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Das Kapitel mit dem Geheimnis

An diesem Abend planten Emmi und ihre Geschwister etwas Verbotenes. Zu dritt lungerten sie auf der Eckbank in der Küche herum und bereiteten alles für die verbotene Sache vor. Emmi schnitt Gurken in Scheiben. Ihre Schwester Meike rührte die Familien-Spezialsoße zusammen und spielte nebenbei auf ihrem Smartphone. Zwischen ihnen hockte der kleine Fiete und arbeitete daran, sich in jedes Ohr einen Champignon zu stopfen.

Alle drei kicherten und freuten sich auf die verbotene Sache.

Nur Professor Doktor Heinrich Brix, allgemein Papa genannt, kicherte nicht. Er war Fachmann für Flugkünste, hatte fünf Bücher über Flugtechnik geschrieben und arbeitete an der Universität, doch das alles half ihm im Moment nicht. Immer wieder blickte er nervös zur Tür, denn er hatte Angst, dass Mama sie auf frischer Tat ertappen könnte. Mama war nämlich diejenige, die das Ganze verboten hatte. Aber weil sie an diesem Abend später von der Arbeit kam, hatten die Kinder ihren Vater überredet.

Sie wollten Sandwiches grillen. Grillen lassen, um genau zu sein.

Von Papas Drachen.

Dabei hatte Mama total, absolut und hundertprozentig verboten, beim Essen Feuer zu speien.

Papas Drache saß an der Seite und versuchte, sich dünn zu machen. Das war sehr rücksichtsvoll von ihm – und völlig hoffnungslos. Er hieß Henk und gehörte zur Sorte der Blauen Drachlinger, was bekanntlich ziemlich große Drachen sind. Und so nahm Henk einen beträchtlichen Teil der Küche ein. Er war so lang wie zwei Sofas – und so dick wie ein Sofa. Das führte immer wieder zu Debatten zwischen Papa und seinem Fabelwesen. Papa fand, dass so ein großer Drache versuchen sollte, nicht auch noch dick zu sein. Henk wiederum war der Meinung, es gäbe nichts Besseres als Gebäck.

Die Haut des Drachen war von einem leuchtenden Blau. Auf dem Kopf hatte er zwei kleine Hörnchen und grüne Drachenohren.

Henk rieb sich die Vorderpfoten und rief: »Los geht’s!«

Große Aufregung brach aus, und alle packten sich die Teller voll. Emmi stapelte Brot, Grillkäse, Schinken, Tomaten und ganz obendrauf schlug sie ein rohes Ei. Meike nahm sich Gemüse, drei Eier und sehr viel Spezialsoße. Der Stapel vom kleinen Fiete war so hoch, dass er vom Teller fiel, und Papa ermahnte ihn, vernünftig zu sein. Aber Fiete hatte immer noch die Champignons in den Ohren und hörte nichts.

Die Geschwister stellten ihre Teller vor Henk ab. Geschickt spuckte der Drache kleine Flammen und brutzelte damit die besten Sandwiches der Stadt. Herrlicher Duft erfüllte die Küche. Alle klatschten begeistert.

Als sie aßen, fragte Papa: »Und, Emmi? Bist du schon aufgeregt?«

»Warum?«, fragte sie. Dabei wusste sie ganz genau, was Papa meinte.

»Wegen deines Fabeltags natürlich.«

Emmi biss in ihr Sandwich und blickte Papa mit ihren großen blauen Augen an. Das braune Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, und sie trug einen roten Pullover mit weißem Kragen. Niemand hätte in diesem Moment ehrlicher aussehen können.

»Nö«, sagte sie, »überhaupt nicht.«

Dabei war das gelogen. Sie war aufgeregt. Und wie! Genau genommen dachte sie seit Wochen an nichts anderes. Aber sie hatte, was den Fabeltag betraf, ein Geheimnis, das sie mit niemandem teilen wollte.

Papa wuschelte ihr über den Kopf. »In zwei Tagen ist es so weit«, sagte er. »Ist denn das zu fassen? Mein kleines Baby hat Fabeltag!«

Emmis Herz pochte vor Aufregung, sobald sie nur daran dachte. In genau zwei Tagen wurde sie zehn Jahre alt. Und wie jeder Wichtelstädter bekam sie an ihrem zehnten Geburtstag ein eigenes Fabelwesen.

»Darf ich noch ein Sandwich?«, fragte sie, um Papa vom Thema abzulenken. Sie wollte nicht über ihren Fabeltag reden.

»Was für ein Fabelwesen wünschst du dir?«, fragte Meike. Sie lümmelte mit hochgelegten Beinen auf der Eckbank. Emmi liebte ihre Schwester, bloß leider war sie vor ein paar Monaten vierzehn geworden. Emmi hatte festgestellt, dass es bei Meike nur noch drei Arten von Benehmen gab: merkwürdig, ziemlich merkwürdig und total merkwürdig. Spielen konnte man mit Meike auch nicht mehr, weil sie Spielen peinlich fand.

»Weiß nicht«, sagte Emmi.

Das war schon wieder gelogen. Sie hatte einen Wunsch. Und was für einen! Er war so groß wie hundert Weihnachtswünsche und fünfzig Geburtstagswünsche zusammen. Und er war total verrückt. Emmi traute sich nicht, ihn laut zu sagen, denn sie hatte Angst, dass die anderen sie dann auslachten.

»Klar, du weißt es. Los, spuck’s aus!«, drängelte Meike.

Sie war das einzige der Brix-Kinder, das schon ein eigenes Fabelwesen hatte, nämlich eine Klingende Wildkatze.

Sie hieß Mexi. Ihre Pinselohren standen lustig ab, auf dem Rücken trug sie zwei kleine, neongrüne Flügel, und vom gleichen Grün war auch ihr Schwanz. Ihre fliederfarbenen Augen guckten lieb in die Welt, und ihr Fell war wundervoll getigert. Wenn Emmi versuchte, Mexi zu knuddeln, kratzte sie meistens, dafür kam sie kuscheln, wenn Emmi gerade keine Zeit hatte.

Ein kleiner Tipp: Man sollte die Klingende Wildkatze nie mit der Wilden Wildkatze verwechseln. Die Klingende Wildkatze kann zwar gelegentlich wild werden, ist aber völlig ungefährlich. Die Wilde Wildkatze dagegen wirkt zwar freundlich, ihr Biss ist jedoch giftig und führt zu Haarausfall.

Mexi beherrschte viele Instrumente, spielte aber genauso gern auf Haushaltsgeräten. Jetzt schlug sie mit zwei Löffeln einen Trommelwirbel auf dem Tisch, und alle sahen Emmi an. Emmi behauptete, es sei ihr egal, welches Fabelwesen sie bekäme.

Was folgte, war eine hitzige Diskussion darüber, welches das beste Fabelwesen sei. Jeder in der Familie sah das anders.

Henk wiederholte stur den Satz: »Es gibt nichts Besseres als Drachen.«

Fiete wünschte sich einen Zwerg. »Ein Zwerg ist das Beste, was man kriegen kann. Das weiß doch jedes Baby!«, rief er.

Fiete Brix war erst sechs Jahre alt, und es dauerte noch volle vier Jahre, bis er ein eigenes Fabelwesen bekam. Die Sache wurmte ihn, und deshalb schleppte er ständig diesen Kuschelzwerg mit sich rum, den er Fipps getauft hatte. Fipps hatte Schlabberarme, eine rote Mütze und eine große Nase. Fiete spielte, dass Fipps ein echter Zwerg sei, und sprach ihn mit verstellter Stimme. Meike fand das peinlich, aber Emmi konnte ihren Bruder gut verstehen. Sie wünschte sich genauso dringend ein Fabelwesen.

»Es gibt nichts Besseres als Drachen«, sagte Henk wieder.

»Eine Klingende Wildkatze!«, rief Meike. »Das ist definitiv das coolste Fabelwesen.«

»Los, Emmi, sag! Welches Fabelwesen findest du am besten?«, fragte Mexi.

»Ich find alle schön«, sagte sie leise.

»Aber welches willst du haben?«, fragte Mexi und sprang auf den Tisch.

»Willst du einen Zwerg?«, fragte Fiete.

Papa nahm die Wildkatze vom Tisch und setzte sie auf den Fußboden. »Man darf sich kein bestimmtes Fabelwesen wünschen, und das wisst ihr ganz genau«, mahnte er. »Man muss nehmen, was man kriegt.«

»Man wünscht sich aber trotzdem was.« Meike sah ihren Vater frech an.

»Ich wünsche mir einen Zwerg«, sagte Fiete.

»Schluss jetzt, Leute! Es kommt, wie es kommt. Und dann freut sich Emmi, egal was es ist.«

Die drei Kinder guckten ihren Vater an, als wäre er ein Schneemann im Sommer. Es war einer der seltenen Momente, in denen sich die drei Brix-Kinder absolut einig waren.

»Willst du behaupten, sie freut sich auch über einen Spuckewurm?«, fragte Meike.

»Pff, Spuckewurm!«, kicherte Fiete.

Emmi sah ihren Vater an und war gespannt, was er sagen würde. Heinrich Brix zögerte und kratzte sich am Kopf. Über Spuckewürmer gab es eine Menge Witze, denn sie galten als die miesesten Fabelwesen, die man erwischen konnte. Aber es war nicht in Ordnung, das laut zu sagen, schon gar nicht als Professor Doktor. Deshalb erklärte Papa mit ernstem Gesicht, dass Emmi auch einen Spuckewurm sehr lieb haben würde, wenn sie denn einen bekäme.

Einen Spuckewurm? Den wollte Emmi nicht haben. Und sie war auch sehr froh, dass sie keinen bekommen würde.

Nein, sie bekam etwas Großartiges.

Es war so großartig, dass sie es selbst kaum fassen konnte.

Fröhlich legte sie ein Wiener Würstchen auf ihr Brett, und Drache Henk grillte das Würstchen mit kleinen Feuerschüben. Alle klatschten, und Papa klopfte seinem Drachen stolz auf die Schulter. Dann fragte Fiete, ob Henk auch halbe Würstchen grillen könne. Der Drache meinte, das sei ein Kinderspiel, aber er sah ziemlich angestrengt aus, als er die halben Würstchen brutzelte. Dann schnitt Meike die Würstchen in kleine Fitzelchen und hielt sie Henk hin.

Papa sah aufgeregt zur Tür und meinte, das ginge zu weit.

Doch Henk war begeistert von dieser Aufgabe, man könnte sagen, er war Feuer und Flamme. Er wollte zeigen, was er draufhatte, und spie winzige Flämmchen. Es klappte prima. Bis das Brett Feuer fing. Und die Tischdecke. Papa kippte Apfelsaft drüber und löschte das Feuer schnell, aber das Brett war hinüber. Und die Tischdecke hatte ein Loch.

»Ein Glück, dass eure Mutter das nicht gesehen hat«, keuchte Papa. Schnell ließ er Brett und Tischdecke im Mülleimer verschwinden und lüftete die Küche.

Die Wohnungstür klappte, und Emmi hielt sich erschrocken die Hände vor den Mund.

Papa wurde blass.

Das Kapitel, in dem Emmi niemand glaubt

Mamas Fabelwesen, ein kleiner Blütenspatz, flatterte in die Küche und drehte ein paar Runden. Dabei verstreute er wie immer Blüten, die unter seinen Flügeln hervorkamen. Heute waren es Vergissmeinnicht. Als die Blüten über Emmis Gesicht strichen, fühlte sie sich sommerlich, obwohl gerade erst der Frühling begonnen hatte.

Der Blütenspatz hieß Peregrin de Pellegrin, was ziemlich aufgeplustert klang und was sich auch niemand merken konnte. Daher nannten ihn alle Pieps.

Hinter ihm betrat Mama, die eigentlich Pernille Brix hieß, die Küche. Sie trug noch ihre Polizei-Uniform, und als sie die Mütze absetzte, fiel ihr langer, blonder Zopf hervor. Emmi fand, dass sie müde aussah.

»Wir haben kein Sandwich gemacht!«, rief Fiete.

»Ach nein?«, fragte Mama. Sie zog die Augenbrauen hoch und betrachtete die angebissenen Sandwiches.

Emmi wollte nicht, dass Papa Ärger bekam. »Wir haben den Toaster benutzt«, sagte sie schnell.

»Für die Würstchen auch?«, fragte Mama.

Niemand antwortete. Papa saß neben den Kindern auf der Eckbank wie ein viertes Kind. Alle guckten Mama an, die mit langen Schritten zum Mülleimer ging und das Brett und die Tischdecke herauszog. Nein, es hatte wirklich keinen Sinn, Pernille Brix anzuschwindeln.

Das lag an ihrem Fabelwesen. Pieps war kein normaler Blütenspatz, wie ihn zum Beispiel die Musiklehrerin von Emmi hatte. Nein, Pieps war ein Zweifühliger Blütenspatz. Aus seiner Stirn wuchsen zwei kleine Fühler, und wie die meisten Fühler-Fabelwesen hatte Pieps seherische Fähigkeiten. Er konnte durch Wände sehen. Und auch durch Türen. Und durch Mülleimer. Manchmal war das sehr gut, zum Beispiel wenn Emmi kurz davor war, im Schlaf vom Hochbett zu fallen. Oder wenn Henk auf der Fernbedienung saß. Aber wenn man eine verbotene Sache getan hatte, war es nicht gut.

Mama holte Luft. »Mensch, Heinrich! Feuer speien beim Essen? Ist das dein Ernst?«

»Ach, Pernille«, sagte Papa.

»Ich meine das doch nicht böse«, sagte Mama. »Es ist einfach gefährlich. Ich habe auf der Arbeit jeden Tag mit Bränden zu tun, die durch unvorsichtigen Umgang mit Drachenfeuer passieren.«

Henk murmelte, er sei nie unvorsichtig.

Pieps streute Glockenblumen. »Habt euch wieder lieb«, sagte er.

Aber Mama ließ sich nicht so schnell erweichen. Sie ging zur Wohnzimmertür. »Wir klären das. Aber nicht vor den Kindern.«

Papa schnaufte. »Können wir das nicht später …«

»Nein! Jetzt!« Mama guckte ihn streng an.

Emmi überlegte sich, dass Mama vielleicht nur Hunger hatte nach dem langen Arbeitstag und deshalb etwas schlecht gelaunt war. Schnell sprang sie auf, nahm ihr angebissenes Sandwich und brachte es Mama. »Für dich«, sagte sie.

»Danke!« Pernille ließ die Türklinke los und setzte sich. Papa lächelte Emmi dankbar an, und alle guckten zu, wie Mama in das Sandwich biss.

»Und?«, fragte Emmi.

»Lecker«, gab Mama zu, dann aß sie das Sandwich ratzekahl auf.

Inzwischen legte Emmi dem Blütenspatz ein Salatblatt hin.

»Da ist Ketchup dran«, nörgelte Peregrin de Pellegrin, denn er war sehr pingelig, was Essen anging.

Emmi holte ein frisches Salatblatt aus dem Kühlschrank.

»Ist das bio?«, fragte der Vogel.

»Pieps, iss einfach!«, sagte Mama.

Während der Vogel kaute, starrte er Emmi unverwandt an. Die kleinen Kugeln am Ende seiner Fühler leuchteten auf. Oh, oh, das hieß nichts Gutes, wusste Emmi. Sie blickte auf ihren Teller.

Der Vogel legte den Kopf schief. »Emmi? Du hast dich nicht an unsere Abmachung gehalten«, stellte er fest. »Wir haben gestern lange darüber gesprochen. Man darf sich nichts wünschen. Und schon gar nicht so etwas.«

Emmi zuckte mit den Schultern. Es war wirklich nicht leicht mit einem Fabelwesen, das durch Wände sehen konnte.

Mama horchte auf. »Welche Abmachung?«

»Das ist was zwischen mir und Emmi«, sagte Pieps.

»Peregrin, du sagst mir sofort, worum es hier geht!«

Der Vogel seufzte. »Bitte nicht schimpfen. Emmi hat mir versprochen, keine Bilder mehr von dem Fabelwesen zu malen, das sie sich wünscht. Aber – war in letzter Zeit mal jemand in Emmis Zimmer?«

Emmi sah den Vogel sauer an. Diese kleine, piepsende Petze! Ehe sie etwas dagegen tun konnte, rannte Familie Brix los.

An ihrer Zimmertür hing schon länger ein Schild, auf dem stand STOPP – TOTAL VERBOTEN. Trotzdem öffnete Mama die Tür, und alle drängten sich in Emmis kleines Zimmer. Henk passte nicht auch noch hinein, und deshalb quetschte er bloß seinen Kopf durch die Tür.

»Krass!«, sagte Meike.

Die Wände von Emmis Zimmer waren übersät mit Bildern, denn seit Wochen tat Emmi nichts anderes, als Einhörner zu malen. Am Anfang waren es noch ziemlich vermurkste Dinger, zu dick, zu lang oder zu hässlich. Aber Einhörner waren nun mal nicht dick, hässlich oder vermurkst. Sie waren herrlich. Magisch. Wundervoll. Nicht weniger als die schönsten Fabelwesen der Welt.

Emmi hatte weiter gemalt, und die Einhörner gelangen immer besser. Die Beine schlank, der Körper anmutig. Das Horn golden und gedreht, die Mähne gelockt, das Gesicht freundlich. So würde es aussehen, ihr Einhorn. Dazu hatte sie Fotos aus Zeitschriften aufgehängt. Es gab auch Einhörner aus Knete. Und aus Muscheln. Und Seife in Form von Einhorn-Pupsen. Auf Emmis Nachttisch stapelten sich Einhorn-Bücher. Außerdem hatte sie Hörner gebastelt und ihren Kuscheltieren umgebunden, und sogar ihrer Puppe Lissi. Über allem baumelte eine Wimpelkette. WILLKOMMEN, EINHORN, stand dort.

Die ganze Familie setzte sich auf Emmis Bett. Alle schwiegen, was ziemlich ungewöhnlich war.

»Ein Einhorn?«, fragte Mama nach einer Weile.

Emmi nickte und knabberte an ihrem Pulloverärmel.

»Das geht nicht!«, sagte Mama. »Kein Einhorn, kein Drache, kein Lindwurm, kein Pegasus. Ein großes Fabeltier reicht mir.« Sie guckte zu Henk, der nicht in Emmis Zimmer passte.

Heinrich Brix zog seine Tochter zu sich heran. »Schätzchen, du kriegst kein Einhorn. Einhörner sind furchtbar selten. In unserer Familie haben die Menschen einfache Fabelwesen.«

»Du hast einen Drachen«, sagte Emmi.

Henk legte seinen Kopf auf ihren Schoß, und sie kraulte ihn. Leute, die selbst keinen Drachen haben, denken oft, dass Drachenhaut rau und ledrig sein müsste – das ist ein Irrtum. Henks Haut war warm und weich.

»Die halbe Stadt hat Drachen«, sagte Papa. »Das ist nichts Besonderes.«

Henk räusperte sich, und dabei entschlüpfte ihm ein Rauchwölkchen.

»Du bist natürlich was Besonderes«, sagte Papa schnell.

»Vielleicht bekommst du einen Kuchenhasen, wie Oma«, sagte Mama.

»Omas Kuchenhase ist langweilig«, sagte Emmi.

»Aber sein Käsekuchen ist eine Wucht«, murmelte Henk.

»Oder du kriegst einen Sitzfrosch, wie Opa«, schlug Papa vor.

Emmi guckte ihre Familie an. Verstanden sie denn nicht, wie wichtig dieser Wunsch war? »Ich brauche ein Einhorn«, sagte sie. »Einhörner sind die beliebtesten Fabelwesen der Schule. Und dann …«

»Dann bist du auch beliebt«, beendete Mama den Satz. Sie und ihr Blütenspatz guckten besorgt. »Du denkst, dass du dann nicht mehr gemobbt wirst?«, fragte Mama.

»Sag nicht dieses dumme Wort!«, schimpfte Emmi. Mama benutzte es manchmal, und die Lehrerin auch, doch Emmi konnte es nicht ausstehen. Es klang so – schlimm. Und so jämmerlich.

Papa umarmte Emmi. »Ich verstehe dich ja, Emmi. Aber ein Einhorn ist etwas ganz Besonderes. Wir sind eine normale Familie. Wir haben keine besonderen Fabelwesen.«

»Dann glaubt ihr nicht, dass ich was Besonderes bin?«, fragte Emmi wütend.

Die Eltern überschlugen sich und sagten immer wieder, dass Emmi etwas ganz Besonderes sei. Und Peregrin de Pellegrin verkündete, dass jeder etwas Besonderes sei. Und dann sprach er, wie so oft, über die Liebe in der Welt. Währenddessen setzte er jedem eine Sonnenblume ins Haar, was besonders bei Papa und Henk komisch aussah.

»Trotzdem«, sagte Mama. »Du kriegst kein Einhorn.«

Emmi hielt es einfach nicht mehr aus mit dieser Familie, die einem nichts glaubte. Sie sprang auf. »Aber ich habe davon geträumt!«, rief sie.

Es wurde sehr still in dem kleinen Zimmer.

»Wann?«, stieß Mama hervor.

»Heute Nacht.«

»Cool!«, sagte Meike. »Was man drei Tage vor dem Fabeltag träumt, geht in Erfüllung.«

Alle starrten Emmi an, während sie von ihrem Traum erzählte. Von dem Horn, gedreht und schimmernd. Von den freundlichen Augen. Und von der Stimme, die im Traum gerufen hatte: Emmilein, bald bin ich bei dir.

»Also, wenn es so ist …«, stammelte Papa kopfschüttelnd. »Offenbar kriegt unsere Emmi wirklich ein Einhorn.«

Fiete sprang begeistert auf dem Bett herum. Mexi dichtete ein Lied mit dem Titel: Emmis Einhorn hat sein Horn nicht hinten, sondern vorn.

Mama sprang auf. »Ein Einhorn ist riesig! Wo soll das denn wohnen?«, fragte sie mit Panik in der Stimme.

Darüber hatte Emmi auch schon nachgedacht und festgestellt, dass ihr Zimmer zu klein war. Genau genommen war es das kleinste Zimmer der Wohnung. Emmi mochte ihr Zimmer mit der Blümchentapete und dem Hochbett. Aber wo sollte hier ein Einhorn schlafen, bitte schön? Auf dem Bücherregal? Im Puppenbett?

»Vielleicht müssen wir umziehen«, sagte sie zaghaft.

»Aber nicht morgen«, sagte Fiete, »da hab ich Handball. Und mein Zwerg auch. Übermorgen hätte ich Zeit.«

Mama lachte. »Wir ziehen überhaupt nicht um.« Dann wuschelte sie Emmi über den Kopf. »Wir rücken noch ein bisschen mehr zusammen. Das wird schon gehen.«

Mama und Emmi räumten Emmis Schreibtisch in den Flur und auch das meiste Spielzeug. Fiete schleppte Decken und Tücher an. So gut es in dem kleinen Zimmer eben ging, richteten sie einen Schlafplatz für das Einhorn her.

Nach der Schule hatte Emmi ein Paket Karamellkekse gekauft, weil sie vermutete, dass Einhörner diese Sorte Kekse mochten. Sie stellte sie in einer Schüssel neben den Schlafplatz. Dann war sie zufrieden. Hier würde sich ihr Einhorn wohlfühlen.

Ein Kapitel, in dem Henk es gut meint

Der nächste Tag war ein Freitag. Nach Schulschluss zogen die Kinder der Fragzwerg-Heino-Grundschule ihre Jacken aus und tobten über den Schulhof. Die Schule besaß eine eigene Landebahn für fliegende Fabelwesen, und daneben wartete Emmi auf Henk. Der kam mal wieder zu spät – leider waren Drachen bekannt für ihre Probleme mit der Pünktlichkeit.

Die Schule war nach dem berühmten Fragzwerg Heino benannt, der vor zweihundert Jahren gelebt hatte. Niemand ist so neugierig gewesen wie Heino, und niemand hat so viele Merksätze aufgeschrieben. Das Schulhaus war sehr groß, damit alle Fabelwesen hineinpassten, auch die rundliche Sphinx der Direktorin und der Riese des Hausmeisters. Der Schulhof war fabelwesengerecht und verfügte über einen eingezäunten Teil für die kleineren Fabelwesen, in dem sie ungestört spielen konnten. Es gab Bäume, Blumen und eine Burgruine, ein riesiges Klettergerüst und einen Teich.

Aus den Augenwinkeln beobachtete Emmi eine Gruppe von Kindern, die an diesem Teich stand. In ihrer Mitte – Antonia. Sie war blond und trug den Kopf so hoch erhoben, dass sie fast aussah wie ein Storch auf der Wiese. Das sagte jedenfalls Meike.