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William Mitchell

DYSTOPIE EUROZONE

GRUPPENDENKEN UND LEUGNUNG
IM GROSSEN STIL

Mit einem Vorwort von
Heiner Flassbeck

Aus dem Englischen von
Elborg Nopp und Peter Schulte-Stracke

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Copyright © Lola Books GbR, Berlin 2017

www.lolabooks.eu

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf in keinerlei Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Titel der englischen Originalausgabe:

Eurozone Dystopia: Groupthink and Denial on a Grand Scale

Copyright © William Mitchell, 2015

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagbild: Marinus van Reymerswaele, Der Steuereinnehmer und sein Gehilfe (1. H. 16. Jh.)

ISBN 978-3-944203-31-7

eISBN 978-3-944203-32-4

Erste Auflage 2017

INHALT

VORWORT

HEINER FLASSBECK

PROLOG

EINLEITUNG

TEIL I
DIE FRÜHEN JAHRE

FRÜHE VERSUCHE EINER WÄHRUNGSUNION UND DER GIPFEL VON DEN HAAG

DER WERNER-BERICHT UND DER ZUSAMMENBRUCH VON BRETTON-WOODS

DIE SCHLANGE IM TUNNEL KOMMT WIEDER

DER MONETARISMUS KOMMT IN ZEITEN DER WÄHRUNGSKRISE

DER DELORS-PLAN

AUF DEM WEG NACH MAASTRICHT

DER VERTRAG VON MAASTRICHT

ES LÄUFT AUF KRISE UND AUSTERITÄT HINAUS

DIE IDEOLOGISCHE ZWANGSJACKE

DER STABILITÄTS- UND WACHSTUMS-PAKT

DIE KONVERGENZ-FARCE: TÄUSCHUNG UND LEUGNUNG

TEIL II
DER WEG IN DIE KRISE

DIE ERSTEN PAAR JAHRE: SELBSTGEFÄLLIGES EIGENLOB UND MASSENHAFT IRREFÜHRUNG

DIE HAUSHALTSKRISE 2003

DAS DEUTSCHE JOBWUNDER

EUROPÄISCHES GRUPPENDENKEN: LEUGNUNG IM GROSSEN STIL

TEIL III
DIE MÖGLICHKEITEN FÜR EUROPA

EIN MONETÄRER RAHMEN FÜR GELDPOLITISCHEN AKTIVISMUS

EIN RAHMEN FÜR DIE DEBATTE: ZWEI ALTERNATIVE DARSTELLUNGEN DER WIRTSCHAFT

DIE GRUNDPRINZIPIEN DES FUNCTIONAL FINANCE

DIE FÖDERATIVE LÖSUNG

OVERT MONETARY FINANCING

DER AUSTRITT AUS DEM EURO

BESCHÄFTIGUNGSGARANTIEN

LITERATURVERZEICHNIS

VORWORT

HEINER FLASSBECK

Wenn man, so wie ich, über vierzig Jahre Erfahrung in ökonomischen Frage hat, in vielen Institutionen sein Wissen einbringen durfte und mit fast allen bekannten Volkswirten der Welt geredet hat, begegnet man Büchern über das eigene Fach immer mit großem Misstrauen. Was soll in diesem Buch noch stehen, dass man nicht schon selbst gedacht und geschrieben hat? Kommt hinzu, dass ein Australier sich anmaßt, über die eigene Region zu schreiben und über das ureigene Gebiet, die Währungsordnung, kann das Misstrauen gar nicht größer sein.

Doch bei Bill Mitchell ist das anders. Da weiß man von vorneherein, dass da einer schreibt, der einen klaren Verstand hat, sich ausführlich mit einer Sache beschäftigt, bevor er darüber schreibt, und, das Wichtigste, der sich schon lange gerade wegen seines klaren Verstandes vom Mainstream der Volkswirtschaftslehre emanzipiert hat.

Man muss nur ab und zu seinen inzwischen berühmten Billy-Blog anschauen, um zu wissen, dass man es hier mit einem der wenigen Menschen auf diesem Planeten zu tun hat, der ein tiefes und kritisches Verständnis ökonomischer Zusammenhänge jederzeit verbindet mit praktischer und überzeugend vorgetragener Kritik der Politik der Regierungen der westlichen Staaten.

Dieses Buch, in dem er sich tiefgehend mit den europäischen Wirrungen in Währungsfragen auseinandersetzt, beweist einmal mehr, dass es nicht um schnelle Urteile und Stellungnahmen geht, sondern um ein auf historische Zusammenhänge und ein bestimmtes theoretisches Verständnis gestütztes Wissen, aus dem die politische Kritik wie selbstverständlich folgt. Dass er an den derzeit herrschenden wirtschaftspolitischen Verhältnissen in Europa kein gutes Haar lässt, mag man als Europäer bedauern, ist man intellektuell ehrlich, muss man ihm aber weitgehend zustimmen.

Gleich zu Beginn dieses Buches macht Mitchell klar, dass es bei seiner Kritik an den europäischen Währungsverhältnissen um nicht weniger geht, als die Zurückweisung des TINA-Prinzips. TINA (There Is No Alternative) ist die absurde Vorstellung, es gebe keine Alternativen zu einem neoliberalen Ansatz, der uns seit Jahrzehnten von der herrschenden Lehre in den Wirtschaftswissenschaften und fast allen großen internationalen Organisationen eingeredet wird. Mitchell nennt das einen »mächtigen organisatorischen Rahmen der Konservativen«, um den Mythos zu befördern, wonach es einfach keine Alternative zu freien Märkten und fiskalischer Disziplin gibt. Daraus folgert er, dass es notwendig ist, bevor man die politischen Alternativen wirklich vorstellt, die dahinterstehenden ökonomischen Ideen als den Kern des Problems zu entlarven.

Das ist genau der Punkt, um den es geht. Die politische Auseinandersetzung kann man nicht ohne die akademische gewinnen. Wer glaubt, es reiche, sich politisch zu engagieren, um eine Wende in der Politik zu schaffen, unterschätzt das gewaltige Beharrungsvermögen der herrschenden Lehre in der Ökonomik, die von einem Großteil der akademisch arbeitenden Ökonomen mit Zähnen und Klauen verteidigt wird. Genau das macht es der Politik so leicht, auch klar widerlegte und klar in der Praxis gescheiterte Konzepte weiter vertreten zu können, ohne Widerspruch aus der Wissenschaft fürchten zu müssen.

Bill Mitchell leistet mit seinem Buch einen großartigen Beitrag dazu, in Europa die einseitige Diskussion und die einseitige Politik zu beenden. Ganz besonders wichtig ist aber die deutsche Ausgabe, weil hierzulande die Diskussion noch viel steriler verläuft als in den übrigen Ländern. Deutschland fühlt sich im Recht, weil es erfolgreich ist. Doch der Erfolg alleine ist sowohl in den zwischenmenschlichen Beziehungen als auch in den Beziehungen zwischen Nationen ein schlechter Indikator für vernünftiges Verhalten. Nur wer hinter die Kulissen schaut, die Vorgänge versteht und für dieses Verstehen einen angemessenen theoretischen Rahmen hat, sollte über Recht und Unrecht urteilen. Bill Mitchell verfügt über all diese Fähigkeiten, weswegen sein Buch hoffentlich bald zum Standardrepertoire des Faches gehört.

PROLOG

Dieses Buch ist für Laien geschrieben, die sich für Fragen der Ökonomie interessieren, aber das Fach nicht in einem ordentlichen Studiengang studiert haben. Während ökonomische Fachbegriffe zwar durchgehend verwandt werden, wird zugleich immer auch der Versuch unternommen, diese einfach zu erklären, sodass dem Verständnis nichts im Wege stehen sollte. Dieses Buch möchte eine alternative Perspektive entwerfen, um Menschen mit einem Hang zum Progressiven zu ermächtigen, das aktuelle Austeritäts-Mantra, dass die europäischen Nationen bei hoher Arbeitslosigkeit und steigender Armut stagnieren lässt, infrage zu stellen. Die zugrundeliegende Annahme besagt, dass der politische Prozess von einer mächtigen und reichen Elite gekapert wurde, die unser fehlendes Verständnis in ökonomischen Fragen dahingehend ausnutzt, Politiken durchzusetzen, die den Wachstum unterminieren und das Einkommen und das Vermögen an die Wenigen an der Spitze umverteilen. Ohne eine gründliche Durchleuchtung der neoliberalen Wirtschaftsmythen betreffend Defizite und Schulden gibt es wenig Hoffnung, dass Progressive dem neoliberalen Angriff auf die Rechte und den Wohlstand der Menschen etwa entgegenzusetzen haben.

Mein besonderer Dank gilt Melinda Hannan (bei CofFEE) für die wertvolle administrative und redaktionelle Hilfe, die sie mir hat zuteil werden lassen. Besonderer Dank gilt auch Dr. Louisa Connors für ihre hilfreiche Durchsicht und Kritik des Entwurfs. Mein herzlicher Dank gilt Dr. Natalie Doyle, die mir bei zahlreichen Detailfragen zur europäischen Geschichte, insbesondere der französisch-deutschen Rivalität, hilfreich zur Seite stand. Mein Dank gilt auch Thomas Fazi, der das Projekt von Anfang an unterstütze. Ich profitierte auch von meiner langjährigen akademischen Zusammenarbeit mit Professor Joan Muysken von der Maastricht Universität und den langen Zeiträumen, in denen ich dort zum Einfluss wirtschaftlicher Entwicklungen auf die europäische Geschichte arbeiten durfte.

Das Projekt im Ganzen ist allerdings den Millionen namenlosen Arbeitslosen gewidmet, denen durch die Implementierung einer falschen neoliberalen Wirtschaftspolitik, unterstützt von orthodoxen Ökonomen, die unglücklicherweise die Kosten ihrer Torheit nicht selbst tragen müssen, die Möglichkeit eines erfüllten Lebens versagt blieb.

Während viele mir mit Rat und Tat zur Seite standen, bin ich für alle noch bestehenden Fehler selbst verantwortlich.

William Mitchell

Newcastle, Australien, August 2014

ZITATION

Der Verweis auf offizielle Dokumente, Berichte und Pressemitteilungen der Kommission der Europäischen Gemeinschaft erfolgt unter der Angabe ›Europäische Kommission‹, ungeachtet ihres Erscheinungsdatums. In ähnlicher Weise wird die Angabe ›Europäischer Rat‹ gebraucht, um alle Verweise zu dokumentieren, die mit seiner Funktion im Zusammenhang stehen.

Wo ein Verweis ohne eine Seitenzahl auskommt, satmmt das Zitat von einem unpaginierten Dokument, meistens eine Internetseite.

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Bei Zitationen aus nicht-englischsprachigen Quellen handelt es sich um Übersetzungen durch den Autor.

ABKÜRZUNGEN

BBG

Bundesbankgesetz

BGE

Bedingungsloses Grundeinkommen

BIP

Bruttoinlandsprodukt

BIZ

Bank für Internationalen Zahlungsausgleich

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

CDU

Christlich Demokratische Union Deutschlands

CSU

Christlich-Soziale Union in Bayern

CofFEE

Centre of Full Employment and Equity

ECOFIN

Rat Wirtschaft und Finanzen (Economic and Financial Affairs Council)

EDP

Verfahren bei einem übermäßigen Defizit (Excessive Deficit Procedure

EU

Europäische Union

EuGH

Gerichtshof der Europäischen Union

EWE

Europäische Währungseinheit

EWS

Europäisches Währungssystem

EWR

Europäischer Wirtschaftsraum

EZB

Europäische Zentralbank

FSB

Föderative Steuerbehörde

GAM

Gemeinsamer Agrarmarkt

GFK

Globale Finanzkrise

IWF

Internationaler Währungsfonds

JG

Jobgarantie

MMT

Modern Monetary Theory

NAIRU

Inflationsstabile Arbeitslosenquote (Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment)

OMF

Overt Monetary Financing

PIIGS

Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien

QE

Quantitative Easing

REW

Realer effektiver Wechselkurs

SMP

Securities Markets Programme

SWP

Stabilitäts- und Wachstumspakt

TINA

Es gibt keine Alternative (There Is No Alternative)

Troika

Kooperation von Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission

WWU

Europäische Wirtschafts- und Währungsunion

Kapitel 1

EINLEITUNG

GRUPPENDENKEN

[…] ein Denkmuster, charakterisiert durch Selbsttäuschung, erzwungene Herbeiführung von Konsens und Konformität hinsichtlich gemeinsamer Werte und Moralvorstellungen. (Merriam Webster online dictionary)

We bouwen op drijfzand [Wir bauen auf Treibsand]. (André Szász, ehemaliger Direktor der De Nederlandsche Bank, 1999)

Dieses Buch untersucht kritisch, welche Möglichkeiten die europäischen Nationen haben, um die soziale und wirtschaftliche Krise zu bewältigen, die sie seit 2008 plagt. Dieses Buch stellt diese Möglichkeiten in einen Zusammenhang mit einem historischen Verständnis des Weges, den man einschlug, um die Wirtschaftsund Währungsunion (WWU) zu gründen. Die historischen Erfahrungen erhellen die Schwierigkeiten der Staaten, die bei sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Strukturen und ohne kulturelle Solidarität eine Währungsunion eingehen. Auch können wir dann verstehen, wie die wachsende Dominanz der neoliberalen Ökonomie, zusammen mit der französisch-deutschen Rivalität seit dem zweiten Weltkrieg, ein destruktives Gruppendenken hervorbrachte, das den Wohlstand unterminiert, die Realität verneint und brauchbare Lösungen in der Krise aufgrund ideologischer Vorbehalte zurückweist.

Auch innerhalb der Eurozone gäbe es bessere Lösungen als die Austeritätspolitik, aber wenn man ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum erreichen möchte, dann sollte die Eurozone ordentlich aufgelöst und die nationalen Währungen wieder eingeführt werden. Wenn eine solche Lösung nicht ausgehandelt werden kann, dann ist es die beste Option für Länder wie Italien, Griechenland und Spanien, aus dem Euro auszutreten und ihre Souveränität wiederherzustellen.

Es war nicht die Absicht der großen Visionäre in der unmittelbaren Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die Europäer in eine Zwangsjacke aus Austerität und Elend zu stecken. Vielmehr wollten sie Wohlstand in Frieden. Die politischen Führer Europas haben das Europäische Projekt geschaffen, um mit Hilfe eines solchen ambitionierten Integrationsprojektes sicherzustellen, dass es keinen großen Krieg auf europäischem Boden mehr geben würde. Und dieses Projekt fing zu einer Zeit an, als es in allen entwickelten Nationen einen breiten keynesianischen wirtschaftspolitischen Konsens gab, der die Regierungen verpflichtete, für Vollbeschäftigung zu sorgen.

Die keynesianische Ära war eine Folge der Weltwirtschaftskrise, die die Politiker lehrte, dass der Kapitalismus ohne große Interventionen der Regierung an sich instabil ist und lange Zeiten großer Arbeitslosigkeit schaffen kann. Die Vollbeschäftigung kam erst mit dem Anfang des Zweiten Weltkrieges wieder, als die Regierungen große Defizite in Kauf nahmen, um den Krieg führen zu können. Die anschließende keynesianische Ära war dann dadurch geprägt, dass die Regierungen durch fiskalische Defizite die privaten Ausgaben in dem Maße ergänzten, dass jeder, der wollte, eine Arbeitsstelle finden konnte. Der breite politische und ökonomische Konsens der Nachkriegszeit führte zu einer sehr geringen Arbeitslosigkeit in den meisten westlichen Nationen, wenngleich einige europäische Länder über längere Zeiten mit einer höheren Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatten, um ihre schwachen Währungen zu stützen.

Innerhalb dieses breiten politischen Konsenses waren die Diskussionen über eine Integration von der französisch-deutschen Rivalität geprägt. Frankreich war entschlossen, institutionelle Strukturen zu schaffen, die Deutschland darin hindern würden, es erneut zu besetzen. Es sah ein integriertes Europa als einen Weg an, um seine Dominanz in Europa zu befestigen, und war zugleich entschlossen, so wenig Souveränität wie möglich aufzugeben. Auch der Einfluss der USA in Europa störte die französischen Politiker, vor allem der Marshall-Plan, der Westdeutschland eng an die USA band.

Für die Deutschen, die unter einer tiefen Scham wegen ihres Militarismus und ihrer Untaten litten, gab es nur einen Punkt, auf den sie stolz sein konnten, nämlich ihren wirtschaftlichen Erfolg zusammen mit der »Bundesbankdisziplin«. Deutschland wollte einerseits Teil des Europäischen Projektes sein, um Exportmärkte zu gewinnen, andererseits um die häßliche Geschichte loszuwerden. Eine krankhafte Inflationsfurcht bedeutete aber, dass diese Beteiligung nur nach den deutschen Regeln gehen konnte, anders ausgedrückt, dass Europa die Bundesbankkultur letztlich akzeptieren mußte. In diesem deutschen ›Stabilitätsumfeld‹ übersah man aber, dass der deutsche Wirtschaftserfolg von einem robusten Import der anderen europäischen Länder abhing; auch dass nicht alle Länder in einem solchen ›Stabilitätsumfeld‹ Handelsbilanzüberschüsse haben können, wurde übersehen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die entwickelten Nationen ihre Wechselkurse an den US-Dollar gebunden, der seinerseits an den Goldpreis gebunden war, weil sie glaubten, dass dies wirtschaftliche Stabilität bringen würde. Doch dieses sogenannte Bretton-Woods-System, eingerichtet im Juli 1944, stand von Anfang an unter Druck, weil die Staaten mit Handelsdefiziten immer einen Abwertungsdruck verspürten. Um ihren Wechselkurs aufrecht zu erhalten, mußten sie folgendes tun: Ihre eigene Währung auf fremden Märkten mit ihren Währungsreserven kaufen; die Zinssätze erhöhen, um Kapital anzulocken, und die Regierungsausgaben senken, um die Importnachfrage zu reduzieren. Folglich waren die Staaten mit schwachen Währungen oft mit reduziertem Wachstum, höherer Arbeitslosigkeit und leeren Währungsreserven konfrontiert, was politische Instabilität schuf. Um zu funktionieren setzte dieses System also voraus, dass alle Beteiligten mehr oder minder die gleiche Handelsstärke haben, was natürlich unmöglich war und letztlich zu seiner Auflösung führte.

Die französisch-deutsche Rivalität hatte auf dem Weg zur Währungsunion eine Folge von ineffektiven Kompromissen zur Folge. Der Vertrag von Rom 1957 war stark zugunsten von Frankreich und zulasten der Invasoren Italien und Deutschland verfasst; aber die wachsende industrielle und Exportstärke Deutschlands wurde eine immer stärkere Bedrohung der französischen Wirtschaft. Die deutsche industrielle Ambition führte schließlich dazu, dass Frankreich einen Kompromiss eingehen mußte und auf einen Teil der nationalen Souveränität verzichtete. Die frühen Erfahrungen mit dem gemeinsamen Agrarmarkt, der 1962 als die erste große Initiative der neugegründeten EWG eingeführt wurde, hätte allen Staaten Europas klar machen sollen, dass eine Währungsunion ein vergebliches Unternehmen sein würde. Denn Frankreich wollte die französischen Bauern schützen und Deutschland wollte seinen industriellen Exportmarkt expandieren. Um diese Ziele zu erreichen, stimmten die Deutschen zu, durch den Gemeinsamen Agrarmarkt die französischen Bauern zu subventionieren: eine bis heute nagende Spannung. Die administrative Durchführbarkeit erforderte sehr stabile Wechselkurse, da eine große Zahl an landwirtschaftlichen Preisen in der ganzen Gemeinschaft unterstützt werden mußten. Sobald die Mitgliedsstaaten im gemeinsamen Agrarmarkt eingeschlossen waren, mußten sie also die unlösbare Aufgabe bewältigen, ihre Wechselkurse beizubehalten. In den 1960er Jahren wurde die D-Mark die stärkste Währung, weil die deutsche Exportstärke stieg, was Frankreich und Italien unter ständigen Abwertungsdruck stellte, zur Stagnation der eigenen Wirtschaft führte und den gemeinsamen Agrarmarkt unterminierte. Die verschiedenen Übereinkommen, um feste Wechselkurse zwischen den europäischen Währungen zu erreichen, scheiterten alle aufgrund der unterschiedlichen Exportstärke der Mitgliedsstaaten. Doch anstatt die vernünftige Lösung zu wählen und die Idee fester Wechselkurse aufzugeben, beschleunigten die europäischen Politiker den Weg zu einer gemeinsamen Währung, als das Bretton-Woods-System 1971 zusammenbrach. Auch daraus wurde also nicht gelernt.

1970 legte der Werner-Bericht einen umfangreichen Zeitplan vor zur Schaffung einer vollen wirtschaftlichen und politischen Union bis zum Ende des Jahrzehnts. Klar war, dass die Kommission eine zentralisierte monetäre und fiskalische Politik wollte, wobei das »Entscheidungszentrum für die Wirtschaftspolitik […] politisch dem Europäischen Parlament Rechenschaft schuldig sei« (Werner-Bericht, 1970: 13). Eine spätere Studie des MacDougall-Ausschusses unterstrich 1975 ebenfalls, dass eine effektive Wirtschaftsund Währungsunion eine starke fiskalische Präsenz auf der Unionsebene notwendig machte. Sie stellten fest, »dass es noch für viele Jahre höchst unwahrscheinlich ist, dass die Gemeinschaft so stark fiskalisch integriert sein wird, wie es in den existierenden wirtschaftlichen Unionen der Fall ist, die wir untersucht haben« (MacDougall-Bericht, 1977: 11).

Es gibt viele miteinander im Streit liegende Erklärungen dafür, dass der Werner-Plan scheiterte; aber der fundamentale Grund ist darin zu sehen, dass in einer Zeit wachsender Instabilität der Währungen die französische Furcht vor deutscher Dominanz und ihr Unwillen, Macht an supranationale Institutionen abzugeben, zusammen mit der deutschen Inflationsfurcht, einander im Wege standen. Beide Nationen konnten sicher Wege finden, um politisch zu kooperieren, aber der Weg zu einer Wirtschaftsund Währungsunion war schwierig. 1972 sagte der Gouverneur der Dänischen Zentralbank: »Ich werde an eine europäische Wirtschafts- und Währungsunion glauben, sobald mir jemand erklärt, wie man neun Pferde lenken kann, die unter demselben Zaumzeug mit unterschiedlicher Geschwindigkeit laufen.« (McAllister, 2009: 58)

1972 sprach der Sozialpsychologe Irving Janis von Groupthink, Gruppendenken, als eine »Art und Weise zu denken, die Menschen annehmen, wenn sie tief in einer kohäsiven Gruppe involviert sind, in der der Drang der Mitglieder nach Einmütigkeit ihre Motivation, realistischerweise auch alternative Handlungsmöglichkeiten einzuschätzen, weit überragt« (Janis, 1982: 9). Es erfordere von jedem Mitglied, »keine Kontroversen zu starten« (Janis, 1982: 12). So führt Gruppendenken zu einer Art von ›mob rule‹, die die Disziplin in der Gruppe oder Gemeinschaft von Entscheidungsträgern aufrechterhält. Solche Gemeinschaften entwickeln eine dominante Kultur, die ihren Mitgliedern ein Gefühl von Zugehörigkeit und gemeinsamen Zielen gewährt, sie aber auch neuen und überlegenen Wegen des Denkens gegenüber feindlich und ignorant macht. Der Außenwelt wird das Gruppendenken offenbar, wenn es eine Krise oder, in Janis’ Worten, ein Fiasko gibt, wie es die globale Finanzkrise (GFK) dann war.

Was schließlich erlaubte, den neun Pferden ein Zaumzeug anzulegen, war nicht die Abschwächung der französisch-deutschen politischen und kulturellen Rivalität, sondern die wachsende Homogenisierung der ökonomischen Debatte. Der Aufstieg des Monetarismus in den 1970er Jahren, zuerst in der Wissenschaft, dann in der Politik und den Notenbanken transformierte sich schnell in ein insulares Gruppendenken, das die politischen Entscheidungsträger in die Falle des freien, selbstregulierenden Marktes trappen ließ, obwohl dieser nur ein Mythos ist. Der begleitende Bestätigungsfehler, d. h. die »Tendenz der Menschen, nur die Dinge wahrzunehmen, die mit ihren Vorstellungen konform sind, und solche Dinge zu ignorieren, die mit ihnen inkonsistent sind« (IEO, 2011: 17), überwältigte dann die Debatte über die monetäre Integration. Die Einführung des monetaristisch inspirierten Barre-Plans 1976 durch den französischen Premierminister Raymond Barre unter dem Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing zeigte, wie weit sich die Franzosen vom gaullistischen Keynesianismus entfernt hatten. In ganz Europa wurde Arbeitslosigkeit zum Mittel, um die Inflation zu begrenzen, anstatt daß, wie in den keynesianischen Zeiten, ihre Beseitigung ein politisches Ziel blieb. Die Arbeitslosigkeit wuchs stark an, als die nationalen Regierungen, infiziert mit dem monetaristischen Denken, ihre lange Liebesaffäre mit der Austerität begannen.

Der Delors-Bericht (1989), der der MaastrichtKonferenz zugrunde lag, ignorierte die Schlußfolgerungen der Berichte von Werner und MacDougall, die eine starke Fiskalunion für nötig erachteten, als altmodisches keynesianisches Denken, das mit dem Monetarismus, der die europäische Debatte nun prägte, unvereinbar war. Die neuen Finanzeliten, die bereitstanden, um massiv von der Deregulierung der Finanzmärkte zu profitieren, propagierten das Wiederaufkommen der Ideologie des freien Marktes, die in der Weltwirtschaftskrise diskreditiert worden war. Der Übergang von einer keynesianischen Vision von Vollbeschäftigung und Gleichheit zu einer neuen individualistischen Räubermentalität war nicht durch Einsichten begründet, die auf empirischen Beweisen und der Beschäftigung mit gesellschaftlichem Wohlstand beruhten, sondern auf ideologischem Treiben und partikularen Interessen.

Die monetaristische (neoliberale) Verachtung der Regierungsinterventionen bedeutete, dass die WWU die Möglichkeiten fiskalischer Politik unterdrücken würde. Argumente und empirische Nachweise würden Delors und sein Team von diesem Ziel nicht abbringen. Delors wußte, dass er dem französischen Bedürfnis, keine Kompetenzen nach Brüssel abzugeben, dadurch entgegenkommen würde, dass er die Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik bei den Staaten belassen würde, und dass er durch die harten fiskalischen Regeln, die die Möglichkeiten der nationalen Regierungen stark einschränkten, die Deutschen zufriedenstellen würde. Der Monetarismus war die Brücke zwischen den beiden Lagern.

Damals hatte der ganze Prozess einen surrealistischen Charakter. Um die ganzen Optionen für die Eurozone richtig zu bewerten, bedarf es halt eines validen ökonomischen Rahmenwerkes. Obwohl schlechte politische Motivationen nicht ignoriert werden sollten, ist ein Großteil der Probleme der gegenwärtigen Eurozone die Anwendung eines absurden makroökonomischen Rahmenwerkes, das von den Bürokraten und Politikern seit den 1980er Jahren gebraucht wurde.

Nun ist die Eurozone in eine Zwangsjacke ökonomischer Austerität eingepfercht, angetrieben von einer ökonomischen Ideologie, die blind ist gegenüber der Evidenz ihres Versagens. Die neoliberalen Politiken der Deregulierung und der Dämonisierung des Gebrauchs einer diskretionären Fiskalpolitik (mit Staatsausgaben höher als die Steuereinnahmen) haben die Krise zuerst ausgelöst, und mit denselben Politiken verlängert man sie nun. Dieser gegenwärtige politische Ansatz hat ökonomische Stagnation, ausgebreitete Rückentwicklung und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Renten institutionalisiert. Millionen europäischer Arbeiter sind nun arbeitslos, in einigen entwickelten Ländern liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei rund 60 Prozent, Ungleichheit und Armutsraten steigen und massive tägliche Verluste des Volkseinkommens sind zu ertragen. Die dramatisch hohe Jugendarbeitslosigkeit wird dafür sorgen, dass der Schaden Generationen übergreifen und den zukünftigen Wohlstand unterminieren wird, da jetzt eine Generation junger Menschen ohne Arbeit erwachsen wird, ohne Arbeitserfahrungen und mit einem wachsenden Empfinden dafür, die üblichen gesellschaftlichen Vorstellungen nicht mehr erfüllen zu können.

Die politischen Eliten der Eurozone behaupten, dass es keine Alternative (das TINA-Prinzip, von engl: there is no alternative) gebe zu größerer Austerität durch Kürzung der Fiskaldefizite und weitgehende Einschränkungen der sozialen Wohlfahrtssysteme. In den meisten Ländern haben die großen politischen Parteien, ob an der Regierung oder in Opposition, fraglos die dominante neoliberale Ideologie akzeptiert; dies hat nicht nur die politische Debatte homogenisiert, sondern auch den einzigen glaubwürdigen Weg zu einer Wiederbelebung vergessen lassen. Eine korrekte Bewertung der augenblicklichen Lage macht klar, dass das Fiskaldefizit steigen muss. Austerität ist also geradezu das Gegenteil von dem, was not tut. Will man eine anhaltende Gesundung in der Eurozone und sonst wo, dann muss man die Mainstream-Ökonomie und -Praxis grundsätzlich zurückweisen und die institutionellen Strukturen umorganisieren, um wachsende Defizite zu erlauben. Die Einschätzung ist nun, dass nur die Auflösung der Eurozone dies erlauben wird.

Dieses Buch lehnt das TINA-Mantra ab, das ein einflußreiches organisatorisches Rahmenwerk war, mit dem die Konservativen den Mythos verbreiten konnten, dass fiskalische Disziplin und ausgedehnte Deregulierung es dem freien Markt erlauben würde, Wohlstand für alle zu schaffen. Das in diesem Buch wiedergegebene Argument ist ganz einfach, auch wenn die zugrundeliegenden Konzepte es nicht sind. Das neoliberale Rahmenwerk, das von vielen Ökonomen, multinationalen Einrichtungen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und konservativen Politikern einschließlich der Eurozonen-Establishments in Brüssel und Frankfurt tatkräftig unterstützt wird, macht das Publikum blind für realistische Alternativen durch die Verwendung selektiver Prioritäten, falsche Kausalitäten und eine skandalöse Verfälschung der Wirklichkeit. Bevor man also die Alternativen richtig bewerten kann, muss die zugrunde liegende Wirtschaftswissenschaft neu aufgebaut werden. Die gegenwärtigen und bei weitem überlegenen Alternativen für die Austerität werden zu schnell als naiv, unrealistisch oder schlicht verrückt verworfen, wenn man sie nur durch die Brille der neoliberalen Ökonomie versteht.

Dieses Buch geht davon aus, dass die europäischen politischen Eliten – die Politiker, die sie unterstützenden Bürokratien, die Zentralbankdirektoren und Experten – in einem neoliberalen Gruppendenken eingeschlossen sind, das das Euromonster erst geschaffen hat. Es handelt sich um eine Gruppendynamik, die gegen Veränderungen Widerstand leistet und die das krasse Nichtsehen der vernünftigen politischen Alternativen, die Wachstum wiederherstellen könnten, erklärt.

Der amerikanische Biologe Joseph Altmann hatte sich auf Neurobiologie spezialisiert und entdeckte die Neurogenese bei Erwachsenen in den 1960er Jahren. Er zeigte also, dass das Gehirn eines Erwachsenen neue Neuronen erzeugen konnte; dies wurde aber damals heftig bestritten. Erst nachdem dieses Phänomen von Elisabeth Gould 1999 »wiederentdeckt« worden war, wurde diese Feststellung populär; nun ist die Neurogenese eines der wichtigsten Forschungsgebiete der Neurobiologie. Wie konnte es sein, dass die Entdeckung Altmanns fast 30 Jahre ignoriert wurde? Wie Charles Gross 2008 schrieb, wurde das »Dogma, dass es ›keine neuen Neuronen‹ gäbe« universal aufrecht gehalten und entschlossen verteidigt von den einflußreichsten und führenden Entwicklungsbiologen seiner Zeit (Gross, 2008: 331).

Die Erfahrung von Altman hilft uns die andauernde Krise in der WWU zu verstehen. Erstens arbeiten akademische Fächer (wie Neurobiologe, Ökonomie etc.) mit Hilfe von etablierten Paradigmen, die der Philosoph Thomas Kuhn als »universell anerkannte wissenschaftliche Leistungen« bezeichnete, »die für eine gewisse Zeit Modelle und Lösungen für eine praktische Gemeinschaft zur Verfügung stellen« (Kuhn, 1996: x). Typischerweise werden solche Paradigmen »durch elementare und fortgeschrittene wissenschaftliche Lehrbücher vermittelt« (Kuhn, 1996: 10). Kuhn hat die Vorstellung in Frage gestellt, dass die wissenschaftliche Tätigkeit ein linearer Prozess ist, in dem Forscher neue, empirisch begründete Fakten der Wissensbasis hinzufügen und alte damit entfernen. Tatsächlich, sagt Kuhn, halten sich dominante Blickpunkte solange, bis sie mit unübersteigbaren Anomalien konfrontiert werden. Dann kommt es zu einer Revolution, einem Paradigmenwechsel. Das neue Paradigma läßt die alten Theorien als nicht mehr anwendbar erscheinen, führt neue Konzepte ein, stellt neue Fragen und liefert den Studenten einen neuen Weg des Denkens, eine neue Sprache und erklärende Metaphern. Kuhn hat auch bemerkt, dass es eine Art von ›mob rule‹ unter den Praktikern innerhalb eines dominierenden Paradigmas gibt, die vehement an ihren Vorstellungen festhalten, trotz einer logischen oder empirischen Absurdität. Die dominante Gruppe bleibt in Janis’ Gruppendenken gefangen und beleidigt zunächst alle, die neues Denken vorschlagen. Altmans Arbeit stellte das Potential für einen Paradigmenwechsel dar und wurde vom Mob solange abgelehnt, bis der Wechsel unvermeidlich war.

Von Imre Lakatos wurde Kuhns Begriff einer wissenschaftlichen Gemeinschaft durch das Konzept eines Forschungsprogrammes ergänzt, das aus einem harten Kern besteht, nämlich den Theorien, die das Paradigma definieren, Hilfsannahmen, die gleichsam einen Schutzgürtel darstellen, und methodischen oder heuristischen Regeln (Lakatos, 1970). Der harte Kern hat den Charakter eines religiösen Glaubens, weil er niemals von der Gruppe empirisch infrage gestellt wird und durch die Heuristiken geschützt ist. Er definiert, wofür die Gruppe steht. Es ist möglich, gewisse Hilfsannahmen infrage zustellen, die ihrerseits, ob sie nun plausibel sind oder nicht, die Kernannahmen nicht gefährden. Diese sind durch die negative Heuristik geschützt, die im Wesentlichen gewisse Fragen und Formen der Untersuchungen oder Evidenz verbannt, selbst wenn starke Gegenevidenz produziert wird. Dies könnte man als Verneinung ansehen. Für eine gewissen Zeit bewahrt ein Forschungsprogramm Dominanz, weil es Inhalte hinzufügt, die als Fortschritt bewertet werden und für die Gruppe von Interesse sind.

Zu einem gewissen Zeitpunkt mag ein Forschungsprogramm degenerieren indem sein Inhalt sich angesichts steigender empirischer Anomalien auflöst, d. h. die Theorie nicht länger eine adäquate Erklärung dessen liefern kann, was die Menschen wissen und sehen. Aber ein degeneriertes Forschungsprogramm kann seine Kontrolle über eine professionelle Gruppe ganz schön lange aufrechterhalten, weil diese so ablehnend dem Wandel gegenübersteht.

So hat Olivier Blanchard, Chefökonom des IWF, kurz bevor die globale Finanzkrise das Schlimmste zeigte, das Weltverständnis der Makroökonomen untersucht und kam zu dem Ergebnis, »dass der Zustand der Makroökonomie« gut sei (Blanchard, 2008: 2). Er versicherte, dass in der Makroökonomie »eine weitgehend gemeinsame Vision entstand« (S. 5), verbunden mit einer »Methodenkonvergenz« (S. 3), so dass Forschungsartikel in diesem Bereich »einander im Aufbau sehr ähnlich seien und ganz anders aussähen als die vor dreißig Jahren« (S. 21). Nun folge man »strikten, haiku-ähnlichen Regeln« (S. 26). Er stellte auch fest, dass der führende sogenannte neokeynesianische Ansatz in der Makroökonomie »nützlich für die Politiken und Wohlfahrtsanalysen geworden sei« (S. 8), weil er »einfach, bequem zu nutzen [sei und] eine komplexe Realität auf ein paar einfache Gleichungen reduziere« (S. 9). Es schien nicht wichtig zu sein, dass es im »grundlegenden neokeynesianischen Modell […] keine Arbeitslosigkeit gäbe« (S. 12), womit alle Schwankungen der Arbeitslosigkeit darauf zurückgeführt werden, dass die Arbeiter selber entscheiden, ob sie nun arbeiten wollen oder nicht, als Teil einer optimalen Wahl zwischen Arbeit und Freizeit.

Die Mainstream-Makroökonomen, die einen tiefen Glauben an die Fähigkeit selbstregulierender Märkte haben, optimale Ergebnisse zu liefern, was wir den neoliberalen Ansatz nennen werden, erkärten einige Jahre vor der Krise – mit einer für sie typischen Arroganz –, dass »die Konjunkturen tot sind«. Das heißt, dass die großen Schwünge der makroökonomischen Leistungsfähigkeit (Rezessionen und Massenarbeitslosigkeit und Aufschwung und Inflation), die die Aufmerksamkeit der Wirtschaftspolitiker in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auf sich zogen und zu einer Fiskalpolitik führten, die das wichtigste Instrument für die Regierungen war, um Vollbeschäftigung und Preisstabilität zu gewährleisten, nun abgelehnt wurden. Der Professor an der Universität von Chicago, Robert Lucas Jr, gab 2003 einen außerordentlichen Vortrag vor der American Economic Association, bei dem er erklärte, »dass die Makroökonomie in ihrem ursprünglichen Sinne erfolgreich war, ihr zentrales Problem der Depressionsverhinderung wurde gelöst, und tatsächlich schon für viele Dekaden« (Lucas, 2003: 1). Ein Jahr später hat der Gouverneur der amerikanischen Federal Reserve Bank, Ben Bernanke, dann gesagt, dass aufgrund des Übergangs von den Versuchen der Regierungen, die Gesamtausgaben in der Volkswirtschaft über unterschiedliche Fiskalpolitiken zu steuern, zu einer monetären Politik, d. h. der Festlegung der Zinssätze durch die Notenbank, um sich auf die Preisstabilität und Haushaltsüberschüsse zu konzentrieren, die Welt sich an einer ›Großen Moderation‹ erfreuen dürfe (Bernanke, 2004).

Schädliche Rezessionen waren also ein Ding der Vergangenheit und niedrige Inflation und ständiges Wachtum war nun die Norm. Die Öffentlichkeit wurde dazu gebracht zu glauben, dass die Mainstream-Ökonomen über die alten keynesianistischen Interventionisten triumphiert hätten, die die Wirtschaft überreguliert hatten, die Unternehmen den privaten Unternehmern entzogen, die Gewerkschaften zu stark gemacht hatten und Generationen von schlafmützigen und unmotivierten Individuen hervorgebracht hatten, die sich nur wünschten, von staatlichen Leistungen zu leben. Mit dem Konjunkturzyklus unter Kontrolle ging es in der Wirtschaftspolitik nun darum, den Arbeitsund Finanzmarkt zu deregulieren und die Arbeitslosenhilfen zu reduzieren, damit der Markt besser arbeiten kann; dies wurde den Leuten immer wieder erzählt. Und es war eine große Lüge. Paul Krugman sagte 2009, dass aus diesen angeblichen »Erfolgen« eine selbstgebastelte »goldene Ära für die Profession« wurde. Das Mainstream-Paradigma der Ökonomie war blind »gegenüber der wirklichen Möglichkeit katastrophaler Fehlschläge in einer Markt-Ökonomie« (Krugman, 2009), und die politischen Vorgaben, die auf einem unbegründeten Vertrauen in die Effizienz der Märkte gründeten, schufen die Umstände, die zu der Krise führten. Die schlimmste Wirtschaftskrise in 80 Jahren baute sich auf, während die meisten Ökonomen lyrisch in ihrer eigenen Welt der Selbstvergötterung und Selbstbeklatschung lebten.

Die Wissenschaft ist von diesem Bild der Ökonomie beherrscht, das dann auch in den politischen Entscheidungsbereich eindringt, doch hat die globale Finanzkrise jedermann deutlich gemacht, dass die Mainstream-Ökonomie ein degeneratives Forschungsprogramm mit wenig empirischer Validität ist. Krugman sagte 2009, dass die »ökonomische Profession in die Binsen ging, weil sie die Schönheit mathematischer Formeln mit der Wahrheit verwechselte«. Der amerikanische institutionelle Ökonom David Gordon schrieb schon 1972, dass immer dann, wenn das herrschende ökonomische Paradigma mit einer Tatsache konfrontiert ist, die grundlegende Annahmen infrage stellt, man darauf mit einer Ausnahme reagiert und dann weiter macht, als ob nichts gewesen wäre. Demzufolge findet sich in den üblichen Lehrbüchern, die die Studenten lesen müssen, wenig, was helfen würde die Wirklichkeit zu verstehen. Den Studenten werden falsche Angaben gemacht, wie der Finanzsektor, einschließlich der Banken, funktioniert; ihnen werden eine Reihe von Mythen gelehrt, wie sich die Regierung auf die privaten Märkte auswirkt; und vor allem wird ihnen beigebracht, dass wenn man nur die Märkte sich selbst überläßt, die Ergebnisse besser sein werden als wenn die Regierung diese überwachen oder regulieren würde. In dem Maße jedoch, in dem allen die Kluft zwischen Theorie und Wirklichkeit so offensichtlich wurde, ist es nun leicht, alle, die noch den Theorien des Mainstreams anhängen, als Sektierer zu bezeichnen, die alle wissenschaftliche Glaubwürdigkeit verloren haben.

Diese ›Sektierer‹ können ihre Hegemonie aber durch eine Reihe von Strategien aufrechterhalten; so durch die Kontrolle der Studiengänge an den Universitäten, der Stellenbesetzungen, der wichtigen Publikationsmedien, der Drittmittelquellen und der Verbindungen zwischen den Universitäten, der Wirtschaft und der Regierung. Viel davon ist implizit und durch Netzwerke erreicht worden, die keiner Kontrolle etwa durch Antidiskriminierungsgesetze unterliegen. Lack Barbash hat diskutiert, wie die ökonomische Profession ihr Glaubenssystem vor Kritik schützen und es so weit wie möglich vermeiden kann, die Probleme der realen Welt anzugehen. Er stellt fest, dass es »keinen formellen Zwangsapparat« gibt, aber »das Äquivalent eines ›Old boy‹-Netzwerkes« (Barbash, 1982: 51), das wirksam ist. Die Vorteile, wie Veröffentlichungen, Drittmittel, Promotionen, Beratungsjobs, Einfluss etc., gehören denen, die sich an die Regeln halten. Die Sozialisation beginnt mit der Aufnahme eines Studiums, denn die Meister des Paradigmas kontrollieren das Curriculum, die Bewertungssysteme und wer ein Stipendium für ein Promotionsstudium bekommt. Es wird Schlimmer im Promotionsstudium, denn der Promovend lernt nun, dass in der Wirtschaftswissenschaft »formale Strenge wichtiger ist als der Inhalt« und die »Methode wichtiger als das Ergebnis« (S. 52). Man denke an diese Haiku-Regeln, die die Chancen eines wirtschaftswissenschaftlichen Artikels bestimmen, veröffentlicht zu werden.

Noch wichtiger ist wohl, dass das neoliberale Paradigma die Interessen des Kapitals und der finanziellen Eliten befördert. Um also zu verstehen, warum so ein großer Widerstand dagegen existiert, gescheiterte ökonomische Theorien zu verabschieden, müssen wir klar sehen, dass es sich dabei um weit mehr als eine Menge von Theorien handelt, die die Wirtschaftsprofessoren ihren Studenten eintrichtern. Blyth (2013, 100) bemerkt, das diese Mainstream-Theorien »unterschiedliche Verteilungen von Reichtum und Macht für natürlich erklärten und somit Machtressourcen für jene sind, deren Ansprüche auf Autorität und Einkommen auf deren Glaubwürdigkeit beruhen«, was zum Teil erklärt, warum es so einen Widerstand dagegen gibt, sie fallen zu lassen, auch wenn klar ist, dass sie ohne jede Evidenz sind.

Historisch entwickelte sich die Theorie, die heute durch die neoliberale Ökonomie repräsentiert wird, im späten 19. Jahrhundert als Mittel gegen den steigenden Einfluss des Marxismus, vor allem in Europa. Marx’ Feststellung, dass Gewinne die Eigentümer des Kapitals belohnten und auf keinem Beitrag zur Produktion beruhten, hatte eine starke Resonanz bei den Arbeitern gefunden. Die Möglichkeit der Kapitalbesitzer, den Arbeitern den Mehrwert der Arbeit für nichts wegzunehmen, war eine Idee, die entflammte. Diese wesentliche Eigenschaft des Kapitalismus empfanden die Arbeiter als zutiefst unfair und immer gewaltigere Proteste bedrohten die Chancen des Kapitals, seine elitäre Position relativ zur großen Mehrheit der Bevölkerung wahrzunehmen. Klar war, es bedurfte einer Lösung. Die Industriellen rekrutierten Ökonomen, um Theorien zu entwickeln, die den Kapitalismus als fair und seine Ergebnisse als proportional zu den Beiträgen erscheinen ließen. Später wurde dies verfeinert zu Angriffen auf eine Politik, die das Volkseinkommen umverteilen wollte. Aber über all diese Zeit wurden die Interessen derjenigen, die Kapital besaßen oder ihm dienten, vorangetrieben zu Lasten der nicht so erfolgreichen.

Auch darum ist der Altman-Fall so interessant für jeden, der verstehen will, warum die WWU so schlecht ist. Das neoliberale Gruppendenken, das die Wirtschaftspolitik in Europa so dominiert, ist eine großangelegte Wirklichkeitsverweigerung. Es hat nicht nur wirtschaftliche Strukturen und politische Rahmen geschaffen, die die Krise auslösten, sondern es führte auch zu politischen Reaktionen, die dafür sorgen werden, dass diese gewaltigen Kosten über die nächsten Generationen andauern werden, ohne dass die Probleme gelöst würden. Von Anfang an war es klar, dass die Eurozone nicht funktionieren konnte, und nun tritt dieselbe neoliberale Ideologie als Lösung auf. Gruppendenken unterdrückt alternatives Denken und Tatsachen, die im Gegensatz zu den tonangebenden Gesichtspunkten stehen. 2011 hat das Independent Evaluation Office (IEO) des IWF eine vernichtende Beurteilung der Leistung dieser Institution auf dem Weg zur globalen Finanzkrise abgegeben. Das IEO sagte: »Eigentlich ist es er wichtigste Zweck der Überwachung durch den IWF, Länder vor Risiken der globalen Ökonomie und dem Aufbau von Verletzbarkeiten in ihrer eigenen Wirtschaft zu warnen« (OEI, 2011: vii). Jedoch identifizierte der IEO die neoliberalen Verzerrungen im IWF und kam zu dem Ergebnis, dass der IWF bei der Warnung vor der globalen Finanzkrise versagte, weil er »durch ein hohes Maß an Gruppendenken behindert war«, das unter anderem »Gegenvorstellungen« unterdrückte, wobei auch »eine insulare Kultur eine große Rolle spielte«. Der Bericht sagte, »analytische Schwächen spielten eine zentrale Rolle bei einigen der evidentesten Überwachungsfehler des IWF«, als Ergebnis »der Tendenz innerhalb homogener, kohäsiver Gruppen, Angelegenheiten nur innerhalb eines gewissen Paradigmas zu sehen und die Grundannahmen nicht infrage zu stellen« (S. 17).

In dem Stab des IWF, einer kohäsiven Gruppe von Makroökonomen, herrschte die Sicht vor, das Marktdisziplin und Selbstregulierung ausreichend sei, um ernste Probleme in Finanzinstitutionen zu verhindern. Sie glaubten also, dass Krisen in entwickelten Ländern unwahrscheinlich seien, wo hochentwickelte Finanzmärkte sicher und mit nur minimaler Regulierung einen großen und wachsenden Anteil des Finanzsystems verwalten könnten. Der External Evaluation Report sagt, dass »die Ökonomen des IWF dazu tendierten« solche ökonomischen Weltmodelle »äußerst wertzuschätzen« (S. 18), die sich als inadäquat erwiesen (sogenannte DSGE-Modelle). Willem Buiter (2009) bezeichnete diese Modelle als nutzlos, »bestenfalls selbstbezogene und nach innen blickende Ablenkungen«, die alles ausschließen, »was für das Ziel einer finanziellen Stabilität relevant ist«.

Der Ökonom Robert Schiller (2008), der sagte, dass Gruppendenken uns erklären kann, »warum eine Gruppe von Experten kolossale Fehler machen kann«, hat auch die Zentralbanker in diesem selbstzensierenden Verhalten gesehen, wo »Verrückte« unter intensiven Druck gesetzt würden, wenn sie den Gruppenkonsens in Frage stellten. So hat zum Beispiel die amerikanische Federal Reserve Bank »durch ihr weitreichendes Netzwerk von Beratern, Gastprofessuren, Alumni und Stab-Ökonomen eine so gründliche Dominanz des Gebietes der Wirtschaftswissenschaft erhalten, dass eine Kritik der Notenbank zu einem Karriererisiko für die Mitglieder dieser Profession wurde« (Grim, 2009). Nicht nur, dass die amerikanische Notenbank eine große Zahl von Beratern außerhalb ihres Stabes finanziert, »sie hat auch viele der einflußreichen Herausgeber prominenter akademischer Zeitschriften auf ihrer Gehaltsliste« (Grim, 2009). Indem sie so kontrolliert, was in den wichtigen Zeitschriften veröffentlicht wird, hat sie auch Einfluss auf die Karrieren von Wirtschaftswissenschaftlern und unterdrückt so eine unabhängige Forschung, die kritisch mit der Art und Weise, wie die Zentralbank operiert, umgehen könnte. Ihr eignet eine »Intoleranz für Kritik«, wie der bekannte Ökonom Alan Blinder schnell herausfand, als er der Bank als Vice-Vorsitzender beitrat. Er blieb nur etwa 18 Monate im Amt, weil »eine Menge des oberen Stabs beleidigt waren [weil er] nicht nach deren Regeln spielte« (Grim, 2009). Seine Sünde? Er stellte zu viele Fragen und hatte zu viele Annahmen in Frage gestellt. Selbst ein moderater Kritiker der Bank, Paul Krugman, berichtete, dass er »von der Fed-Sommerkonferenz in Jackson Hole ausgeschlossen wurde, nachdem ich den Gouverneur Alan Greenspan kritisiert hatte« (Democrazy Now!, 2007).

Einige Ökonomen haben (zu recht) beobachtet, dass das Fehlen einer föderalen Finanzkapazität und die verpflichtenden Restriktionen in Bezug auf die nationalen Fiskalpolitiken die WWU in die Richtung eines schwachen Wachstums und dauerhafter hoher Arbeitslosigkeit bewegen und letztlich garantieren würden, dass das System einem Ausgabenkollaps, wie er 2008 geschah, nicht widerstehen würde. Doch das Gruppendenken errichtete eine Mauer des Schweigens, und die europäischen Politiker haben erfolgreich den Menschen erzählt, dass mit der Preisstabilität schon ein maximales Wirtschaftswachstum erreicht würde. Die globale Finanzkrise zeigte, wie lächerlich dies war. Aber wer damals den herrschenden Monetarismus in Frage stellte und stattdessen keynesianische Hilfsmittel empfahl, um die andauernde hohe Arbeitslosigkeit zu reduzieren, wurde von den meisten Experten mit Verachtung angesehen, die eben die neue ökonomische Theorie und ihre politischen Konsequenzen tief ins Herz geschlossen hatten.