Über Melinda Mullet

Melinda Mullet hat britische Eltern, wurde aber in den USA geboren. Sie hat mehrere Jahre als Juristin gearbeitet, sich in den USA und im Ausland um Kinderrechte gekümmert und ist viel gereist. Sie lebt in der näheren Umgebung von Washington D.C. mit ihren beiden Töchtern und ihrem Mann, der Whisky-Sammler ist.

Ulrike Seeberger, geboren 1952, Studium der Physik, lebte zehn Jahre in Schottland, arbeitete dort u.a. am Goethe-Institut. Seit 1987 freie Übersetzerin und Dolmetscherin in Nürnberg. Sie übertrug u.a. Autoren wie Philippa Gregory, Vikram Chandra, Alec Guiness, Oscar Wilde, Charles Dickens, Yaël Guiladi und Jean G. Goodhind ins Deutsche.

Informationen zum Buch

Hochprozentig kriminell.

Abigal Logan, erfolgreiche Fotojournalistin Anfang dreißig, hätte nie gedacht, dass sie einmal eine Whisky-Destillerie in Schottland erben würde. Und eine Frau als Eigentümerin eines solchen Kleinods? Als sie mit ihrem Kollegen Patrick, einem Whisky-Kenner, und ihrem Terrier Liam dort ankommt, macht man ihr sehr deutlich klar, dass man sie nicht haben will. Es gibt Sabotageakte in der Destillerie, man bedroht sie, und dann findet man einen ihrer Angestellten tot im Whisky-Bottich.

Ein Krimi aus den schottischen Highlands mit viel Whisky und Flair.

ABONNIEREN SIE DEN
NEWSLETTER
DER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Melinda Mullet

Whisky mit Mord

Kriminalroman

Aus dem Englischen von
Ulrike Seeberger

Inhaltsübersicht

Über Melinda Mullet

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Danksagungen

Anmerkung

Impressum

Für meinen Mann Mark,
         der jedem Tag einen Zauber verleiht.

Kapitel 1

Sagst du mir jetzt endlich, warum du da hockst und aus der Wäsche schaust, als hätte dich die Katze an einem schlimmen Tag von draußen reingezerrt, oder sollte ich noch eine Flasche Wein bestellen und anfangen zu raten?«

Patrick Cooke mochte mein ältester und engster Freund sein, aber diese Bemerkung quittierte ich ihm unter dem Tisch mit einem Tritt vors Schienbein. Er verzog das Gesicht, und die goldenen Pünktchen in seinen braunen Augen blitzten auf; trotzdem musterte er mich weiter mit kritischem Blick.

»Die Fakten geben mir recht, Abi«, sagte er. »Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel geschaut?«

»Nur wenn es sich nicht vermeiden ließ«, gab ich zu, kippte den Rest meines Weins hinunter und streckte ihm das Glas entgegen, damit er nachschenkte.

Ich sah wahrscheinlich wirklich wie eine lebendige Leiche aus. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt einen Kamm durch mein Haar gezogen hatte, und ich machte mir ohnehin nur selten die Mühe, mich zu schminken. Aber ich hatte eine besonders harte Woche hinter mir, und das will wirklich etwas heißen, denn als Fotojournalistin robbe ich den größten Teil meines Berufslebens durch den Dreck eines Krisengebietes nach dem anderen. Jetzt hatte ich verdient, dass man mich ein bisschen in Ruhe ließ. Da hatte es heute gerade noch gefehlt, dass mich Patrick mit seinen makellos aufeinander abgestimmten Klamotten und seinem perfekt gegelten Haar abkanzelte.

Heute Abend wirkte er noch mehr als sonst fehl am Platz neben all den leicht verlotterten Journalisten und Medienleuten, die in dieser Gegend der Fleet Street in London zu Hause sind. Doch das Scrivener’s Arms war nun schon seit über zehn Jahren unser regelmäßiger Treff nach der Arbeit, und ich weigerte mich, nur deswegen in die schickeren Bars im West End abzuwandern, weil man Patrick kürzlich zum stellvertretenden Herausgeber des Magazins Wine and Spirits Monthly befördert hatte.

»Du solltest besser auf dich achten, weißt du«, tadelte mich Patrick und zog vorsichtshalber seine Beine aus der Schusslinie. »Du bist auch nicht mehr so jung, wie du mal warst.«

»Vierunddreißig ist ja wohl kaum ein biblisches Alter. Und außerdem ist es hier allen egal, wie ich aussehe. Besonders wenn ich im Einsatz bin.«

»Du meinst, es ist dir egal. Aber du kommst nicht mehr unerkannt unter dem Radar durch. Die Leute wissen, wer du bist. Zumindest in unserer Branche kennt jeder den Namen Abigail Logan. Du hast mehr Preise gewonnen als sonst wer, von dem ich wüsste.« Patrick hob eine Hand, ehe ich ihn unterbrechen konnte. »Und du hast sie alle verdient. Deine Bilder sind großartig.«

Ich reagierte gereizt. »Ich will nicht berühmt sein«, beharrte ich. Ich stand nun mal nicht gern im Rampenlicht; das war Patricks Sache. Als wir uns damals auf der Universität kennenlernten, war ich es zufrieden, mich im Forschungslabor der Psychologieabteilung zu vergraben und zu untersuchen, wie das Gehirn funktioniert. Ein Experiment über die Auswirkungen von Schlafentzug brachte dann Patrick in mein Leben. Er kam als Versuchskaninchen und ist eigentlich nie wieder gegangen. Wir waren ein unwahrscheinliches Duo – ich war Einzelgängerin, und Patrick war nie allein –, aber irgendwie haben wir einander ergänzt, und es ging uns beiden besser, wenn wir in der Gesellschaft des anderen waren.

Patrick ermutigte mich in meiner Liebe zur Fotografie. Mit der Zeit faszinierte es mich immer mehr, wie sich die Psyche auf dem menschlichen Gesicht wider­spiegelt. Schließlich begann ich, Fotos als eingefrorene Momentaufnahmen der Gedanken in den Köpfen der Menschen zu begreifen. Wie besessen studierte ich Gesichter, und es stellte sich heraus, dass ich ein großes Talent für Porträtaufnahmen besaß. Ehe ich es mich versah, zerrte mich Patrick zu einem Vorstellungsgespräch für einen Sommerferienjob bei The London Gazette. Zwölf Jahre später war ich immer noch dort, bannte in allen finsteren Winkeln der Welt echte Menschen in echten Krisenaugenblicken auf meine Fotos.

Ich seufzte tief. »Ich wollte immer nur ein bisschen die Welt verändern.«

»Du hast sie verändert«, argumentierte Patrick. »Ich bin derjenige von uns beiden, der sich seinen Lebensunterhalt mit Weinkritiken verdient. Warum stellst du plötzlich dein Licht unter den Scheffel?«

»Das Nachrichtengeschäft wandelt sich«, jammerte ich. »Ich habe mich heute Nachmittag mit meinem Redakteur getroffen, um die Fotos durchzugehen, die ich letzte Woche in Sierra Leone gemacht habe. Herzzerreißende Bilder. Wenn er die brächte, könnte niemand mehr ignorieren, was da passiert, aber er will sie nicht. Er hat Angst, dass er Anzeigeneinnahmen verliert.«

»Du weißt doch, dass es heute nur noch ums Geld geht.«

»Das sollte es aber nicht. Also habe ich ihm gesagt, dass er seinen nächsten Auftrag behalten und was er sonst noch damit machen kann …«

Patrick starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an, war einen Augenblick sprachlos. »Du hast gekündigt?«

»Ich hab’s versucht. Er meinte, ich hätte wohl einen akuten Anfall ›weiblicher Hysterie‹, und hat mir ein paar Tage unbezahlten Urlaub verordnet, um ›meine Position zu überdenken‹«, erwiderte ich und zerfetzte meine Serviette in einen Schneesturm winziger Papierschnipsel. »Ich habe noch neun Monate in diesem elenden Vertrag. Wenn ich den jetzt breche, kostet es mich ein verdammtes Vermögen. Ich hätte ihm gern gesagt, er könne mich mal gernhaben, aber ich kann mir nicht mal mehr meine eigenen Prinzipien leisten.«

»Warum arbeitest du nicht freiberuflich, sobald dieser Vertrag abgelaufen ist? Du bist doch jetzt bekannt genug. Du musst nicht mal mehr ins Ausland gehen. Auf den Straßen Großbritanniens wimmelt es nur so vor unterdrückten Emotionen und Feindseligkeiten zwischen den Kulturen, die sich im kalten, feuchten Klima verfestigen. Such dir Arbeit näher an Zuhause, schlaf mal wieder in deinem eigenen Bett und verbringe mehr Zeit mit Ben, solange du noch kannst.«

Ich vergrub das Gesicht in den Händen. Zu viele schmerzliche Gefühle durchströmten mich, und die Tränen, die ich den ganzen Abend zurückgehalten hatte, schossen hervor.

»Abi? Was ist denn los?« Patrick beugte sich über den Tisch. »Ich kenn dich doch. Hier geht’s um mehr als nur eine philosophische Streiterei mit deinem Boss.«

Ich brauchte eine Minute, bis ich meine Stimme wieder beherrschte. Ich hätte es ihm gleich als Erstes sagen sollen, aber jedes Mal, wenn ich es aussprach, wurde es wirklicher, schmerzhafter.

Ich holte bebend tief Luft. »Ich war noch in Afrika, als ich eine Nachricht von Bens Ärztin in Schottland erhielt, dass es ihm sehr schlecht ginge. Ich bin gleich mit einer Militärmaschine zurückgeflogen, aber als ich in London ankam, war er schon gestorben.«

Patricks sonst dauerhaft sarkastische Miene wich einem Ausdruck echter Besorgnis. »Oh, Abi, das tut mir leid, so sehr leid.«

Ich versuchte, mich auf mein Glas zu konzentrieren, beobachtete, wie die Umrisse verschwammen, als mir wieder die Tränen in die Augen traten. »Ich hätte dich ja früher angerufen, aber deine Assistentin meinte, dass du dir in Berlin auf irgendeiner Pressereise die Nase begießt, und da wollte ich nicht stören.«

»Das ist doch albern, du hättest anrufen sollen. Was ist passiert? Ich dachte, es wäre ihm vor deiner Abreise besser gegangen.«

»Ist es auch. Zumindest hat er durchgehalten. Aber dann hat er eine Lungenentzündung bekommen. Nach der letzten Runde Chemo war er nicht mehr stark genug, um noch dagegen anzukämpfen.«

Patrick streckte die Hand über den Tisch und drückte meinen Arm. »Ich weiß, das ist ein schwerer Schlag, aber selbst wenn du es geschafft hättest, früher zurückzukommen, hättest du nichts machen können, um das aufzuhalten.«

»Ich hätte bei ihm sein können. Nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, ist er jetzt allein gestorben.« Ich senkte die Stimme, als die Leute vom Nebentisch zu uns herüberstarrten. »Ich habe nicht erwartet, dass das Ende so schnell kommen würde. Ich dachte, wir hätten noch mehr Zeit.«

»Abi, quäle dich deswegen nicht«, beharrte Patrick. »Du weißt, er würde dir keine Vorwürfe machen.«

»Aber ich mache mir Vorwürfe.« Wir verfielen in Schweigen, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.

Patrick hatte recht. Ben würde mir niemals Vorwürfe machen, aber ich konnte es mir nicht verzeihen. Ben war in meiner dunkelsten Stunde für mich da gewesen, und am Ende hatte ich ihn im Stich gelassen. Über fünfundzwanzig Jahre waren vergangen, doch die Erinnerung daran, wie ich allein und verängstigt im Krankenhaus aufwachte, war mir noch so frisch im Gedächtnis, als wäre es gestern gewesen. Ein ganz gewöhnlicher Abend im Kino, eine kurze Autofahrt nach Hause, ein blendend helles Scheinwerferlicht und dann Dunkelheit. Mit acht Jahren war es mir unmöglich erschienen, dass meine Eltern für immer fort sein sollten, doch diese unergründliche Wirklichkeit ließ meine Welt völlig aus der Spur geraten. Onkel Ben war der einzige feste Boden unter meinen Füßen. Unsere ohnehin schon winzig kleine Familie war nun auf zwei zusammengeschrumpft, und wir klammerten uns aneinander wie verlorene Seelen, die auf hoher See treiben.

Ben war ein bekannter und erfolgreicher Londoner Aktienhändler und hatte sich keine Zeit für eine Frau und eine Familie genommen. Doch nach dem Tod seines Bruders und seiner Schwägerin schlüpfte er voller Begeisterung in die Vaterrolle. Er nahm mich zusammen mit vier Goldfischen, zwei Hamstern, einem Gecko und einer wilden Sammlung von Büchern, Malsachen und schlammigen Fußballschuhen in seinem Stadthaus in Chelsea auf. Es war, als wären die Kinderabteilung von Harrods und der Architectural Digest zusammengeprallt, aber gegen alle Wahrscheinlichkeit schaffte es Ben, dass alles funktionierte.

Wenn ich jetzt auf diese Zeit zurückblicke, weiß ich nicht, wie er das bewerkstelligt hat. Er hatte völlig wahnwitzige Arbeitszeiten, aber das hat ihn nie davon abgehalten, stets in meiner Nähe zu sein. Er hat sich immer Zeit für mich genommen. Laut der Rektorin in der Schule war ich »ein schwieriges Kind«, aber das hat Ben nie akzeptiert. Er trat für mich ein. Wenn die Lehrer mich stur und bockig fanden, beharrte Ben darauf, dass ich kreativ und ein Freigeist sei. Ich hatte leidenschaftliche Meinungen zu allem. Das machte mich rechthaberisch und oft aggressiv, aber Ben fand, ich besäße einfach einen starken moralischen Kompass. Er sah stets das Beste in mir, wenn die anderen das nicht erkennen konnten. Und jetzt, da er fort war, verzweifelte ein kleiner selbstsüchtiger Teil von mir, weil niemand das je wieder machen würde.

»Was passiert jetzt?«, fragte Patrick vorsichtig.

Ich schnäuzte mich in die letzte verbliebene Serviette, setzte mich auf und langte nach meiner Tasche. »Ich hatte gestern unendlich lange Besprechungen mit Bens Anwälten. Ganze Bände von Rechtschinesisch. Ich versteh nicht mal die Hälfte davon, aber sieh dir mal das hier an.«

Patrick überflog die Seiten, die ich ihm reichte. »Er hat dir beinahe alles vermacht. Keine Überraschung, denn du bist ja die einzige Familie, die er hatte …«

»Lies weiter.«

»… alle Ländereien und Liegenschaften …«

»Das ist es. Das mit den Ländereien und Liegenschaften.«

»Er hat also Liegenschaften in Schottland?«

»Leider ja. Er ist schon seit Jahren immer wieder da hochgefahren, weil er ein paar wichtige Kunden in Edinburgh hatte. Aber vor fünfzehn Jahren hat er sich eine neue Verrücktheit geleistet und eine heruntergekommene Whisky-Brennerei erworben. Die ist seither sein schräges Hobby. Als er sich vor sechs Jahren entschlossen hat, sich zur Ruhe zu setzen, hat er auch noch das danebenliegende Bauernhaus gekauft und viel Zeit da oben verbracht.«

»Und du hast die Destillerie geerbt?«, fragte Patrick und versuchte, das Lächeln zu unterdrücken, das um seine Mundwinkel spielte.

»Nicht nur geerbt. Er hat mir die Kontrolle über das gesamte Geschäft überschrieben, und es sieht ganz so aus, als wäre jemand gar nicht erfreut darüber. Das hier ist in der Nacht unter meiner Tür durchgeschoben worden.« Ich reichte Patrick einen Umschlag, auf dem sich weder ein Absender noch ein Poststempel befand. Er zog die schlichte Karte heraus und las:

Keine Frau sollte das Lebenswasser besitzen,

Versuch’s und du stirbst vom Messer, dem spitzen.

»Furchtbarer Reim«, merkte Patrick an.

»Ich brauche keine literarische Analyse. Das ist eine bizarre Todesdrohung. Ich habe ›Lebenswasser‹ nachgeschlagen. Es ist die Übersetzung des alten gälischen Wortes für Whisky. Das muss jemand geschickt haben, der was mit der Destillerie zu tun hat.«

»Vielleicht hat sich da irgendein keltischer Miesepeter einen schlechten Scherz erlaubt.«

Ich funkelte Patrick über den Tisch hinweg an. »Das ist nicht komisch. Es macht mir Angst.«

»Waren die Leute freundlich, als du früher dort zu Besuch warst?«

»Ich war noch nie da.«

Patrick schaute mich verdattert an. »Du meinst, du hast den Ort noch nie gesehen?«

»Ländliches Schottland, für meinen Geschmack etwas zu rustikal.«

»Sagt die Frau, die sich ihr halbes Leben lang in Drittweltländern vor Gewehrkugeln weggeduckt hat.«

»Mein Reiseprogramm ist in letzter Zeit brutal gewesen, da muss ich nicht auch noch in meiner Freizeit in die schottische Wildnis fahren. Außerdem war Ben, nachdem er seine Krebsdiagnose bekommen hatte, so regelmäßig zur Behandlung hier in London, dass ich ihn beinahe so oft gesehen habe wie in den Zeiten, als er noch hier wohnte. Und weit wichtiger: Ich wollte diese Brennerei nicht sehen. Ich habe sogar versucht, ihn dazu zu überreden, sie aufzugeben. Ich hatte Angst, dass sie ihn zu viel Kraft kostete, aber er behauptete steif und fest, sie gäbe ihm mehr Schwung, als sie ihn kostete.«

»Und wie heißt Bens Destillerie?«

»Abbey irgendwas«, sagte ich, während ich das Dokument durchblätterte. »Hier steht’s … Abbey Glen.«

»Du machst Witze.« Patrick runzelte die Stirn. »Wieso wusste ich nicht, dass Ben der Besitzer von Abbey Glen ist?«

»Weil ich nie zugelassen habe, dass ihr beide über die Arbeit redet, wenn wir uns getroffen haben. Aber egal. Du hast schon von der Destillerie gehört? Was kannst du mir drüber erzählen?«

Patrick schüttelte verwundert den Kopf. »Abbey Glen, das ist einer der angesagtesten aufstrebenden Hersteller von Single Malt Whisky in Schottland. Klein und sehr teuer, eine Nobeldestillerie. Wirklich etwas, das zu Ben passt. Echte Klasse.«

»Ben hat nie halbe Sachen gemacht.« Ich seufzte. »Ich hätte es wissen müssen, dass er auch einen anständigen Whisky produzieren würde.«

»Anständig? Mehr als anständig. Der ist exquisit. Elegant, seidig, komplex …«

»Halt!« Ich hob protestierend die Hand. »Wir sprechen hier von Schnaps, nicht von Kunst. Das hört sich an wie bei Ben, wenn er dieses Zeug in den schillerndsten Farben beschrieben hat.«

»Kenner nehmen eben ihre Malts sehr ernst«, erwiderte Patrick steif.

»Werd nicht pampig. Ich brauche deine Hilfe. Tatsache ist: Was ich über den Betrieb einer Whisky-Destillerie weiß, würde in ein Schnapsglas passen, und dann wäre da noch viel Luft nach oben. Das wissen aber die Leute von Abbey Glen nicht. Wieso kriege ich dann Morddrohungen?«

Patrick dachte mit schmerzlich verzerrtem Gesicht über diese Frage nach. »Für die Schotten ist Whisky mehr als nur ein Getränk, Abi – eher eine Passion. Wie das Touristenbüro sagt: ›Viel geliebt als Teil unserer Kultur und des Erbes unserer Nation‹«, intonierte Patrick mit seiner besten Moderatorenstimme. »Einen handwerklich gefertigten Single Malt wie den Abbey Glen zu brennen, dass ist eher Kunst als Wissenschaft. Eine Kunst, der ein Mann sein ganzes Leben weihen kann, um sie zu perfektionieren.«

»Ein Mann?«

Patrick schnitt eine Grimasse. »Ich kenne ein paar Frauen, die im Marketing und im Vertrieb arbeiten, aber keine einzige in der eigentlichen Destillerie. Das Brennen ist so ziemlich ausschließlich den Männern vorbehalten. Echte alte Männerseilschaften.«

»Also hat mich Ben mitten in so einen sexistischen Revierkampf katapultiert?«

»Leider ja. Ich würde mich nicht darauf verlassen, dass die Jungs von Abbey Glen dir den roten Teppich ausrollen.«

»Das kommt mir bekannt vor.«

»Vielleicht, aber solche Drohungen solltest du trotzdem nicht erhalten. Drohungen, die vielleicht ernst gemeint sein könnten. Ruf die Polizei an.«

Ich zuckte mit den Achseln und gab mir alle Mühe, meine unguten Vorahnungen vom Tisch zu wischen. »Das hat keinen Sinn. Da krieg ich nur die übliche Antwort: ›Haben Sie keinen Humor? Ein Dummerjungenstreich.‹ Und damit ist die Sache für sie erledigt.«

»Möglicherweise«, sagte Patrick ohne große Überzeugung, »aber die Drohungen könnten doch ernst gemeint sein. Was machst du jetzt?«

»Die Trauerfeier für Ben ist am Samstag in der Kirche, nicht weit von seinem Wohnhaus, und niemand wird mich daran hindern, dort hinzugehen. Ich habe das ganze Wochenende Sonderurlaub aus familiären Gründen, und mein Chef hat mir außerdem noch zwei Wochen gegeben, um mein Leben auf die Reihe zu kriegen, ehe ich endgültig wieder zur Arbeit zurückmuss. Zwei Wochen sollten reichen, um Bens Nachlass zu ordnen und zu klären, was immer das hier ist.«

Patrick verdrehte die Augen. »Das klingt überhaupt nicht riskant. Der Gedanke gefällt mir gar nicht, dass du allein dort rumläufst und von irgendeinem durchgeknallten Whisky-Fanatiker verfolgt wirst. Ich gehe mit auf die Beerdigung.«

Ich hätte Patrick nicht gebeten, mitzukommen, war allerdings erleichtert, dass er es von sich aus anbot. Die gereimte Morddrohung war lächerlich, aber trotzdem beunruhigend. »Kannst du es dir leisten wegzufahren?«

»Für dich nehme ich mir die Zeit.«

»Für mich oder für Abbey Glen?«

»Ich muss ein paar Meetings absagen. Das geht schon«, erwiderte Patrick und ignorierte meine Frage. »Kann man da oben irgendwo übernachten?«

»Das Örtchen Balfour ist ein winziger Punkt auf der Landkarte etwa eine Stunde nordöstlich von Glasgow. Ich bezweifle, dass die da ein Hotel haben, aber ich denke, wir könnten in Bens Haus wohnen. Ich habe es noch nie gesehen, doch Ben hat mir erzählt, er hätte in den letzten sechs Jahren viel an dem alten Bauernhaus umbauen lassen. Ich bin mir sicher, dass es dort inzwischen fließendes Wasser gibt.«

Patrick runzelte seine Patrizierstirn, und ich konnte förmlich sehen, wie er die Vorteile eines unbegrenzten Vorrats an einem erstklassigen Whisky gegen die Unannehmlichkeiten an der Übernachtungsfront abwog. Bei seinem erlesenen Geschmack überraschte es mich nicht, dass der Whisky gewann.

»Ich denke, ein paar Tage können wir uns mal einschränken«, gestand er mir ohne große Begeisterung zu.

»Danke.« Ich schaute zu, wie Patrick seinen Wein austrank. »Falls jemand versucht, mir einen Dolch in die Rippen zu stoßen, fühle ich mich doch erheblich besser, wenn ich weiß, dass du auf mich aufpasst.«

Nach einer guten Stunde ließ ich Patrick mit ein paar blendend aussehenden jungen Männern von der Times allein. Ich war körperlich und emotional völlig fertig und musste nach Hause. Der Regen prasselte heftig, als ich die Tür zu meinem Wohnblock erreichte. Ich war nass bis auf die Haut, und das Wasser triefte mir von den Enden meiner unordentlichen kastanienroten Locken in den Nacken und ließ mich bibbern. Als ich mich in die dampfige Wärme des Eingangsflurs duckte, erhaschte ich im Spiegel einen Blick auf mich und begriff, dass Patrick recht hatte: Ich sah verheerend aus. Die Jahre hinter der Kamera hatten ihre Spuren hinterlassen, und die Ereignisse der vergangenen Woche hatten alles nur noch schlimmer gemacht. Müdigkeit und Stress hatten sich mit verfrühten Falten um meine Augen eingeätzt. Die Höhlungen unter meinen Wangenknochen, die einmal attraktiv gewesen waren, wirkten nun nur noch ausgemergelt, und die silbergrauen Augen, die ich von meinem Vater geerbt hatte, schienen zu einem dumpfen Metallgrau verblasst.

Zum Glück machte das dem Mann in meinem Leben nichts aus, aber da ich länger als erwartet weggeblieben war, standen die Chancen gut, dass er sich die Zeit damit vertrieben hatte, irgendwas in der Wohnung zu kauen, das traditionell nicht als Hundenahrung gilt. Ich konnte ihn an der Tür kratzen hören, als ich den Schlüssel herumdrehte, und sobald ich über die Schwelle getreten war, sprang mich ein zappelndes Bündel aus sahneweißem und braunem Fell an. Ein Zottelteppich auf Espresso-High. Als Welpe hatte er sein Terriererbe ausgelebt, indem er jedes Mal, wenn ich nach Hause kam, einen beinahe senkrechten Sprung zu meinem Gesicht hinauf vollführte. Jetzt, da er knapp unter fünfzig Pfund mit sich herumschleppte, fielen seine Luftsprünge nicht mehr ganz so hoch aus, waren aber noch genauso begeistert.

Ich sank zu Boden und ließ mich von Liams warmer Begrüßung beruhigen. Es war ein paar Tage her, seit ich die Neuigkeit von Bens Tod erhalten hatte, aber ich verspürte immer noch einen dumpfen Schmerz in der Brust, und so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte nicht tief genug einatmen, um diesen Schmerz zu verdrängen. Liams unendliche und bedingungslose Zuneigung war ein bitter notwendiger Balsam für meine geschundene Seele.

Das war nicht schon immer so. Tatsächlich war ich wütend gewesen, als mir Ben das winzige Knäuel aus braunem irischem Wuschelfell mit einer großen blauen Schleife um den Hals als Geschenk präsentierte. Er hatte versucht, mich umzustimmen, indem er den Hund Liam nannte. Ich hatte nämlich immer schon eine Schwäche für Liam Neeson – was für eine Stimme! Wir hatten ein langes Streitgespräch darüber geführt, wie sinnvoll es wäre, mir bei meinem Reiseprogramm die Verantwortung für ein anderes Lebewesen aufzubürden, aber schließlich hatte Ben gesiegt. Jetzt konnte ich mir ein Leben ohne Liam nicht mehr vorstellen.

Ein lautes Klopfen an der Tür ließ mich auffahren, und Liam bellte los. Ich rappelte mich hoch, öffnete die Tür einen Spalt weit und erblickte draußen meine Nachbarin Sally in einem schmuddeligen Vliesbademantel und rosa Gummistiefeln.

»Die sind heute für dich gekommen«, sagte sie und hielt mir einen weißen Floristenkarton hin. »Sieht aus wie ’n Haufen Unkraut, wenn du mich fragst. Da hast du dir aber ’nen Geizhals angelacht.«

Sally war nichts heilig, nicht einmal die Royal Mail, aber ich war nass und hatte gerade nicht viel für ihre bissigen Kommentare übrig, also nahm ich ihr das Paket ab und machte ihr die Tür vor der Nase zu. Ich hatte nicht erwartet, dass mir irgendwer Blumen hierherschicken würde. Ich legte die Schachtel in der Küche auf die Theke, nahm den Deckel ab und schob das Seidenpapier zur Seite. Darin lag ein riesiger Strauß Disteln, der mit einem kranzschleifenartigen schwarzen Ripsband zusammengebunden war. Ich wühlte im Papier, aber da war keine Karte, keine Quittung, kein Name eines Blumenladens. Hätte ich nicht heute Morgen die Drohbotschaft auf der Fußmatte gefunden, ich hätte das Bouquet als eine einigermaßen bizarre Beileidskundgebung abgetan. Doch das hier war keine mitleidvolle Geste. Das hier war eine kühl berechnete Handlung, die mich nervös machen sollte. Ich gab es nur höchst ungern zu: Es funktionierte.

Vorsichtig hob ich die stachligen Blüten aus dem Seidenpapier, zögerte einen Augenblick über dem Mülleimer, ehe ich sie in den leeren Weinkühler auf der Theke stopfte. Es war eine einfache Bewegung, aber ich schaffte es trotzdem, mir dabei mit den Dornen in die Finger zu stechen. Ich streckte die Hand aus, um die zarten violetten Fäden über der kratzigen grünen Knolle zu berühren, aber das Blut von meinen Fingerspitzen hinterließ einen schrillroten Streifen quer über der Blüte. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass dies ein schlimmes Omen für das kommende Wochenende war.

Kapitel 2

Erkläre mir noch mal, warum wir in deine Destillerie einbrechen.«

»Weil es nach fünf ist und ich keinen Schlüssel habe.«

Patrick verdrehte die Augen, während ich auf ein leeres Fass kletterte und ein kleines Fenster etwa zwei Meter über dem Boden aufdrückte.

»Hat das nicht Zeit bis morgen früh, wenn vielleicht die Eingangstür offen ist?«

»Morgen habe ich Bens Anwalt und die Leute von der Destillerie im Schlepp«, erklärte ich. »Ich will vor denen nicht wie eine komplette Idiotin dastehen. Außerdem muss Liam ein bisschen Dampf ablassen. Der war den ganzen Tag auf dem Rücksitz deines Autos eingesperrt.«

»Hm. Ich mache mir im Augenblick mehr Sorgen um den Rücksitz meines neuen Autos als über den Hund von Baskerville. Ich schwöre, der ist doppelt so groß geworden, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe.«

»Hunde sind wie Kinder. Wenn man sie füttert, wachsen sie«, merkte ich an.

»Sieht so aus. Aber womit fütterst du ihn? Anabolika?«

Liam kann mit seinen Augenbrauen ein für einen Hund überraschendes Spektrum von Emotionen zum Ausdruck bringen, und er verfolgte dieses Gespräch mit einem deutlichen Stirnrunzeln. Er weiß genau, wann man ihn lobt und wann die Dinge für ihn nicht so gut laufen. Patrick kam in den Genuss eines starren, grimmigen Blicks und eines verächtlichen Knurrens.

Ich schwang ein Bein über die Fensterbank und schaute zu Patrick hinunter. »Du bist doch derjenige, der es gar nicht abwarten konnte, das hier anzuschauen. Also, bist du dabei oder nicht?«

»Oh, na gut. Bin dabei«, grummelte Patrick, als ich mit den Füßen voraus durch das Fenster verschwand. »Aber mach die Hintertür auf. Ich habe nicht die Absicht, mir eine gute Hose zu ruinieren.«

Ich ließ mich zum Boden hinunter und ging los, um die Jungs hereinzuholen. Ich knipste das Licht an, während ich mich durch den großen, hallenden Raum bewegte. Patrick mochte ja einer der führenden Londoner Experten für Wein und Spirituosen sein, aber ich war nicht davon überzeugt, dass er mit Bens kleinem Geschäftsunternehmen recht hatte. Mein erster Blick auf Abbey Glen im Dämmerschein war eine ziemliche Enttäuschung. Ganz gleich, was Patrick erzählte, das hier sah nicht aus wie eine Brennerei, in der ein legendärer Whisky hergestellt wird, um den sich weltweit die Kenner reißen.

Rings um den mit Ziegeln gepflasterten Hof, auf dem wir das Auto geparkt hatten, waren fünf massiv wirkende landwirtschaftliche Gebäude angeordnet, die man für die Zwecke der Destillerie umgebaut hatte. Aus der Ferne wirkte alles idyllisch, aber von Näherem betrachtet eher finster und ein bisschen schäbig. Über der Tür des größten Gebäudes hing ein geschnitztes, vergoldetes Schild mit dem Logo von Abbey Glen. Doch wenn die Stapel leerer Holzfässer und der traditionelle pagodenartige Rauchabzug über der Scheune nicht gewesen wären, hätte man das Ganze leicht für einen verlassenen Bauernhof halten können.

»Wenn da draußen jemand ist, sieht er uns«, beschwerte sich Patrick, als er über die Schwelle kam und die Tür hinter sich schloss.

»Wen schert das? Wie gesagt, der Laden gehört mir. Ich habe jedes Recht, mich hier aufzuhalten.«

Patrick ging voran in den Hauptteil des Gebäudes, einen riesigen Raum, der über zwei Stockwerke hoch und an die zwanzig Meter breit war. Es war nicht nur das größte Gebäude, jetzt sah ich auch, dass es das neueste war. Über die frisch weiß getünchten Wände verlief ein Zickzack von polierten Metallrohren, die die verschiedenen Teile der Anlage miteinander verbanden. Meinem ungeübten Auge erschien es wie ein Labyrinth, das jemand mit einem Metallbaukasten zusammengebaut hatte. Ein erhöhter Metallsteg schuf etwa drei Meter über dem Boden ein Zwischengeschoss. Das feuerrote Geländer, das an dem Steg entlang verlief, setzte in dem ansonsten gedämpften Interieur einen lebhaften Farbakzent.

»Prachtvoll«, hauchte Patrick. All seine Zurückhaltung war verschwunden und dem Gesichtsausdruck eines Kindes im Süßwarenladen gewichen.

»Was genau sehe ich mir da an?«, fragte ich.

»Das ist das Brennereihaus«, antwortete Patrick leise.

»Okay. Da brauche ich ein bisschen mehr Info«, erwiderte ich, weil ich keine Ahnung von den Gerätschaften ringsum hatte.

»Du weißt schon, dass Whisky aus Gerste gemacht wird, ja?«

»Wenn du’s sagst.«

»Nun, ehe man die rohe Gerste benutzen kann, muss sie gemälzt und gedarrt werden. Das geschieht in der Mälzscheune und der Darre am anderen Ende des Hofs.«

»Ist das die mit dem Abzug auf dem Dach?«

»Genau. Wenn das Korn gemälzt und gedarrt ist, wird es nebenan im Mühlenraum geschrotet und kommt dann durch dieses Rohr hier herein.« Er deutete auf ein großes Edelstahlrohr, das durch eine Seitenwand hereinführte. »Das zerkleinerte Korn wird gewaschen und hier in warmem Wasser eingeweicht.« Patrick strich liebevoll über einen großen Metalltank neben sich, als wäre er ein kostbares Rennpferd. »Im Augenblick ist er leer, aber normalweise würde beim Einweichen dem Korn der Zucker entzogen werden, und das zuckrige Wasser wird abgesaugt und zum Fermentieren geschickt.«

Mir war klar, dass Patrick seinen Vortrag zu meinen Gunsten besonders einfach hielt, aber ich war zu müde, um mich darüber aufzuregen.

»Nach der Fermentierung landet der Whisky in diesen Pot Stills, den Brennblasen.« Patrick trat einen Schritt zurück, um die beiden massiven Kupferbehälter zu bewundern, die an der gegenüberliegenden Wand standen.

Die Pot Stills ruhten schwer auf Fundamenten aus roten Backsteinen und sahen aus wie übergroße Schiffskaraffen. Ich stieg die Treppe zu dem mittleren Steg hinauf, um sie aus der Nähe zu bewundern. Liam folgte mir und war weniger begeistert darüber, dass er sich auf dem Metallgitter bewegen musste. Die Pot Stills waren wunderschön geformt, so gründlich poliert, dass sie sogar im kühlen Licht der Neonröhren glänzten. Sie waren eindeutig das lebendige Herz des Raums und das Herzstück der gesamten Unternehmung. Ich konnte mir vorstellen, wie Ben hier stand und als Kapitän seines Schiffs voller Stolz über sein Territorium wachte.

»Die Pot Stills werden über ein Dampfsystem beheizt, das wahrscheinlich hier unten untergebracht ist.« Patrick musterte mit großem Interesse das Backsteinfundament. »Keines der Systeme ist eingeschaltet«, sagte er. »Ich bin mir nicht sicher, warum, aber es könnte was mit der Beerdigung am Samstag zu tun haben.«

Nach ein paar Minuten gesellte er sich auf der Plattform zu mir. »Wenn die Brennblasen erhitzt werden, lässt man die Flüssigkeit darin zweimal verdampfen und wieder kondensieren. Das Herzstück, der beste Teil des Destillats, wird zur Reifung in Fässer abgefüllt und dann auf Flaschen gezogen. Eine Destillerie. Ein Whisky. Deswegen ist Abbey Glen ein Single Malt Whisky und kein Blend, kein Verschnitt.«

»Klingt sinnvoll, denke ich mal, aber das scheint mir doch sehr arbeitsintensiv«, sagte ich und schüttelte den Kopf.

»Deswegen ist Whisky ja so teuer, wenn er richtig gemacht wird. Stell es dir wie Weinmachen vor. Tausend verschiedene Faktoren müssen zusammenkommen, damit das Endprodukt ein Gewinner und keine Niete wird. Dasselbe gilt für den Whisky. Das Korn, das Wasser, die Fässer, das Timing und die Fertigkeit der Menschen, die die Brennerei betreiben; es ist eine unerklärliche Kette von Reaktionen, die einen wunderbaren Wein oder eine großartige Spirituose hervorbringt. Manchmal hat man alle richtigen Bestandteile, und trotzdem schmeckt es am Schluss lausig.«

Ich nickte, staunte über diesen komplexen Vorgang.

»Aber wenn es funktioniert, ist es wie Magie«, sagte Patrick mit einem Seufzer.

Es war seltsam still in der Destillerie. Warm und irgendwie in Wartestellung, als wäre alles bis zum Morgen in Tiefschlaf verfallen. Ich zog meine Kamera hervor und machte ein paar Aufnahmen von unserer erhöhten Warte aus.

»Es wird spät«, sagte ich. »Wir sollten lieber zum Haus weiterfahren. Ich brauche besseres Licht, um einigermaßen anständige Fotos zu machen.«

»Hätte nicht gedacht, dass dir was dran liegt.«

»Normalerweise nicht, aber Ben hatte sein Herz daran gehängt, ein Buch über die Geschichte der Destillerie zusammenzustellen. Er war damit noch nicht besonders weit gekommen, doch es war ihm wirklich wichtig. Ich habe beschlossen, diese Aufgabe zu übernehmen. Vielleicht besteht das Buch dann zum größten Teil aus Bildern; ich möchte es ihm gern widmen.«

»Ich kann dir helfen, wenn du willst«, bot Patrick an.

»Das Angebot nehme ich womöglich an, wenn mir alles über den Kopf wächst.«

Ich rief Liam, und wir gingen hinunter. Der Hund konnte es gar nicht erwarten, im Erdgeschoss wieder auf festem Boden zu stehen. Dann erkundete er fröhlich diesen seltsamen neuen Ort, bis wir uns der Hintertür näherten. Plötzlich stellten sich seine Nackenhaare auf, und er begann leise zu knurren. Wir hatten schon beinahe den Ausgang erreicht, als die Tür langsam nach innen aufging und ein Gewehrlauf durch den Spalt geschoben wurde.

»Wer ist da?«, bellte eine Stimme von draußen.

Jetzt war keine Zeit für Schüchternheit. »Abigail Logan. Ich bin die neue Besitzerin«, sagte ich mit so viel Wagemut, wie ich aufbringen konnte.

»Da haben Sie Glück, dass Sie nicht die tote neue Besitzerin sind.«

Ein drahtiger Mann mittleren Alters in einem grauen Wollpullover und alten Jeans trat in den Raum, senkte den Lauf seines Gewehrs. Seine Stimme hatte einen starken, rollenden schottischen Akzent, der noch mit der heiseren Rauheit gemischt war, die lebenslanges Rauchen mit sich bringt. Sie passte zu seinem zerklüfteten Gesicht und den scharfen, aufmerksamen Augen, die sich uns, seine Beute, anschauten. Ich konnte mir vorstellen, wie er an einem eiskalten Bach stand und Lachse angelte oder in den Bergen oben Rotwild jagte. Der Jagdgehilfe, wie er im Buche stand. Zweifellos gut im Umgang mit dem Gewehr, aber mir wäre doch lieber, er hätte nicht mich aufs Korn genommen.

»Kann ich Ihnen mit irgendwas helfen?«

»Wir sind gerade angekommen und wollten uns nur mal schnell umsehen, Mr …?«

»Lewis. Cameron Lewis. Ich bin hier der Manager.«

»Wir wollten nicht einbrechen. Ich hätte nicht gedacht, dass um diese Zeit noch jemand hier sein würde.«

»Dieser Tage ist immer jemand hier«, antwortete Lewis. »Aber da Sie die neue Besitzerin sind … na, dann können Sie wohl machen, was Sie wollen.«

»Tut mir leid, Mr Lewis, ich hätte erst anrufen sollen«, sagte ich und versuchte, einen versöhnlichen Tonfall anzuschlagen.

Lewis musterte mich unverhohlen, nickte schließlich, obwohl ich nicht ausmachen konnte, ob das Einverständnis oder Resignation signalisieren sollte. Dann antwortete er: »Lewis war mein Vater. Hier nennen mich alle Cam.«

Patrick streckte ihm zum Gruß die Hand entgegen. »Die Brennerei ist wunderbar«, schwärmte er. »Es ist, als hätte man eine Reise in die Vergangenheit gemacht … natürlich auf die bestmögliche Art und Weise. Diese alten Gerätschaften sind faszinierend.«

»Ja, wenn sie funktionieren«, grummelte Cam.

»Mir ist aufgefallen, dass Sie im Augenblick nicht produzieren«, wagte Patrick sich vor.

»Wir haben gestern die Produktion gestoppt, und wir machen nicht weiter, bis alles hier geklärt ist«, sagte Cam.

»Sie haben die Produktion angehalten, bis der Nachlass geregelt ist?«

Cam zögerte. »Es ist kompliziert. Sie kommen am besten am Morgen wieder und sprechen mit Mr MacEwen. Der kann Ihnen alle Ihre Fragen beantworten.« Er deutete mit dem Gewehr auf die Tür und teilte uns so mit, dass das Gespräch beendet war, ehe er uns nach draußen geleitete und sorgfältig die Tür hinter sich abschloss. Er schaute uns hinterher, wie wir vom Hof fuhren und auf die Straße zu Bens Haus einbogen, ehe er in eines der Nebengebäude zurückging.

Nachdem wir die Destillerie gesehen hatten, erwartete ich nicht allzu viel von dem alten Bauernhäuschen, das sich Ben als seinen Wohnsitz in Balfour ausgebaut hatte. Dieses Haus gehörte Ben, nicht mir. Seit Ben das Haus in Chelsea verkauft hatte, hatte ich nichts mehr gehabt, das sich nur annähernd wie ein Zuhause anfühlte. Das Haus in Chelsea hatte ich geliebt. Er hatte es »Haven«, den Zufluchtshafen, genannt, und das war es immer für mich gewesen. Eine Zuflucht vor meiner Einsamkeit und Trauer und das einzige Kindheitszuhause, an das ich mich mit einiger Klarheit erinnerte. Hinter dem Haus war ein von einer Mauer umschlossener Garten, in dem, wie mich Ben überzeugte, unter dem Fingerhut mutwillige Elfen lebten, und unter den Dachtraufen war der Dachboden bis obenhin mit dem Strandgut angefüllt, das meine Großeltern in vielen Jahren auf ihren Reisen durch Indien und Afrika angesammelt hatten. Er war eine wahre Schatzgrube, dieser Dachboden: Es gab dort uralte Kleider, alte Bücher, Landkarten, Fernrohre, Messingskulpturen und aus irgendeinem Grund ein lebensgroßes ausgestopftes Krokodil, das einmal während der Weihnachtsferien in einer improvisierten Aufführung von Peter Pan eine herausragende Rolle spielte. Der Dachboden war ein Kinderparadies für Regentage.

Ich konnte es mir kaum selbst eingestehen, noch viel weniger Patrick gegenüber zugeben, aber der wahre Grund, war­um ich Ben hier nie besucht habe, war Wut. Die Destillerie zu kaufen, das war eins. Er hatte das Recht auf ein Hobby. Als er aber in den Ruhestand ging und seine Zelte abbrach, um nach Schottland zu ziehen, ohne mich auch nur zu fragen, war ich am Boden zerstört. Ich war so viel unterwegs, dass es ihm wohl nicht einmal in den Sinn gekommen ist, dass mir das etwas ausmachen würde. Aber als er Haus Haven verkaufte und sein Domizil in London auf eine Wohnung in Knightsbridge reduzierte, kam ich mir doch verlassen und verraten vor. Heimatlos. Obdachlos. Ich brachte Ausflüchte vor, wenn er mich auf einen Besuch nach Balfour einlud, und bestand darauf, dass er nach London kam. Ich wusste, dass ich mich kindisch verhielt, aber ich konnte nicht anders. Bis vor zwei Jahren, als man bei Ben die Diagnose Lungenkrebs stellte. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich alles für ihn getan. Ich hätte mich sogar nach Schottland hinaufgeschleppt. Aber nun kam er alle drei Wochen zur Behandlung nach London, also hatte sich diese Sache erledigt. Ich legte meine Jobs so, dass ich in der Stadt sein konnte, wenn Ben sich dort aufhielt. Ich pflegte ihn in den schlimmsten Zeiten der Chemo, und ich dachte, sein Zustand hätte sich stabilisiert. Nicht verbessert, aber er wurde auch nicht schlechter. Wie konnte dann alles so schnell zu Ende gegangen sein?

Als wir die letzte Kurve umrundeten, war ich überzeugt davon, wir wären irgendwo falsch abgebogen. Das konnte unmöglich das Bauernhäuschen sein, und doch stand auf dem Schild am Tor: THE HAVEN.

Ich bekam einen Kloß im Hals.

Bens neues Haus Haven war ein weitläufiges, zweigeschossiges Steinhaus, das die Seiten von Country Living hätte zieren können. Das überall drinnen brennende Licht sandte einen warmen, freundlichen Schein des Willkommens in die zunehmende Dämmerung. Große Erkerfenster mit Steinstreben prangten zu beiden Seiten einer massiven Eichentür, und an den Rankgittern an den Mauern kletterten Massen von duftenden Wicken empor. Es war zauberhaft.

»Na, das nenne ich mal eine Kate.« Patrick seufzte zufrieden. »Ich hätte es wissen müssen, dass du mit dem fließenden Wasser nur Witze gemacht hast.«

»Ich denke nicht, dass ich gescherzt habe«, erwiderte ich. »Ich wusste, dass Ben renoviert hatte, aber das hier hätte ich nie erwartet.«

Der Hund stürzte aus dem Wagen, sobald ich die Tür öffnete, und begann sofort, jede Pflanze und jeden Stein im Garten zu untersuchen. Patrick und ich schnappten uns unser Gepäck aus dem Kofferraum und wanderten hinter Liam her, der sich plötzlich wie wild für etwas an der Haustür interessierte. Als wir näher kamen, stellte ich meine Koffer ab und bewegte mich vorsichtig weiter.

Das Haus war wirklich wunderschön. Doch die Lache aus geronnenem Blut, die sich über die Eingangsstufen bis ins Gras vor unseren Füßen ausgebreitet hatte, beeinträchtigte diesen Eindruck erheblich.

Kapitel 3

Ich sah näher hin und entdeckte einen großen Ballen Federn, der an einer Schnur vom Türklopfer hing. Liam warf sich gegen die Tür und bellte wie verrückt. Ich schob ihn zur Seite, hakte die improvisierte Türdekoration ab und stellte fest, dass die Federn an einer großen und eindeutig toten Ente festgewachsen waren.

»Vielleicht ist das in dieser Gegend das traditionelle Begrüßungsgeschenk«, brachte Patrick vor und bemühte sich, keine Miene zu verziehen.

»Ja klar«, erwiderte ich und versuchte, meinen Puls wieder in den Griff zu bekommen. Die Omen wurden finsterer und blutiger. Diesen Vogel hatte man erst kürzlich getötet und dann am Hals an den Türklopfer gehängt, ehe man mehrere Male mit dem Messer hineinstach, so dass Blut über die einst glänzenden Federn und über die Eingangsstufen rann. Ich hielt die tote Ente an der Schnur am ausgestreckten Arm vor mich.

Liam, der normalerweise mit toten Tieren ziemlich ängstlich umging, schnappte mir den widerlichen Vogel aus der Hand und rannte damit weg. Ich versuchte verzweifelt, ihn dazu zu bringen, seine Beute fallen zu lassen, aber er schaute mich nur schräg von unten an und begann dann, den Vogel wie wild zu schütteln. Instinkte sind was Wunderbares.

Ich versuchte noch mehrere Male vergeblich, ihm das tote Tier abzunehmen, aber er brachte es immer knapp vor mir in Sicherheit. Patrick unterstützte mich, indem er sich an den Türrahmen lehnte und sich über unsere Kapriolen schieflachte.

»Lass ihn einfach, Abi«, sagte er, während ihm die Tränen über die Wangen liefen.

»Ich will nicht, dass er das verdammte Ding frisst«, antwortete ich.

»Keine Chance. Der Hund hat dazu einen viel zu erlesenen Geschmack. Heute Mittag im Pub wollte er sich nicht mal herablassen, dieses etwas fragwürdige Roastbeef-Sandwich auch nur anzurühren. Wieso sollte er da eine ranzige Ente vorziehen?«

»Ja, schon.« Wider besseres Wissen überließ ich Liam seinem gruseligen Spielzeug. Patrick fand die Situation eher amüsant als finster, aber mir war der Symbolwert dieser toten Ente nicht entgangen. Mein Fanklub zögerte keine Sekunde, mir seine Argumente überaus deutlich zu vermitteln. Mich schauderte unwillkürlich, und ich fürchtete, dass Bens Traumhaus für mich ein Alptraum werden würde.

Ich wandte mich wieder dem Gebäude zu und nahm all meinen Mut zusammen, um die Tür mit dem Schlüssel aufzuschließen, den mir Bens Anwalt überlassen hatte. In einem großen offenen Kamin im Eingangsflur hatte jemand ein Torffeuer angezündet, und der Duft nach frisch gebackenem Brot lag in der Luft. Ich rief, erhielt jedoch keine Antwort. Im Augenblick wenigstens waren wir allein, aber ich konnte mich eines unguten Gefühls nicht erwehren, weil irgendeine unbekannte Person einen Schlüssel zu Bens Haus hatte. Hatte diese Person beim Verlassen des Hauses auch die Verzierung an der Tür angebracht, oder war der tote Vogel erst später hinzugekommen?

Ich schaute wieder auf das Haus. Der Eingangsflur war mit Steinplatten gefliest, und darauf waren gegen die Kälte ein paar Kelimteppiche verteilt. Geschenke, die ich Ben von verschiedenen Reisen in den Nahen Osten mitgebracht hatte. Ein riesiger Schirmständer aus Keramik, der einst den Eingangsflur im Londoner Haus geziert hatte, war gestopft voll mit Schirmen und Spazierstöcken, und ich fragte mich, ob wohl auch all die Sachen vom Dachboden mit umgezogen waren. Eine zweiflügelige Tür führte vom Flur in ein Wohnzimmer, wo ein dick gepolstertes Sofa und einige tiefe Armsessel um einen weiteren Kamin gruppiert waren. Allerdings deuteten Lüftungsschlitze in der Decke und im Fußboden darauf hin, dass es auch die Option Zentralheizung gab. Ein wunderschön geschnitztes Kaminsims wurde wohl gerade eingebaut, und in einer Ecke lagerten eine Reihe kunstvoller Deckenleisten, ein Eimer Farbe und ein paar Pinsel.

Rechter Hand erblickte ich durch eine Tür eine Bibliothek, die sofort mein Lieblingsraum in diesem Haus wurde. Sie war noch nicht fertig eingerichtet, versprach aber prächtig zu werden. Abschnitte von Holzzierleisten lagen auf dem Boden und warteten darauf, an den Regalen angebracht zu werden; es waren üppig mit Blättern und Weinranken verzierte kleine Kunstwerke. Die Wände waren mit Regalen aus poliertem Kirschholz bedeckt, die mit Büchern aller Art angefüllt waren. Ich erkannte viele von ihnen aus Bens Bibliothek im alten Haus Haven. Er hatte sie nicht weggegeben. Ich ließ die Hand an den Buchrücken entlangleiten. Alice im Wunderland, Der geheime Garten, Die Schatzinsel. Das versetzte mich in die Nächte nach dem Unfall meiner Eltern zurück. Damals konnte ich auch keinen Schlaf finden. Ich schlich mich dann in die Bibliothek, wo Ben saß und arbeitete, lange nachdem ich eigentlich schlafen sollte. Also kuschelte er mich auf dem Sofa vor dem Kamin in eine Decke ein und las mir vor, bis ich eingeschlafen war. Abenteuergeschichten, um die Dämonen zu verjagen, die in meinem Kopf lebten. Oft wachte ich morgens auf, und er war eingeschlafen, den Kopf auf der Schreibtischplatte. Jetzt wischte ich mir hastig die Tränen weg, die mir in die Augen geschossen waren, und wandte mich wieder Patrick zu.