite Welt sein, mein Freund? Hier…“ Er vollführte eine ausholende Geste in Richtung des algengrünen Altrheinarms. „Das Gute liegt so nah.“

„Hast recht!“ Tarzan lächelte gequält. „Ich schmier? uns ein paar Stullen und wir schippern mit der Frischling durch die Lampertheimer Everglades.“

„Auch nicht schlecht“, antwortete Werner und zückte sein Smartphone. „Aber wenn das Schifflein dann noch etwas größer als die Frischling ist, und vor allen Dingen kulinarisch etwas mehr zu bieten hat, dann könnte es vielleicht noch mehr Spaß machen. Hier schau…“ Er reichte Tarzan das Gerät und dieser erblickte auf dem Display ein langgestrecktes weißes Schiff, dessen elegante Linienführung nichts mit den modernen Kästen zu tun hatte, die heutzutage die Flüsse befahren.

Auf dem Schornstein prangte das gelb-rote badische Wappen und das kleine Steuerhaus erinnerte auch eher an die gute alte Zeit.

„Das ist die Stéphanie de Beauharnais, das erste Schiff der Badischen Dampfschifffahrts GmbH. Mannheimer Reederei. Altmodischer Name, neuer Laden. 2016 aufgezogen von einem Haufen alter Rheinschiffer. Haniel, Dettmers, Köln-Düsseldorfer. Da kommen die her. Ich kenne die alle. Die wollten mich auch dabei haben. Aber ich habe keine Lust. Meine Fähre reicht mir. Das Konzept von denen scheint aber aufzugehen: Flusskreuzfahrten im Premium-Segment. All-inklusive mit Sternen. Nur Premium-Kabinen und Suiten und professionelles Entertainment. Landausflüge im Rolls Royce oder im Einspänner. Schweineteuer und seit einem halben Jahr ausgebucht. Bei Neptun in Rostock sind zwei Neubauten kurz vor der Fertigstellung. Die Stéphanie ist ein Umbau. Wurde in den Siebzigern für die Köln-Düsseldorfer gebaut. Lief zuletzt bei Bluecruise, die im vergangenen Jahr insolvent gegangen sind, unter dem Namen Blue Ticino. Gutes Schiff. Old-School von außen, drinnen Hightech pur. Die Stéphanie ist das erste Flusskreuzfahrtschiff mit reinem LNG-Antrieb. Gas. Kein Ruß, kein CO2. Die größte Umweltbelastung ist die Raucher-Lounge am Heck. Ich bin eingeladen zur Jungfernfahrt. In drei Wochen. Mannheim-Holland und wieder zurück. Leider bin ich zu der Zeit in der Uniklinik und kann mit etwas Glück den Neckarschiffen winken.“

Tarzan schaute seinen alten Freund erschrocken an. „Klinik? Was’n los?“

Reuters winkte besänftigend ab. „Altmännersache, nix Dramatisches. Aber meine Frau quengelt schon seit Längerem, das ich mir das machen lasse. Hab’ ich mir eben einen Termin geholt. Vor vier Monaten. Blödes Timing. Wäre gerne mitgefahren. Gut, dass ihr nicht im Orient seid.“

Er trank sein Bier aus, orderte zwei Ouzo und grinste Tarzan an wie ein Schuljunge.

„Darauf trinken wir jetzt, mein Guter.“

Es dauerte ein wenig, bis bei Tarzan der Groschen fiel. Erst als Georgios schwungvoll den Ouzo servierte und Werner Reuters das beschlagene Glas erhob, kapierte er.

„Du meinst doch nicht etwa …“

„Yamas, mein Freund!“

„Äh ja, Yamas und so …“ Die beiden Männer kippten den würzigen Schnaps und leckten sich die Lippen. Reuters Augen blitzten, als er Tarzan fixierte.

„Ich meine, dass die Jungfernfahrt eines Schiffes etwas ganz Besonderes ist und dass es keine bessere Gelegenheit für zwei verarmte Hausbootbewohner gibt, eine Premium-Kreuzfahrt zu machen. Vielleicht habt ihr zwei Sturköppe euch dann auch wieder lieb. Wenn du’s nicht versaust, Holzkopp.“

„Selber Holzkopp, alter Freibeuter. Das kann ich unmöglich annehmen.“

„Warum? Die Karten haben mich nichts gekostet. Das ist eine Einladung der Reederei. All-inklusive, beheizte Klobrille mit Arschföhn. Anruf genügt, und die schreiben das um auf das mehr oder weniger frisch vermählte Paar aus LA. Wenn du aber nicht willst, gebe ich die zurück. Geht ihr eben paddeln auf dem Altrhein. Nicht zu vergessen Käsestulle und Mückenspray.“

Tarzan schaute sein Gegenüber lange an.

„Das ist dein Ernst, oder?“ Reuters nickte gemessen.

Tarzan drehte sich zur Theke.

„Schorschi! Noch zwei Ouzo!“

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Zwei Tage darauf erhielt Tarzan eine SMS: „Vollzug. Steph erwartet euch am 03.06. am Haus Oberrhein. Papiere bei mir. Gruß W“

Tarzan grinste. Da hatte Werner richtig was gut bei ihm. Längst hatte er im Internet sämtliche Informationen über das Schiff und die Jungfernfahrt gecheckt. Er würde sich wohl oder übel einen Anzug kaufen müssen. Zumindest für das Gala-Dinner. Begeistert war er, als er das Unterhaltungsprogramm gelesen hatte: Das Rhein-Neckar-Theater gab ein Gastspiel, Bülent Ceylan, Xavier Naidoo und Rino Galiano waren ebenfalls gebucht. Die Reederei hat sich nicht lumpen lassen. Der übliche Hammond-Orgel-Onkel blieb ihnen also erspart.

Die Reise sollte acht Tage dauern und über Köln und Amsterdam bis nach Enkhuizen am Ijselmeer und über Nijmegen und Köln wieder nach Mannheim führen. An Bord gab es ausschließlich Premium-Kabinen und Suiten mit französischem Balkon, einen eleganten Spa-Bereich, sowie ein Gourmet-Restaurant, für dessen Genüsse der Mannheimer Sternekoch Tristan Brandt verantwortlich zeichnete. Also wieder nix mit Pommes-Schranke. Höchstens auf den Landgängen … Köln … Amsterdam … zum Teufel mit Maine-Lobster und Perlhuhn auf Guacadingsda. Bier gab es auch. Eichbaum. Gut is.

Er hatte sich auch schon überlegt, wie er Solo die Kreuzfahrt schmackhaft machen würde: überhaupt nicht. Er würde klammheimlich Koffer packen und diese am Tag vor der Abfahrt zum Haus Oberrhein bringen. Dort hatte die Reederei ein Terminal eingerichtet. Bereits einen Tag vor der Abfahrt konnte dort das Gepäck aufgegeben werden, es wurde dann direkt in die jeweilige Unterkunft gebracht. Er würde mit Solo am Abreisetag nach Mannheim fahren, sie auf einen Kaffee in die Bar vom Speicher 7 einladen und „erstaunt“ feststellen, was da los war.

Das Mannheimer Traditionskorps würde aufmarschieren, die Big Band im Quadrat würde für den musikalischen Rahmen sorgen. Er würde seine Frau zunächst damit verblüffen, dass sie beide ungehindert die Absperrungen passieren durften (Die Kärtchen dafür hatte er mit den Tickets zusammen von Werner bekommen). Er würde mit ihr das Schiff besichtigen, sie danach zu ihrer Suite führen und sie dort aufs Bett schmeißen … Ähöm. Okay, das mit dem Aufs-Bett-Schmeißen war vielleicht doch keine so gute Idee. Aber es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn sie nicht begeistert wäre. Na ja, die ganze Hautevolee, das schnieke Restaurant und die livrierte Crew, das könnte noch eine Klippe sein, die es zu umrunden galt, aber sie hatte ja schließlich angefangen mit der Schicki-Micki-Kreuzfahrerei, oder?

Kapitel 2

In dem Tarzan zum zweiten Mal Vater wird, sich von einem guten Freund erklären lässt, warum er keinen Sex mehr hat, Alkohol an Minderjährige ausschenkt und am Schluss ein Nagetier glücklich macht.

Solo schaute kurz ins Wohnzimmer, das ehemalige Salondeck der Lady Jane, und zog ihr Fauler-Sack-Gesicht, als sie Tarzan mit einem Buch auf der altmodischen Rundsitzgruppe liegen sah. Neben sich auf dem Couchtisch eine Schachtel Mohrenköpfe vom Oberfeld. Ja, Mohrenköpfe, Herrgott! In Lampertheim heißen die immer noch so und niemand denkt dabei an Menschen mit dunkler Hautfarbe. Höchstens an Diabetes, Kalorien oder Suchtverhalten.

Tarzan winkte ihr abwesend zu und tat, als fessele ihn der Inhalt des schon ziemlich vergilbten Stephen-King-Wälzers. Kaum war Solo aus der Tür, legte er das Buch zur Seite und holte unter der Couch den Hochglanzprospekt der Badischen Rheinschifffahrts GmbH hervor. In zwei Tagen ging es los. Da Solo öfter joggen ging, war es für ihn kein Problem gewesen, heimlich ein paar Klamotten von ihr in eine Reisetasche zu packen. Er musste nur aufpassen, dass er nicht irgendein Lieblingsteil wählte, das sie garantiert vermissen würde. Ein Problem war es, etwas „Feines“ zu finden. Laut Katalog gab es auf jeder Reise mindestens ein Gala-Dinner. Den Dresscode hierfür deklarierten sie mit den Worten „sportlich-elegant“, womit mit Sicherheit keine Bundeswehr-Hemden mit abgeschnittenen Ärmeln oder T-Shirts mit Harley-Davidson-Motiven gemeint waren. Klobige Dockers oder Cowboystiefel mit schiefen Absätzen auch nicht. Nein, Solo-Schatz war noch nie eine Prinzessin gewesen. Die konnte nachts um drei mitten im norwegischen Schneegestöber Ketten auf die Antriebsachse einer Sattelzugmaschine schmeißen und beinhart mit serbischen Zöllnern um die Höhe gewisser „Gebühren“ feilschen. In High Heels aber würde sie sich die Knochen brechen und beim Party Smalltalk die Gäste mit zweideutigen Witzchen in Verlegenheit bringen. War vielleicht doch etwas grenzwertig, diese Kreuzfahrt auf dem Millionärsdampfer … Jetzt war es jedenfalls zu spät für mögliche Bedenken. Seufzend legte er den Prospekt wieder unter die Couch und seine GEO-Hefte obenauf.

Zeit zum Einkaufen. Heute Abend war Grillen angesagt. Er würde zum Supermarkt fahren und Würste, Steaks und Weißbrot kaufen. Zaziki und Salat waren noch im Kühlschrank. Fertigfutter, was sonst. Sie waren alle beide keine Fernsehköche.

Solos Firebird war (wieder einmal) in der Werkstatt. Die Hinterachse musste neu gelagert werden und die Brocken aus den USA hatten die falsche Größe. Kann dauern, aber das war Tarzan gerade recht. War der Bock wenigstens unter Dach und Fach, wenn sie übermorgen in Richtung Holland schipperten.

Tarzan zog sich seine Jacke an, vergewisserte sich, dass er Handy, Geldbörse und Schlüssel eingesteckt hatte und zog die Eingangstür hinter sich zu. Draußen vor dem Steiger stand ihr Alltagsauto, ein mausgrauer Golf III Kombi in reichlich angeranztem Zustand. Ein Auto, nach dem sich garantiert keiner umdrehte. Das war durchaus so gewollt. Mit Solos donnerndem Big Block Muscle Car konnte man ja schlecht verdeckte Ermittlungen durchführen. Traurig schaute Tarzan das Auto an. Seit er den alten 280er Mercedes seines verstorbenen Schwiegervaters im Suff gegen eine massive Buche gesteuert hatte (Solo & Tarzan 7, MordsMarathon, 2016), lag sein Führerschein auf Eis. Er schob sein klappriges Fahrrad den Steiger hinauf und schloss die Metalltür hinter sich ab. Solo hatte nicht eingesehen, dass er ohne Führerschein nicht einkaufen gehen konnte und hatte ihm zwei wasserdichte Packtaschen spendiert. Sie war ein Goldstück.

Als Tarzan nach gut fünfzig Minuten zurückkam, sah er schon von der Deichkrone aus, dass auf der Metallstufe, die zum Steiger führte, jemand saß. Auf einem Seesack. Am Geländer lehnte ein Rucksack. Die Haartracht erinnerte an eine Stechpalme, die ein Holi-Festival überstanden hatte. Als Tarzan mit klapperndem Schutzblech und quietschenden Bremsen angefahren kam, hob die Stechpalme den Kopf, den sie in der typischen Haltung der Digital Natives über ihr Handy gebeugt hatte.

„Hi.“

Ein Mädchen. Jung. Ein Kind fast. Mager wie ein anorektischer Windhund, aber mit auffallend hübschem Gesicht, das fast nur aus Augen bestand. Augen, die ihn gerade spöttisch musterten. Es waren die Haare. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, trug sie einen braven Mittelscheitel. Brünett. Nicht hanfgelb und mit in Signalfarben getauchten Filzwürsten. Aber sie war es. Kein Zweifel … Er stellte die Papiertüte auf den Boden.

„Cherryl“, oh Mann, was für ein Gekrächze. Räusper. „Du bist Cherryl, nicht wahr, du hast …“

„Charish steht in meinem Kinderausweis. Und da bleibt es auch. Ich bin Jay. Charish is Assi. Fast so schlimm wie Schantalle. Da läuft was aus …“

Sie deutete mit ihrem spitzen Kinn in Richtung Tüte. Oh verdammt! Der Metzger hatte die eingelegten Steaks in Plastikbehälter gepackt. Die waren wohl verrutscht und jetzt siffte Fleischsaft auf den staubigen Boden. Tarzan bückte sich und drückte den aufgesprungenen Deckel wieder zurecht.

Jay also. Sein Kopf dröhnte. Charish – Jay – Carla … Alles war wieder da. Prasselte auf ihn ein wie ein Graupelschauer im April.

Er nahm die Tüte in den Arm wie ein schlafendes Kleinkind, ohne zu merken, dass sein Jackenärmel mit der fettigen Brühe in Berührung kam.

„Gratuliere deinem Vater zu seiner Hochzeit, mein Schatz.“ Der Satz, der sein Leben auf den Kopf gestellt hatte, seine Hochzeitsfeier gesprengt und seine Beziehung beinahe zerstört hätte. (Solo & Tarzan 7, MordsMarathon, 2016). Gerade mal zwei Monate her …

„Wieso, äh, was … warum …?“ Was für ein erbärmliches Gestammel!

„Ich zieh? bei euch ein.“ Die Stimme passte nicht zu der zarten Erscheinung. Dunkel, fast ein wenig rauchig, erinnerte sie Tarzan an Hildegard Knef. Oder an Tanita Tikaram – für die Jüngeren.

„Keine Angst, Mann, nur für ein paar Wochen. Ma is’ mit einem hundert Jahre alten Filmproduzenten nach Hollywood geflogen. Sie heiratet ihn noch schnell, bevor ihn die Viagras umbringen. Ich störe da nur. Hier …“, sie nestelte einen zerdrückten Umschlag aus ihrem Rucksack und wedelte damit, „…eine Einverständniserklärung. Ihr seid jetzt erziehungsberechtigt. Was noch lange nicht heißt, dass ihr das auch tun sollt. Wär ’ne ganz schlechte Idee, Mann. Ganz schlecht.“

Rasche Schritte näherten sich, wurden langsamer. Solo kam von ihrer Laufrunde. Sie drückte ihre GPS-Uhr ab, ließ die Arme kreisen und fuhr sich durch die kurzen Haare.

„Tach!“ Sie musterte die Kleine, die aufgestanden war und nun noch dünner und zerbrechlicher wirkte.

„Charish, nicht wahr? Bist du alleine?“ Freundliche Neugier. Keine Spur von Unsicherheit oder gar nackter Panik, wie sie Tarzan befallen hatte.

„Sag Jay. Ist mir lieber. Bin mit der Bahn gekommen. Dann mit dem Taxi hier raus. Ma hat’s mir aufgeschrieben. Schickes Schiff. Cool.“ Stakkato. Ist wohl gerade angesagt. Bei der Jugend. Cool.

„Sie will bei uns einziehen, Solo, sie hat ein Dings, eine, äh, Einverständniserkläs…“ Tarzan verhaspelte sich.

„Ruhig, Brauner, lass uns erst mal reingehen. Jay: Willkommen an Bord.“ Die Frau und das Mädchen klatschten sich ab und Tarzan blies die Backen auf. Mann! Die Kreuzfahrt! Seine sorgfältig geplante Kreuzfahrt! Dann fällt dieses Gör aus dem heiteren Himmel, das ihm sein vierzehn Jahre alter Seitensprung als seine Tochter unterjubeln wollte. Hatte die Rechnung bloß ohne seine Vasektomie gemacht, die er ein Jahr davor hatte vornehmen lassen. Angesch…, äh, angeschmiert. Trotzdem. Den Seitensprung hatte ihm Solo nicht verziehen. Vierzehn Jahre her. Gras drüber gewachsen? Verjährt? Ha! In der Liebe verjährt nichts.

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Solo schien die Ankunft des Görs locker zu nehmen. Hatten sie eben einen Gast. So wie die drauf ist, hängt die eh Tag und Nacht in Jugendclubs, Eisdielen und Discos ab. Aber ausgerechnet jetzt? In zwei Tagen ging die Kreuzfahrt los. Fünf-Sterne-Pott, vollgestopft mit blasierten Neureichen und uraltem Geldadel. Was hatte er vorhin noch gedacht? Solo und ihre eigenwillige Garderobe wären grenzwertig? Sie mussten diese Mini-Hippie-Punker-Lady schnellstens loswerden!

Das Schlimmste: Solo schien das schrille Wesen zu mögen. Schon immer hatte sie ein Herz für unkonventionelle, nicht der bürgerlichen Norm entsprechende Menschen gehabt. Sie betrachtete den Einzug des Mädchens als willkommene Abwechslung in ihrem Entspannungsurlaub. Warum auch nicht? Warum nicht? Weil. Übermorgen. Kreuzfahrt. Ist. Darum! Nie im Leben kämen sie mit Ronja Räubertochter an Bord dieses Schiffes. Er musste eine Lösung finden. Heute noch.

„Äh, ich muss noch mal kurz weg. Werner hat angerufen. Dauert nicht lange.“

Solo sah ihn mit einem merkwürdigen Blick an, zuckte dann aber die Schultern und ging mit Cherish, äh, Jay, den abschüssigen Steiger hinunter.

„Kannst du dir das vorstellen, Werner? Was soll ich denn jetzt machen? Wir müssen die Kreuzfahrt canceln und Babysitter für ein verzogenes Balg spielen!“

„Nehmt sie mit.“ Werner Reuters beendete den atemlosen Redeschwall seines Freundes mit diesen in aller Ruhe ausgesprochenen drei Worten und hob sein Teeglas. Sie saßen auf der Terrasse des kleinen Hauses direkt über der Steganlage.

„Wie? Du meinst das nicht ernst, oder? Du hast ja keine Ahnung, was das für eine ist, die ist …“

„Ein vierzehnjähriger Teenager in Phase fünf der Rebellion. Habe ich alles selbst hinter mir. Durchatmen. Akzeptieren. Schäden begrenzen. Das ist die Devise. Nimm sie mit und sie wird für den Ersten Offizier oder für einen der Küchenjungen schwärmen, ab und zu den ein oder anderen Rauchmelder aktivieren und wahrscheinlich besser mit Messer und Gabel umgehen als du.“

Tarzan schaute den Mann mit dem Seebärenbart zweifelnd an.

„Wie soll das denn gehen? Übermorgen legen wir ab. Das Schiff ist ausgebucht, hat in der Zeitung gestanden.“

Reuters lachte. „Ihr habt doch eine Suite. In einer der Seitenwände ist ein Klappbett. Manche haben sogar noch ein Pullman-Bett oben drüber. Du kannst die Suiten mit maximal vier Paxen belegen. Ich ruf Tino Bergholz an, das ist der Kreuzfahrtdirektor. Ein Pfundskerl, den wirst du mögen. Leider Borusse. Der macht alles möglich. ALLES! Kann höchstens sein, dass ihr für die Kleine einen Verpflegungszuschlag hinblättern müsst. Sollte sich aber in Grenzen halten.“

„Bist du noch zu retten? Ein abgedrehtes Punkmädchen in unserer Kabine? Wir müssen uns das Bad teilen, die Toilette und nachts …“

„Passiert doch eh nix.“ Werner Reuters schaute Tarzan mit einer Mischung aus Heiterkeit und Mitleid an. „Ihr habt doch eh keinen Sex, du hast also keinen Grund …“

„Hä?“ Tarzan plusterte sich auf wie ein gereizter Truthahn. „Wie kommst du darauf, wir hätten keinen Sex? Also bei aller Freundschaft, da bist du entschieden auf dem falschen … äh, ich meine, das geht dich mal absolut rein gar nichts an, mein Lieber!“

Tarzans Gegenüber lehnte sich nach hinten und lachte laut und herzhaft wie über einen besonders gelungen Witz.

„Mensch, Tarzan, komm wieder runter. Ehrlich, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ist nur Lebenserfahrung. Ich schippere nicht unter eurem Schlafzimmerbullauge rum und mach Fotos mit ’ner Wärmebildkamera. Ich sag nur: Ich kenne Solo auch schon sehr lange, und nach allem, was passiert ist, habt ihr noch keinen Sex. Du musst jetzt nichts sagen. Du hast nämlich recht, das geht mich nichts an. Nimm das Mädchen mit, die guckt euch nichts ab, und entspannt euch. Alle drei. Ich ruf’ jetzt den Tino an.“

Tarzan sagte nichts. Sein Freund hatte recht. Sie schliefen sogar in getrennten Zimmern. Sie lasse ihn schon wissen, wenn sie wieder so weit wäre. So oder so ähnlich. Er hatte sich natürlich auch aus dem Grund auf die Kreuzfahrt gefreut, weil sie da wieder in einem gemeinsamen Bett liegen würden. Das gute Essen an Bord … die Cocktails … wer weiß … Tarzan seufzte. Irgendwie war er immer noch sechzehn.

Kreuzfahrt mit Jay … Ein Film kam ihm in den Sinn: Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger. Entspannen? Gab es so viel Alkohol an Bord?

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„Eine Flusskreuzfahrt? Ist nicht dein Ernst, oder? Scheintote Eierlikörjunkies machen Ringelpiez zu Polonäse Blankenese? Danke, viel Spaß. Ich pass’ solange auf euer Schiffchen auf.“

Tarzan saß mit Jay auf dem Vordeck. Ihre Beine baumelten über dem grünen Wasser des Altrheins und ein Entenpaar prüfte, ob es da wohl was zu holen gäbe. Solo war in die Stadt gefahren, um noch ein paar Lebensmittel zu kaufen. Immerhin waren sie ja jetzt zu dritt.

Tarzan hatte beschlossen, Jay einzuweihen. Solo mit etwas zu überraschen, war schon heikel genug. Ging meistens ins Auge. Da konnte er nicht noch ein weibliches Wesen gebrauchen, das ihm Schwierigkeiten machte. Schwierigkeiten? Scheiße, die will natürlich nicht mitfahren. Klar. Er selbst hatte ja schon vor ihrer geplatzten Hochseekreuzfahrt von einem schwimmenden Seniorenheim gesprochen. Vierzehn. Flusskreuzfahrt. Eine exakte Definition des Begriffes konträr. Mit Vierzehn alleine auf der Lady Jane. Traumhaft. Jede Nacht Party. Die Bierlaster würden einen Stau auf der Biedensandstraße bilden.

„Du fährst da mit. Basta.“ Ab und zu war es angebracht, einen auf Gerhard Schröder zu machen.

„Du hast mir absolut voll rein gar nichts zu sagen, weißt du!“ Blöd. Schröder funktioniert bei Teenagern nicht. Grammatik auch nicht. Seufzend stand Tarzan auf, ging in die Küche und kam mit zwei Flaschen Bier zurück. Plan B. Wenn der auch platzte, hatte er ja noch 24 weitere Buchstaben.

„Hier“, er reichte ihr die bereits geöffnete Flasche.

Sie schaute ihn mit einer Mischung aus Freude und Misstrauen an, welches rasch von Verstehen abgelöst wurde.

„Bleifrei, wie? Kinderbier. Hast ja jetzt die Verantwortung für mich.“

„Bleifreies haben wir nicht an Bord. Das ist ein Schiff. Keine Kita. Prost.“

„Äh … Alter …“ Jay betrachtete eingehend das Etikett auf der beschlagenen Flasche. „Cool, Alter! Prost!“ Sie entblößte ihre großen Schneidezähne. „Hau wech das Zeuch!“ Das Klicken der Flaschen schallte über die trübe Wasserfläche. Die Kleine hatte vielleicht einen Zug … Tarzan hätte fast gegrinst. Er stellte sein Bier ab und zückte sein Handy.

„Fehlt nur noch was zu rauchen …“, sinnierte das Mädchen, stützte sich mit den mageren Armen ab und lehnte sich zurück, um in den Himmel zu schauen, an dem ein paar Federwolken das satte Blau eher noch unterstrichen.

„Solo hat vor einigen Jahren damit aufgehört“, brummelte er abwesend, während er sich durch das Telefonverzeichnis der Stadtverwaltung scrollte. Ah hier! Da hatte er es. Er schaute auf die Zeitanzeige des Displays. Sollte wohl noch jemand da sein. Er wählte die angezeigte Nummer und stoppte den Anruf nach dem ersten Rufton. So. Die Waffe war entsichert.

„Machst’n da?“ Total entspannt. Bier macht aus Fremden Freunde.

„Ich ruf das Jugendamt an.“

„Willst mich adoptier’n, oder was?“

Mann, das Kind hatte einen berechnenden Blick drauf, wie eine 58-jährige Kneipenwirtin.

„Loswerden.“ Lakonisch konnte er auch. Richtig. Gut.

„Loswerdnnnnn.“ Das N gedehnt in Tateinheit mit einer höhnischen Grimasse und einem ausgestreckten, bemitleidenswert dürren Mittelfinger. Kinder sind ein Geschenk.

Tarzan betätigte die Wahlwiederholung und hielt sich das Handy ans Ohr. Wenn da jetzt keiner rangeht, musste er bluffen. Dünnes Eis.

„Schrader, Jugendamt, was kann ich für sie tun?“

Die Stimme klang, als bräuchte sie selbst noch einen gesetzlichen Vertreter. Wo waren bloß all die strengen Matronen mit den schnarrenden Reibeisenstimmen? Vermutlich im Vorabendprogramm. Möge das Spiel beginnen!

„Zahn. Hallo, Frau Schrader, ich möchte einen befristeten Betreuungsfall melden.“ Keine Ahnung, ob das so hieß und ob es so was überhaupt gab, aber die Wirkung trat sofort ein: Jay riss ihm wütend das Handy aus der Hand.

„Du bluffst doch, du Arsch! Hallo? Ist da jemand?“ Tarzan griff sich seelenruhig sein Bier und nahm einen tiefen Schluck, während er aus den Augenwinkeln das Gesicht des Mädchens beobachtete. Er staunte. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass Jay noch blasser werden konnte, als sie ohnehin schon war. Er wartete bloß noch darauf, dass die schwarzen Lidstriche grau wurden. Jay beendete die Verbindung mit einem so heftigen Tippen, dass er befürchtete, das Display würde zerspringen.

„Du … du … fieser …“ Sie schaute ihn an. Ihre riesigen Augen füllten sich mit Tränen. Auf dem Weg über ihr schmales Gesicht hinterließen sie dunkle Spuren. „ … Erpresser!“ Sie schniefte und Tarzan nahm ihr rasch das Handy aus der Hand, bevor sie es noch in einer Affekthandlung in den Altrhein werfen konnte.

Er kam sich dreckig vor. Lausig dreckig. Das magere Dingelchen vor ihm heulte, und er war schuld. Er streckte die Hand aus, um sie tröstend an der Schulter zu berühren und wurde mit einem zornigen Fauchen zurückgewiesen.

„Du bist so ein Arsch, dass du’s weißt. Es war nicht meine Idee, zu euch zu kommen. Ich hab’ sonst keine Erwachsenen, die mich haben wollen, ich hab’ gedacht, ihr seid nicht so wie die anderen alten Leute. Ich dachte, ihr seid ein bisschen verrückt, schräg oder wie auch immer, ach es ist doch alles Kacke!“ Sie setzte das Bier an, trank die Flasche in einem Zug aus und schleuderte sie in hohem Bogen ins Wasser. Die Köpfe der Angler am Bau ruckten herum, als habe ein Finnwal geblasen. Jay stand ungelenk auf und Tarzan tat es ihr gleich.

„Es tut mir leid, Jay. Es war wirklich nur ein Bluff. Aber nur, weil ich will, dass du mit uns auf die Kreuzfahrt gehst, nicht weil ich dich loswerden will.“ Seine Stimme klang belegt. Er schaute das immer noch weinende Mädchen an. Es zerriss ihm das Herz. Schnupfen. Wie angeflogen. Er zog geräuschvoll die Nase hoch. Verdammt! Mit Frauentränen hatte er noch nie umgehen können. Er wischte sich über die Augen, bemerkte den erstaunten Blick seines Gegenübers und breitete die Arme aus. Schniefend klammerten sie sich aneinander. Ihr Make-up hinterließ ein interessantes Muster auf seinem weißen T-Shirt. Wie dünn sie war. Er traute sich fast nicht, ihr den Rücken zu tätscheln, aus Angst, die dünnen Rippen würden zerbrechen. Zugegeben: das mit den alten Leuten hatte gesessen. Wie ein sorgfältig gezielter Kinnhaken. Aber als er das unglückliche Mädchen jetzt in den Armen hielt, nistete sich ein völlig neues Gefühl in seinem Bauch ein. Warm kroch es durch seine Innereien, fand die Schnellwege der Blutbahnen zu seinem Bestimmungsort: dem Herzen. So etwa musste es sich anfühlen, wenn man Vater war. Papa. Vadder, Babba oder Babbe, wie die Kurpfälzer sagen. Sie hatte ja so recht. Er war ein fieser Erpresser und so ein Arsch. Sie hatte recht.

„Du hast recht!“ Er befreite sich sanft aus ihrer Umarmung und räusperte sich einen ganzen Froschteich aus dem Hals.

„Ich bin ein Depp und es tut mir leid. Aber wir können dich hier nicht alleine lassen. Das fliegt in ein, zwei Tagen auf und dann kommen sie und holen dich. Und Solo und ich sind dran. Ich schlage deshalb einen Waffenstillstand vor: Du fährst mit, kriegst zweihundert Euro Taschengeld. Ich will dich nicht rauchen sehen und ich will dich keinen Alk trinken sehen …“

„Hör mal, ich …“ Tarzan hob beide Hände mit den Handflächen nach vorne, als bedrohe sie ihn mit einer Waffe.