Über Ulrich Brandt

Ulrich Brandt, 1957 geboren, ist Drehbuchautor, Dramaturg und Produzent verschiedener erfolgreicher TV Serien sowie Autor von Kurzgeschichten und Übersetzer. Er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Köln. In Cartagena hält er sich jeden Sommer auf. Im Aufbau Taschenbuch liegt sein Kriminalroman »Iberische Hitze« vor. Mehr zum Autor unter www.ulrichbrandt.de Mehr zu den Schauplätzen unter www.cartagena-krimi.de

Informationen zum Buch

Unter Mordverdacht

Dolf Tschirner fühlt sich, gestrandet im spanischen Cartagena, eigentlich als Hahn im Korb. In einer Feriensiedlung lautet sein offizieller Titel »Sicherheitschef«. Viel gibt es hier nichts zu tun – außer sich um Millionärswitwen zu kümmern. Dann wird eine Amerikanerin, mit der Dolf sich auf einer Party vergnügt hat, plötzlich ermordet. Und auf einmal ist er der erste Tatverdächtige. Doch Dolf weiß Rat: Er geht selbst auf Mörderjagd.

Ein kauziger deutscher Ermittler im spanischen Cartagena – beste Spannungslektüre

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Ulrich Brandt

Die schwarzen Rosen von Cartagena

Ein Spanien-Krimi

Inhaltsübersicht

Über Ulrich Brandt

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Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Teil II: Fünf Monate zuvor

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Teil III: Vierundzwanzig Stunden später …

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Danksagung

Impressum

Für Gerhard

Teil I

1

Klickedi-pling. Auf dem massiven Steinboden erzeugte die winzige Schraube nicht mehr als ein dünnes Klingeln. Dolf stöhnte genervt auf. Selbstverständlich hatte er eine Malerdecke untergelegt, bevor er die Küchenfront aufgebohrt und den Ausschnitt gesägt hatte. Selbstverständlich hatte er Holzmehl und Späne säuberlich zusammengefegt, bevor er den Eiswürfelbereiter, ein exklusives Teil aus Edelstahl, in die Designerküche der Baroness einsetzte. Dolf war rechtzeitig zu Lynns großer Gartenparty fertig geworden. In wenigen Minuten würden die ersten Gäste eintreffen.

Wenn ihm bloß nicht in letzter Sekunde dieses blöde Schräubchen irgendwo in die Küche gesprungen wäre. Und zwar auf den Steinboden jenseits der Malerdecke, sonst hätte es kein Geräusch verursacht. Dolf schürzte die Hosenbeine und kniete sich hin, schob seine Lesebrille hoch und fing an zu suchen. Glitzerte es irgendwo? Das tat es nicht. Stattdessen schellte es an der Eingangstür.

Dolf nahm sich systematisch den meergrauen Schieferboden vor. Zwischen Schrankfront und Kücheninsel lagen kaum drei Quadratmeter Stein. Darauf eine verchromte Schraube zu finden konnte nicht allzu schwer sein. Dolf fluchte in sich hinein. Es war immer dasselbe mit steinreichen Leuten und ihren »einfachen« Bedürfnissen: nur das Beste, aber dafür sofort.

»Gotta admire my newest acquisition, Careena! Schau mal, was ich mir geleistet hab …« Lynn Whelby kam mit ihrem ersten Gast hereingeflattert. Sie wirkte erstaunt, dass Dolf auf Knien herumkroch. »Was ist los, Adolfo? Sind Sie etwa immer noch nicht fertig? Ich bitte Sie, Careena ist schon da!«

Dolf blickte hoch. Careena war eine füllige, heftig auf jugendlich geschminkte Mittfünfzigerin in einem wehenden durchsichtigen Sommerkleid mit klimpernden Armreifen. »Hello down there!« Sie zwinkerte ihm verschmitzt zu.

»Bin gleich soweit.«

»Beeilen Sie sich, Dolf. Purple Rain ohne Eis, das geht gar nicht – Ghaansha?«

»No way, Sis.« Der großgewachsene Jamaikaner, der mit Lynn und ihrer Freundin hereingeschlendert war, schüttelte bedenklich den wuchtigen Lockenkopf und grinste. »Sorry, Dolf. Nothing personal

Dolf verzog die Mundwinkel. »Das Ding ist fertig angeschlossen. Ich schraub nur rasch die Blende an.«

Die Eismaschine funktionierte. Sie spuckte je nach Wunsch und Knopfdruck Eiswürfel oder gestoßenes Eis aus. Ghaansha konnte später mit viel Gewese seine Spezialität zurechtmixen, Purple Rain, einen süßlichen Cocktail, der nicht nach Dolfs Geschmack war, aber intensiv dunkelviolett schimmerte und in einem Martiniglas eine Menge hermachte.

Zwar hatte Lynn für ihr alljährliches Herbstfest selbstverständlich Personal aufgefahren, darunter einen professionellen Barmixer, aber Ghaanshas lila Mixturen waren eben von einem anderen Stern, fand die Baroness. So ließ Lynn sich nennen, seit sie – irgendwann in ihrer Jugend – mit einem höheren Bankangestellten aus dem niederen französischen Adel liiert gewesen war.

Interessierte es irgendjemanden, dass der Eisbereiter erst am Nachmittag angekommen, dass die Einbauanleitung ein mitteldickes Handbuch in winziger Schrift war, dass … es interessierte niemanden. Dolf richtete sich ächzend auf, klopfte sich imaginären Schmutz von der Hose, rieb sich die Hände. Aber Lynn und ihre Freundin schlenderten bereits in den Garten. Ghaansha geleitete sie galant durch die geöffnete Glasfront hinaus.

»Sag ehrlich, wie du es findest. Dieses Jahr hab ich die Tanzfläche unten vor den Bougainvilleen aufgebaut.«

»Es ist ganz besonders, Lynn. Wie immer.« Damit waren sie weg.

Ghaansha war für die Musik zuständig. Den ganzen Nachmittag schon hatte sein Soundcheck den weitläufigen Garten mit Reggae beschallt, dabei die Lichtleute ebenso genervt wie die Zeltaufbauer. Deren Alumimiumstangen vibrierten von den wuchtigen Bässen.

Ghaansha war keineswegs faul, er erledigte die Dinge nur gerne gründlich. Die Ränder der Grasflächen schnitt er mit einer einteiligen Schere, wie sie, erzählte er jedem ungefragt, die Schafscherer im australischen Outback benutzten. Jeder Halm verdiente einen eigenen Schnitt. Der Baroness schien das zu gefallen.

Zur Feier des Tages trug der Rastaman sein übliches knielanges Hemd in freundlichen Pastellfarben, dazu bunt bedruckte weiche Hosen, die Dolf an einen Kinderpyjama erinnerten. Seine sorgfältig pedikürten langen Zehen kamen in offenen Sandalen gut zur Geltung. Nachlässig zusammengefasste Dreadlocks reichten ihm fast an den Hintern, schließlich war Ghaansha stolzer Kingston-Jamaikaner.

Mit dem Soundcheck war er längst fertig, luftige Raggae-Beats wummerten über den Pool. Alles lag im Zeitplan. Ghaansha grinste so stolz über die Vorbereitungen, als wäre dies alles allein sein Werk. Was immer er tat, tat er lässig und ohne Hast. Auch das gefiel der Baroness.

Alles – bis auf die verdammte Eismaschine. Die Chromstahlplatte des Geräts wurde flächenplan eingebaut, in der Küchenfront verriet nur eine spiegelnde Nische, wo man ein Glas oder einen Eisbehälter unterstellte, um es auf Sensordruck mit Eis gefüllt zu bekommen. So edel designt war das Teil, dass keine handelsüblichen Schrauben zur Befestigung infrage kamen, sondern ausschließlich Spezialanfertigungen, Chromschräubchen mit zwei winzigen Löchern im Kopf. Den passenden Schraubendreher hatten die Designer fürsorglich beigelegt. Aber der nützte rein gar nichts, wenn solch ein Luxusschräubchen in irgendeiner Ritze verschwunden war. Die drei übrigen Schrauben saßen bereits sauber ausgerichtet in der gebürsteten Platte. Das letzte Bohrloch gähnte umso leerer. Eine unpassende Schraube einzudrehen kam nicht infrage. Das hieße den Sinn der Baroness für Perfektion zu beleidigen. Dolf musste die verdammte Schraube finden!

»Kriegen Sie das hin, oder nicht?« Lynn sah mindestens zwanzig Jahre jünger aus, als sie war. Sie war älter als Dolf, sie wurde an diesem Wochenende siebzig. Obwohl das kaum einer wusste. Seit Jahren hatte die Baroness aufgehört zu zählen, offiziell war ihr Geburtstag nicht der Anlass für ihr alljährliches Herbstfest.

»Hier, für die Nerven.« Nur an Lynns Hand, die Dolf den Drink reichte, an den Äderchen und Fältchen des Handrückens, hatten die Chirurgen nichts machen können.

»Danke. Ich hab’s gleich.« Dolf nahm ihr das Glas ab.

Frühestens ihren Hundertsten würde sie wieder feiern, verkündete Lynn stets. Den zu erreichen war ihr zuzutrauen. Sie war eine berechnende, zähe Witwe, noch nie im Leben hatte sie irgendetwas ohne Hintergedanken angefangen, vermutete Dolf. Im Augenblick gab sie sich zuckersüß, weil sie etwas von ihm wollte. »Sie müssen sich noch umziehen.«

Dolf trug seine übliche Arbeitskleidung, eine unverwüstliche steingraue Zimmermannshose mit zahllosen Taschen und gedoppelten Knien. Dazu ein verwaschenes Polo.

»Eine Schraube fehlt.« Dolf wies mit dem Finger auf die leere Bohrung. »Aber das Ding funktioniert.«

»Lassen Sie die einfach weg. Oder drehen Sie irgendeine rein.«

»Sieht aber nicht aus.«

»Ach was.« Sie griff sich einen Block mit orangenen Selbstklebezetteln und einen Stift, kritzelte etwas. Dolf drehte in der Zeit eine Linsenkopfschraube ins vierte Loch. Sie ragte so auffällig aus der Edelstahlfront wie ein letzter Zahn aus einem leeren Gaumen.

»Helado, oder?« Lynn hielt ihm den Zettel hin: Ice – Helado.

Dolf musste grinsen. »Hielo

Genervt zerknüllte Lynn ihren Zettel. Sie schrieb einen neuen und klebte ihn über die unpassende Schraube. »So. Jetzt gehen Sie schon!«

Dolf raffte rasch die Malerdecke zusammen und stopfte sie in den Karton der Eismaschine. Er warf sein Werkzeug in die offene Kiste, auch den Spezialschraubendreher. Auf einen Wink von Lynn eilte eines der Hausmädchen in Servierschürze herbei und griff sich Besen und Kehrblech, in der praktischen spanischen Ausführung, selbststehend und mit hoch aufragendem Griff.

»Den Hoover, Sie dummes Ding!«

»Ganz wie Sie wünschen, Señora.« Unbeeindruckt freundlich öffnete die junge Frau einen Besenschrank, verräumte die Kehrutensilien und holte den Staubsauger heraus.

Dolf würde später den Fangbeutel herausnehmen und durchsieben. Spätestens am Montagvormittag.

Dabei war die fehlende Schraube bei Weitem nicht sein drängendstes Problem oder auch nur sein größtes. Doch alles andere musste jetzt warten, bis die Party vorüber war. Dolf schnappte sich seine Werkzeugkiste und ging hinaus.

2

Vor dem Bungalow stand Dolfs Dienstfahrzeug, ein amerikanischer Einsatzwagen mit Rotlichtbalken auf dem Dach und schwarzweißer Kontrastlackierung. Und daneben Trido, in Dolfs Wachmann-Uniform – schwarzes Hemd, schwarze Hose, schwarze Kunstlederjacke –, die an dem durchtrainierten jungen Guineer nur so schlotterte. Trido hat heute nur eine einzige Aufgabe: vor Lynns Chateau zwei Parkplätze freizuhalten. Er kam auf Dolf zu und ging ihm mit dem Karton und der Werkzeugkiste zur Hand. »Die Limo is schon da.«

Dolfs Blick folgte Tridos Nicken, während er den Kofferraum aufspringen ließ. Ein paar Dutzend Meter weiter wartete eine schneeweiße Stretchlimousine quer auf der Kreuzung. Das überlange Fahrzeug war nicht manövrierfähig genug, um auf den schmalen Siedlungsstraßen zu wenden.

»Ya me voy. Ich bin sofort weg.« Dolf nickte Trido beschwichtigend zu.

Er hob seine Werkzeugkiste in den geräumigen Kofferraum, Trido schob den unförmigen Karton einfach daneben. Das war einer der wenigen Vorteile des amerikanischen Straßenkreuzers: Unter der Heckhaube bot er einen riesigen Stauraum, in dem Dolf fast sein gesamtes Werkzeug problemlos lagern konnte. Er drückte den ehebettbreiten Deckel zu und öffnete die Fahrertür. »Hasta luego, Trido. Nos vemos

Dolf fuhr los. Ein Straße weiter kam ihm ein großer schwarzer Geländewagen mit abgedunkelten Scheiben entgegen. Er ließ die Seitenscheibe herabsurren und winkte den anderen Wagen zum Halten. Auf der engen Straße standen sie Seitenspiegel an Seitenspiegel. »Ihr seid spät dran, oder?«

Im riesigen Van saßen genau zwei Wachleute, ebenfalls ganz in Schwarz, aber mit schick aussehenden Headsets an den Ohren. Der Fahrer winkte ab. »Todo bajo control

»Parkt die Kiste möglichst weit weg. Nicht dass sich noch einer beobachtet fühlt.«

»Roger.« Der Beifahrer sprach amerikanischen Polizisten-Slang, womöglich zu Ehren von Dolfs Streifenwagen.

Sie fuhren weiter. Dolf ebenso. Nur auf Lynns ausdrücklichen Wunsch hatte er die beiden Angestellten eines örtlichen Wachunternehmens angeheuert. Einige von Lynns Gästen reisten heute Abend möglicherweise mit Luxuskarossen an. Wenn sie nicht gleich mit dem Hubschrauber kamen wie der Ehrengast. Die meisten würden sich von den Strandhotels, in denen die Baroness sie untergebracht hatte, ein Taxi nehmen. Spanische Taxipreise brachten Lynn Whelby, die in einem Vorort von London aufgewachsen war, noch immer zum Schmunzeln. Für die halbstündige Fahrt von Mazarrón puerto oder Bolnuevo herauf berechnete ihr das Taxiunternehmen ungefähr den Preis, für den sie in der City gerade mal von Harrods bis Marble Arch gekommen wäre. Einfach niedlich, fand Lynn.

Ihr Anwesen war wahrscheinlich das privilegierteste in der gesamten Siedlung. Von ihrer Terrasse aus konnte man an klaren Tagen das Meer ahnen. Und einmal in jedem Jahr, bei ihrem Herbstfest, zeigte sie ihrem Exgatten, was sie mit seiner Abfindung erreicht hatte. Walter S. Tucker III finanzierte Lynns Leben. Eigentlich war er der Ehrengast auf seiner eigenen Party.

Dolf bog in den besseren Feldweg am Rand der Siedlung ab, an dem sein Häuschen lag. Es war das dritte in einer Reihe von acht winzigen Häusern an der billigen, meerabgewandten Seite des Hügels. Wahrscheinlich waren sie die Einzigen in der gesamten Siedlung, die keinen eigenen Pool im Garten hatten. Dolf machte das nichts. Er schwamm ohnehin nicht gern.

Er stellte seinen Wagen in der Einfahrt ab. Nachher würde er zu Fuß gehen. Der Abend versprach lau zu werden. Wie leergefegt spannte sich der Himmel, keine Spur eines Helikopters, die Sonne stand tief über dem Küstengebirge; Lynn hatte wieder einmal Glück mit dem Wetter für ihr Fest. Andererseits: Wann hatte es in dieser Gegend das letzte Mal geregnet, an einem Tag Anfang September?

Dolf würde sich duschen und rasieren, sich in den Smoking werfen und auf dem Weg zur Party auf einen Sprung in der Pförtnerloge vorbeischauen.

3

Das satte Wummern von Ghaanshas verstolperten Rhythmen konnte Dolf schon von Weitem hören. Als er in die Avenida B einbog, die Hauptstraße, an der Lynns Anwesen lag, sah er, dass inzwischen die Illumination eingeschaltet war. Die Vorderfassade der Villa wurde von Bodenstrahlern in grünes und blaues Licht getaucht, sie sah aus wie unter Wasser.

Trido lungerte vor dem Haus herum. Der Platz für die Stretchlimousine war frei. »Die sind unterwegs. Müssen jeden Augenblick ankommen.«

»Alles klar. Ich hab jetzt Feierabend.«

»Ganz wie du meinst, Boss.« Trido grinste. Sie wussten beide, dass Dolf nicht sein Chef war. Trido erledigte alle möglichen Jobs für die Besitzer der Ferienhäuser, säuberte ihre Pools, mähte ihre Rasen, machte kleinere und größere Besorgungen aller Art. Jetzt hielt er Dolf sogar das Gittertor auf.

Dolf ging außen um den Bungalow herum, über den breiten Weg aus eingemauerten Steinplatten, der in mehreren Stufen zum Pool hinabführte. Das Becken war beleuchtet und wahrscheinlich auch beschallt, aber im Augenblick noch unberührt und reglos, blockiert von einem riesigen schwimmenden Bukett mit ausladender Dekoration aus Lotosblüten und schwarzen Rosen, den Lieblingsblumen der Gastgeberin.

Auf Liegestühlen räkelten sich zwei langbeinige Traumfrauen mit atemberaubenden Dekolletés und Frisuren, eine blond, eine mit dunklen Locken, die sich umflirteten wie die Weltmeister und ein wunderhübsches Paar abgaben. Nur Dolf und die Gastgeberin wussten, dass die beiden Transvestiten waren, seit langem eine lockere Beziehung führten und viel mehr in ihr eigenes Aussehen verliebt waren als ineinander. Optisch machten sie jedenfalls eine Menge her und wurden deshalb zu solchen Gelegenheiten gerne eingeladen. Gerade nahmen sie Norman Drench spielerisch in die Zange, ein unscheinbares graues Männchen, Typ britischer Sportsfreund – Bridge und Rasenkegeln –, der unter den handfesten Komplimenten der beiden Supermodels rot anlief bis hinter die Ohren. Norman wirkte nervös. Sichtlich erleichtert über die Ablenkung kam er auf Dolf zugeschossen. »Churner! Ich muss mit Ihnen reden!«

»Bitte sehr.« Als Vorsitzender der Eigentümervereinigung war Drench tatsächlich Dolfs Vorgesetzter. Der Verein zahlte Dolfs Lohn.

»Die Bürgersteige vor X zweihundertsiebzehn, die sind völlig ruiniert.«

Dolf kannte den Schaden. Ein paar Wochen zuvor hatte ein Bauunternehmer mit schwerem Gerät auf dem Grundstück hantiert und dabei Bordsteine und Gehwegplatten beschädigt. Das zu reparieren gehörte nicht zu Dolfs Job. »Muss der Bauunternehmer ran. Oder seine Versicherung.« Auf das Thema war Dolf nicht gut zu sprechen.

»Weiß ich doch selbst. Aber ich brauche eine Schätzung, einen Kostenvoranschlag.«

»Hat das Zeit bis morgen?« Dolf war kurz davor, patzig zu werden.

»Sicher. Selbstverständlich. Heute wollen wir uns doch amüsieren, was?« Drench schlug Dolf fröhlich auf die Schulter. Die Geste wirkte nur deshalb nicht herablassend, weil Drench fast einen Kopf kleiner war.

Dass Norman Drench sich jemals amüsierte, konnte sich Dolf beim besten Willen nicht vorstellen. Der Mann stellte einen pensionierten Postbeamten dar, ehemals Royal Mail, und genau so sah er auch aus. Wenn es die Witterung zuließ, trug er einen Strickpullunder unter seiner Cordjacke. Sonst karierte Kurzarmhemden und Pfadfinder-Shorts. Mit Bügelfalten.

Heute hatte Drench sich zur Feier des Tages in seinen abgewetzten schwarzen Anzug für Eigentümerversammlungen gezwängt. Er schien sich darin so wohl zu fühlen wie auf einer öffentlichen Toilette.

»Wir sehen uns.« Dolf versuchte Land zu gewinnen. Die Musik schallte von der Tanzfläche herauf, die weiter unten am Hang aufgebaut war, ein Stück vor den Bougainvillea-Hecken an der Grenze des Anwesens. Im Dunkel dazwischen ragten gebündelte, schwarzverkohlte Röhren kniehoch auf, die von einem einsamen Feuerwerker bewacht wurden und später zum Einsatz kommen würden.

Dolf sah sich um. Viele Gäste waren es nicht gerade. Vierzig vielleicht. Wegen des Hurrikans in Louisiana zehn Tage zuvor flogen sicher einige von Lynns amerikanischen Freunden nicht. Als die Bilder der gebrochenen Dämme und überfluteten Häuser in den Nachrichten kamen, hatte Lynn einen Schreckmoment gehabt, ob sie das Fest absagen müsste; einen Tag später wollte sie davon schon nichts mehr hören. Sie hatte recht behalten – die meisten ihrer Gäste waren dennoch gekommen.

Die Musik klang gut. Ghaansha hatte ein DJ-Pult mit zwei plattenteller-ähnlichen Scheiben aufgebaut, aber die meiste Zeit liefen die Songs von seinem Notebook. Das ließ ihm auch die Zeit, für ausgesuchte weibliche Gäste und die Gastgeberin mit Brimborium seine Cocktailspezialität zuzubereiten.

Oder, wie eben jetzt, auf der Tanzfläche mit vier hübschen Mädchen herumzuschäkern und lässig ein paar Tanzbewegungen zu markieren. Die jungen Frauen bewegten sich kundig, sie waren von Lynn bestellt worden, um für die ersten paar Stunden die Tanzfläche zu beleben.

Sie und das Paar am Pool waren nicht die Einzigen, die auf Lynns Fest eine Show abzogen. Trido war das Bonbönchen am Eingang, Ghaansha gab den Loverboy und DJ, Dolf selbst den standesgemäßen Begleiter, deshalb der Smoking.

Loverboy winkte ihm von der Tanzfläche herüber. Dolf grüßte freundlich zurück. Sie alle spielten ihre Rollen wie Profis. Ihre Gastgeberin wahrscheinlich die ausgebuffteste. Die hatte Dolf noch gar nicht entdeckt.

Zwischen Pool und Terrasse standen ein paar liebevoll dekorierte Esstische bereit. An einem bemerkte Dolf eine Eigentümerin aus der Siedlung. AnnFrida Beringsen schien Hunger zu haben. Die schmale alte Dame war dabei, mit Messer und Gabel eine lachsfarbene Stoffserviette in Reiterchen zu schneiden. Mit dem stumpfen Messer kam sie aber gegen die Leinenserviette nicht an. Dolf fiel der alten Dame behutsam in den Arm. »Soll ich Ihnen etwas bringen, AnnFrida?«

»Keine Pastete, die taugt nicht, die ist zäh.«

»Lassen Sie mich mal machen.«

AnnFrida Beringsen schien einen ihrer schlechteren Tage erwischt zu haben. Schusselig war sie schon länger, aber bei genügend Licht funktionierten ihre Augen und ihr gesunder Menschenverstand meist ganz ordentlich.

Dolf winkte eine Serviererin herbei. Er schlenderte durch die Glasfront in den Salon, der seitlich von der Kücheninsel begrenzt wurde. Lynns orangener Zettel klebte noch immer an der Eismaschine. Der Barmixer hinter seinem Tresen hatte sein eigenes Eis. Nur wenn Ghaansha sich wichtig machen wollte und seine dunkelviolette Spezialität mit Curaçao mixte, stellte der Jamaikaner die Eismühle auf Schnee oder Graupel oder genau dazwischen, slush, was wahrscheinlich so viel wie Schneematsch bedeuten sollte. Dabei konnte Ghaansha so ein Wetter aus seinem natürlichen Habitat gar nicht kennen.

»Dolf, haben Sie einen Moment?« Lynn stieß ihn von hinten an.

Dolf drehte sich um. Außer der Gastgeberin standen auch Lynn Whelbys Exmann und seine junge Frau vor ihm. Lynn balancierte den gewaltigsten Strauß schwarzer Rosen im Arm, den Dolf jemals gesehen hatte.

»Walt, Zue: Das ist unser Sicherheitschef, Dolf Churner.« Sein Nachname war Tschirner, aber gegen das, was die Spanier daraus machten, war Lynns Aussprache harmlos.

»Mr Tucker, sehr angenehm.« Dolf bot ihm eine Hand an, Tucker übersah sie beiläufig.

»Wo ist ihr Headset, Churner?« Tucker ging Dolf höchstens bis zur Achsel, aber seine bullige Aggression füllte mehr Raum, als sein schmächtiger Körper mit den ungleichen Schultern hergab. Er schien zu vibrieren vor mühsam unterdrückter Energie und sah sich genervt um. »Wie viele Leute haben Sie hier?«

»Ich bin nicht im Dienst.«

Walter Tucker starrte ihn an wie einen Streifen Hundedreck unter der Sohle nagelneuer Lederschuhe.

»Das ist doch Adolfo Tschirner, Lynns deutscher Freund«, mischte Zuela sich ein, die aparte neueste Frau an Tuckers Seite. »Du kennst ihn, Walt.«

»Mrs Tucker-Velazquez, it’s a pleasure.« Dolf bot ihr keine Hand an, er lernte rasch. Sie umarmte ihn stattdessen und hauchte ihm Küsschen auf beide Wangen.

»It’s all mine.« Sie war nicht nur hübsch, sondern auch charmant. »Sie waren auf unserer Hochzeit!«

»Es war ein rauschendes Fest.«

Zuela nickte nur. Sie wusste sicher besser als alle anderen Anwesenden, Lynn vielleicht ausgenommen, dass ihre Hochzeit für ihre New Yorker Clique so ziemlich das größte gesellschaftliche Ereignis des Sommers gewesen war. Dennoch freute sie sich sichtlich über Dolfs Kommmentar.

»Tatsächlich? Na, dann willkommen auf der Party meiner Exfrau Nummer zwei, Churner.« Auch Tucker bemühte sich um einen versöhnlicheren Ton.

»Und Sie werden Exfrau Nummer vier?« Dolf lächelte Zuela zu. Er wusste aus sicherster Quelle, dass Walter Z. Tucker III sich nach Lynn noch eine weitere luxuriöse Hochzeit – nebst kostspieliger Scheidung – geleistet hatte. Tucker lebte nicht gerne alleinstehend.

»Nicht in diesem Jahr.« Zuela tat es mit einem Achselzucken ab und lachte strahlend auf. In Chinos und schlichter Bluse wirkte sie noch anmutiger als in dem steifen Zigtausend-Dollar-Hochzeitskleid mit Schleppe, in dem Dolf sie zuletzt gesehen hatte.

»Reden Sie keinen Quatsch, Churner. Wir wollen uns amüsieren.« Tucker verstand nicht viel Spaß. Er sah sich ungehalten um. »Wo sind meine Partner?«

Wie aus dem Nichts hatte Tucker einen Stapel Plastikchips in den Fingern und spielte damit herum. Der unterste Chip flutschte mit leisem Klacken auf die oberste Position des Stapels, schneller, als das menschliche Auge folgen konnte. Zumindest Dolfs Auge.

Er wusste, dass extra für Walter Z. Tucker drei professionelle Pokerspieler eingeladen waren. Ihr samtbespannter Spieltisch stand auf einer der schattigen Terrassen, etwas abseits der Tanzfläche und entfernt von Ghaanshas Wummerbässen.

»Eight-six-seven!« Lynn zischte im Abgehen in Dolfs Ohr und tötete ihn mit Blicken, während sie ihren Strauß einer Serviererin übergab. Wie konnte er sich mit ihrem Exmann anlegen, der nach Lynns neuester Information auf Platz achthundertsiebenundsechzig der tausend reichsten Männer der USA vorgerückt war? Doch auch eine Spur Anerkennung lag in ihrem grimmigen Feixen, als sie Dolf mit einem Kopfschütteln abfertigte: Er hatte sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen.

Dass Walter Tucker einer der schwierigsten Small-Talk-Partner des Planeten war, wusste jeder in Lynns Welt. Tucker konnte jederzeit und blitzschnell umschalten zwischen zynischen Scherzen und kalkulierten geschäftlichen Offerten. »Hör mal, Lynn, diese andere Sache …«

»Darüber sprechen wir heute Abend ganz bestimmt nicht!« Lynn schnitt ihm das Wort ab. Tucker sah sie milde erstaunt an. In seiner Welt, in seinen Räumen hätte er niemals zugelassen, dass ihm jemand über den Mund fuhr. Hier ließ er sogar zu, dass Lynn ihn wegführte.

»Sie ist eine Wucht, oder? Eine Naturgewalt. Fast wie ein Hurricane.« Zuela Tucker-Velazquez folgte Dolfs Blick. Sie stand noch immer neben ihm.

Er hatte es noch nicht einmal bemerkt. »Was? Wer?«

»Vergessen Sie es, Adolfo. Unwichtig.«

»Trinken Sie etwas?«

»Sehr gern. Was haben wir?«

»Alles. Oder eine von Ghaanshas Spezialitäten.«

»Was ist das, was Sie da trinken, Adolfo?«

»Gin Stolitschnaja.«

»Wie der Wodka?« Zuela zog skeptisch die feingezupften Augenbrauen zusammen.

Dolf nickte nur.

»Nein. Gin Tonic.« Sie sah hinüber zum Barmann. Dolf gab ihm ein Zeichen. Aber der Mann hob beschwichtigend die Hand, er hatte bereits verstanden, der Drink war in Arbeit. Zuela war eine der Frauen, denen von den Serviceleuten jeder Wunsch von den Lippen abgelesen wurde. Schon reichte der Barmann Zuelas Drink zu Dolf herüber. Dolf stieß mit ihr an und nippte an seinem Glas. Nahm noch einen kräftigen Schluck. Zuela lächelte ihm aufmunternd zu. »Sie sind doch wohl nicht unglücklich, Adolfo?«

»Nein. Ich trinke, weil es mir schmeckt.« Er leerte sein Glas, verzog das Gesicht und musste husten. Zuela lachte hell auf.

»Tanzen Sie mit mir.« Zuela stellte ihr kaum angerührtes Glas ab.

»Ich tanze nicht.«

»Das weiß ich besser. Ich hab Sie gesehen.«

»Nicht heute.«

»Wie schade.« Sie griff sich ihr Glas wieder und hob es vor ein Auge. Durch die klare prickelnde Flüssigkeit funkelte sie Dolf herausfordernd an. »Sollten Sie wirklich so hartes Zeug trinken, Adolfo?«

»Sie haben völlig recht.« Er gab dem Barkeeper einen Wink: noch einen vom Wodka mit Gin. Dann erwiderte er Zuelas Blick. Er wusste einiges über sie, das meist aus Lynns Mund. Zehn Jahre zuvor war sie beim Miss-Venezuela-Wettbewerb bis ins Finale gekommen. Promovierte Kunstgeschichtlerin war sie außerdem. Ihre Ausstellungsräume in einer Seitenstraße in Tribeca gehörten zum Angesagtesten, was es an kleinen Galerien in Manhattan gab. Conzuela Tucker-Velazquez, höchstens Anfang dreißig, verheiratet mit dem langweiligsten Ekelpaket, das Dolf kannte, war die gebildetste und attraktivste Frau auf dem Grundstück. Außerdem schien sie in Redelaune zu sein.

Vielleicht hing es mit Katrina zusammen. Der Wirbelsturm hatte das Zentrum von New Orleans verwüstet, arme Stadtviertel ebenso wie reiche. Und die Amerikaner waren im Angesicht der Naturkatastrophe über alle Standesgrenzen hinweg zusammengerückt.

Jedenfalls machte Zuela keine Anstalten, ihren Drink zu leeren oder sich abzuwenden. Sie stellte sich zutraulich neben Dolf und betrachtete mit ihm das Treiben der übrigen Gäste.

Er atmete tief durch. »Wie machen Sie das nur?«

»Was?« Sie lächelte freundlich.

»Walts Ehefrau zu sein.«

Sie lachte ihr kehliges helles Lachen. »Wieso? Er ist großzügig, er lässt mir viel Raum, wir haben ein spannendes Leben, ich liebe ihn.«

»Das kaufe ich Ihnen nicht ab.«

»Ernste Frage?« Zuela sah ihn lange und eindringlich an. Wäre er nüchterner gewesen, alleine dieser Blick hätte ihm eine peinliche Ausbuchtung in der Smokinghose verschafft. Er rang sich ein Achselzucken ab, das nicht allzu interessiert wirken sollte. Wie sie eine Augenbraue hob und ihm verführerisch zulächelte, das machte ihm unmissverständlich klar, dass sie ihn komplett durchschaut hatte. Sie spielte mit ihm. Es war ihm recht.

»Niemand merkt den Unterschied. Und Walt ist es egal.«

»Na dann.« Dolf meinte, sich verhört zu haben. Er nahm einen tiefen Schluck.

Lynn, ihre aufgedrehte Gastgeberin, huschte nahe an ihnen vorbei. »Trinken Sie nicht so viel, Dolf. Vielleicht brauche ich Sie später noch.« Lynns Augenaufschlag ließ keine Fragen offen, woran sie dachte.

»Alles klar, Baroness.« Dolf versuchte, stocknüchtern zu klingen.

»Ist für so was nicht neuerdings Ghaansha zuständig? Er macht einen netten Eindruck. Superfit.« Zuela neckte Dolf so leise, dass Lynn es nicht hören konnte. Die flatterte bereits weiter, zum nächsten ihrer wahnsinnig interessanten Gäste.

»Hab aufgegeben, mir darüber Gedanken zu machen, was Lynn sich in den Kopf setzt.«

»Das ist allerdings besser. Ich mag sie sehr. Und ich weiß, dass Walt noch immer … große Stücke auf sie hält. Die beiden waren sehr lange zusammen, dafür gab es gute Gründe. Die gibt es vielleicht noch immer.«

Dolf hatte keine Ahnung, worauf sie anspielte. Er leerte sein Glas.

Zuela fuhr sich mit der Zungenspitze über die mittlere Partie von Ober- und Unterlippe, wie um sie anzufeuchten, kniff dann die Lippen zusammen, so wie die Filmstars früher ihren Lippenstift verteilten. Es war eine Mimik, die Dolf im wirklichen Leben seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte.

»Sie sollten vielleicht wirklich nicht so früh trinken, Adolfo.«

»Kann gut sein.« Es war kaum halb elf. Er musste kürzer treten, wenn er den Abend heil überstehen wollte. Doch da war ein Gedanke, der ihm keine Ruhe ließ. Und Zuela schien tatsächlich in Redelaune zu sein. »Wie können Sie ihn gernhaben?«

»Das brauche ich gar nicht.« Zuela schüttelte den Kopf. Ihre schulterlangen dunklen Haare spielten um die Perlenknöpfe in ihren feingerundeten Ohrläppchen. Dabei legten sie eine Halssehne frei, die sich unter makellos gebräunter Sommerhaut bis hinab in ein kreisrundes Grübchen knapp über ihrem Ausschnitt spannte. Dolf versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was Zuela sagte.

»Es muss bloß so wirken.« Ein verständnisheischendes Achselzucken, ein einnehmendes Lächeln, ein aufmunterndes Blitzen in den Augenwinkeln. Wenn sie log, dann log sie so strahlend, wie eine Oscar-Gewinnerin ihrer schlimmsten Konkurrentin dankte. »So überzeugend, dass niemand, nicht mal er selbst, den Unterschied merkt.«

Dolf nickte. Er tat, als verstünde er. Dabei hatte er keinen blassen Schimmer.

»Offen gesagt, Walt selbst ist es völlig gleichgültig. Er ist gewohnt, dafür zu bezahlen. Es ist ein Geschäft. Und es ist sehr lukrativ.«

»Also lieben Sie ihn nicht.«

»Ach, Adolfo, jetzt seien Sie doch nicht so kleinkariert: Es ist Teil der AGBs, es steht im Kleingedruckten.« Sie lächelte verschmitzt, wurde dann fast ohne Übergang ernsthaft und sinnlich. »Ich liebe ihn von ganzem Herzen. Ich würde ihn auch lieben, wenn er arm wäre. Ehrlich.«

»Sie sind unglaublich, Zuela. Wäre ich zwanzig Jahre jünger, würde ich versuchen, Sie auf einen Drink einzuladen.«

»Wären Sie nur halb so erfolgreich wie Walter, würde ich liebend gerne annehmen. Aber alle Drinks hier gehen aufs Haus, nicht?«

Zuela warf den Kopf in den Nacken und lachte ihr Glockenlachen. »Ach Adolfo, Sie sind soo süß. Nur ein bisschen naiv. Kommen Sie, wir tanzen.«

Er stellte sein Glas beiseite und fasste sie an Arm und Taille. Irgendwo holte Ghaansha einen Viertakter von Donna Summer her, auf den Dolf seinen achtziger Jahre-Disco-Fox tanzen konnte. Zuela ließ sich führen wie eine Feder. Er wirbelte sie herum, wiegte sie zu sich und wieder weg, drehte sie linksherum. Sie machte alles mit. Nur Dolf wurde es schwindlig. Als er strauchelte, wand Zuela sich lachend aus seinem Griff. »Danke, Adolfo. Das hat Spaß gemacht. Wie damals in den Münchner Discos, stell ich mir vor.«

»Da waren Sie noch nicht mal geboren!«

»Walt hat es mir erzählt. Er müsste so ungefähr Ihr Jahrgang sein.« Sie schlenderte davon, amüsiert und gutgelaunt.

Sie ging bei Ghaansha vorbei, der tat, als wäre er mit seinem Notebook beschäftigt, umarmte und küsste ihn auf die Wange, sie neckte sogar Norman und zupfte an seiner blassblauen Fliege herum. Aber auf einen Blick von Walt eilte sie sofort zu ihm an den Spieltisch, legte ihm das Händchen auf den Oberarm und war ganz Ohr, kicherte glücklich über das, was immer er ihr zuraunte. Es war eine Komödie. Eine Farce. Dolf hob sein Glas an den Mund. Er nahm einen tiefen Schluck.

»Jetzt nicht. Wir tanzen.« Lynn riss ihm das Glas aus der Hand und zog Dolf am Handgelenk in die Mitte der Tanzfläche. Ein südamerikanisches Lied lag auf, es war Samba, Rumba oder etwas in der Art. Lynn ging es an wie einen Tango. Sie führte Dolfs rechte Hand in die Kuhle über ihrem straff trainierten Po und drückte sie dort fest. Schob mit einem forschen Schritt ihr linkes Knie zwischen seine Beine und schmiegte ihr Becken gegen seine Hüfte. »Das ist gut.«

Dolf machte das Beste daraus. Er war nicht besonders im Tango oder was immer es war, was sie da derart lasziv tanzten. Wenn es Lynn gefiel, sich ihm an den Hals zu werfen, was konnte er machen? Er nahm Tempo heraus, schob sie so zärtlich über die Tanzfläche, wie es die Öffentlichkeit zuließ, aber sie schmiegte sich nur noch enger an ihn. An seinem Oberschenkel konnte er spüren, dass sie keinen Slip trug. Oder nur einen hauchdünnen ohne Nähte. Ihr Mund lag an seinem Hals, ihr schwüler Atem strich um seinen Nacken, als sie wohlig aufseufzte. Die Musik verklang, das Diskolicht erlosch, und Dolf schloss seine Arme um Lynn.

Sie stieß ihn von sich. »Gehen Sie weg, Dolf, wir amüsieren uns doch nur, ich bitte Sie!«

Er stand da wie ein begossener Pudel. Seine Stimmung fiel in sich zusammen wie ein Zelt ohne Stangen. Er sah sich um. Niemand achtete auf ihn. Zuela und Walt schienen den Sternenhimmel zu bewundern. Ghaansha war mit seiner Musik beschäftigt. Norman Drench bequatschte eines der Tanzmädchen, das elegant und unauffällig ein Gähnen in einen begeistert aufgerissenen Schreimund überführte. Careena und andere Gäste in allen Stadien aufgedrehter Amüsiertheit bevölkerten den Rasen, die Fläche um den Pool mit den zwei spektakulären Traumfrauen, zu denen sich zwei ausnehmend gutaussehende Jungs gesellt hatten.

Ghaanshas Purple Rain, der ihm von Lynns Tangoattacke in der Hand geblieben war, schmeckte vorzüglich, aber der Limettensaft, der Curaçao, der Rohrzucker verursachten Dolf Sodbrennen. Er sehnte sich nach einfachem Schnaps und wandte sich an die Bar. Der Keeper nickte verständnisvoll. »Gin? Wodka? Wacholder?«

»In genau der Reihenfolge«, bestätigte Dolf und zeigte auf sein Glas.

Kurz darauf fiel der erste Gast in den Pool. Großes Gekreisch und aufgeregtes Wimperngeklimper bei den beiden Transvestiten, die um ihre Frisuren fürchteten. Und dann riss sich eines der Tanzmädchen Bluse und Rock vom Leib und stürzte sich kopfüber hinterher. Das Bukett schwankte in Richtung Überlauf. Großes Hallo gab es, als die beiden strammen Jungs in voller Montur hinterdrein sprangen. Unter den angeklatschten T-Shirts sahen ihre wohldefinierten Bauch- und Brustmuskeln nur noch eindrucksvoller aus. Die Party strebte ihrem Höhepunkt entgegen.

Dolf schluckte. Er versuchte, den Horizont zu fixieren und die dünne Linie zwischen der dunklen, von vereinzelten fahlgelben Straßenlampen markierten Sohle des weiten Tales und dem nachtschwarzen, von wenigen Sternen gesprenkelten Himmel zu erkennen. Er sah den Horizont flimmern, er nahm ein undeutliches, pulsierende Leuchten wahr, das auch durch Blinzeln und Augenaufreißen nicht wegging. Entweder ein UFO landete gerade auf dem Meer hinter den verschwommenen Hügelkämmen der Küste – oder es war Zeit, dass er ging. Er musste ins Freie.

4

Trido hatte seinen Posten verlassen. Dolf nahm es nur aus den Augenwinkeln wahr. Als er um die Ecke und in die Querstraße einbog, warf es ihn beinahe in die Hecke. Offensichtlich torkelte er. In dem Zustand war er nicht gesellschaftsfähig. Mit Schritten so rasch und ausgreifend, wie es sein Zustand erlaubte, strebte Dolf fort von Lynn Whelbys Anwesen. Bald kam er über die Kuppe, über die Grenze zu den einfacheren Häusern. Er atmete tief durch, verfehlte dabei mit seinem Schuh den Bordstein und taumelte quer über die Straße. Ein Kombi kam mit Standlicht und im Schritttempo die Straße entlang und musste doch abrupt ausweichen; die beiden jungen Männer im Wagen, beide mit Fliegen und dunklen Jacketts, sahen erschrocken aus.

Dolf riss sich zusammen, fixierte den schmalen Gehweg und konzentrierte sich auf jeden knallenden Schritt. Sich im Smoking in den Dreck zu legen war so ziemlich das Peinlichste, was er sich vorstellen konnte.

»Dolf, meine Güte, was machen Sie bloß für einen Radau?« Jemand rief aus einem der benachbarten Gärten. Dolf brauchte einen Moment, bis er sich orientiert hatte.

Die gute alte Rose war aus ihrer Hollywoodschaukel aufgesprungen und an ihre Hecke getreten. »Setzen Sie sich einen Moment zu mir, Dolf. Es ist ein wunderschöner Abend.«

Er seufzte, nickte, schloss seine Jacke und ging durch den Garteneingang direkt auf die Terrasse. Ohne zu schwanken, hoffte er zumindest.

Rose Tucker hatte sich längst wieder in ihre Decke gehüllt und wiegte sich auf der Schaukel. Ihre veilchenblauen Löckchen kringelten sich unter einem weichen Kopftuch, das auch ein Küchentuch hätte sein können. »Sie sind auf Lynns Party, was? Sicher mächtig viel los.«

Dolf probierte ein unbeteiligtes Achselzucken. Es brachte ihn ins Wanken. Keine gute Idee.

»Unsereins wird natürlich nicht eingeladen von der vertrockneten Funz.« Rose war jahrelang mit einem mittleren Beamten des Verteidigungsministeriums verheiratet gewesen, aber sie konnte noch immer fluchen wie die Tochter eines Fernfahrers, die sie auch war. Sie tätschelte das Schaumstoffkissen neben sich. »Kommen Sie, ich hab Brandy und Kekse.«

Das Gebäck konnte ihm vielleicht gut tun. Dolf brauchte was im Magen. Es waren Mohnplätzchen. Mit rumgetränktem Zuckerguss. Und das zweite Glas, das immer auf Roses Tablett wartete, auf ihn oder einen anderen Besucher, nahm er auch.

Es war tatsächlich eine herrliche Nacht. Die Kuppe des Hügels lag umglänzt von einem pulsierenden Schimmer in Grün, Violett und Blau, Lynns Illumination. Ein laues Lüftchen zog herüber und brachte Ghaanshas Wummern, aber auch schweren Blumenduft mit sich. Oder das war Roses Parfüm. Sie schmiegte sich zutraulich an Dolfs Schulter, schnüffelte und sog die Luft ein. »Männergeruch. Herrlich.«

Dolf ließ sich kopfschüttelnd in die Polster sinken. Das Wiegen der Schaukel schien in seinem Kopf nachzuschwingen. Roses Hand stahl sich sanft auf seinen Oberschenkel. »Sie sind ja völlig verspannt, Dolf. Let me take care of this cummerbund, will you?«

Sie schob die Seidenschärpe hoch und machte sich an seinem Gürtel zu schaffen. »Ist das nicht schrecklich eng?«

Er hätte sich wehren sollen.

Aber er war auch nur ein Mann. Er wusste, wie Rose aussah, er hatte sie oft genug in ihrem straff sitzenden Badeanzug auf ihrer Terrasse liegen gesehen, mehr als einmal hatte sie ihm eindeutige Angebote gemacht. Sie war Witwe, sie war mindestens dreimal volljährig, und sie war mehr als willig. Wieso zögerte er überhaupt?

Ihr Körper war der einer in Ehren gealterten Frau, mit Lynns kostspielig renoviertem Chassis nicht zu vergleichen. Rose hatte dralle Pölsterchen an Hüften, Bauch und Oberschenkeln, ihre Arme waren umfangreicher als Dolfs Beine. Doch für Breughel oder Rubens wäre sie zweifellos eine höchst attraktive Dame gewesen. Dolf war angeschlagen, in seinem Stolz verletzt. Also ließ er sich trösten, richtete Roses rundliches Kinn auf seinen Mund aus und küsste sie heftig. Wie durch Zufall ging ihr Bademantel auf und gab ihre weichen, rosigen Brüste frei. Auch die küsste Dolf bereitwillig und bereits etwas kurzatmig.

»Kommen Sie schon, machen wir es uns gemütlich!« Mit einer Hand raffte Rose ihren Bademantel zusammen, mit der anderen zog sie Dolf am Jackenaufschlag hinter sich her.

Dolf tapste in Roses Schlafzimmer, einen Traum aus blassrosa Seide, mit Rüschen und Volants an allen denkbaren Kanten und Nähten. Und einem riesigen quietschpinken Teddy, dessen Gesicht Rose mit einem raschen Griff zur Wand drehte.

Sie setzte sich auf ihr übergroßes, weiches Bett und machte sich daran, Dolf auszuziehen. Sie packte es zielstrebig und geschickt an. Streifte ihm die Smokingjacke von den Schultern, warf sie aber fürsorglich über eine Stuhllehne. Knöpfte sein Hemd rasch und vorsichtig auf. Löste seinen Kummerbund und ließ ihn neckisch über seine Schultern segeln. Schob seine Hose herab und zog Dolf neben sich aufs Bett. »Mit den Schuhen musst du mir helfen, Darling

Dolf streifte Hosenbeine, Schuhe und Socken von seinem rechten Fuß und der Prothese unter seinem linken Knie. Rose strich ihm über den linken Oberschenkel und das Formteil aus dunklem Karbon, berührte ihn dabei wie unabsichtlich mit der weichen Seite ihres Unterarms. »Willst du das abnehmen?«

»Noch nicht.« Dolf klang heiser. Tatsächlich war er erregter, als er sich noch wenige Minuten zuvor hätte träumen lassen. Rose nahm seine Hand und legte sie sich an den Hals, wand sich wohlig unter seiner Berührung und streichelte seinen Oberkörper. Sie war eifrig, sie war bereit.

Dolf plötzlich nicht mehr.

Seine Finger steckten schweißgebadet zwischen den schweren, kalten Brüsten. Roses Bauch war wärmer, aber ebenso feucht und glitschig. Dolfs Ofen ging aus wie ein Streichholz.

»Entschuldige Rose, Süße, aber ich glaube, ich schaff es heute nicht.«

»Quatsch keine Girlanden.« Gleich darauf musste sie aber kleinlaut einsehen, dass wirklich nicht viel zu holen war. »Dabei waren wir so gut zugange. Was ist los?«

»Es liegt nicht an dir, Rose. Ich bin einfach müde.«

Sie grunzte gutmütig. Als hätte sie das schon öfter gehört, aber noch nie geglaubt. »Lass mich was probieren, Schatz.«

Dolf drehte sich weg, kam auf die Beine, stand auf und griff nach seinen Sachen.

»Gib mir eine Minute. Eine Chance noch, Dolf, love

Sie rutschte zur Vorderkante des Bettes, drängte Dolf gegen die Wand neben ihrem Großbildfernseher und kniete sich vor ihn hin. »Warte noch.«

»Lass doch, Rose. Ein andermal.«

»Das hast du jetzt oft genug gesagt.« Ihre Äuglein über den vollen, rosigen Wangen funkelten ihn verheißungsvoll von unten an. »Meinem Mann hat das immer gefallen.«

Ihm gefiel es auch.

»Siehst du? Ich kann’s sogar noch besser.«

Mit zwei raschen Handgriffen nahm sie sich die Zähne von Ober- und Unterkiefer heraus, legte die Prothesen achtlos auf die zerwühlte Bettdecke und machte sich wieder an Dolf zu schaffen.

Er konzentrierte sich, versuchte sein Bestes. Aber die fleischfarbenen Halbschalen auf dem Bett verströmten einen fahlen Geruch. Speichelreste zeichneten dunkle Ränder auf die Tagesdecke.

Ein pulsierender blauer Blitz warf einen wandernden Lichtstrahl ins Schlafzimmer. Im eisblauen Schein erkannte Dolf, dass ein Mohnkorn zwischen Roses herausgenommenen Schneidezähnen steckte.

»Ist das nicht schön?« Sie schaute erwartungsvoll zu ihm herauf.

»Nein, Rose, hör auf.« Er versuchte, sich zu entziehen. Umso entschlossener umschlang sie ihn.

»Nein, bitte.« Dolf schob ihren Kopf weg von seiner Hüfte. Aber sie drängte sich gegen ihn. Sie gab nicht nach.

Da legte er ihr die Hände um den Hals, stieß sie weg; Rose keuchte, ihre Miene verzerrte sich zu einer abschätzigen Fratze. »Was hast du denn? Was ist bloß verkehrt mit dir?«

Dolf hatte keine Antwort. Er wandte sich abrupt ab, alles drehte sich, er wankte. Ihm wurde schwarz vor Augen, als der Teppichboden auf ihn zustürzte.

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