Adams Mutter ist schön und wird von allen bewundert, sein Vater ist lebenshungrig und erfolgreich, die beiden haben jung geheiratet und sind trotzdem verliebt wie am ersten Tag. Nichts kann sie je trennen – jedenfalls denkt das Adam, der kein Kind mehr ist und noch kein Mann. Bis es dann doch passiert: Sein Vater verschwindet ohne ein Wort der Erklärung. Seine Mutter sagt ihm nicht, was los ist. Und Adam, der alles um sich herum einstürzen sieht, tut etwas, das er besser gelassen hätte.

Leichtfüßig und mit großer Wärme erzählt Natalie Buchholz die Geschichte einer Vorzeigefamilie, die sich selbst zerstört. Sie erzählt, wie eine große Liebe zerbricht und eine neue beginnt. Denn während Adam langsam versteht, dass nichts im Leben perfekt ist, kommt der Sommer und mit ihm das Mädchen, das ihn dazu bringt, endlich die Vergangenheit loszulassen und sich auf seinen Weg zu machen.

 

Hanser Berlin E-Book

Natalie Buchholz

 

DER ROTE SWIMMINGPOOL

Roman

 

 

Hanser Berlin

 

 

Für Grisou & Mignonne

 

 

Aus der Urteilsbegründung:

 

Der Angeklagte wird zu hundertzwanzig Arbeitsstunden verurteilt, die in der Altenpflege abzuleisten sind. Damit wird dem Vorschlag der Jugendgerichtshilfe stattgegeben. Von einer Freiheitsstrafe wird abgesehen, da der Angeklagte geständig ist, Reue zeigt und sich seines Fehlverhaltens bewusst ist. Auch gibt es keinen Verdacht auf Wiederholungsgefahr. Die Höhe der Bestrafung ergibt sich aus der Schwere der Tat und der bewussten Inkaufnahme eines größeren Unglücks.

 

 

1

 

Eigentlich war bei uns zu Hause alles gut. Ich meine, wir hatten immer viel Spaß zusammen, lachten oft, meine Eltern küssten sich sogar noch. Das kam bei den Familien meiner Freunde überhaupt nicht vor. Jedenfalls sah ich nie, wie sich die Eltern meiner Freunde küssten oder Händchen hielten. Die meisten waren sowieso geschieden, bis auf die Eltern von Tom. Die lebten zusammen. Aber nur, um sich anzukeifen. Wenn die sich geküsst hätten, wäre Toms Weltbild zusammengebrochen. Er hätte sich neu erfinden müssen. Denn Tom definiert sich oft über die Beziehung, die seine Eltern nicht führten.

Meine Eltern führten eine. Eine gute sogar. Es war schön, ihnen dabei zuzusehen, wenn sie miteinander sprachen oder einfach nur nebeneinandersaßen. Dann leuchtete etwas auf zwischen ihnen. Etwas Großes, Helles, das alles überstrahlte. Das fanden auch Tom und die anderen, die zu uns kamen. Alle kamen gerne zu uns. Wir hatten das größte Haus und einen Swimmingpool, ein Fünfzehnmeterbecken, das mein Vater extra für meine Mutter hatte bauen lassen. Im Garten. Und da war meine Mutter, la bombe.

Meine Freunde liebten ihren schwarzen Badeanzug. Am Bund, knapp über dem rechten Bein, gab es ein goldenes Zeichen, das aussah wie eine kleine Krone. Es war nur ganz klein, aber es machte diesen Badeanzug zu etwas Besonderem. Es machte meine Mutter in diesem Badeanzug zu etwas Besonderem. Sie war die Königin aller Mütter − und ich wusste das. Meine Freunde wussten das. Ich wusste, dass meine Freunde es wussten. Und meine Mutter wusste, dass wir es wussten. Es fühlte sich gut an.

Und dann war da ihre Art zu sprechen. Weich und durch die Nase. Sie machte aus jedem »u« ein »ü« und aus jedem »e« ein »ö«, auch dann, wenn das Wort, das sie sagen wollte, gar nicht mehr richtig zu verstehen war. Ich hatte nur einmal einen Schulkameraden mit nach Hause gebracht, der meinte, meine Mutter würde ziemlich bescheuert reden. Ich schubste ihn samt Klamotten ins Becken und lud ihn nie wieder ein. Alle anderen sagten nie ein böses Wort über den Akzent meiner Mutter. Sie kamen nicht nur wegen des Pools, sie kamen auch wegen ihr. Weil sie so sprach, wie sie sprach, weil sie jedem von ihnen mit der Hand über die Wange strich und sagte, wie sehr sie sich freue, dass sie mich besuchten, und weil sie so lächelte, wie nur meine Mutter lächeln konnte.

Mein Vater war oft unterwegs. Doch wenn er von seinen Dienstreisen nach Hause kam, ging er sofort zu ihr. Ich hörte den Schlüssel im Schloss, das Klicken des Gestells am Rollkoffer, das eingefahren wurde, das kurze Seufzen, das er jedes Mal von sich gab, nachdem die Tür hinter ihm zugefallen war, und dann sah ich, wie er in seinem Anzug hinaus zum Pool ging und sich an den Beckenrand stellte. Seine Schuhspitzen ragten ein wenig über den Rand hinaus, als würde er jeden Augenblick nach vorne kippen. Ich sah sein Gesicht nicht, aber ich wusste, dass er vor Freude grinste. Dass er unruhig mit den Zehen in seinen Schuhen wackelte.

Ich weiß nicht warum, aber meine Mutter zog ihre Bahnen meistens, kurz bevor er nach Hause kam. Ich glaube, sie machte das extra, damit mein Vater sich an den Rand stellen und sie beim Kraulen bewundern konnte. Dann folgte die immer gleiche Szene: Meine Mutter schwamm auf ihn zu, schlug mit einer Hand am Beckenrand an, schwang sich aus dem Wasser und lächelte ihn an, während sich ihr Brustkorb vor Anstrengung hob und senkte. Mein Vater stand vor ihr wie ein großer Schuljunge, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und lächelte zurück. Das war der Moment, in dem zwischen ihm und ihr die Sonne aufging, immer weiter nach oben wanderte und etwa auf der Höhe ihrer beiden Köpfe stehenblieb, wo sie ein warmes, kräftiges, pink-gelbes Licht ausstrahlte.

Ja, eigentlich war bei uns zu Hause alles gut. Wann immer mein Vater nach Hause kam, gab es Sonnenaufgänge. Danach Quiche Lorraine, gebratene Zucchini oder gefüllte Tomaten. Später eine Schüssel mit Erdnussflips oder Eis-Sandwich. Rommé oder Monopoly oder eine Partie Schach mit meinem Vater. Es gab keine Streitereien, keine nervigen Geschwister, keine getrennten Betten. Alles war gut. Solange meine Mutter meinen Vater anlächelte und sich die Sonne bereitmachte für ihren großen Auftritt, war alles gut.

 

Mein Vater arbeitet als Unternehmensberater. Was genau er tut, habe ich nie richtig verstanden. Ich weiß nur, dass er viel Geld verdient und dass es heißt, er sei kein typischer Unternehmensberater. Keiner von der Sorte, der einfach so Leute entlässt. Mein Vater ist anders. Vielleicht liegt es daran, dass er elf Geschwister hat, aus Polen und vom Bauernhof kommt und nur durch Zufall zum Studium gekommen ist. Ursprünglich hätte er Pfarrer werden sollen. Immer dann, wenn der aktuelle Dorfpfarrer anfing, senil zu werden, bestimmte die Dorfgemeinschaft einen Jungen, den sie auf die geistliche Laufbahn schickte. Die Wahl fiel auf meinen Vater. Da war er gerade mal dreizehn. Es gab einen Kassenwart, der genau für diesen Zweck monatlich von allen Dorfbewohnern Geld einsammelte, um das Internat zu bezahlen, auf das er gehen sollte. So kam mein Vater auf eine höhere Schule. Und zum ersten Mal raus aus dem Kaff, in dem er aufgewachsen war. Weg von den Kühen, Schweinen, Silos und den Fliegen, die in der Stube so lange herumschwirrten, bis sie an den Klebestreifen, die wie Girlanden von der Decke hingen, hängenblieben. Im Internat merkte er schnell, dass er auf keinen Fall Pfarrer werden wollte. Er konnte mit der Kirche nichts anfangen. Nichts mit den Morgenandachten, nichts mit dem »Lass-die-Finger-weg-von-da-unten«, nichts mit den Kapuzinern, die mit ihren Psychogewändern durch die alten Gemäuer huschten. Nur bei dem Bier und der rothaarigen Kellnerin vom Braukeller, in den er sich so oft wie möglich wagte, kam er auf den Geschmack. Aber das war nicht der Grund, warum er letzten Endes doch auf dem Internat blieb. Er blieb, weil er im Dorf niemanden enttäuschen wollte. Sie hatten für ihn bezahlt, sie hatten auf ihn gesetzt. Wenn er alles hinschmiss, wäre die Scham für seine Eltern groß gewesen. Er fürchtete weniger die Tränen seiner Mutter als die Tracht Prügel seines Vaters. Also blieb er bei den Kapuzinern und verschob die Entscheidung auf später. Er ahnte auch, dass ihn das Internat weiterbringen würde. Weiter als seine sieben Schwestern, weiter als seine vier Brüder. Weiter als alle anderen, die zu Hause Schweine schlachteten, Kühe molken oder die Äcker pflügten. Und so machte mein Vater Abitur. Bis zum Abitur verlor er jeden Tag ein wenig mehr von seinem schlechten Gewissen, dass er die Situation ausnutzte. Als es dann soweit war, seinen Leuten die Wahrheit zu sagen, starb sein Vater. Er ging zur Beerdigung, verkündete beim Leichenschmaus den Anwesenden, dass er sich dagegen entschieden hätte, für sie zu beten und zu predigen, spendierte ihnen einen Quittenschnaps und dann noch einen, packte seinen großen Rucksack und zog nach München, um Betriebswirtschaft zu studieren. Er hatte beschlossen, in Deutschland zu leben, dort Karriere zu machen und reich zu werden. Er jobbte als Parkplatzwächter, als Türsteher und im Kino, bestand schließlich sein Examen, fand eine Stelle in einem großen Unternehmen, verdiente sein erstes Geld und fuhr damit nach Frankreich. Dort sah er meine Mutter, wie sie am Strand von La Torche ihr dunkles, langes Haar zu einem Knoten zusammenband, lief barfuß zu ihr hin, reichte ihr die Hand, damit sie über die Sandburg hüpfen konnte, die sie mit ihrer Schwester, meiner Tante, gebaut hatte, gab ihr drei Kugeln Eis aus, Erdbeere, Vanille und Schokolade, lernte Französisch, nahm sie mit nach München, steckte ihr einen Ring an den Finger und hielt mich sieben Monate später in den Armen. Ich war ein Frühchen.

Seine Familie sah er nie wieder.

 

Meine Mutter sprach damals im Gegensatz zu meinem Vater, der alles, was er wollte, schnell erlernte, wenig Deutsch. Zwar hatte sie das Fach in der Schule gewählt, doch mehr als »Dankö« und »Bittö« war davon nicht übriggeblieben. Sie unternahm in den ersten Jahren auch nicht den Versuch, Deutsch zu lernen. Sie kam ganz gut ohne durch. Erst später ließ sie sich dreimal die Woche von einer kleinen dicken Frau, die permanent schwitzte und mir oft eine Kleinigkeit zum Spielen mitbrachte, zu Hause unterrichten. Aber ihren Akzent, den behielt sie.

Überall, wo meine Mutter auftauchte, machte man ihr Komplimente. Sie behauptete, es läge daran, dass sie so aussah, wie Deutsche sich eine Französin vorstellten: blasse Haut, dunkles Haar, grüne Augen und Lollos (meine Mutter nannte ihre Brüste Lollos) so groß wie Galiamelonen. Mein Vater hingegen meinte, es sei der französische Akzent, auf den alle abführen. Ihr Akzent allein reiche aus, um bei seinen Freunden – und bei meinen – ein Feuerwerk an Phantasien auszulösen. Sobald ein Nachbar, ein Lehrer oder der Postbote beim Anblick meiner Mutter mal wieder den Mund nicht zubekam, sagte mein Vater, dass er sich jetzt bestimmt vorstelle, wie meine Mutter auf ihn zukomme, sanft die Hand an seinen Bauch lege, sich mit der Zunge über die Lippen fahre, den Mund öffne, kurz aufstöhne, ihren heißen Atem in seinem Nacken verteile und etwas flüstere, direkt in die Ohrmuschel hinein, ganz egal was, Hauptsache auf Französisch. Meine Mutter lachte, wenn sie das hörte. Laut und freudig. Sie klatschte dabei in die Hände, die Finger weit auseinandergespreizt. Auch ich musste lachen. Nicht, weil ich es lustig fand. Ich lachte, weil mich das Lachen vor den erotischen Bildern schützte, die mein Vater von meiner Mutter zeichnete und die ich schnell wieder aus dem Kopf kriegen wollte.

Ich glaube, meine Mutter bezauberte alle, weil sie dieses Lächeln hatte. Ein Lächeln, das einen wach werden ließ, wenn man müde war. Hungrig, obwohl man gerade gegessen hatte. Und gesund, wenn man krank war. Das Lächeln meiner Mutter hatte die Gabe zu heilen.

 

 

2

 

Als ich bei den Schedels ankomme, bin ich über eine Viertelstunde zu spät. Der alte Ostermann, fast hundert, halb blind, inkontinent, ziemlich stur und ein Odeur von saurer Milch aussendend, hatte mich nicht gehen lassen wollen. Er ist so einsam, dass er sich regelrecht an mir festkrallt, wenn meine Zeit bei ihm um ist. Der alte Sturkopf will, dass ich mir seine Geschichten von früher anhöre. Die sind gar nicht mal uninteressant. Er erzählt vom Krieg, von den Russen, vor allem aber von seiner Frau, wie er sie kennengelernt hat, in der Eisenbahn von Salzburg nach München. Es fällt mir schwer, ihn allein zu lassen mit seiner Einsamkeit. Deswegen bleibe ich oft noch ein bisschen länger, als ich sollte. Zum Ärger der jungen Schedel, die bestimmt auch schon um die siebzig ist und es mit der Uhrzeit ganz genau nimmt. Eine Beamtin, auch noch in Rente. Selbst bei dreißig Grad im Schatten.

Die Sonne knallt mit voller Wucht herab, der Asphalt schmilzt schon, obwohl es Vormittag ist. Auf den Reifen meines Fahrrads haben sich glänzende schwarze Schlieren gebildet, die an meiner Hose klebenbleiben, während ich mich über das Fahrrad bücke, um das Schloss durch die Speichen zu ziehen und am Gartenzaun festzumachen. Ich fahre mit den Händen über die ölige Substanz und reibe sie nur noch mehr in den Stoff. Bevor ich fluchen kann, steht die junge Schedel in der Tür und sieht mich schief von der Seite an. Ich spucke meinen Kaugummi in Richtung Gully, murmele eine Entschuldigung, zwänge mich an ihr vorbei in den dunklen Flur, in dem es angenehm kühl ist, lege meine Tasche ab und gehe, ohne die junge Schedel noch einmal anzusehen, die Treppen nach oben in den dritten Stock. Von Stufe zu Stufe steigt die Temperatur. Die junge Schedel läuft mir hinterher, hält gerade mal zwei Stufen Abstand, den Kopf immer auf Höhe meines Hinterns, und jammert, dass mit ihrer Mutter ständig alles schlimmer werde, dass sie inzwischen nicht mal mehr selbst essen könne, ohne sich vollzumachen wie ein Baby, aber sie andauernd rumkommandiere. Ich sage kein Wort, stapfe eine Stufe nach der anderen hoch und merke, wie mir übel wird. Wie mir mein Brechzentrum im Hirn signalisiert, schnellstens einen Ort aufzusuchen, an dem ich ungestört meinen Mageninhalt entleeren kann. Die Hitze, der Saure-Milch-Geruch vom alten Ostermann, seine flehenden Augen, als ich mich verabschiedete, die junge Schedel, die mir am Hintern klebt wie eine Fliege – all das hat mir auf den Magen geschlagen. Ich muss mich zusammennehmen, um mich nicht auf der Stelle zu übergeben und der jungen Schedel noch mehr Grund zu geben, mich nicht zu mögen.

Als ich oben ankomme, drehe ich mich kurz zu ihr um und nicke in Richtung Klo, in das ich sofort verschwinde. Es ähnelt einer Flugzeugtoilette: ganz klein und mit einer hellbraunen Schiebetür aus Kunststoff, die sich auf- und zufalten lässt. Und durch die man jeden Huster und jedes Papierrascheln hört. Ich bin mir sicher, sie würde mitbekommen, wenn ich in die Toilette kotze. Und das möchte ich nicht.

Also öffne ich den Wasserhahn und das Fenster rechts neben dem Waschbecken. Ich lasse kaltes Wasser über die Handgelenke und den Nacken laufen, atme dabei tief ein, trinke zwei Schluck direkt aus dem Hahn und spüre, wie sich der Druck in meiner Magengegend entspannt. Als ich mich wieder aufrichte, sehe ich in mein Gesicht, das mir von einem militärgrünen Spiegelschrank entgegenblickt. Fahl, blass, fettig vom Schweiß. Ich fahre mir mit der Hand über die Stirn und höre, wie die junge Schedel draußen im Treppenhaus ungeduldig mit den Füßen trippelt, wie sie nur darauf wartet, dass ich die Tür wieder auffalte und sie mich weiter vollquatschen kann. Der Brechreiz würde sofort wiederkommen. Und dieses Mal würde ich ihn nicht unterdrücken können. Ich lasse den Wasserhahn weiterlaufen und nähere mein Gesicht dem Spiegel. So nah, dass meine Nase fast die Oberfläche berührt. Seit einigen Tagen habe ich auf Stirn und Nase Hitzepickel. Ich fahre mit dem Zeigefinger über zwei Erhebungen, die sich parallel, als hätten sie sich abgesprochen, über meinen Augenbrauen gebildet haben und zu groß sind, um sie zu ignorieren. Gerade, als ich einen der beiden Pickel quetschen möchte, bemerke ich, wie mich aus dem Garten der Schedels zwei Augen anglotzen, die zu einem Mädchen in knappen Jeans und rotem Shirt gehören. So schnell ich kann, schließe ich das Fenster, ziehe pro forma die Klospülung und stehe kurz darauf schweißgebadet vor der jungen Schedel, die mich sofort weiter zutextet, während ich darüber nachdenke, ob mir gerade wirklich ein Mädchen dabei zugesehen hat, wie ich mein bleiches Gesicht akribisch nach Hautunreinheiten abgesucht habe.

 

 

3

 

Die erste Schallplatte, die mein Vater mir von einer seiner Dienstreisen mitbrachte, war leuchtend blau. Mein Vater hatte sich nie wirklich viel aus Musik gemacht. Aber er mochte Schallplatten. Weil sie ihn an die rothaarige Kellnerin vom Braukeller erinnerten, die jeden Samstag ein paar Scheiben auflegte, wenn der Braukeller eigentlich schon geschlossen war und nur noch der harte Kern blieb. Dann fing sie an zu tanzen, mal in einem gelben, mal in einem weißen Kleid, aber immer in einem, das viel Ausschnitt zeigte. Sie drehte sich zwischen den Barhockern hin und her und suchte sich jedes Mal einen anderen aus, den sie aufforderte, seine Arme um ihren Hals zu legen und mit ihr im Takt der Musik zu schwingen. Meinen Vater ließ sie immer aus. Er war ihr zu jung, zu grün hinter den Ohren. Nur einmal, als fast alle schon gegangen waren oder besoffen über ihren Krügen hingen, zog sie ihn vom Tresen weg. Mein Vater konnte nicht tanzen, auch nicht so tun, als ob. Er stolperte von einem Eck ins andere und fiel schließlich vor ihr auf die Knie. Die Musik ging aus, nur das Rauschen der Nadel, die nicht automatisch nach oben gegangen war, sondern durch die letzte Rille der Platte fuhr, war zu hören. Da bückte sie sich und bat meinen Vater, eine neue Scheibe aufzulegen. Und noch eine. Und noch eine. Von dem Tag an legte mein Vater jeden Samstag, wenn er sich aus dem Internat in den Braukeller stehlen konnte, die Handvoll Schallplatten auf, die sie besaß. Er tat es für die rothaarige Kellnerin und weil es der wärmste Ort war, den er bis dahin kennengelernt hatte. Auf dem Hof seiner Eltern hatte er nur Kühe, Schweine, Silos und die Kartoffelernte gekannt. Viel Arbeit, kaum Freizeit. Hier und da mal heimlich eine Zigarette mit einem seiner Brüder. Das war alles. Viel zu lachen hatte es in seiner Kindheit nicht gegeben.

Als er in Dänemark dann die blaue Platte sah, kaufte er sie. Er kaufte sie nur, weil sie blau war, weil Blau seine Lieblingsfarbe war und weil die erste Schallplatte, die er im Braukeller in den Händen hielt, auch blau gewesen war. Es war das erste farbige Vinyl, das ich bekam, und es sollte nicht das letzte sein. Von jeder Dienstreise, die danach folgte, brachte mein Vater mir eine bunte Scheibe mit. Ganz egal, was für Musik es war und ob ich etwas damit anfangen konnte. Hauptsache, sie war rot, gelb, grün, blau oder transparent. Das war sein Spiel, seine Herausforderung. In welchem Land auch immer er war, er musste eine bunte Platte finden. Was ihm natürlich gelang.

Bei jeder neuen Errungenschaft schlug er einen langen Nagel in die große weiße Wand in meinem Zimmer, nahm die Platte aus der Hülle, steckte sie drauf und erzählte mir dabei von der rothaarigen Kellnerin. Wie sie das Bier in die Krüge laufen ließ, bis der Schaum über den Rand schwappte. Wie sie die Schuhe von den Fersen gleiten ließ, wenn sie in Fahrt kam, und barfuß über den alten Holzboden fegte. Wie sie in Windeseile hinter den Tresen huschte und einen flotten Spruch fallen ließ, sobald ihr Chef vorbeikam, um nach dem Rechten zu sehen. Sie war ein Fuchs, kaum zu bändigen.

Im Laufe der Zeit füllte sich meine Zimmerwand mit den bunten Scheiben. Es machte mir nichts aus, dass er die Platten aus den Hüllen nahm, mit seinen breiten, festen Händen auf die Rillen tatschte und sie wie tote Schmetterlinge an die Wand pikte. Die meisten Platten wollte ich sowieso nicht abspielen, und an der Wand sahen sie gut aus. Ich fühlte mich wie ein Musikproduzent, der seine Trophäen ausstellte.

Meiner Mutter brachte er von seinen Dienstreisen jedes Mal einen besonderen Blumensamen mit, den er in eine kleine Schatulle steckte, genau an die Stelle, an der normalerweise ein Ring blinkte. Meine Mutter öffnete die Schatulle stets so gespannt, als erwartete sie Perlenohrringe oder ein Collier, drehte dabei verschämt ihr rechtes Bein am Boden von innen nach außen, sprang in die Höhe, klatschte in die Hände, fiel meinem Vater in die Arme und lehnte ihren Kopf an seine Brust, damit er sie nur noch zu umarmen brauchte, damit die Sonne ein weiteres Mal aufging. Die Samen pflanzte meine Mutter in Blumentöpfe aus Plastik, Keramik oder Blech, die überall verstreut im Wintergarten lagen. Die Samen, die schon gekeimt hatten und zu Pflanzen geworden waren, stellte sie im Sommer nach draußen an den Swimmingpool oder pflanzte sie in seine Nähe. Er war eine richtige Oase mit einem Ginkgobaum, einer Trauerweide, einer Blutbuche, Stachelbeersträuchern und Lavendel. Die Mütter meiner Freunde sagten, unser Garten sähe typisch französisch aus. Ich wusste nicht genau, was sie damit meinten. Ich wusste nur, dass es ein Kompliment war, weil alles, was französisch war, für die Leute irgendwie gut war.

Dass sich zwischen meinen Eltern etwas verändert hatte, spürte ich zum ersten Mal an dem Tag, an dem mein Vater mir aus London eine Tasse mit der Queen drauf mitbrachte und meiner Mutter einen Blumenstrauß. Ich hörte den Schlüssel im Schloss, das Klicken des Gestells am Rollkoffer, das eingefahren wurde − und danach eine Weile nichts. Irgendwann wurde die Toilettenspülung gezogen, und ich sah, wie mein Vater hinaus zum Swimmingpool ging, die Hand wie ein Kellner auf den Rücken gelegt, den Blumenstrauß fest im Griff. Ich saß am Tisch im Wintergarten und schaute durch die großen Scheiben nach draußen. Meine Mutter legte gerade ihre Handflächen auf den Rand des Beckens, nahm Schwung und stemmte sich nach oben, drehte sich in der Luft um ihre eigene Achse, setzte ihren Po am Beckenrand ab, sodass nur ihre Füße im Wasser waren, und erhob sich dann zu meinem Vater, der stumm vor ihr stand. Meine Mutter strahlte ihn an, aber sie lächelte nicht. Und die Sonne, die sonst immer da gewesen war, schien verhalten hinter einer Wolke hervor, die ihr das Licht nahm. Ich weiß noch, dass ich dasaß und mir diese Szene, die sich vor mir abspielte wie im Kino, endlos vorkam, dass ich sie ankurbeln wollte, damit alles wieder so würde wie sonst. Mein Vater drehte sich zu mir um, als wüsste er, dass ich ihn beobachtete, und sah mich lange an. Er war noch nie ohne quadratische Plastiktüte und ohne Schatulle in der Hand von einer Dienstreise nach Hause gekommen. Nie hatte er es sich verkniffen, mich raten zu lassen, welche Farbe er wohl dieses Mal ergattert hatte. Gemeinsam hatten wir eine Stelle an der Wand in meinem Zimmer ausgesucht, was in all den Jahren immer schwieriger geworden war. Und jetzt stand mein Vater dort im Schatten, winkte mich zu sich und übergab mir die Queen.

 

 

4

 

Die alte Schedel sitzt auf dem Sofa und starrt auf den brüllenden Fernseher. Ein junger Mann küsst gerade eine junge Frau mit viel Ausschnitt vor einer Bergkulisse. Hinter dem Paar steht ein anderer junger Mann mit einem Gewehr in der Hand und brüllt wie ein Ochse. Es dröhnt in meinem Kopf, während ich mich neben die alte Schedel setze und darauf warte, dass sie meine Hand nimmt und sie tätschelt, so wie immer. Der junge Mann mit dem Gewehr zielt mit hochrotem Kopf auf den anderen jungen Mann. Die Frau mit viel Ausschnitt löst sich von ihrem Geliebten, gibt einen erschrockenen Laut von sich und schlägt die Hände vor die Brust, als sich der Schuss aus dem Gewehr löst und ihren Geliebten mitten ins Herz trifft. Ich greife in meine Hosentasche und ziehe die Packung Karamellguttis hervor, die ich der alten Schedel mitgebracht habe. Sie liebt Bonbons, sie liebt Zucker, besonders wenn er zwischen den Zähnen knirscht. In das Glas für ihre Dritten schmeißt sie jeden Abend eine Reinigungstablette mehr rein als nötig. Damit sie überhaupt noch sauber werden und um ihre Tochter zu ärgern, die jeglichen Verbrauch der alten Schedel penibel kontrolliert.

Die alte Schedel grinst mich an, zeigt mir ihre künstlichen Zähne, greift nach den Bonbons und streichelt mir endlich über die Hand. Sie hat ganz weiche Haut. Nicht so ledrig wie die vom Ostermann. Eher samtig, fast durchsichtig. Jede Vene und noch so kleine Arterie schimmert blau hindurch. Ihre Fingernägel aber sind groß und gelblich und gebogen. Wie bei einem Tier. Sie passen nicht zu der feinen Hand, die sich anfühlt, als ob sie fast ein Jahrhundert lang nur die Tasten eines Klaviers berührt hätten. Eine Weile sitzen wir nebeneinander und schauen uns den Abspann der Sendung an. Die alte Schedel braucht ihre Zeit, um aufzutauen. Am Anfang sagt sie nie viel. Später dafür umso mehr. Auch wenn sie nicht mehr so aussieht, für ihre neunzig ist sie im Kopf noch erstaunlich fit.

Die Abspannmusik wummert durch das unerträglich stickige Dachgeschoss. Ich spüre den Bass am Boden durch meine Fußsohlen hindurch. Die alte Schedel aber sitzt da, als lausche sie dem Zwitschern eines entfernten Vogels. Wiegt dabei leicht den Kopf hin und her. Als endlich die Werbung eingeblendet wird, stehe ich auf und schalte den Fernseher aus. Es wird Zeit, die alte Schedel zu waschen und in den Garten zu tragen, raus an die frische Luft.

Zur Dusche schafft sie es alleine. Schritt für Schritt schlurft sie durch das Zimmer. Ich helfe ihr aus der Bluse und der grauen Strickjacke mit dem riesigen goldenen Knopf, ziehe ihr auch das Unterhemd aus, das schon leicht verschlissen ist. Sie tut immer etwas beschämt, aber ich weiß genau, dass sie es genießt, gewaschen zu werden. Im Bad, das so klein ist, dass wir gerade so hineinpassen, gibt es zwei Waschlappen. Einen kleinen hellblauen fürs Gesicht und den Oberkörper. Einen großen rosafarbenen für Füße, Beine und den Intimbereich. Auf dem Waschlappen für untenrum ist ein kleines Schwein eingestickt, das auf einem Sprungbrett steht, kurz davor, ins Becken zu springen, in dem ein weiteres Schwein mit einer Schleife auf dem Kopf planscht. Beim Anblick des Waschlappens muss ich daran denken, wie mein Vater den Swimmingpool für meine Mutter bauen ließ. Meine Mutter vermisste das Meer. Sie vermisste es, morgens zum Strand zu laufen und in die Wellen zu steigen. Bis zur vierten Boje zu schwimmen und wieder zurück. Sie hatte es mehrmals beim Frühstück erwähnt und dabei selig in die Ferne geguckt. Eines Tages war mein Vater in mein Zimmer gekommen und hatte gesagt: »Adam, wir müssen deiner Mutter einen Swimmingpool bauen, damit sie das Meer nicht mehr vermisst.«

Mein Vater plante, und ich zeichnete seine Ideen auf. So hatten wir das oft gemacht, als ich klein war und mein Vater mit mir Architekt gespielt hatte. Sein Lieblingsspiel – und ich hatte nichts dagegen gehabt. So waren viele dreieckige Häuser auf Stelzen entstanden, Hochhäuser mit Rutschbahnen statt Aufzügen und Baumhäuser so groß wie Einfamilienhäuser.

»Wir haben genug Platz für die Länge«, sagte er. »Fünfzehn Meter müssen es schon sein, sonst kann sie ihre Bahnen nicht richtig ziehen. Nur mit der Breite haben wir ein Problem. Der Garten steigt im Westen leicht an und fällt im Osten ab. Das müssten wir begradigen lassen, aber das ist viel zu viel Aufwand.«

»Und wenn wir den Swimmingpool nur so breit machen, wie sie für ihre Arme braucht?«, fragte ich, und mein Vater legte den Kopf zur Seite.

»Das ist eine interessante Idee. Wer sagt denn, dass Swimmingpools immer so aussehen müssen, wie sie aussehen! Also, deine Mutter ist eins fünfundsechzig groß. Nach Leonardo da Vinci oder wem auch immer müsste die Armspanne deiner Mutter dann ungefähr genauso weit sein. Nur für den Fall, dass sie mal nicht krault, sondern brustschwimmt. Es müsste also reichen, wenn wir den Pool zwei Meter breit machen. Sagen wir zwei Meter fünfzig. Dann müssen wir auch nichts begradigen lassen. Das ist wirklich eine gute Idee, Adam. Zeichne auf: Fünfzehn Meter in der Länge und zwei Meter fünfzig in der Breite. Und drum herum haben wir noch Platz für ein paar Kacheln, auf denen sie sich sonnen kann.«

Die Kacheln wurden blutrot. Im Swimmingpool und außen. Ein roter Swimmingpool, das gefiel meinem Vater.

»Rotes Wasser! Rot passt hervorragend zu deiner Mutter.«

Zwei Monate später war von der Baustelle nichts mehr zu sehen außer einem kniehohen Turm überzähliger Fliesen, der am Rand des Beckens stand. Vom Wintergarten aus hatte man den besten Blick auf den Pool, der sich wie eine Laufbahn in den Garten erstreckte und im Süden bis zum Ginkgobaum reichte. Im Herbst segelten die gelben Blätter ins Wasser. Ich fischte sie mit dem großen Kescher heraus und sammelte sie in Säcken, die ich in die Garage stellte. An Weihnachten trug ich alle Blätter, die ich den Herbst über zusammengesammelt hatte, in den Garten zu dem kleinen Erdloch, das ich jedes Jahr an Heiligabend mit meinem Vater zwischen Wintergarten und Pool aushob. Mein Vater stellte drei Campingstühle um das Loch, ich befreite es von Schnee, wenn denn welcher lag. Dann stopfte ich die Blätter in das Loch, zusammen mit etwas Zeitungspapier, Reisig und ein paar Holzscheiten, und zündete alles an. Es gab nichts Schöneres für mich an Weihnachten, als mit meinem Vater und meiner Mutter eingewickelt in Decken um das kleine Feuer zu sitzen und dem Knistern der Blätter und dem Knacken des Holzes zuzuhören. Und meiner Mutter, die zu den Akkorden, die ich auf der Gitarre spielte, Ring of Fire sang, was bei ihr wie ein französisches Chanson klang.

 

Ich tauche den Waschlappen in eine kleine Plastikschüssel mit lauwarmem Wasser und Seife und fahre der alten Schedel damit über den dürren Rücken. Sie hält sich mit der rechten Hand am Griff fest, der extra dafür an der Wand angebracht worden ist. Wenn sie so dasteht, leicht nach vorne gebückt, den Kopf nach unten gerichtet, kommt jeder Wirbel einzeln zur Geltung. Sie wirkt noch zerbrechlicher als sonst. Wie ein ausgehungertes Kind, das für sein Alter viel zu viel erlebt hat.

Sie riecht nach alter Zeitung. Ich streiche vorsichtig mit dem Waschlappen über ihre Wirbelsäule, fahre jede einzelne Erhebung langsam ab, wasche sie unter den Armen, zwischen den Beinen. Säubere ihre Füße. Einen nach dem anderen. Ganz vorsichtig. Die Seife riecht zitronig und vertreibt ein wenig den alten Zeitungsgeruch, der zwischen dem Duschvorhang und der Armatur festzuhängen scheint. Die alte Schedel hält die Augen geschlossen, während ich sie wasche, die eine Hand fest um den Haltegriff, die andere an der Wand links neben ihr. Es strengt sie an, aber sie beschwert sich nicht. Nur manchmal, wenn ich mich ihrer Hüfte nähere, stöhnt sie auf. Ganz leise. Schwer auszumachen, ob sie vor Anstrengung stöhnt oder weil es ihr gefällt, wenn ich ihr um die Hüfte streiche.

Später trage ich sie die drei Stockwerke hinunter auf die Terrasse und setze sie auf die gepolsterte Sonnenliege vor dem Kräuterbeet. Die alte Schedel friert ständig. Selbst wenn es draußen so heiß ist wie im Backofen. Deswegen nehme ich aus dem Wohnzimmer zwei Decken vom Sofa mit. Eine lege ich ihr um die Schultern. In die andere wickele ich ihre Füße. Dann fahre ich die Markise aus und gehe in die Küche, um etwas zu trinken zu holen. Als ich gerade wieder aus der Terrassentür treten will, sehe ich, wie das Mädchen in den knappen Jeans und dem roten Shirt, das ich schon erfolgreich verdrängt hatte, vor der alten Schedel kniet und mit ihr spricht. Ich mache einen Schritt zurück und beobachte die beiden durch die Fensterscheibe. Sehe, wie das Mädchen die Decke zurechtzupft, wie sie die Hand auf das Knie der Alten legt und dabei fröhlich lacht. Aus dem Lachen heraus hebt es plötzlich den Kopf und blickt mir durch die Fensterscheibe direkt ins Gesicht. Ertappt tue ich so, als würde ich eben erst aus der Küche kommen, hebe verlegen die Hand zum Gruß und gehe ins Freie.

Das Mädchen stellt sich mir als Tina vor und sieht so schön aus, dass ich ganz nervös werde. Ich bin mir nicht sicher, wie alt sie ist. Vielleicht ein bis zwei Jahre jünger als ich, sechzehn oder siebzehn. Vielleicht auch zwanzig oder erst fünfzehn. Bei Mädchen weiß man das ja nie so genau. Ihre Jeans hören knapp unterhalb ihres Hinterns auf. Dort, wo die Hosentaschen sitzen, ist der Stoff zum Teil ganz dünn und zieht weiße Fäden. Sie nimmt mir das Wasserglas aus der Hand und stellt es neben der alten Schedel ab.

»Spielst du mit mir eine Runde Tischtennis?«, fragt Tina und dreht sich sofort um, als hätte ich ihr schon geantwortet. Sie springt über den kleinen Kräutergarten und geht auf die Tischtennisplatte zu, die neben einem großen Baum im Schatten steht. Ich folge ihr, begleitet von aufmunterndem Zwinkern der alten Schedel. So richtig schlau werde ich aus der alten Dame nicht. Bis ich sie gewaschen und in den Garten hinuntergetragen habe, spricht sie kaum ein Wort mit mir. Später, wenn ich sie wieder hinauftrage, wird sie mir das Ohr abquatschen. Es ist fast so, als sei ihr Sprachzentrum für eine gewisse Zeit auf Stand-by. Was die Stand-by-Taste löst, habe ich bislang nicht herausgefunden.

Tina bleibt vor der Tischtennisplatte stehen und bückt sich, um den kleinen gelben Ball aufzuheben, der im Gras liegt. Ich kann sehen, dass sie eine weiße Unterhose trägt. Mit schwarzen Punkten drauf. Ich bin aufgeregt und nehme mir vor, die Bälle übers Netz zu schlagen wie ein Profi. Nicht zu fest, aber doch so, dass sie bemerkt, dass ich ein Könner bin. Bälle, die mal links, mal rechts aufkommen, mal knapp vor dem Netz, mal nah am Rand der Platte. Aber je mehr ich mich anstrenge, desto mehr Fehler mache ich, während Tina einen Punkt nach dem anderen landet und dabei mit ihrer merkwürdig tiefen Stimme, die gar nicht zu ihrer zierlichen Figur passt, lacht. Bei elf zu drei legt sie die Hand auf die Tischplatte, knickt ihre Hüfte ab, beugt sich leicht nach vorne und sagt: »Na, Tischtennis ist wohl nicht so dein Ding.« Ich bin froh, dass sie mich nur deswegen aufzieht und nicht, weil sie mich beinahe beim Pickelquetschen erwischt hat. Doch dann grinst sie, und in der Art, wie sie die Mundwinkel nach oben zieht, kann ich sehen, dass sie genau daran denkt und noch dazu Freude hat, es mir mit ihrem blöden Grinsen zu zeigen. Für einen Moment will ich glauben, dass sie gar nicht so hübsch ist. Dass sie mit den kurzen Haaren aussieht wie ein Junge. Dass ihre Nase viel zu groß ist und die blonden Wimpern ziemlich komisch aussehen. Aber es gelingt mir nicht. Weil mir alles an ihr gefällt, und weil sie sich nach dem Ball in der Wiese bückt und mir bei der Gelegenheit noch einmal ihre gepunktete Unterhose zeigt, die mich rot werden lässt. Als sie sich wieder aufrichtet, sieht sie mich fordernd an, während ich stumm bleibe und mich nicht von der Stelle rühre. In ausweglosen Situationen nichts zu machen und traurig zu schauen ist zumindest Toms Theorie. Also zucke ich nur mit den Schultern senke den Kopf ganz leicht, konzentriere mich einige Sekunden auf das Netz der Tischtennisplatte, als würde ich nachdenken, hebe dann wieder langsam den Kopf in ihre Richtung und sage leiser, als ich sonst sprechen würde, dass ich jetzt dringend losmüsse, dass ihre Uroma schon lange genug auf der Terrasse auf mich gewartet hätte und bestimmt gleich einen Sonnenstich bekäme, wenn ich mich nicht um sie kümmerte. Ich lege den Tischtennisschläger auf die Platte, entferne gespielt gedankenversunken ein paar Blätter, die vom großen Baum heruntergesegelt sind, stecke die andere Hand in die Hosentasche und schlendere, das Kinn wieder leicht gesenkt, in Richtung Terrasse. Dabei zähle ich leise von zehn rückwärts und hoffe, dass Tina mir bei drei etwas hinterherruft. Irgendetwas. Bei fünf angekommen, stolpere ich über die Stufe zur Terrasse und falle auf die Knie. Es tut höllisch weh. Ausgerechnet der einzige spitze Stein weit und breit musste sich in meine Kniescheibe bohren. Als der Schmerz einigermaßen verflogen ist, blicke ich mich verstohlen um. Tina liegt im Liegestuhl, die Beine übereinandergeschlagen, und hält ein Buch in der Hand. Ich sehe nur ihren Rücken, der den rot-weiß gestreiften Stoff des Liegestuhls wölbt, ihre kurzen, fast weißen Haare, die über den Holzrand des Stuhls hervorschauen, und ihren Arm mit dem Buch, den sie weit von sich nach rechts ausgestreckt hält, als könnte sie die Buchstaben nur aus der Ferne lesen.