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Ralf Isau

Die Chroniken von Mirad

Band 2:
Der König im König

Roman

hockebooks

32. Kapitel:
Popis Bestimmung

Aus seiner Furchtsamkeit hatte Popi nie einen Hehl gemacht. Über eine mit seinen Gefühlen verbundene Eigenart pflegte er indes am liebsten zu schweigen. Weil er auf dem Gebiet des Zitterns so sattsam erfahren war, hatte er irgendwann damit begonnen, diese schnellen, sich der Kontrolle des Willens weitestgehend entziehenden Muskelbewegungen in mehrere Farbtöne einzuteilen, wobei er auch angstlose Empfindungen mit einbezog.

Rot war für den Hasenfuß das furchtvolle Schaudern, ein freudiges Erbeben dagegen eindeutig gelb. Im Laufe seines jungen Lebens schuf er aus den verschiedenen Arten von Aufregungen eine so bunte Palette, dass es an dieser Stelle zu weit führen würde, sämtliche Farbschattierungen für ergreifende Gemütsbewegungen aufzuzählen, etwa für Herzklopfen, Lampenfieber, Schüttelfrost und Ekel, um nur einige zu nennen. Deshalb wollen wir uns darauf beschränken, jene Farbtöne zu erwähnen, die Popis wechselnde Seelenzustände auf dem Kitora anschaulich machen.

Nachdem der Lärm vom Gipfel des Vulkans erstorben war, wechselte sein Zittern von einem schauerlichen Scharlachrot in ein bibberndes Blau – er fror erbärmlich, trotz Pelzmütze, Handschuhen und eines Kälteschutzes, der seinen Körper mit fast so vielen Lagen umgab, wie eine Zwiebel Häute besaß. Zu dieser Zeit befand er sich in einer winzigen Höhle dicht unterhalb des Kraterrands und flößte sich murmelnd Mut ein.

»Jetzt bist du so weit gekommen, nun musst du es auch zu Ende bringen.«

Seine Gedanken kehrten in den Kiefernwald zurück. Als er dort den zusammengerollten Mantel des Königs gefunden hatte, war er zunächst zwischen purpurner Wut und farbloser Enttäuschung hin und her gerissen, obwohl er schon vorher gespürt hatte, dass Ergil ihn aus falsch verstandener Kameradschaft, aus Rücksicht oder wer weiß warum zurücklassen wollte. Bereits einige Stunden früher, bei der merkwürdigen Unterhaltung über den Netzling, hätte ihm ein Licht aufgehen müssen. Zu dieser Zeit musste Ergil längst erwogen oder sogar geplant haben, seinen spinnwebenartigen Freund der Obhut des Knappen zu übergeben.

Mit einem eklig braunen Zittern hatte sich Popi zum Gespinstling Nisrahs gemacht. Daraufhin war er mit dem Umhang unterm Mantel dem König hinterhergeeilt. Bald hatte er ihn auf einem Schneefeld ausgemacht und von da an folgte er ihm im sicheren Abstand. Zeigen wollte er sich seinem Herrn nicht; zu arg war ihm der Gedanke, abermals abgewiesen zu werden. Aber ihn im Stich lassen – das kam erst recht nicht infrage.

Doch dann begann das Donnern und damit das scharlachrote Zittern. Kurz darauf flog auch noch Twikus’ Bogen über den Kraterrand und landete ziemlich genau vor Popis Füßen. Ungläubig hob er die zerschrammte, aber sonst unversehrt gebliebene Waffe auf und versuchte sich im Geiste auszumalen, was jenseits der Felsenkrone vor sich gehen mochte. Weil er über einige Phantasie verfügte, gewann wieder der Hasenfuß in ihm die Oberhand.

In der Nähe eines einzelnen verdorrten Baumstammes, der wie eine Zoforothkralle aussah, entdeckte er einen Spalt. Da hinein verkroch sich Popi und ließ, während es im Krater grollte und donnerte, einen grellroten Schauder nach dem anderen über sich ergehen. Schließlich kehrte eine gespenstische Ruhe ein.

Grabesstille.

Der Gedanke weckte Sorge in dem Knappen und diese führte zu der schon erwähnten Umfärbung des Zitterns: Das Rot wurde zurückgedrängt und was blieb, war das blaue, leicht violette Bibbern.

Vorsichtig, um ja keinen Stein anzustoßen oder sonstige Geräusche zu verursachen, schlich sich Popi zu dem Spalt, in dem er zuvor den König hatte verschwinden sehen. Er lief zwischen eng stehenden, schroffen, hohen Wänden hindurch. Mit einem Mal öffnete sich vor seinen Augen ein weites Rund aus spitzen Felsnadeln. Unter ihm lagen ein pechschwarzer Kratersee und, im Zentrum der spiegelnden Fläche, der reglose Leib des Königs.

Popis Zittern verschob sich wieder stärker ins Rote. Ängstlich spähte er nach allen Seiten. Wo war Magos? Und wo eigentlich Kaguan? Der Hasenfuß in ihm sagte: »Du bist wohl nicht bei Trost, da runterzugehen und dich in die Hand dunkler Mächte zu begeben. Sieh dir doch an, was aus deinem Herrn geworden ist!«

Aber dann meldete sich ein anderer Ratgeber in seinem Kopf, der wie Ergil klang, als er sprach: »Jeder hat eine besondere Gabe – er muss sie nur entdecken und mit Umsicht gebrauchen. Und jeder hat seine Bestimmung – er muss sie nur annehmen und ihr in Weisheit folgen. Manche suchen ein Leben lang danach, aber ich bin mir sicher, du wirst nicht so lange brauchen.«

Mit einem Mal wusste Popi, warum er vor genau einhundertunddreizehn Tagen zum Schildknappen der soodländischen Könige berufen worden war. Nicht, um den Ginkgokompass auf den Kitora zu schleppen. Jedenfalls nicht dafür allein. Hier, in diesem Kratersee, lag seine Bestimmung. Wenn die Könige tot waren, dann durften sie nicht in diesem schwarzen Maul zurückgelassen werden, sondern sollten ein ehrenvolles Begräbnis erhalten. Falls sie aber noch lebten …

Popi wunderte sich ein wenig, als ihn seine Beine wie von selbst den Hang hinabtrugen, anfangs noch langsam und eher zögerlich, aber je weiter er kam und je länger der befürchtete Angriff der dunklen Mächte ausblieb, desto mehr verblasste das lähmende Rot und umso schneller lief er. Sogar das blaue Zittern spürte er bald nicht mehr. Vielmehr ließ ihn ein orangefarbenes Beben aufgeregt über das schwarze Eis eilen, welches matschig unter seinen Füßen spritzte – anscheinend hatte auf dem Kitora Tauwetter eingesetzt.

Auf dem Weg zur Mitte des Kratersees klaubte Popi die Pelzmütze seines Herrn auf. Dann endlich erreichte er den König. Dieser lag in seltsamer Stellung auf dem nassen Grund, so als habe er eben noch gekniet und sei dann mit angewinkelten Beinen schräg nach hinten gekippt. Die rechte Hand des Königs hielt etwas fest, das sich bei genauerem Hinsehen als die Ginkgonadel entpuppte.

Popi kniete sich neben seinen Freund. Als Erstes löste er die Kristallnadel aus dessen Hand und verstaute sie in seinem Mantel. Hiernach streckte er die Beine des Gefährten. Sodann führte er eine oberflächliche Untersuchung durch. Bis auf einen blutigen Kratzer am Handgelenk konnte Popi keine ernsteren Verletzungen entdecken. Was war mit dem König geschehen? Lebte er noch?

Der Knappe zog seinen Dolch aus der Scheide, wischte die Klinge einige Male über den Ärmel, bis sie leidlich spiegelte, und hielt sie anschließend unter die Nase seines Herrn.

»Sie beschlägt!«, flüsterte er. Ein sonnengelber Schauer durchflutete ihn. Und dann brach Popi in Jubel aus. »Er atmet! Er ist noch am Leben! Alles wird …«

Ein schauerliches Knacken ließ ihn jäh verstummen. Sofort wurde aus Gelb wieder Rot. Das Eis bricht!, schoss es ihm durch den Kopf.

Er packte den König unter den Achseln und zerrte ihn in Richtung Ufer. Derweil knirschte und knackte es immer häufiger unter seinen Füßen. Nach ein paar bangen, scharlachroten Augenblicken erreichte er endlich festen Boden. Als Nächstes hörte Popi ein ohrenbetäubendes Krachen und der See brach nach unten weg.

Schwarze Fontänen schossen in die Höhe. Das Gemisch aus Schollen und geschmolzener Finsternis zischte und spritzte, schwappte und ächzte; es dauerte eine ganze Weile, bis es einen einigermaßen stabilen Zustand erreichte. Anschließend stiegen aus dem nun gut hundert Fuß tiefer liegenden See zwar immer noch Blasen auf, aber es schien zumindest keine unmittelbare Gefahr mehr von ihm auszugehen.

Popi riss sich die Mütze vom Kopf. »Auch Backe, das war knapp!«

Hiernach widmete er sich wieder dem Bewusstlosen. Er zog sich den Mantel aus und löste von seinen Schultern den Umhang samt Netzling, um darin den Gefährten einzuwickeln. Diese Maßnahme erwies sich als grandioser Einfall.

Der König schlug die Augen auf.

Popi erbebte sonnenblumengelb vor Glück. »Jetzt wird alles gut«, versicherte er seinem Freund. Weil dieser zwar den Mund öffnete, mit den Lippen das Wort »Popi« formte, aber außer einem Röcheln nichts hervorbrachte, flößte er ihm zunächst einen Schluck Wasser ein.

»Was ist mit Magos und Kaguan?«, fragte der Knappe hierauf. Um die Antwort des Königs zu verstehen, musste er sein Ohr dicht über dessen Lippen halten.

»Magos hat der Wind fortgeweht … hoffentlich für immer. Kaguan … ist weg.«

»Weg? Heißt das, weg, wie man eine breit geschlagene Kakerlake wegputzt, oder weg wie weggelaufen?«

Der König schloss die Augen. Offenbar strengte ihn das Sprechen enorm an. Nachdem er Kraft gesammelt hatte, blickte er wieder zu seinem Knappen auf und hauchte: »Er muss … muss sich irgendwo in der Nähe verstecken.«

Einen Moment lang herrschte Stille. Obwohl der König sich nach Ruhe sehnte, empfand er diese eher als beklemmend. Er vermochte sich dieses Gefühl nicht zu erklären und ehe er ihm auf den Grund gehen konnte, hatte sein Knappe die beunruhigende Nachricht verdaut und meldete sich wieder zu Wort.

»Ich habe keine Lust, dem Chamäleonen über den Weg zu laufen. Wir sollten schleunigst hier verschwinden. Kannst du laufen, Twikus?«

Abermals schloss der König die Augen und antwortete leise: »Ich bin Ergil.«

»Oh! Sei mir nicht böse, aber ich hätte mein Messer darauf verwettet, dass du diese Sache deinem Bruder überlassen hast.«

Ergil nahm seinem Freund die Offenheit keineswegs krumm. Obwohl er sich mehr tot als lebendig fühlte, bemühte er sich sogar um ein verzeihendes Lächeln, bevor er antwortete: »So war es auch.« In seinem Innern fügte er hinzu: Herzlichen Glückwunsch, Bruderherz! Jetzt bist du der große Held, der du immer sein wolltest. Wie du Magos mit letzter Kraft die Nadel ins Herz …

Mit einem Mal erstarrten Ergils Gedanken. Er spürte eine sonderbare Leere, die ihn mit abgrundtiefer Angst erfüllte.

Twikus?

Er lauschte in sich hinein, aber keine Antwort kam. Nur das Gefühl des Ausgehöhltseins wurde stärker.

Twikus, wo bist du?, schrie er im Geist.

Alles blieb still.

»Was … was ist …?«, stotterte Popi. Er musste wohl am Gesicht des Königs erkannt haben, dass etwas nicht stimmte.

Unvermittelt ging ein heftiges Zittern durch Ergils Körper. Sein Herz begann zu rasen und das Blut rauschte wie ein Sturzbach durch seine Ohren. Alles in ihm sträubte sich gegen das, was er empfand, was er schon in der beklemmenden Stille inmitten von Popis Schweigen gefühlt hatte.

Ergil erinnerte sich an jene wundersame Begegnung, als er an einem mörderischen Morgen im Großen Alten zum ersten Mal mit Twikus in Kontakt getreten war. Seit damals hatten sie ein Gespür für die Nähe des anderen gehabt, selbst wenn dieser vorübergehend in seinem Schneckenhaus verschwunden war. Doch jetzt fehlte diese innere Wärme. Sie war einer großen, kalten Dunkelheit gewichen, die ihn in Schrecken versetzte.

Er bemerkte Popis sorgenvolle Miene über sich. Der Knappe drückte ihn an den Schultern auf die Erde, offenkundig weil er, der vereinsamte König im König, wie ein Fallsüchtiger von Krämpfen geschüttelt wurde. Er hörte, gleichsam vom anderen Ufer eines tosenden Flusses, das Flehen seines Knappen.

»So sprich doch mit mir, Ergil! Was ist passiert?«

»Twikus!«, schrie der am Boden Liegende.

»Ja doch, Ergil. Ich kann dich verstehen. Was ist mit deinem Bruder?«

Mit einem Mal erschlaffte er. Nur seine Augen starrten in die besorgte Miene des Knappen, die rasch hinter einem Schleier von Tränen verschwand. »Er ist nicht mehr da«, antwortete Ergil schwach.

»Nicht mehr …? Was meinst du damit?«

»Was ich gesagt habe. Twikus … hat mich allein gelassen. Er ist fort. Tot!«

Beim letzten Wort hatte sich Ergil aufgebäumt und es dem verschwommenen Gesicht entgegengeschrien. Danach fielen seine Augen zu und er sank kraftlos zusammen. Wahnsinn wehte in seinen Verstand, welcher ohnehin nur noch ein im Erlöschen begriffener, glimmender Flachsdocht war. Ergil vermochte nur noch einen einzigen Gedanken zu denken: Und nun folge ich meinem Bruder und versinke in dem eisigen, pechschwarzen See …

Dann glitt er hinab in die Dunkelheit.

Popis Zittern hatte eine hässliche schmutzige Farbe, weil Kälte, Angst, Trauer und Sorge sich in ihm mischten. Unter fortwährendem Ächzen und Stöhnen schleppte er Ergil den Hang zur Kraterkrone hinauf. Er war sich nicht sicher, ob sein Herr noch lebte, denn die Messerprobe wurde von den zunehmend stärker werdenden Dämpfen aus dem See verfälscht, die sich, stinkend und schmierig, überall niederschlugen.

Auch wenn Popi nie viel auf seine Fähigkeiten gegeben hatte, konnte er sich doch auf seine Zähigkeit verlassen. Manch einen hatte er darüber hinaus schon mit seiner Kraft überrascht, die kaum zu seiner eher schmächtigen Statur passen wollte. Jetzt kamen ihm diese Eigenschaften zugute. Seinen Herrn bis ins Tal zu schleppen, das würde aber selbst ein noch so sehniger Bauernjunge aus Elderland nicht schaffen.

Als er mit dem reglosen König über der Schulter das Tor von Magos’ Feste durchschritt und sein Blick auf den einsamen verdorrten Baum fiel, kam ihm eine Idee. Er würde Ergil in der kleinen Höhle verstecken, die ihm zuvor als Zuflucht gedient hatte. Dann konnte er allein ins Tal hinablaufen und Múria holen. Sie war wohl die beste Heilerin Mirads, bewandert in allen Sirilimkünsten. Ihr würde schon einfallen, wie sie ihren Schüler wieder gesund machen konnte.

Alsbald erreichte Popi die Höhle. Sie hatte die Form einer Linse, war also am Eingang nur ein schmaler Schlitz, weitete sich zur Mitte hin, um sich bald wieder zu verjüngen. An ihrer breitesten Stelle maß sie etwa anderthalb Schritte und war knapp fünf lang. Vorsichtig ließ der Knappe seine Last vor dem Spalt zu Boden gleiten und zerrte den schlaffen Körper rückwärts in das Versteck.

»So, hier kannst du dich ausruhen«, sagte er sanft, nachdem er seinen Freund so bequem wie möglich auf dem unebenen Grund gebettet hatte.

Ergil wirkte wie tot.

Ein blutrotes Zittern schüttelte den Knappen. »Bitte stirb mir jetzt nicht, Ergil!«, jammerte er. »Ich habe dir Nisrah umgelegt und dich hierher geschleppt. Sag, was ich für dich tun kann, und ich mach’s.«

Sein Herr zuckte mit keiner Wimper. Atmete er überhaupt noch?

Hektisch holte Popi unter dem Mantel seinen Dolch hervor, polierte die Klinge am Ärmel und hielt sie dem König unter die Nase.

Nichts. Oder vielleicht doch ein winziger Beschlag? Popi packte die feuerrote Angst.

»Komm, ich mache es dir gemütlich«, redete er mit weinerlicher Stimme auf den Reglosen ein. Er zog sich die Pelzmütze vom Kopf und bettete das Haupt des Königs darauf. Dann öffnete er den obersten Knopf des Hemdes, das Ergil unter seinem Wams trug. Dabei bemerkte er ein silbriges Glitzern.

»Beim Herrn der himmlischen Lichter!«, wisperte Popi. »Er hat doch …«

Hastig zerrte er an der haarfeinen Satimkette und förderte ein kleines Fläschchen zutage. Seine Augen wuchsen auf etwa doppelte Größe.

»Die Phiole!«

Von nun an gab es für den Knappen kein Halten mehr. Oramas hatte behauptet, der Ginkgosaft in dem bauchigen Kristallbehälter sei ein Lebenselixier, das schon Tote auferweckt habe. Seine Vorgänger seien immer zu selbstlos gewesen, um den kostbaren Trunk für sich zu benutzen. Aber, dachte Popi bei sich, wenn irgendein Leben verdiente gerettet zu werden, dann das seines mutigen Herrn.

Hastig brach der Knappe mit seinem Dolch das rote Wachssiegel und zog den winzigen Kristallstopfen heraus. Danach hob er vorsichtig Ergils Kopf an und setzte ihm die Phiole an die Lippen.

Ölig rann die bernsteinfarbene Flüssigkeit durch den schlanken Hals des Fläschchens. Tropfen für Tropfen bahnte sie sich ihren Weg und sickerte durch die Zähne, um die Zunge zu benetzen, sich im Mund zu verteilen und von dort aus weiter den Rachen hinabzufließen.

»Jetzt komm schon!«, flehte der Knappe, weil sein Herr keine Anstalten machte, ins Leben zurückzukehren. In seinem Innern gelobte Popi, dem Thron von Soodland bis in die dritte Generation zu dienen. Er sandte ein Stoßgebet zum Himmel und als selbst das nicht zu helfen schien, schüttelte er den König, wie man es mit einem Betrunkenen tut, den es aus dem Rausch zu erwecken gilt.

Plötzlich hustete Ergil.

Im ersten Moment war Popi zu perplex, um irgendetwas anderes zu tun, als seinen Herrn sprachlos anzustarren.

Ergil schlug die Augen auf.

»Du lebst wieder!«, schrie Popi jetzt.

»War ich denn tot?«, fragte der König. Seine Stimme klang zwar noch benommen, aber deutlich kräftiger als vorher im Vulkankrater.

»Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht genau, aber jedenfalls hätte nicht mehr viel gefehlt, und dir wäre es wie deinem Bruder …« Popi riss, weil seine Rechte immer noch den König stützte, die Linke vor den Mund. Er konnte sehen, wie sein Gefährte das Gedächtnis wiedererlangte und sich dann Schrecken einstellte.

»Twikus ist tot«, flüsterte Ergil, während er stöhnend den Oberkörper aufrichtete. Dabei fiel sein Blick auf die leere Phiole, die von seinem Hals baumelte. Mit einem versonnenen Ausdruck griff er danach.

Popi sah betreten zu Boden. »Ich wusste mir nicht anders zu helfen, deshalb habe ich dir das Lebenselixier eingeflößt. Mir war angst und bange, weil du vor deiner Ohnmacht gesagt hast, dein Bruder sei fortgegangen. Ich wollte nicht, dass du ihm folgst, wohin auch immer er gegangen ist.«

»Ins Haus der Toten«, sagte der König mit bebender Stimme. »Ich kann fühlen, dass er nicht mehr da ist. Hätte er doch nur auf mich gehört! Inimai hat uns gewarnt, ihren Stärkungstrunk mit Besonnenheit zu benutzen. Aber Twikus hat sich übernommen. Er hat …« Ergil schüttelte verzweifelt den Kopf und fügte leise hinzu: »Er hatte keine andere Wahl. Entweder Magos hätte uns umgebracht oder wir wären von ihm für immer unserer Freiheit beraubt worden.«

Popi sah wieder auf, legte seine Hand auf Ergils Schulter und drückte sie sanft. »Es tut mir so leid. Wenn doch nur ich an seiner Stelle wäre …!«

»Sag so etwas nicht!«, fiel Ergil ihm ins Wort. »Twikus und ich kannten den Preis, den jeder bezahlen muss, der den dunklen Gott bezwingen will – ich wünschte nur, die Legende wäre nichts als ein Märchen gewesen.«

»In deinem Fall hat sie ja auch geirrt«, gab der Knappe zu bedenken.

Ergil dachte einen tiefen Atemzug darüber nach. Dann nickte er. »Und das verdanke ich dir, Popi. Jetzt kennst du deine Bestimmung. Du hast einem Freund das Leben gerettet. Und weißt du was? Mir geht es wie dir: Ich würde sonst was dafür geben, wenn Twikus jetzt an meiner statt hier sein könnte und …«

Ohne seinen Gedanken zu Ende zu führen, erhob sich der König unvermittelt und so schwungvoll, als habe er in der vergangenen Stunde nur sanft geschlummert. Dabei fiel sein Blick auf den Bogen, den Popi in der Höhle hatte liegen lassen. Trotzig raffte er ihn vom Boden auf und kroch durch den schmalen Spalt ins Freie.

Popi folgte ihm. Als er seinen Herrn draußen mit wehendem Mantel stehen sah, wunderte er sich. Ergil hatte einen der letzten Pfeile, die noch im Köcher verblieben waren, auf die Bogensehne gelegt. Während er auf den einzigen Baum in weitem Umkreis – diese verkrüppelte sechsfingrige Zoforothkralle – zielte, brachen sich erkennbar Trauer und Verzweiflung Bahn.

»Twikus war mutig«, stieß er hervor. Tränen rannen ihm übers Gesicht. »Nie zauderte mein Bruder, wenn er glaubte, das Richtige zu tun. Er konnte kämpfen. Und er traf nie daneben.«

Trotzig ließ Ergil die Sehne los. Der Pfeil sauste etwa hundert Fuß weit durch die Luft und blieb im äußeren Ast des Krallenbaumes stecken.

»Genau in den Daumen«, staunte Popi.

»Nur ein Versehen«, antwortete der Schütze, während er sich mit einem überraschten Ausdruck auf dem Gesicht seinem Knappen zuwandte.

Popi bemerkte natürlich die von Tränen glänzenden Augen und war geneigt, sich dem Urteil seines Herrn anzuschließen. Trotzdem antwortete er: »Was zu beweisen wäre.«

Ergil sah ihn verwundert an. »Weißt du, dass Twikus genau dieselben Worte gegenüber Magos benutzt hat?« Hierauf entnahm er dem Köcher einen weiteren Pfeil, legte ihn auf die Sehne, zielte und ließ ihn davonsirren.

Das Geschoss bohrte sich zitternd in den kleinen Ast, der dem »Daumen« gegenüberlag.

Popi traute seinen Augen nicht. Er beobachtete, wie sein Herr den Inhalt des Köchers überprüfte.

»Vier sind noch da«, murmelte dieser. Dann schoss er mit unglaublicher Schnelligkeit genauso oft auf die hölzerne Zoforothkralle. Als sein Vorrat erschöpft war, steckte in jeder »Fingerkuppe« ein Pfeil. Entgeistert wandte Ergil sich seinem Knappen zu. »Offenbar hat mir mein Bruder ein Vermächtnis hinterlassen.«

33. Kapitel:
Der Eisdom

Die Nacht in der Spalte unterhalb des Vulkankraters war für den wiederbelebten König und seinen Knappen nur bedingt erholsam. Beide schliefen wenig, weil der Kitora unablässig rumorte, der Wind immer wieder stickigen Rauch in die Höhle drückte und sowieso einer von beiden Wache halten musste. Man konnte ja nicht wissen, wie sich Kaguan den weiteren Verlauf seines Lebens vorstellte. Bestimmt dürstete ihn nach schneller Rache.

Am liebsten hätte Ergil den Abstieg ins Tal schon nach der überraschenden Entdeckung seiner neuen Fähigkeiten begonnen, aber er wusste die Wirkung des Lebenselixiers nicht einzuschätzen. Sicher, es war ein Wunder, wie stark er sich nach dem Genuss des bernsteinfarbenen Saftes fühlte, aber konnte man dieser neuen Spritzigkeit trauen? Twikus hatte sich vom trügerischen Gefühl der Stärke in den Tod locken lassen.

Sobald Ergil auch nur den Namen seines Bruders in Gedanken aussprach, verkrampfte sich sein Herz. Es erschien ihm viel zu groß für ihn allein. Er war zum Einsiedler geworden in einem verlassenen Haus und lauschte nach Stimmen, die nie mehr darin zurückkehren würden. Bis zum Morgengrauen.

Mit dem ersten Licht des neuen Tages brachen die Gefährten auf. Über ihren Häuptern qualmte und grollte der Vulkan. Popi übernahm die Führung – er besaß die nützliche Eigenschaft, einen einmal gegangenen Weg so schnell nicht wieder zu vergessen. Gedankenverloren stapfte Ergil ihm hinterher.

Wer ist dieser verbliebene König im König?, grübelte er. Noch traute er seinem eigenen Wesen nicht.

Hast du mich gerufen, mein lieber Freund?, meldete sich auffallend behutsam Nisrahs Stimme. Die zwei hatten schon in der vergangenen Nacht lange über den erlittenen Verlust gesprochen.

Ich habe nur über mein neues Wesen nachgedacht, antwortete Ergil.

Neu?

Ich fühlte eine Entschlusskraft, die mir, ehrlich gesagt, nicht geheuer ist. Den Drang, das Ende des dunklen Gottes für Soodland und ganz Mirad zu einem neuen Anfang zu machen. War da etwa noch mehr von Twikus auf ihn übergegangen?, fragte er sich insgeheim. Hatte sich der Charakter des Draufgängers mit dem des Denkers verschmolzen?

Dein Bruder hätte dir jetzt bestimmt geraten, den Bogen nicht zu überspannen, indem du dem Guten in dir misstraust. Vielleicht hat er dir mehr hinterlassen, als du für möglich hältst. Nimm dein Erbe an und nutze es für dich und für unsere Welt.

Auf dem Weg ins Tal grübelte Ergil lange über die Worte des Netzlings nach und je gründlicher er sich dabei selbst auslotete, desto richtiger erschienen sie ihm. Diese Forschungsreise in sein Inneres nahm ihn so gefangen, dass er zunächst die Kälte kaum bemerkte, obwohl der Wind im Laufe des Abstiegs immer schneidender wurde. Er wurde sich ihrer erst bewusst, als er plötzlich vor der Gletscherspalte stand. Während er die Haken seines Mantels schloss, stieß seine Hand gegen das leere Fläschchen. Die Berührung löste eine befremdende Gedankenkette aus, die zusammengefasst so aussah: Phiole, Oramas III, Nishigo, Sehnsucht.

Ergil fröstelte. Was war jetzt das? Sicher, er vermisste die susanische Prinzessin. Sie hatte auch ihn entzückt, wie das wohl bei jedem jungen Mann der Fall sein dürfte. Ihr bestrickendes Wesen war ihm sogar bis in die Träume gefolgt. Aber nur Twikus hatte sich tatsächlich in Nishi verliebt …

»Jetzt nenne ich sie schon bei ihrem Kosenamen«, brummelte er verwirrt.

Popi drehte sich zu ihm um. »Alles in Ordnung?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Sollen wir eine Rast einlegen?«

»Gute Idee! Gestern habe ich da unten eine Eishöhle gesehen. Dort können wir unterkriechen, bis der Sturm vorüber ist.«

»Klingt vernünftig.«

Bald hatten sie die Stelle erreicht, die ihnen den Abstieg zum Grund der Spalte ermöglichte. Während sie nach unten kletterten, wurde aus den eisigen Böen ein handfester Sturm. Trotz der zunehmenden Gefahr, auszugleiten und in die Tiefe zu stürzen, konnte sich Ergil nur schwer auf die Tritte und Haltepunkte konzentrieren. Die Kletterei hatte in ihm eine andere Assoziation heraufbeschworen. Er musste an die Leiter aus seinem Traum denken. Nur indem er sie unter sich durchtrennte, konnte er ihr oberes Ende erreichen. Waren auch diese Bilder eine Vision gewesen, die ihm verhieß, dass er sein früheres Leben würde hinter sich lassen müssen, um verändert in das neue einzutreten? Alles deutete darauf hin.

Wohlbehalten erreichten die Gefährten den Grund der Spalte. Hier tobte der Schneesturm weniger heftig. Trotzdem wurde die Sicht immer schlechter. Umso erstaunlicher war, dass Popi unvermittelt vor einer kleinen Unebenheit stehen blieb, die sich am Boden kaum wahrnehmbar unter der weißen Decke abhob. Er bückte sich und förderte aus den wirbelnden Flocken zwei rötliche Gegenstände zutage: das Gluttöpfchen sowie das Gefäß, in dem sich Múrias Stärkungstrunk befunden hatte.

Ergil spähte mit halb zusammengekniffenen Augen in die Richtung, wo er das von Twikus entdeckte Halbrund im Gletschereis vermutete. Im Schneegestöber war es nicht zu sehen. Plötzlich sah er aus dem undurchdringlichen Gewirbel etwas in rasender Geschwindigkeit auf sich zukommen. Seine Hand fuhr in den Mantel, packte Zijjajims Griff …

»Lass dein Schwert stecken. Ich bin’s«, rief unvermittelt eine nur allzu vertraute Stimme. In Gestalt einer Schneeeule landete Schekira auf seiner Schulter.

Natürlich war die Wiedersehensfreude groß. Sie wurde aber schon nach kurzem Wortwechsel von Trauer überschattet. Ergil hatte der Elvin mit zittriger Stimme vom Tod seines Bruders berichtet und Schekira darauf ihm das tragische Ende Falgons geschildert.

»Also hat Magos in dieser Hinsicht nicht gelogen«, flüsterte Ergil benommen. Die furchtbaren Visionen, die er gemeinsam mit Twikus im schwarzen Eis gesehen hatte, erschienen wieder vor seinem inneren Auge.

Mit einem Mal drängte sich Popis Stimme in das von Bitterkeit durchtränkte Schweigen. »Der Sturm wird immer heftiger. Wir sollten uns schleunigst in die Höhle verkriechen.«

Der junge König starrte mit versteinerter Miene ins Schneegestöber. Falgon!, klagte er im Geiste. Der alte Waldläufer war ihm wie ein Vater gewesen. Und jetzt …

»Ergil!«, drängte der Knappe und ergriff den Arm seines Herrn.

»Wo wollt Ihr Euch verstecken?«, fragte Schekira.

Popi zeigte ihr die Richtung. »Da muss irgendwo eine Eishöhle sein.«

»Lasst mich sie erst erkunden. Bin gleich wieder bei euch«, erklärte die Elvin und flog davon.

Wie ein Schlafwandler tappte Ergil, geführt von seinem Schildknappen, durch den Schneesturm. Immer wieder rief er in Gedanken Falgons Namen. Sie waren erst wenige Schritte gegangen, als plötzlich der Boden unter ihren Füßen einbrach.

Schreiend stürzten sie fünf oder acht Fuß nach unten, prallten auf ein schräges Hindernis, wurden dabei voneinander losgerissen und rutschten alsbald mit zunehmender Geschwindigkeit durch einen Eiskanal hinab. Ergil wurde wie ein trockenes Blatt im Wind herumgewirbelt und verlor dabei jegliches Gefühl für Oben und Unten. In jeder beliebigen Richtung gab es nur dieses leicht grünlich schimmernde Grau.

Popis Gebrüll entfernte sich. Bald fehlte von dem Knappen jedes Lebenszeichen. Dafür sausten an Ergil einige dicke Eiszapfen vorüber. Wenn er nur einen von ihnen traf, würde er sich sämtliche Gräten im Leib brechen. Die Schussfahrt wollte gar kein Ende nehmen. Er rechnete damit, jeden Moment von irgendeiner scharfen Kante in zwei Hälften zerschnitten zu werden. Unversehens verlor er jeglichen Bodenkontakt, flog ein stattliches Stück durch die Luft und bohrte sich sodann, Kopf voran, in einen großen Haufen Pulverschnee.

Prustend kämpfte er sich an die Oberfläche des Hügels zurück, dem er wohl die Unversehrtheit seiner Knochen verdankte. Wo war Popi? Und wo Schekira? Während er sich umblickte, beschlich Ergil eine unheimliche Beklommenheit.

Er befand sich in einem riesigen Eisdom. Hoch über sich sah er ein graugrünes, durchscheinendes, ovales Dach, in dem sich ein ziemlich großes, unregelmäßig geformtes Loch befand. Vermutlich war irgendetwas dort auf ähnliche Weise durchgebrochen wie er und Popi weiter oben im Berg. Durch diese Öffnung musste dann der Schnee herabgefallen sein, der ihn, Ergil, abgebremst hatte. Emsig schaufelte der Sturm weitere federleichte Flocken durchs Loch, die in dem Dom einen wirbelnden Tanz aufführten.

Ergils Blick schweifte durch den gewaltigen leeren Raum, in dem sein ganzer Hofstaat ein Fest hätte feiern können. Am Rand ragten riesige Eiszapfen wie Säulen auf. Irgendwo zwischen diesen durchsichtigen Pfeilern musste er hervorgeschossen sein.

Vorsichtig richtete er sich auf und überlegte, wie er sich und Popi aus dieser misslichen Lage befreien konnte. Der naheliegendste Weg nach draußen war wohl die Öffnung hoch oben im Eisdach. Mithilfe der Alten Gabe konnte er das Terrain erkunden und einen geeigneten Landeplatz in der Nähe des Loches ausfindig machen. Zunächst musste er jedoch seine beiden Gefährten wiederfinden.

Um die Elvin sorgte er sich weniger, wohl aber um Popi. Hoffentlich hatte ihn nicht genau das Schicksal ereilt, das er während der Schussfahrt schon für sich ins Auge gefasst hatte. Um in dem schlüpfrigen Schneehaufen nicht das Gleichgewicht zu verlieren, breitete er die Arme aus und drehte sich langsam um die eigene Achse.

Mit dieser Übung, die in erster Linie der Orientierung dienen sollte, handelte er sich einen neuerlichen Schrecken ein, denn direkt hinter sich entdeckte er im Gewirbel der Flocken ein grünes Strahlen. Aber da war noch etwas anders. Ergils Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Was anfangs wie ein Irrlicht ausgesehen hatte, kam nun immer näher. Schon bald vermochte er im Licht einen Schemen auszumachen, eine schmale Gestalt. Popi konnte es nicht sein, dazu war sie viel zu groß. Aber wer dann? Etwa Kaguan …?

Je näher der Bewohner dieses eisigen Palastes kam, desto deutlicher schälte er sich aus dem Gestöber. Und dann brach der Flockennebel regelrecht auf. Ergil gewahrte einen schlanken Mann mit sonnenblondem Haar, das sowohl sein Gesicht umwucherte als auch bis weit über die Schultern fiel. Abgesehen davon war der Fremde gegen die eisige Kälte schlecht gerüstet. Seine Kleidung entsprach eher dem, was man in gemäßigtem Klima tragen würde: eine grüne, seidig schimmernde, hauchzarte Tunika, eng anliegende schwarze Hosen und dazu passende weiche Stiefel. In seiner rechten Hand hielt er, aufrecht wie eine Fackel, das grün strahlende Schwert Zijjajim.

Vor dem Schneehügel blieb er schließlich stehen und betrachtete aus grasgrünen Augen schweigend den jungen König.

Ergil erwiderte den Blick entgeistert. Sein Gegenüber war ein Sirilo, da gab es überhaupt keinen Zweifel. Ja, er meinte sogar Ähnlichkeiten zwischen sich und diesem Mann zu entdecken, Übereinstimmungen, die weit über so Vordergründiges wie die Haar- und Augenfarbe hinausgingen. Auf dem zeitlosen Antlitz des Fremden spiegelte sich ein Ausdruck des Wiedererkennens. Ob er ahnte, dass in den Adern des jungen Mannes auf dem Schneehaufen ebenfalls Sirilimblut floss?

Instinktiv spürte Ergil die Friedfertigkeit des Unbekannten. Er raffte sich zu einem Lächeln auf, verbeugte sich leicht und sagte: »Möge Eure Hoffnung nie sinken. Mein Name ist Ergil von Sooderburg. Wie ich sehe, könnt Ihr das Himmelsfeuer wecken. Seid Ihr ein Nachkomme des großen Jazzar-siril?«

Ein lebhaftes Funkeln trat in die grünen Augen des Fremden. Nachdem er die Verbeugung auf eine ebenso anmutige wie sparsame Weise erwidert hatte, antwortete er: »Möge Eure Hoffnung zur Sonne Eures Lebens werden, Ergil von Sooderburg. Was das gläserne Schwert anbelangt, würde ich eher sagen, es hat mich geweckt.«

Eine unglaubliche Ahnung stieg in Ergil auf. Ehrfürchtig fragte er: »Wie darf ich das verstehen?«

Der Sirilo lächelte auf eine bemerkenswert gequälte Weise. »Magos hatte mich mit einem Bann belegt. Eine halbe Ewigkeit stand ich hier in diesem Tempel, den er zu meiner Verhöhnung ins Eis schlagen ließ. Ich sah alles, fühlte Hunger und Kälte und konnte trotzdem weder sterben noch mich bewegen. Bis Zijjajim mir direkt vor die Füße fiel und damit den Bann brach. Ich bin der Oheim Bároq-abbiríms, des Königs der Sirilim.«

Unter der schmutzigen, zerschlissenen Kleidung des Königs stellten sich sämtliche Härchen auf. Sein Herz fing heftig an zu pochen. Bároq-abbirím war sein Großvater gewesen. Aus irgendeinem Grund – vielleicht, weil er in diesen Stunden der bitteren Botschaften eine weitere Enttäuschung nicht verkraftet hätte – drückte er sich um die nahe liegende Frage und krächzte stattdessen: »Habt Ihr bei Himmelsfeuer auch ein zerborstenes schwarzes Kristallschwert gefunden?«

Der Fremde nickte. »Ich sah die beiden Bruchstücke. Aber ehe ich sie erreichen konnte, erschien ein dunkler Schemen. Er nahm sie an sich und entfloh damit, noch bevor Magos’ Bann ganz von mir abgefallen war.«

»Kaguan!«, zischte Ergil.

»Was habt Ihr gesagt?«

»Es war nur ein lauter Gedanke. Über Magos kann ich Euch nur so viel berichten: Er hat den Kitora verlassen und wird hoffentlich nie wiederkehren.« Ergil nahm allen Mut zusammen. »Wie lautet Euer Name?«

»Ich bin Jazzar-fajim.«

Ergil erschauerte. »Etwa der Jazzar-fajim, der einst auszog, um Magos zu bezwingen?«

Der Bärtige nickte traurig. »Ja, aber ich bin gescheitert. Mehr als das. Ich habe Magos’ Aufmerksamkeit auf die Länder der Menschen gelenkt. Er hat es mir selbst gesagt, um mich in meiner Verbannung zu quälen. Bilath-berdeor, den Grünen Gürtel der Sirilim, hatte er ohnehin schon so gut wie vernichtet. Seitdem hält er mich hier in seinem eisigen Kerker gefangen.«

»Jetzt seid Ihr frei«, verkündete Ergil feierlich. Danach erzählte er, was im Krater geschehen war.

Jazzar-fajim schöpfte tief Atem. »Dann habt Ihr und Euer Bruder vollbracht, woran ich gescheitert bin. Ihr habt mir zwar den Namen Eures Vaters, aber nicht den Eurer Mutter und ihrer Familie genannt. Wenn Ihr mit Zijjajim gegen Magos gekämpft habt, müsst ihr ebenfalls ein Nachfahre Jazzar-sirils sein.«

»Das ist richtig. Deshalb bedarf der Name meiner Famile auch weder meiner noch meines Bruders Taten, um gerühmt zu werden. Ihr dürftet meine Mutter gut kennen, Jazzar-fajim. Es war Vania, die Tochter Bároq-abbiríms.«

In dem bärtigen Gesicht erschien ein freudiges Strahlen. »Meine Großnichte! Dann sind wir ja näher verwandt, als ich vermutet habe.« Man konnte sehr schön sehen, wie alle Förmlichkeit von dem Sirilo abfiel. Er ließ das Schwert erlöschen, stapfte freudig auf den Schneehügel und schloss den jungen König in seine sehnigen Kriegerarme. Nach einer Weile sagte er mit bewegter Stimme: »Ich war ein lebender Toter, Ergil. Magos ließ mich denken, ich sei der Letzte der Sirilim. Aber du hast ein neues Licht in mein Dasein gebracht.«

»Möglicherweise kann ich dich noch auf eine andere Weise trösten.«

Jazzar-fajim löste endlich die Umarmung und sah seinen Urgroßneffen fragend an.

»Es gibt einen Menschen, der in dieser Stunde genauso wie du Trost benötigt, eine Frau, deren Schönheit ihresgleichen sucht. Ich kenne sie schon sehr lange, weil sie einst meine Amme war. Sie hat immer um dich getrauert, Jazzar-fajim. Doch in der letzten Nacht ist mein Ziehvater im Kampf gegen die Waggs gefallen und sie hat ihn mindestens so geliebt wie ich. Du weißt, von wem ich spreche?«

Der Sirilo starrte ungläubig in Ergils traurig lächelndes Gesicht. »Du … du meinst, sie ist hier?«

Der König nickte. »Die Frau, der einst dein Herz gehörte und die unser Volk die ›Süße‹ und ›Vollkommene‹ nannte: Inimai. Eine kleine Freundin hat mir erst vor kurzem gesagt, dass Múria am Rand des Kiefernwaldes auf uns wartet.«

34. Kapitel:
Der König der Waggs

Nachdem der Bann des dunklen Gottes gebrochen war, bereitete es Jazzar-fajim keine Schwierigkeiten, einen Weg aus seinem eisigen Gefängnis zu finden. Noch während der Sirilo mit seinem jungen Urgroßneffen gesprochen hatte, war die Schneeeule mit dem Schildknappen im Felsendom erschienen. Schekira entschuldigte sich, weil sie einige Zeit in einem wahren Labyrinth aus Eiskanälen damit zugebracht hatte, ihre Gefährten wiederzufinden. Popi war in einen Kreisel geraten, wo es ihn bis zum Stillstand ziemlich lang herumgewirbelt hatte. Glücklicherweise war er dabei unverletzt geblieben.

Als die Gefährten oberhalb des Fichtenwaldes ans Tageslicht zurückkehrten, flaute der Sturm gerade ab. Die Elvin führte sie geradewegs in die Arme ihrer wartenden Freunde. Mit sichtlicher Neugier beäugten Dormund und Tiko den Sirilo. Die gesamte Mannschaft sowie die Prinzessin wurden darauf Zeugen einer herzzerreißenden Szene.

Für eine Weile sah es so aus, als hätten sich Múria und Jazzar-fajim in Statuen verwandelt. Sie standen sich gegenüber, blickten einander in die Augen, rührten sich aber nicht.

Ergil ahnte, was in den beiden vor sich ging. Er hatte seinem bärtigen Oheim vorsichtig zu erklären versucht, welcher Natur Inimais Liebe zu Falgon gewesen war. Jazzar-fajim hatte diese Nachricht erstaunlich gefasst aufgenommen und erklärt, wie sehr es ihn schmerze, Múria um ihr Glück beraubt zu haben. Wie hätte sie ahnen können, dass er noch unter den Lebenden weilte? Mehr noch als an diesem Bewusstsein trug Jazzar-fajim indes an der Schmach seines vermeintlichen Versagens. Er fühlte sich unwürdig, irgendwelche Ansprüche auf das Herz einer so edlen Frau zu erheben.

Múria dagegen steckte noch viel zu tief im Morast des Schmerzes, in den sie durch Falgons Verlust gesunken war. Sie konnte ja schlecht den einen Geliebten so mir nichts, dir nichts vergessen, um sich flugs dem nächsten zuzuwenden – selbst wenn dieser in ihren innigsten Gefühlen stets einen Ehrenplatz eingenommen hatte.

»Wie wäre es, wenn ihr euch zunächst als Freunde betrachtet, die sich lange nicht gesehen, aber nie vergessen haben?«, schlug der König den beiden vor, als das gegenseitige Anstarren kein Ende nehmen wollte.

Damit hatte er das Eis gebrochen. Múria und Jazzar-fajim ließen die Distanz zwischen sich auf Null schrumpfen und gaben sich einer langen Umarmung und einigen leisen, warmen Tränen hin. Als sie sich wieder voneinander lösten, wirkten sie gleichermaßen verlegen.

Ergil hielt seine Meisterin nun für ausreichend gefestigt, um ihr schonend beizubringen, dass sein Bruder nicht mehr lebte. Múria reagierte heftig. Sie schrie vor Entsetzen auf und begann bitterlich zu weinen. Nie zuvor hatte er bei ihr einen solchen Gefühlsausbruch erlebt. Erst als es Jazzar-fajim gelungen war, sie einigermaßen zu beruhigen, berichtete Ergil vom Ende des dunklen Gottes.

Múria seufzte. Sie wirkte mit einem Mal zerbrechlich und unendlich müde. »Dann ist Twikus wenigstens nicht umsonst gestorben.«

Ergil musste selbst gegen die Tränen ankämpfen. »Wenn ich ihn und Falgon nur wieder lebendig machen könnte! So wie damals, als ich Trigas Speer aus der Brust des Oheims …«

»Daran darfst du nicht einmal denken!«, unterbrach Múria ihn unerwartet heftig. Sie atmete geräuschvoll aus, bevor sie sanfter hinzufügte: »Als Falgon im Ansturm der Waggs fiel, hätte ich alles dafür gegeben, mit dir gemeinsam den Strom der Zeit umzulenken, um ihn ins Leben zurückzuholen. Aber die Gelegenheit dazu ist verstrichen.«

»Wieso? Im Großen Alten konnte ich doch auch …«

»Ja, weil du Falgon unmittelbar nach seinem Dahinscheiden zurückgeholt hast. Hier liegen die Dinge anders. Denke an die Falten meines Umhangs auf Kapitän Bombos Tisch, als ich dir seinerzeit das Wesen der Welt zu erklären versuchte. Wäre es möglich gewesen, nur eine einzige Falte zu glätten, ohne die anderen ebenfalls zu verändern?«

Ergil konnte sich noch sehr gut an die Lektion in der Kapitänskajüte der Meerschaumkönigin erinnern. Er verstand, was seine Meisterin ihm damit sagen wollte, und schüttelte den Kopf. »Nein. Alles hängt zusammen.«

Sie nickte. »Je weiter ein Ereignis in der Vergangenheit zurückliegt, desto gefährlicher wird jeder Versuch, darauf Einfluss zu nehmen. Im schlimmsten Fall könnte das ganze Gewebe unserer Welt zerreißen. Was geschehen ist, ist geschehen, mein Lieber. Es lässt sich nicht mehr ändern. Umso wichtiger ist es, unsere Zukunft zu gestalten.«

Eine Zeit lang vermochte niemand etwas zu sagen. Schließlich überwand sich Ergil, die nahe liegenden Fragen anzusprechen.

»Schekira hat uns berichtet, was in der Kitoraklamm vorgefallen ist und wie du die Waggs unter einem Geröllberg begraben hast, Inimai.« Er deutete ins Tal hinab. »Aber wie kommt es, dass immer noch eine Staubwolke über der Schlucht hängt?«

Múria gab die Hand des Sirilos frei, die ihr in den letzten Momenten Kraft eingeflößt hatte, und sie blickte in die bezeigte Richtung. Man konnte ihr ansehen, wie viel Überwindung sie die Antwort kostete. »Die Ungeraden mögen feige und erbärmliche Krieger sein, aber wenn sie sich auf irgendetwas verstehen, dann aufs Graben.«

»Du meinst, sie tragen den Schutthaufen ab, der die Klamm verschließt?«

»Davon kannst du ausgehen«, brummte Dormund. Offenbar hatten die Wartenden das Thema schon hinlänglich erörtert.

»Wie lange werden sie brauchen, um durchzustoßen?«, fragte Ergil.

»Lässt sich schwer schätzen. Der Staubwolke nach zu urteilen, herrscht bei dem Schutthaufen, der das Tal verschließt, ein ziemliches Gewusel. Wenn wir Glück haben, schaffen sie’s erst morgen.«

Ergil stöhnte leise. »Können sie sich nicht einfach wieder in ihre Löcher verkriechen, jetzt, wo ihr dunkler Herr vertrieben worden ist?«

Popi räusperte sich. »Könntest du nicht …?« Er wedelte mit der Hand in der Luft herum. »Du weißt schon.«

»Uns alle auf die andere Seite der Klamm versetzen? Im Grunde genommen schon. Aber ich fürchte, das ganze Gebiet rund um den Kitora ist ein Hexenkessel. Solange die Klamm noch verschlossen ist, sind wir hier am sichersten. Wenn wir erst durchs Gebirge reiten, werden die Waggs uns Tag und Nacht verfolgen.«

»Du hast eines übersehen, mein Lieber«, meldete sich überraschend wieder Múria zu Wort.

Alle sahen sie fragend an.

Sie deutete in Richtung des Gipfels. »Seit gestern steigt Rauch aus dem Vulkan und er grollt wie ein großer blubbernder Kessel. Ich fürchte, es dauert nicht mehr lang und der Kitora spuckt Feuer und Asche. Wenn wir dann noch hier sind, werden wir bei lebendigem Leibe geröstet und was danach noch von uns übrig ist, wird unter Lava und Asche begraben.«

Die zweite Nacht auf dem Berg war für Ergil und seine Gefährten ein ständiges Bangen. Würden zuerst die Waggs aus der Klamm oder die Lavamassen aus dem Vulkan hervorbrechen? Schekira gönnte sich keine Ruhe und flog unablässig hin und her, um nötigenfalls Alarm zu schlagen. Als die Sonne im Osten aufging, überbrachte sie im Gewand eines Falken die von allen befürchtete Nachricht.

»Die Ungeraden können jeden Moment durchbrechen.«

Ergil bedankte sich bei ihr, blickte in die Runde der Gefährten und sagte entschlossen: »Wir warten, bis sie möglichst weit zu uns heraufgekommen sind. Dann bringe ich uns über den Felsenwall. Das Beste wird sein, wir fliehen nach Bakus. In den Steppen haben wir die besten Chancen, den Verfolgern zu entkommen.«

»Das ist ein frommer Wunsch«, brummte Dormund. »Du erinnerst dich sicherlich, dass ihre Heere kürzlich noch vor den Mauern von Bolk standen.«

Der König seufzte. »Ja, ich weiß. Aber wenn du keinen besseren Vorschlag hast, dann lass es uns mit meinem Plan versuchen. Im Gebirge, wo die Waggs überall auftauchen können, sind wir in der Falle. Wenn sie hier eine Treibjagd auf uns veranstalten, wäre ich schon nach wenigen Sprüngen zu erschöpft, um uns zu schützen.«

Dormund schwieg.

»Falls wir kämpfen müssen, dann solltest du das hier nehmen«, sagte der Sirilo und reichte Ergil das grün strahlende Himmelsfeuer.

Der König war überrascht. »Du bist der ältere Nachkomme Jazzar-sirils«, widersprach er.

»Aber in der Thronfolge kommst du vor mir. Außerdem bin ich nicht würdig, Zijjajim zu tragen …«

»Dem wird hier niemand zustimmen, Jazzar-fajim. Was Magos dir mit seinem Bann angetan hat, war schlimmer als der Tod.«

»Dennoch ist das Verdienst von Twikus und dir größer«, widersprach der Sirilimfürst. »Er hat mit Zijjajim gegen Magos gekämpft und ihm Schmerz entrissen. Dadurch ist er geschwächt worden. Und du, Ergil, hast zur rechten Zeit begriffen, warum Tarin einst Magon besiegen konnte: Nicht das Schwert an sich bricht die Macht der dunklen Götter, sondern der schwarze Kristall, aus dem es geschmiedet wurde. Deshalb hast du deinem Bruder gesagt, er soll Magos die Ginkgonadel ins Herz stoßen.«

Ergil schüttelte den Kopf. »Es war wohl mehr Glück als Verstand im Spiel, als ich …«

Múria verdrehte die Augen und stöhnte. »Warum müssen Männer sich nur immer darin übertreffen, der Ehrenvollste und Edelmütigste ihres Geschlechts zu sein! Nimm jetzt endlich das Schwert an, Ergil. Nach dem Brauch des Alten Volkes bist du sein rechtmäßiger Erbe.«

Aus Rücksicht auf die instabile Seelenlage seiner Meisterin ließ sich Ergil das gläserne Schwert reichen. Kaum hielt er es in der Hand, ertönte aus dem Tal der langgezogene Laut eines Horns. Sein Blick wanderte zur Klamm.

»Sind die Waggs durchgebrochen?«

»Das werden wir gleich wissen«, antwortete Schekira und schoss davon.

Dormund murmelte: »Wenn es nicht unmöglich wäre, würde ich behaupten, den Klang dieses Horns zu kennen.«

Ergil merkte auf. »Sprich nicht in Rätseln. Wer außer den Ungeraden sollte hier zum Angriff blasen?«

»Kannst du dich wirklich nicht mehr daran erinnern, mein Lieber?«, sagte Múria.

Der König sah sie fragend an und plötzlich fiel es ihm wieder ein. Aus seiner Erinnerung stieg das Bild eines gewaltigen Waggheers auf. Es war vor die Mauern von Bolk gezogen. Nach der wundersamen Verjüngung ihres Heerführers Kawuzz hatte es die Flucht ergriffen. Darauf ertönten die gleichen Klänge, um Quondit Jimmar von Bolks Armee zur Verfolgung der Ungeraden aufzurufen.

»Herzog Qujibo?«, wunderte sich Ergil.

»Warum bist du darüber erstaunt? Hast du etwa meine Botenfalken vergessen, die ich aus Soodland in alle Welt geschickt habe?«

»Natürlich nicht. In den Nachrichten ging es aber um den Zoforoth. Es sollte verhindert werden, dass er den Kitora erreicht.«

»In meinen Briefen an die alten Weggefährten deines Vaters stand noch einiges mehr. Offenbar hat Qujibo daraus die richtigen Schlüsse gezogen. Letztlich werde Mirad von dem dunklen Gott in den eisigen Höhen des Kitoras bedroht, gab ich unseren Verbündeten zu bedenken. Selbst wenn uns Kaguan und das Schwert Schmerz in die Hände gefallen wären, hätte Magos sich ja nicht in Luft aufgelöst.«

»Dann wusstest du von Anfang an, dass unsere Reise hier enden würde?«, entfuhr es dem zunehmend überraschten König.

»Ich habe nur meine Schlüsse aus deinem Traum von der Leiter im fernen Süden gezogen.«

Ergils Erstaunen schlug in Sprachlosigkeit um. Ehe er die Fassung wiederfinden konnte, kehrte Schekira zurück.

In ihrer wahren Gestalt blieb sie vor seinem Gesicht in der Luft stehen und verkündete: »Die Ungeraden strömen Hals über Kopf in die Klamm. Wie ein Angriff sieht es allerdings nicht aus, eher wie eine Flucht. Rate mal, vor wem sie Reißaus nehmen!«

»Vor Qujibo?«

»Oh? Dann habt ihr den Klang des Horns erkannt? Die Hauptstreitmacht besteht tatsächlich aus Stromländern, aber ihr Anführer ist nicht der Herzog, sondern ein anderer, sehr viel Jüngerer.«

Ergil riss die Augen auf. »Doch nicht etwa …?«

»Doch«, flötete Schekira. »Dein Freund Tusan hat sich zum Heerführer gemausert.«

Ergil schüttelte den Kopf. »Ich fass es nicht! Sein Vater hat einmal behauptet, Tusan ließe sich in keine Uniform zwängen. Er sei wie ein wildes Tier, das in einem Käfig aus militärischer Zucht und Ordnung über kurz oder lang eingehen würde.«

»Mag ja sein. Eine Uniform trägt er tatsächlich nicht. Aber er rückt mit hunderten von Reitern durch den Wald auf die Schlucht vor. Für die Waggs müssen die fremden Krieger wie himmlische Wesen anmuten, weil sich das Licht der aufgehenden Sonne auf ihren Harnischen spiegelt. Die Ungeraden sind eingeschlossen und werden von Tusans Heer gegen den Felsenwall gedrängt. Deshalb fliehen sie Hals über Kopf in die Klamm.«

Ergils Verstand begann fieberhaft zu arbeiten. Sein Blick schweifte wieder zu der Schlucht. Jenseits der Staubwolke glaubte er im Wald tatsächlich ein vielfaches rotgoldenes Glitzern zu sehen. »Das ist eine einmalige Gelegenheit«, murmelte er.

Jazzar-fajim trat neben ihn und lächelte grimmig. »Ich ahne, woran du denkst, Neffe.«

»Wirklich?«

»Wenn wir den Ausgang der Klamm von der anderen Seite versperren, sind die Waggs darin gefangen!«

»Richtig. Aber ich will ihre Kapitulation, nicht ihren Untergang.«

»Nichts anderes hätte ich von einem König des Weisen Volkes erwartet.«