Cover

 

 

 

Am Ende die Zeit

 

VON

DANIELA TETZLAFF

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Über die Autorin

1. Buch – Sternenliebe

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

2. Buch - Sternenzorn

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

3. Buch – Sternentod

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Danksagung

Impressum

 

Daniela Tetzlaff

Am Ende die Zeit

 

ISBN Print:

978-3-946376-37-8

ISBN eBooks:

978-3-946376-38-5 (ePub)

978-3-946376-39-2 (mobi)

 

© 2017 Lysandra Books Verlag (Inh. Nadine Reuter)

Overbeckstraße 39, 01139 Dresden

www.lysandrabooks.de

 

Coverdesign/Umschlaggestaltung: © 2017 Fabian Santner

verwendetes Bildmaterial: www.depositphotos.com: Nr. 48187237 Healing63, 46493087 mvw@tut.by, 18215943 larrui, 7233116 Ivankmit, 2857404 EcoPic; shutterstock.com: 233184070 Sergey Nivens

Lektorat/Layout/Satz: Lysandra Books Verlag

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Lysandra Books Verlags ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für die mechanische, fotografische, elektronische und sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung - auch auszugsweise - durch Film, Funk, Fernsehen, elektronische Medien und sonstige öffentliche Zugänglichmachung.

 

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

Über die Autorin

 

Daniela Tetzlaff, geboren 1980 in Braunschweig, lebt mit ihrem Mann, zwei Kindern, Hund und Katze auf dem Land, genau zwischen Hamburg, Bremen und Hannover.

Wenn sie nicht gerade schreibt, Kaffee trinkt, zockt oder Serien durchsuchtet, lässt sie sich gern auf Musikfestivals in der Menge herumschubsen. Sie liebt den Geruch neuer Bücher ebenso wie den Duft gebratener Zwiebeln und das Summen einer Tätowiermaschine.

1. Buch – Sternenliebe

Kapitel 1

 
Rufius

 

Der Wendepunkt der Zeiten stand bevor.

Lange hatte Rufius darauf gewartet. Konzentriert streifte er sich einen ledernen Armschützer über die Hand und band ihn am Unterarm fest. Gerade so stramm, dass er jederzeit an die dünnen Springmesser kommen würde, die sich in einem Riemen auf der Innenseite der Schützer befanden.

Die Zeit verging.

Rufius legte sich den schweren Gürtel um die Hüfte und zog den Gurt am Oberschenkel fest, um den Dolch daran zu hindern, während der Jagd unentwegt gegen sein Bein zu schlagen.

Sehr bald schon würde das letzte Blatt des immerwährenden Kalenders fallen und die alte Zeit vergehen.

Rufius überprüfte noch einmal den Sitz seines Dolches - ein vierzig Zentimeter langes Erbstück, dessen Knauf die goldene Sonnenbarke nachbildete, über der das Auge seiner Vorväter wachte. Auch den Sitz des Waffenriemens auf dem Rücken kontrollierte er noch einmal. Alles saß perfekt.

Die alte Zeit neigte sich unaufhaltsam dem Ende zu. Nur noch wenige Wochen blieben bis zum Zeitenwandel, und die neue Zeit forderte ihren Tribut. Doch Rufius war bereit - so bereit wie noch nie in seinem Leben.

Die Zeit verging.

Es würde einen Neuanfang geben, noch bevor das letzte Blatt des Kalenders fiel. Mit einem kräftigen Stoß von Rufius’ Klinge wäre die Zukunft gesichert. Nur ein Hieb und es wäre vorbei. Dafür hatte man ihn ausgebildet, dafür lebte er.

Rufius atmete noch einmal tief ein und wieder aus. Ein letztes Mal ließ er den Blick durch das Zimmer schweifen, in dem er die letzten Wochen gewohnt hatte: eine durchgelegene Matratze auf dem kalten Boden, ein Röhrenfernseher daneben, und einige leere Dosen Königsberger Klopse - sonst nichts. Er würde nichts vermissen. Zum einen, weil er sowieso nur zum Schlafen hier gewesen war, wenn überhaupt. Zum anderen, weil Rufius nie und nirgends ein Zuhause hatte. Er war immer nur dort, wo er gerade etwas Schlaf oder etwas Essbares finden konnte. Sein Hab und Gut trug er am Leib, seine große Liebe galt frischen Frikadellen, und von Bedeutung war einzig und allein seine Mission. So war es schon immer gewesen und so war es gut. Rufius war ein Streuner, ein Weltenbummler mit Leib und Seele.

Als Rufius den alten Drehschalter neben der Tür betätigte, erlosch das letzte Licht im Haus und er stand im Dunkeln. Ein seltsamer Schauder lief ihm über den Arm und bescherte ihm eine Gänsehaut. Das Ausknipsen der Glühbirne, die nackt von der Zimmerdecke hing, war wie ein Vorbote, ein Vorgeschmack auf das, was kommen musste. Es war so einfach, das Licht zu löschen. Es brauchte dazu nicht mehr als eine halbe Drehung seiner Hand. Wie bei jeder alten Glühbirne schien auch diese für den Bruchteil einer Sekunde heller zu werden, ein allerletztes Aufbäumen, bevor das dünne Drähtchen in ihrem Inneren nur noch ein Glimmen zustande brachte. Dann verlosch auch dieses Licht und hinterließ nur Dunkelheit.

Die Zeit verging.

Doch wäre das nicht das Ende der Glühbirne. Jetzt war sie tot, aber eines Tages würde sie wieder leuchten. Sie würde glühen, brennen. Die Matratze wäre dann verschwunden, ein Sofa, ein Bett, ein Tisch würden den Raum ausfüllen. Die zerfetzten Tapeten würden durch neue ersetzt werden und vielleicht würde die Glühlampe einen Lampenschirm bekommen. Oder man hielt sie für alt und Energie verschwendend. Dann würde man sie in eine Kiste legen, für schlechte Zeiten. Oder man würde die Birne entsorgen, woraufhin sie eingeschmolzen und zu etwas Anderem, etwas Neuem würde. Wie auch immer: Die Welt würde sich verändern, sehr verändern sogar. Der Tod der Glühbirne sollte nur einen Augenblick dauern. Danach würde sie weiterleben.

Rufius schloss die Wohnungstür so hingebungsvoll bewusst, wie er es immer tat, wenn er eine Tür seines Lebens schloss, um eine andere zu öffnen. Dann trat er in die kühle Nacht hinaus, seinem Schicksal entgegen. Mehr noch – dem Schicksal der ganzen Welt. Er war der Auserwählte, der Killer im Auftrag des Lebens. Und das allein war es, was es zu schützen galt: das Leben. Ein Leben würde er opfern müssen, als Preis für das Überleben aller. Nein, das war kein Preis – es war ein Schnäppchen.

Die Zeit verging.

Mit der Zeit verhielt es sich sehr eigenartig. Sie war relativ.

Afflictis lentae, celeres gaudentibus horae, sagten schon die alten Römer: Den Bekümmerten vergeht die Stunde langsam, rasch den sich Freuenden.

Während sie für die Glücklichen nur so voranpreschte, verfing sich die Zeit in den Herzen derer, die warteten. In den Armen der Liebenden verkochte sie so schnell, dass die Nacht sich neigte, noch bevor ihre Lippen einander verließen. An lauen Sommerabenden mit Freunden und Bier verpuffte die Zeit im atemlosen Rhythmus der Musikbässe. Und sie verhallte, schneller als der Schall eines Kinderlachens, noch bevor man begriff, dass das Kind bereits selbst Kinder hatte. Nur die Glücklichen fragten: Wo ist nur die Zeit geblieben? Eine Frage, die ein Suchender, ein Wartender oder ein Lauernder nie stellen würde.

Eine Frage, die auch Rufius nie stellen würde.

Für den Suchenden, den Wartenden und den Lauernden verging die Zeit wie zähflüssiger Teer, den sie verzweifelt aus einer Honigflasche zu quetschen versuchten. Doch je mehr sie an der Zeit drückten, sie drängten und flehten, sie solle endlich vergehen, umso unnachgiebiger wurde sie.

Für Rufius war die Zeit ein steter Tropfen, der langsam einen Felsen aushöhlte, den Stein zu einer leeren Hülle machte, gefühllos, kalt und unberechenbar. Die Zeit, die für andere verflossen war, ob als stilles Bächlein, oder als ein reißender Strom, zog sich für ihn hin, als wäre jedes seiner neunzehn Lebensjahre ein ganzes Jahrzehnt. Sein Herz hatte neunzehn Jahre lang geschlagen, sein Blut war neunzehn Jahre lang durch seine Adern geflossen. Rufius’ Gedanken allerdings waren so vielschichtig und komplex, so hart und unnachgiebig wie tausendfach gefalteter Stahl, sodass sie für ein ganzes langes Leben gereicht hätten.

Er hatte so viel lernen müssen.

Er hatte so viel kämpfen müssen.

Er hatte so viel warten müssen.

Doch das war bald vorbei.

Das Warten hatte ein Ende.

Das Lauern hatte ein Ende.

Das Suchen hatte ein Ende.

Die Zeit hatte ein Ende.

Es war Zeit für eine neue Zeit.

Die Straße lag wie leergefegt vor ihm. Rufius hob den Kopf, sog die kalte Herbstluft ein, als würde er Witterung aufnehmen. Doch das konnte er nicht – schließlich war er kein Hund! Am pechschwarzen Himmel war nicht ein einziger Stern zu sehen, als er sich in Bewegung setzte. Im Licht der Straßenlaterne glänzte der Fußweg feucht von einem noch vor wenigen Minuten niedergegangenen Schauer.

Das, was Rufius an Geruchssinn fehlte, glich er mit Leichtigkeit durch ein vortreffliches Gehör wieder aus. Neben dem Plitsch-Platsch seiner Schritte hörte er, wie ein anderes Geräusch die sonst stille Straße mit Leben erfüllte. Schritte, schwerer als seine eigenen. Er wurde verfolgt, das spürte er sofort. Und die Schritte kamen schnell näher.

Doch Rufius hatte Zeit.

Er glich seine Schritte denen seines Verfolgers an. Da dieser noch immer aufholte, schlussfolgerte Rufius, dass der andere längere Beine haben musste als er selbst.

Schwerer und größer? Das dürfte interessant werden.

Rufius verspürte keine Angst bei der Aussicht auf einen offenen Kampf. Es beunruhigte ihn nur, dass allem Anschein nach jemand darauf bedacht war, ihn von seinem Auftrag abzuhalten. Doch wenn er seinen verdammten Job nicht erledigte, würde alle Zeit vergehen und die Welt wäre dem Untergang geweiht. Wer sollte das wollen?

Er beschleunigte seinen Gang wieder und bog um eine Häuserecke, um im Schatten des Gebäudes zu warten. Sein Verfolger schnaubte. Rufius grinste in sich hinein. Man hatte ihm also nicht nur einen sehr großen und sehr schweren, sondern auch einen sehr schwerfälligen Gegner geschickt, warum auch immer. Netter Versuch - beinahe ein wenig kränkend. Bisher war er davon ausgegangen, dass man ihm mehr zutrauen würde.

Der Kerl – ein hybrides Mischwesen, halb Mensch, halb Stier – bog keuchend um die Ecke. Der Hybride hielt kurz inne, als er Rufius nicht mehr sah, schabte wütend mit dem Fuß und lief weiter, geradewegs an Rufius vorbei.

Groß, fett, schwerfällig und dümmer als ein Stück Brot.

Beleidigt trat Rufius aus dem Schatten und stellte sich auffordernd mitten auf den Weg. Nur kurz überlegte er, seinen Dolch zu ziehen, ließ es dann aber bleiben. Es machte mehr Spaß, wenn die Klinge da blieb, wo sie steckte.

Rufius pfiff kurz und laut, als würde er einen Hund rufen. „Hey! Apis! Verdammt, was versuchst du da? Etwa mir hinterher zu schleichen? Bist etwas schwer dafür, merkst du selbst, oder? Du bist so leichtfüßig wie ein Elefant auf Stelzen.“

Abrupt blieb der gehörnte Bulle stehen und drehte sich so schnell um, wie sein massiger Körper es zuließ. Aus seiner riesigen, breiten Nase prustete er wütende Atemwolken in die kalte Herbstluft: „Apis schleicht nicht. Apis tötet.“

Rufius versuchte, ein Auflachen zu unterdrücken: „Jetzt im Ernst, was willst du wirklich?“

„Apis tötet Katzenmensch für Meister. Apis immer alles macht für Meister. Apis dich jetzt töten.“

Rufius konnte es nicht fassen. Es wollte tatsächlich jemand, dass die Zeit ablief. Dieser Jemand hatte aber offensichtlich keine Ahnung, dass es mehr brauchte als Apis, um ihn aufzuhalten.

Das stierähnliche Wesen setzte sich mit gesenktem Kopf schwerfällig in Bewegung, gewann dann aber schnell an Geschwindigkeit und damit auch an Kraft. Rufius blieb ruhig, fixierte seine Beute und wartete geduldig ab.

Sekunden tropften wie zähflüssige Minuten. Erst im letzten Augenblick drehte er sich wie ein Matador zur Seite, um Apis’ messerscharfen Hörnern auszuweichen. Gleichzeitig fuhr Rufius seine Krallen aus und versetzte dem Bullen einen kräftigen Hieb auf die Schulter. Der Hybride brüllte vor Schmerzen und bremste taumelnd, nur um dann umzukehren und einen erneuten Versuch zu starten, Rufius aufzuspießen.

„Sag mal, Apis, wie kommt es eigentlich, dass du so dumm bist?“, stichelte Rufius, ohne ihn aus den Augen zu lassen. „So einen riesigen Schädel und doch hast du so ein winziges Hirn! Du kannst mich nicht besiegen, das muss dir doch klar sein? Du bist viel zu langsam für mich!“

Nun sah Apis rot und raste auf ihn zu. Rufius bemerkte die Finte zu spät, mit der der Bulle sein erneutes Ausweichmanöver beantwortete. So krachte der massige Körper seines Gegners ungebremst in ihn, erwischte Rufius an der Schulter und riss ihn mit zu Boden. Rufius keuchte, als der Muskelberg auf seiner Brust landete. Jetzt wünschte er sich, doch den Dolch gezogen zu haben – oder den Diskus, oder wenigstens die Wurfmesser.

Die gigantischen Hände des Bullen griffen nach Rufius’ Kehle und drückten ihm die Luft ab. Sein Herz hämmerte im Adrenalinrausch. Verzweifelt scharrte Rufius mit seinen schweren Stiefeln über den Asphalt, zappelte wie ein Aal an der Angel. Er versuchte krampfhaft, den Griff um seinen Hals zu lösen, doch die Hände seines Gegners bewegten sich nicht einen Millimeter. Rufius wurde erst rot, dann schwarz vor Augen. Aber er kannte den Tod und er kannte das Sterben. Deshalb wusste er, dass er noch Zeit hatte.

Eine Sekunde dehnte sich, retardierte, spannte sich wie die Sehne eines Bogens. Zeit genug, um den kompletten Überlebensinstinkt aufzugeben und entgegen seinem natürlichen Drang zu handeln. Rufius hörte einfach auf, die Hand des Bullen wegdrücken zu wollen. Sogleich verstärkte sich der Druck auf seine Luftröhre. Ehe ihm doch die Sinne schwanden griff Rufius nach unten und bekam etwas zu fassen. Er drückte seine Finger ins kräftige Rippenfleisch seines Gegners.

Die Sekunde verging und er fuhr blitzschnell seine Krallen aus, die sich tief in das schweißnasse Fleisch des Stierwesens arbeiteten, als wären es zehn kleine spitze Messer. Sofort löste sich die Hand von seinem Hals. Rufius sog gierig die Luft ein. Sein Hirn wollte explodieren, so groß war dessen Freude über den Sauerstoff.

Apis schrie wie eine Kuh am Grillspieß und bäumte sich auf. Rufius’ Linke traf mit ihren messerscharfen Krallen mitten ins Auge. Ein Ruck und die Haut des Bullen hing bis zum riesigen Nasenflügel in zwei Streifen aus dessen Gesicht. Brüllend vor Schmerz taumelte Apis rückwärts und krachte auf sein Hinterteil.

Rufius rang nach Luft und hustete. Seine Lunge rasselte, als läge sie in schweren Eisenketten. „Aufstehen! Steh`auf!“, zwang er sich in der nächsten Sekunde.

Doch zu spät. In seiner Raserei stieß der Hybride mit dem Kopf in Richtung Asphalt, die Hörner zielten genau dorthin, wo Rufius lag. Er rollte blitzschnell zur Seite, dann donnerte das rechte Horn auch schon neben ihm auf den Boden und zerbarst wie eine Keramikvase, soviel Kraft hatte der Bulle in den Schlag gelegt.

Rufius sprang so schnell auf die Beine, wie sein unterversorgtes Hirn es zuließ. Apis versuchte es ihm gleichzutun, doch der war viel zu schwer für solch ein behändes Manöver. Mit einer Mischung aus Wut und Entsetzen starrte er Rufius mit seinem verbliebenen Auge an. Es war nicht groß genug für den gewaltigen Körper. Kein Kuhauge. Menschlich und hellblau. Aus der verletzten Augenhöhle troff eine ekelerregende Mischung aus Blut und einer Art durchsichtigem Gelee.

Keuchend stützte sich Rufius auf die Knie. Sein Körper bebte vor Anstrengung.

„Wer ist dein Meister, Apis Erbsenhirn? Wer hat dich in den Tod geschickt?“

„Meister von Apis hat Apis geschickt.“

Rufius verdrehte die Augen. Erbsenhirn war wohl noch untertrieben. Aus dem würde er keine brauchbare Information bekommen, soviel war klar. Also holte Rufius ein letztes Mal aus, dann bohrten sich seine Krallen in den sehnigen Hals des Ungetüms, tiefer und tiefer. Ein kurzes Zucken und er hatte Apis die Kehle zerrissen. Der Bulle gab ein seltsames Gurgeln von sich, sein eben noch entsetzt dreinblickendes Auge brach. Krachend fiel der leblose Körper zu Boden.

Rufius atmete konzentriert ein und aus. Nachdem er seine Schmerzen weggeatmet hatte und das Blut aus Apis' Kehle provisorisch von seiner Hand gewischt hatte, sprintete er los.

Doch nur kurz. Rufius fühlte, dass er beobachtet wurde.

Er war noch immer nicht allein.

Dieses Mal zog Rufius seinen Dolch und suchte den pechschwarzen Himmel ab. Er suchte nach etwas, was noch dunkler war, als der Himmel in dieser Nacht. Kein menschliches Auge hätte es gesehen. Doch Rufius sah es. Es war eher eine Bewegung, die er ausmachte. Ein Schatten, rabenschwarz vor pechschwarzen Wolkentürmen.

Nun wusste er, wer Apis geschickt hatte. Nun kannte er seinen Widersacher. Und es gefiel ihm nicht.

Es gab nicht viele Gründe, die IHN dazu bringen konnten, sich einzumischen. Verhindern zu wollen, dass Rufius seinen Auftrag ausführte. Und keiner dieser Gründe konnte ein guter sein, dessen war Rufius sich sicher. Doch andererseits war es ein eher halbherziges Unterfangen gewesen, ihm nur den Bullen auf den Hals zu schicken. Vielleicht war es nur eine Drohung? Ein Warnschuss? Doch was sollte ER damit bezwecken?

„Sag deinem Meister, dass er mich nicht aufhalten wird!“, brüllte Rufius in den Himmel. „Ich werde meinen Auftrag erfüllen und die Sternentochter den ihren. Aetas volat! Die Zeit fliegt und der Stern wird fallen, so wie es vorherbestimmt ist. Wir werden unseren Tribut zahlen! Ihr könnt nichts dagegen tun!“

Ein empörtes Krächzen ertönte, doch der Angriff blieb aus. Da oben hatte sich nur ein Bote herumgedrückt. Ein Beobachter. Rufius steckte seinen Dolch zurück und sah zu, wie der Rabe davonflog, um seinem Meister von Apis' Niederlage zu berichten.

Flieg nur.

Bis du deinem Herrn berichtet hast, ist der Stern schon tot.

 

 

Kapitel 2

 
Luma

 

Ein Schrei.

Er durchbrach die morgendliche Ruhe wie ein Düsenjet die Schallmauer. Der Schrei riss Luma aus dem Schlaf.

Benebelt fuhr sie hoch und sprang aus dem Bett. Der Traum hallte in ihrem Kopf wider, wie ein Echo, das einfach keine Ruhe geben wollte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie bemerkte, dass das Schwindelgefühl in ihrem Schädel daher rührte, dass sie keine Luft holte. Sie holte keine Luft, weil sie es war, die geschrien hatte. Und weil sie noch immer schrie.

Luma hörte, wie ihre Zimmertür aufgestoßen wurde, und fühlte, wie jemand sie an den Schultern packte und ihr die schweißnassen Haare aus dem Gesicht strich: „Sieh mich an, Luma, sieh mich an!“

Keuchend holte sie endlich Luft und versuchte ihren Augen zu befehlen, der Stimme zu folgen. Doch die Bilder ihres Traumes brachen unaufhörlich über sie hinein, wie die peitschende Gischt einer Sturmflut gegen einen maroden Deich: Die Erde geht in Flammen auf. Feuer, Blut, tote Menschen und Tiere überall. Verbrannte Felder, von weißer Asche bedeckt, der Boden reißt auf, Berge zerspringen, als wären sie aus Glas. Häuser, große Städte, nicht mehr als zerfetzte Gerippe aus Beton und Stahl. Sogar die Luft brennt.

Jemand sprach zu ihr, in ihrem Kopf, in ihren Gedanken. Es waren nicht wirklich Worte. Es hörte sich an, als wenn der Wind flüsterte: „Aetas volat!“

Luma schlug wild um sich, doch sie wurde festgehalten und an eine Brust gedrückt, langsam und beruhigend hin und her gewiegt: „Es ist alles gut, mein Schatz. Alles wird gut.“

Endlich.

Endlich schaffte Luma es, die Bilder in die hinterste Ecke ihrer Gedanken zu drängen, bis sich ihre Tränen lösen konnten. „Ich ... ich hatte wieder diesen Traum“, krächzte sie heiser. Ihre Stimme zitterte ebenso stark wie ihr Körper.

„Ich weiß, Neferu, ich weiß.“

„Aber warum? Warum träume ich so etwas? Es ... wirkt so real. Ich fühle, wie ich brenne und doch verbrenne ich nicht.“

Ihre Mutter Stella saß im neongelben Nachthemd auf dem Boden und hielt ihre schweißnasse Tochter im Arm. Mit heißen Händen streichelte sie Luma über die feuchte Wange.

Sie hatte wieder Fieber, das konnte Luma spüren. Ihre Mutter war sehr krank, schon immer. So sehr Luma auch gebettelt hatte, nie war ihre Mutter zum Arzt gegangen, stattdessen spielte Stella die unsägliche Hitze, die sie versprühte, immer nur herunter. Es ginge ihr gut, behauptete sie jedes Mal. Doch Luma sah ihr an, wie das Fieber an ihren Kräften zehrte.

So auch heute Morgen. Stella war blass und ihre Augen glänzten glasig. Kleine Schweißperlen hingen an ihren Lippen, trotzdem lächelte sie. Es war ein mütterliches Lächeln, warm und hoffnungsvoll, jedoch mit einer großen Portion Wehmut und ebenso viel Verzweiflung, die Stella vor ihrer Tochter nicht verbergen konnte, egal wie sehr sie sich darum bemühte.

Luma wusste, dass ihre Mutter ihr etwas verheimlichte. Seit einer Woche schon. Seit sie diesen Alptraum zum ersten Mal gehabt hatte: Aetas volat - die Zeit fliegt. Stella wusste etwas über diesen Traum, was sie ihrer Tochter nicht verraten wollte. Auch das Fieber war schlimmer geworden, als würden die Sorgen sie innerlich verbrennen. Und diese Tatsache ängstigte Luma mehr als der Traum selbst.

„Alles Gute zum Geburtstag, liebste Neferu-Re“, versuchte Stella sie auf andere Gedanken zu bringen und mit einem aufgesetzten Lächeln abzulenken.

Stimmt, da war ja was. Hatte sie doch glatt vergessen, dass heute ihr Geburtstag war. Sechzehn. Die magische Sechzehn. Luma hatte sich immer ausgemalt, wie es sein würde, endlich sechzehn zu sein. Fast erwachsen. Endlich länger ausgehen, in die guten Filme im Kino kommen, sich die Haare färben und ein Piercing stechen lassen, einen Freund für Stella finden ... endlich selber Freunde finden?

Sie hatte sich fest vorgenommen, mit sechzehn einen Neuanfang zu starten und all das hinter sich zu lassen, was in ihrer Kindheit schief gegangen war. Und das war nicht wenig. Sie hatte mit sechs Jahren ihren Vater, einen Archäologen, verloren. Angeblich war er bei einer seiner Expeditionen am Nassersee in Ägypten nicht mehr aufgetaucht, als er in den Tiefen nach überfluteten Tempeln gesucht hatte.

Stella hatte ihr erklärt, er hätte dort nach einer sehr bedeutenden Halle geforscht, welche die „dummen und ungebildeten Menschen“ einfach für unwichtig gehalten und an der Stelle den Stausee angelegt hatten, um in Trockenzeiten genug Wasser vorrätig zu haben. Stella nannte es eine Schweinerei, so in das Ökosystem einzugreifen und noch dazu diese überaus wichtigen prähistorischen Tempel zu fluten! Gefolgt von einer Tirade, dass es nicht verwunderlich wäre, wenn sich die Menschheit ihr eigenes Grab schaufelte, indem sie nur an Zerstörung dachte.

Luma hingegen teilte diese Empörung nur zum Teil, denn trotz des Unfalls konnte sie sehr gut verstehen, dass die Ägypter sich gegen Dürren und Hungersnöte wappneten, indem sie den Nil stauten. Was sie jedoch nicht verstand, war, warum ihr Vater sein Leben dafür geopfert hatte, nach Tempeln zu suchen, die vor der Flutung gewissenhaft studiert und dokumentiert worden waren. Was hatte er dort gewollt? Hätte es nicht gereicht, wenn er sich Fotos davon angeschaut hätte? Wie konnte er seine Familie nur verlassen? Wie konnte er Luma nur verlassen? Sie hätte ihn gebraucht, so sehr gebraucht.

Stella hatte seit seinem Tod nie wieder einen Mann nach Hause gebracht, obwohl sie wunderschön war, fand Luma. Ihre Mutter sah überhaupt nicht aus wie eine Mutter. Eher wie Lumas große Schwester: tolle Haut, lange platinblonde Haare. Und seit Luma ein kleines Mädchen war, sah Stella aus wie Anfang zwanzig, so als hätte sie einfach die Zeit angehalten. Den Klamotten nach zu urteilen, hatte ihre Mutter die Zeit sogar zurückgedreht: Sie trug für ihr Leben gern auffällige Kleider mit so widerlichen Mustern, dass es einem in den Augen stach: braun-orangene Wellenmuster, grün-pinke Karos oder quietschgelbe Punkte.

Wüsste Luma nicht mit Gewissheit, dass Stella ein Kind der achtziger Jahre war, hätte man meinen können, sie wäre ein Blumenkind aus der Hippiezeit.

Was dann auch Lumas eigenartigen Namen erklärt hätte. Wer nannte sein Kind schon Luma? Solche Namen gab man seinen Kindern nur, wenn das Gehirn so zugekokst war, dass einem nichts einfiel außer seinen Drogen-Halluzinationen. Zwar konnte sich Luma nicht daran erinnern, dass Stella jemals Drogen genommen hatte, aber bei der Namensgebung ihrer Tochter hatte Stella völlig versagt: Luma! Mit M! Luna mit N wäre wenigstens ein Name gewesen und würde Mond bedeuten, aber Luma?

Wenigstens wurde sie so nicht häufig bei ihrem Namen gerufen. Durch die ihr anhaftende, unerklärliche Absonderlichkeit hatte sie keine Freunde und da sie keine Freunde hatte, wurde sie nicht sehr oft bei ihrem absonderlichen Namen genannt.

Stella rief Luma meist mit ihrem Spitznamen - Neferu - der ebenso verkokst klang wie Luma mit M und genauso wenig Bedeutung hatte wie Luma mit M. Wahrscheinlich hatte Stella erkannt, wie dämlich sich Luma mit M anhörte und nannte sie deshalb Neferu.

Aber wer wusste schon, was in Stellas Kopf vor sich ging?

Vielleicht war der Name Luma ja kein Koks-Name, sondern in einem der Fieberschübe entstanden? Es könnte ja ein Fieber-Wahn-Name sein?

Warum Stella keinen Mann fand war ebenso unverständlich wie die Tatsache, dass Luma keine Freunde hatte. Sie waren Außenseiter. Beide.

Luma war sogar für die Außenseiter ihrer Schule eine Außenseiterin. Dabei war sie weder eine Streberin, noch eine absolute Niete. Sie war nicht dick und auch keine lange Bohnenstange. Sie duschte mindestens einmal täglich und hatte ihres Wissens auch keinen Mundgeruch. Ihr Rücken war gerade und das Gesicht symmetrisch. Sie hielt nichts von Markenklamotten, doch sie hatte nicht das Gefühl, mit Jeans und Kapuzenpulli wie der letzte Penner gekleidet zu sein. Kurzum, Luma hatte nicht die geringste Ahnung, warum sie gemieden wurde.

Aber irgendetwas an ihr musste es geben, was die anderen für absonderlich, vielleicht sogar gefährlich hielten.

Das war schon immer so. Während andere Kleinkinder immer eine Scheibe Wurst an der Schlachtertheke bekommen hatten, ernteten Stella und Luma nur giftige Blicke.

Das Lächeln der Erzieherinnen im Kindergarten erstarb sofort, sobald Luma den Fuß durch die Tür gesetzt hatte. Was den Kindern ebenfalls nicht entging und Luma lange, sterbenslangweilige Vormittage beschert hatte, in denen sie allein in einer Ecke gehockt und gemalt hatte, sofern sie ein paar Stifte hatte erhaschen können.

In den Bussen, die sie in die Stadt bringen sollten, hatten es die Fahrgäste immer besonders eilig, die noch freien Plätze mit ihren Taschen zu besetzen, damit Luma nicht auf die Idee kommen würde, sich neben sie zu setzen.

Kinder konnten grausam sein, doch Erwachsene waren noch viel schlimmer. Mit den Jahren hatte sich Luma zwar daran gewöhnt, missachtet zu werden und gelernt, mit der alltäglichen Schmach zu leben, doch hatten sie ihrer Seele tiefe Wunden geschlagen.

Der einzige Lichtblick in ihrem Leben war ihre Mutter. Wenn Luma bei ihr war, konnte sie die Menschen draußen vergessen. Stella machte sie stark und selbstbewusst und hatte ihr beigebracht, die anderen so zu akzeptieren, wie sie waren.

Inzwischen war Luma eine Meisterin darin, ihre Umwelt einfach auszublenden und ihr eigenes Ding zu machen. Nicht auffallen war die Devise. So trug sie das ganze Jahr über Kapuzenpullis in schwarz oder grau. Wenn sie sich die Kapuze weit in die Stirn zog, so war sie für die Welt außerhalb ihrer Wohnung so gut wie unsichtbar.

Und trotzdem sollte damit ab heute Schluss sein! Sie hatte sich überlegt, dass wenn sie all die Jahre so stark gewesen war, die Hänseleien zu ignorieren, sie jetzt auch genügend Kraft entwickeln könnte, sich dem Sturm entgegenzustellen und das, was auch immer absonderlich an ihr war, zu eliminieren. Schließlich war sie jetzt sechzehn. Und mit sechzehn ist alles möglich, dessen war sie sich sicher.

Gleich heute wollte sie losziehen, sich neue Klamotten und eine Tönung für die Haare kaufen: dunkelbraun, vielleicht sogar schwarz – egal, Hauptsache ANDERS. Anders als das, was sie jetzt so absonderlich machte. Einen Versuch war es wert. Luma musste versuchen, endlich normal zu werden. Mit allen Mitteln. Ihre Verwandlung sollte heute beginnen, so lautete der Plan.

Umso mehr ärgerte sie sich über diesen blöden Alptraum. Wie soll sie anfangen, normal zu werden, wenn sie gleich am ersten Tag der Umsetzung ihres Planes mit verheultem Gesicht in der Schule auftauchte?

„Ich gehe dann mal ins Bad“, murmelte Luma zerknirscht und befreite sich aus den Armen ihrer Mutter.

Stella nickte und ließ sie aufstehen: „Beeil dich aber! Ich will dir noch dein Geschenk geben, bevor du zur Schule musst.“

Luma verdrehte die Augen und schloss dann die Badezimmertür hinter sich.

Das Schlimmste am Geburtstag war das Geschenke auspacken. Natürlich konnte Luma sich ausmalen, dass nur sie das so empfand, aber das lag mit hoher Wahrscheinlichkeit an den absolut nutzlosen Geschenken, die Stella ihr jedes Jahr machte.

Dabei könnte es so einfach sein. Seit ihrem achten Lebensjahr wünschte sich Luma immer nur das Eine: ein Fahrrad – zwei Räder, Rahmen, Pedale, Sattel, Licht und Bremse. Nicht mehr, nicht weniger. Aber irgendwie, aus irgendeinem unerfindlichen Grund war es zu viel für Stella.

Statt des ersehnten Rades hatte sie mit acht Jahren ein etymologisches Wörterbuch bekommen. Mal ehrlich – mit acht Jahren wusste Luma noch nicht einmal, was „etymologisch“ bedeutete! Heute wusste sie natürlich, dass es ein Herkunftswörterbuch war, aber damals empfand sie das Geschenk als schallende Ohrfeige. Selbstverständlich hatte Stella sie niemals geschlagen, doch so musste es sich anfühlen, geschlagen zu werden. Drei Tage lang hatte Luma sich in ihr Zimmer eingesperrt und geheult.

„Ein besonderes Mädchen bekommt besondere Geschenke“, war Stellas Begründung gewesen. Im Jahr darauf schenkte ihre Mutter ihr eine Schreibfeder mit einem Tintenfass. – Hallo? Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert! Heutzutage schrieb man mit Computer und Tastatur und speicherte alles in Dateien. Ab und an schrieb man auch noch mit Füller oder Kugelschreiber, die nichts, aber auch gar nichts mehr mit einer Schreibfeder gemein hatten. Was zum Henker sollte Luma mit einer Schreibfeder?

Der Bildband mit den ägyptischen Wandzeichnungen, welchen sie im Jahr darauf bekommen hatte, war wenigstens schön anzusehen gewesen. Er erinnerte sie allerdings schmerzhaft an ihren Vater.

Und so war es jahrein jahraus weitergegangen. Nur auf das Fahrrad wartete sie heute noch.

Trotzdem war Stella eine fabelhafte Mutter. Statt ihre Tochter wie andere Eltern mit Spielzeug, Smartphones oder Spielekonsolen zu überhäufen, schenkte sie Luma etwas, was kaum noch eine Mutter ihrem Kind schenkte. Etwas, was wertvoller war, als alle Geschenke der Welt zusammen: Zeit. Unendlich viel Zeit.

Luma dachte an all die Abende, an denen sie sich mit einer Wolldecke auf dem Balkon auf die Sonnenliege gekuschelt und den Sternenhimmel beobachtet hatten. Und an all die Nachmittage, an denen sie sich gegenseitig aus alten Büchern vorgelesen hatten. Sie dachte an die unzähligen Tage, an denen Stella ungeduldig auf die Heimkehr ihrer Tochter gewartet hatte, um sie mit einem leckeren Kuchengebäck zu empfangen.

Nein. Luma konnte Stella ihre eigenartigen Geschenke nicht übel nehmen – nicht mehr.

Mit aller Kraft versuchte Luma noch den letzten Rest aus der Zahnpastatube zu quetschen. „Was für ein Scheißtag“, murmelte sie, als sie hilflos zusah, wie sich die Pasta nach links neigte und dann geräuschlos ins Waschbecken plumpste. Wütend donnerte sie die leere Tube in den Müll und wischte sich die Zahncreme auf die Bürste zurück. Nachdenklich betrachtete sich Luma im Spiegel. Mit dem Zeigefinger zog sie auf der glatten Fläche ihre Augen nach: groß, azurblau, gerötet vom Weinen. Dann ihre Nase: schmal, klein, von den Tränen ganz nass.

Luma suchte in ihrem Spiegelbild nach dem, was die anderen in ihr sahen: ein Monster, ein Fluch, eingeritzt in ihrer doch so makellosen Haut. Sie fand es nicht. Sie fand es nie.

Ihr Mund. Ihr Mund war das einzige, was sich von anderen Menschen unterschied, denn er hatte etwas vergessen. Etwas, das Luma vielleicht zu dem machte, was sie war: absonderlich. Er hatte vergessen, wie man lächelte.

Stella wusste, wie man lächelte. Stella konnte es noch.

Doch Luma? Sie war sich nicht sicher, ob sie es je gelernt hatte.

Aber heute war Luma sechzehn. Und mit sechzehn war alles möglich. Vielleicht sogar lächeln?

Ihre Mundwinkel zuckten, fast so, als wäre es schmerzhaft, zu lächeln. Doch sie strengte sich noch mehr an, versuchte, an etwas Schönes zu denken ... und gab auf, denn das gequälte Etwas auf ihren Lippen war furchterregend.

Luma beschloss, das Lächeln lieber Stella zu überlassen und sich auf ihre Typveränderung zu konzentrieren. Nach dem Duschen zog sie sich Jeans und Kapuzenpulli an.

„Ein letztes Mal“, dachte sie. „Ab Morgen läuft der Hase anders.

Ab Morgen bin ich die neue Luma, die coole Luma!

Mit engen Stoffhosen und knappen Pullis,

geschminkt und mit dunklen Haaren.

Morgen werde ich das sein, was ich immer sein wollte:

Normal

...

Hoffentlich ...“

 

Stella erwartete Luma mit dampfendem Apfeltee, selbstgebackenen Zimtbrötchen und einer Kerze in der einen, und einem Stück Geschenkpapier in der anderen Hand in der Küche. Die weißblonde Mähne hatte ihre Mutter mit einem ausgefransten Haargummi hochgeknotet, sodass sie ihr jetzt nur noch bis unter die Schulterblätter reichte und nicht mehr bis zum Po, der inzwischen in einer hellblauen, hautengen Schlaghose steckte. Ein paar widerspenstige Strähnen klebten dennoch an Stellas viel zu breiter Bluse, deren grünblaulilaner Stoff beinahe durchsichtig und mindestens zwanzig Zentimeter zu kurz geschnitten war. Der Schneider hatte wohl das Brust- und Rückenteil quer vernäht.

Luma verzog zerknirscht den Mund und beäugte kritisch das „Geschenk“ auf Stellas ausgestreckter Handfläche. Es war etwa dreißig Zentimeter lang und zehn Zentimeter breit ... die Höhe betrug etwa einen Millimeter – also praktisch NICHTS.

„Na los! Wünsch dir was“, forderte Stella sie auf und hielt ihr die Kerze entgegen.

Wenn Luma nur annähernd so viele Erwartungen produzieren könnte wie ihre Mutter, wäre es ein rundherum toller Geburtstag.

Ich wünsche mir, dass da ein Fahrradschlüssel drin ist ..., betete Luma wider besseres Wissen. Ein dreißig Zentimeter langer Schlüssel ... Scheißtag!

Luma pustete die Kerze aus und bekam von Stella einen Kuss auf die Stirn gedrückt. Das Geschenk ignorierend schob sich Luma auf einen schmalen Hocker an den noch schmaleren Klapptisch, der mit zwei Teetassen und zwei Frühstückstellern bereits völlig überladen war und biss in ihr Zimtbrötchen.

„Das ist für dich“, sagte Stella, zog den Arm ihrer Tochter zu sich herüber und legte ihr das Geschenk vorsichtig auf die Handfläche.

Kein Schlüssel ...

Es wog kaum mehr als das Geschenkpapier drumherum. Vielleicht war es wirklich NICHTS?

„Danke, Mama“, murmelte Luma und legte es auf die einzige freie Stelle des Tisches, zwischen Teller und Tasse. Sie verspürte nicht das geringste Bedürfnis, es auszupacken.

„Eigentlich ist es gar nicht von mir, sondern von Tabatha.“

Beinahe hätte Luma sich am Tee verschluckt. „Tabatha? Nicht dein Ernst, oder?"

Tabatha war Lumas Tante – jedenfalls behaupteten ihre Mutter und Tabatha das. In Wirklichkeit aber war Tabatha eine Hexe, ein Hausdrache, die Ausgeburt der Hölle, der schrecklichste, widerwärtigste, gemeinste und bösartigste Mensch auf Erden. Tabatha hasste Luma. Und Tabatha hasste Stella.

Luma hatte keine Ahnung, warum ihre Mutter sich überhaupt mit dieser Frau abgab, wo sie doch in einem fort Mutter und Tochter beleidigte, sie niedermachte und verhöhnte, wo sie nur konnte.

Und plötzlich sollte Luma ein Geschenk von Tante Tabatha bekommen? Das konnte nichts Gutes sein. Sicherlich würde es gleich in ihrer Hand explodieren und sie in tausend Stücke fetzen.

„Na los, pack schon aus. Aber sei vorsichtig“, forderte Stella ihre Tochter auf und sah sie mit erwartungsvollen Augen an.

„Was ist da drin?“, fragte Luma, während sie sich widerstrebend daran machte, den Klebestreifen abzupulen.

Bestimmt ist es ein Virus in Pulverform!

Ebola vielleicht?

Oder die Pocken?

Oder ...

„Eine Rabenfeder? Toll ... hab ich mir schon immer gewünscht ...“

„Ich wusste, dass sie dir gefällt!“, frohlockte Stella und klatschte freudig in die Hände.

Luma verdrehte die Augen. Typisch Stella. Sie freute sich immer über die kleinsten Dinge im Leben: Blätter an den Bäumen, Spinnen an der Wand, Schimmel auf dem Brot – alles war für sie FASZINIEREND.

Also war auch diese dumme Rabenfeder toll.

„Wie kommt es, das Tabatha mir was schenkt?“, verlangte Luma zu wissen. „Sie hat mir noch nie etwas geschenkt. Gewünscht hat sie mir was, ja. Die Pest an den Hals, zum Beispiel.“

Stellas Lächeln erstarb in Traurigkeit. Ihre Finger zupften rastlos an ihrem Brötchen.

„Ich weiß“, sagte sie leise. “Tabatha hatte auch eigentlich nicht vor, sie dir zu geben. Sie hatte sie mir gegeben. Aber nun ...“

Luma spürte, wie Stellas Fieber aufwallte. Ihre Mutter loderte wie ein Kamin, den man mit trockenen Holzspänen gefüttert hatte und dessen züngelnde Flammen nun hitzig gegen die Glasscheibe schlugen. Ihre glasigen Augen tasteten Luma liebevoll und hilflos ab, als wolle Stella diesen Augenblick für immer in ihrem Gedächtnis speichern. Mit jedem noch so winzigen Detail. Es war, als zähle sie sogar die Staubkrümchen, die im morgendlich roten Lichtkegel vor dem Fenster zu einem Lied tanzten, das nur sie hörten.

„Luma, ich ...“, rang Stella nach Worten und versuchte sie an der Decke über ihnen zu entziffern.

„Hat es was mit dem Traum zu tun?“, mutmaßte Luma atemlos.

Stellas Mundwinkel zuckten. Es war dieses Zucken, das immer dann auftrat, wenn Stella stolz auf ihre doch so kluge Tochter war und gleichzeitig wünschte, Luma würde mit ihrer Vermutung falsch liegen.

Luma krümelte ein Stück vom Brötchen ab und steckte es sich in den Mund. Nur keine Nervosität zeigen.

Stella seufzte herzzerreißend: „Ich wünschte, du wärst ein Jahr später geboren.“

Der Krumen in Lumas Mund schwoll an, wurde mehr und mehr. Es zerriss ihr beinahe den Gaumen, als sie sich zwang, ihn zu schlucken. Dann keuchte sie ein heiseres „Wie bitte?“

„Du bist jetzt sechzehn“, wisperte Stella und sah ihre Tochter mit traurigen Augen an, „und mit sechzehn kann so viel passieren. Es ist gefährlich für dich, sechzehn zu sein. Besonders heute.“

Luma riss eine Augenbraue in Richtung Stirn: „Redest du etwa gerade mit mir über Sex? Sorry Mama, aber da kommst du zu spät. Ich bin bereits in der Grundschule aufgeklärt worden. Also, selbst wenn – und ich betone wenn – ich irgendwann einmal das Glück haben sollte, einem Jungen zu begegnen, der das hier“, Luma zeigte auf alles an sich, „tatsächlich gut leiden könnte, könnte ich auf mich aufpassen. Ich weiß mich zu schützen, Mama! Ehrlich! Mir wird nichts passieren.“

Tränen stiegen Stella in die Augen, als sie nickte: „Ich hoffe es. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich hoffe, dass dir nichts passiert.“ Sie zupfte an ihrem Zimtbrötchen, bis nichts mehr davon übrig blieb als ein Krümelhaufen.

Luma ergriff Stellas fieberheiße Hand: „Ich passe doch immer auf mich auf, Mama. Das verspreche ich.“

Stella strich ihr übers Haar und zog sie dann sanft über den Tisch zu sich heran, bis sie ihre warme Stirn an Lumas kühle Stirn legen konnte.

„Ich habe zu spät erkannt, wie groß du geworden bist. Das tut mir Leid, so unendlich Leid. Ich dachte ... ich habe gehofft, ich könnte dir alles erklären, alles, alles erklären. Aber ich hatte Angst, weißt du. Ich wollte doch nur, dass es dir immer gut geht und du froh bist und glücklich. Ich ... ich konnte doch nicht wissen, dass ... du hättest heute nicht sechzehn werden dürfen. Du bist jetzt stark. Zu stark ... Ich werde alles tun, was nötig ist. Alles.“

„Mama“, murmelte Luma und drückte Stellas Hände von sich. „Du hast Fieber und redest wirres Zeug. Bitte leg dich hin. Ruh dich noch ein wenig aus und heute Nachmittag geht es dir wieder besser.“

Luma half ihr in die Stube auf das Sofa.

„Es ist eine gute Idee von dir, deine Haare zu tönen“, murmelte Stella matt, als Luma sie mit einer orangeroten Wolldecke zudeckte. „Versprich mir, bis dahin deine Kapuze aufzusetzen, ja?“

„Schlaf jetzt, Mama!“, mahnte Luma mit liebevoller Strenge und zog die Vorhänge zu.

„Heute Abend“, wisperte Stella im Halbschlaf, „gehen wir zu Tabatha.“

Luma biss die Zähne zusammen. Zu gern hätte sie gemeutert. Zu gern hätte sie Stella gesagt, wie gut sie darin war, einem den Geburtstag zu vermiesen. Aber das tat sie nicht. Ihre Mutter hatte schon zu viel zu leiden.

Stattdessen schnappte sich Luma ihren Schulrucksack und ging auf Zehenspitzen in den Flur.

Bevor sie die Wohnung verließ, schaute sie noch einmal in den großen Spiegel, der über der Garderobe hing. Eine unendlich traurige Luma blickte ihr entgegen und sie wünschte, es gäbe etwas – irgendetwas auf dieser Welt – was sie aufheitern konnte. Aber da war nichts.

Verzagt streifte sie sich die Kapuze über den Kopf und stopfte auch die widerspenstigen Strähnen hinein. Dann drehte sie sich um und ging in die Luma-feindliche Welt hinaus, zur Schule.

 

 

Kapitel 3

 
Rufius

 

Rufius zog sich sein Basecap tiefer ins Gesicht. Er hasste Städte und die Städte hassten ihn.

Hier, umringt von der wilden, jedoch homoiden Bestie Homo urbicus, weithin auch bekannt als „Großstadtmensch“, würde er – der Jäger – zum Gejagten, sollte auch nur einer ihn erkennen.

Glücklicherweise hatte die Spezies Mensch in den letzten Jahrzehnten ein paar Erfindungen zu Trends gemacht, die ihm nun zugute kamen: Sonnenbrillen, Baseballkappen und vor allem: Tattoos.

Selbst sein Vater hatte zu Lebzeiten noch Schwierigkeiten gehabt, die Farbzeichnungen seiner Haut zu verbergen, doch Rufius konnte sie nun ohne Weiteres der Öffentlichkeit präsentieren, da niemand den Unterschied zu einem gewöhnlichen Tattoo erkennen würde.

Da das Apis-Blut sein letztes Hemd ruiniert hatte, war er gezwungen gewesen in einer scheinbar vornehmen Herren-Boutique ein T-Shirt zu erwerben. Der Inhaber des Ladens, ein dünner Kerl mit furchtbarer Frisur und noch fürchterlicherer Krawatte war derart entzückt von Rufius' Körpermaßen gewesen, dass er ihm gleich einen kompletten Schrank voll Klamotten verkaufen wollte: „Ach Schätzchen, du kannst doch nicht bei diesem Wetter nur im T-Shirt vor die Tür. Ach nein, du wirst noch jemandem die Augen ausstechen mit deinen ... deinen ... ach, was für einen tollen Körper du hast! Da wird meiner einer ja ganz schwach! Und was ist mit einer Hose? So ein hübscher ... na du weißt schon, so was muss man doch zeigen! Ist das ein echtes Messer? Bist du einer dieser maskulinen Rollenspieler oder so? Oh mein Gott, oh mein Gott, wenn dieser Körper erst einmal in Bewegung kommt, oh wie gerne hätte ich gewusst, dass dieser Hintern in einer meiner Hosen steckt, oh mein Gott!“

Während der Inhaber geredet und gebetet hatte wie ein Wasserfall, machten seine Hände eigenartige Bewegungen, als wären sie ebenfalls ein Wasserfall.

„Nur ein stinknormales T-Shirt“, hatte Rufius gezischt.

„Jammerschade“, hatte der Verkäufer daraufhin gequengelt und ein paar T-Shirts vom Kleiderständer gesammelt. „Aus dir könnte ich einen echten Mann machen.“

„Bevor ich ein Mann werde, lernen Pinguine fliegen“, hatte Rufius gedacht und auf eines der T-Shirts, die dem Verkäufer über dem Arm hingen, gezeigt. „Das nehme ich.“

„Rostbraun?!?! Ach nein, Schätzchen, das kann doch nicht ...“

„Das nehme ich! Und das da.“ Rufius hatte auf ein ebenfalls rostbraunes Basecap gezeigt.

„Nun gut, Schätzchen“, hatte der Mann gesagt und etwas pikiert mit den Schultern gezuckt. Er hatte noch fortfahren wollen, doch plötzlich vergessen, was er sagen wollte. Stattdessen fing er sofort wieder an, zu seinem Gott zu beten, als Rufius sein Rückenholster ablegte und anfing, sein blutverschmiertes Hemd über den Kopf zu ziehen.

Rufius hatte das Etikett vom T-Shirt gerissen und sich dann wieder angezogen. Sehr zum Leidwesen des Ladenbesitzers. Als er dann all seine Waffen wieder am rechten Fleck und die Basecap tief in die Stirn gezogen hatte, hatte er dem Verkäufer einen Hunderter auf die Theke geknallt und war genervt aus dem Laden gerauscht.

Jetzt versuchte Rufius aus dem Gewirr von Zahlen und Buchstaben auf einer Informationstafel zu entziffern, wo er welche U-Bahn nehmen musste.

Er ärgerte sich darüber, das T-Shirt etwas übereilt gekauft zu haben. Zwar schloss es gute zehn Zentimeter unter seinem Hosenbund ab, doch es war um die Brust herum doch so eng, dass er befürchtete, tatsächlich jemandem die Augen auszustechen. Unter seinen Bewegungen knackten die Nähte an den Ärmeln. Aber es war das einzige T-Shirt in dem Laden gewesen, auf denen die nächsten Blutflecken nicht sofort als solche auffallen würden. Außerdem gefiel ihm die weite Kapuze daran. Und Rufius hatte weder die Zeit noch die Geduld, einen weiteren Laden aufzusuchen.

Gerade hatte er die richtige U-Bahn-Verbindung gefunden, als etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Das Mädchen saß auf der Bank neben der Informationstafel, hatte einen kleinen Taschenspiegel gezückt und überprüfte seine Schminke. Es hatte langes, glattes Haar und trug passend dazu ein ebenso schwarzes, hautenges Kleid, welches ihm bis zu den Fußknöcheln hing, die von ein paar mächtigen Stiefeln bedeckt wurden. Die Haut des Mädchens war unnatürlich weiß, als würde es nie in die Sonne gehen.

Rufius wusste sofort, woher das Mädchen kam und zu WEM es gehörte.

Das hat mir gerade noch gefehlt.

Rufius wollte vorsichtig hinter der Tafel in Deckung gehen, doch es war zu spät. Das Mädchen blickte von seinem Spiegel auf. Kleegrüne Augen fuhren ihm vom Gesicht aus die Schultern und Arme hinab. Dann zog es seine aus einem Haufen akkurat aufgetragener Schminke bestehenden Augenbrauen hoch, klappte den Spiegel zu, ließ ihn in der Handtasche verschwinden und stand auf.

Blitzschnell checkte Rufius die Lage:

Menschenmassen.

Keine Chance jemanden ungesehen im Kampf zu töten.

Das Mädchen dachte augenscheinlich das Gleiche. Es ließ seinen Blick hastig durch die Menschenmenge gleiten, fixierte Rufius dann und deutete ihm mit einem kaum merklichen Kopfnicken an, ihm zu folgen.

Rufius überprüfte noch einmal den Sitz seines Waffenriemens, dann folgte er dem Mädchen, das gerade eine Tür zu einem Notausgang aufstieß und dahinter verschwand.

Wider Erwarten hatte Rufius keinen Dolch in der Brust, als die Tür sich auch hinter ihm schloss. Das Mädchen wartete in aller Seelenruhe auf ihn und zog sich konzentriert einen schwarzen Samthandschuh aus.

„Langsam wird es echt peinlich“, spottete Rufius. „Ich meine, Apis war schon ein Lacher. Aber jetzt du? Was soll das werden? Verarscht ER mich?“

„Ich habe nicht damit gerechnet, dir zu begegnen, Rufius Sternentöter. Doch wo du schon mal hier bist, werde ich dich aufhalten“, erwiderte das Mädchen seelenruhig.

„Also“, sagte Rufius und riskierte einen Blick die Stahltreppe über ihm hinauf, „wenn du da oben nicht noch ein Dutzend unsichtbarer Freunde versteckt hältst, dann dürfte es schwierig werden, mich aufzuhalten. Wäre doch schade drum, dir wehtun zu müssen.“

Ein Lächeln umspielte die apfelrot geschminkten Lippen des Mädchens. Es war hübsch. Es würde Rufius tatsächlich leidtun, wenn er es verletzen müsste.

„Spiel dich nicht so auf, Rufius. In mir steckt mehr, als du denkst.“ Ein geheimnisvolles Glitzern fuhr durch die wahnsinnig grünen Augen seines Gegenübers.

„Wenn du nicht auf mich gewartet hast, worauf dann?“, fragte Rufius, dem langsam aber sicher der Geduldsfaden riss.

„Auf den Stern natürlich. Ich kann spüren, dass er oft hier ist.“

„ER will den Stern? Warum?“

"ER will dich vor einem Fehler bewahren! Dies“, sagte das Mädchen und wies auf alles um sich herum, „ist auch SEINE Welt. Glaubst du nicht, ER hat ein Anrecht darauf, sie zu schützen?“

„Wenn der Stern nicht stirbt, dann geht sie unter. Aetas volant. Und es wird sehr schmerzhaft, wenn die Zeit fällt.“

„Die Zeit wird fallen, wenn kein Stern da ist, sie aufzufangen! Hast du mich nicht gehört? Ich soll den letzten Stern finden! Den letzten, verstehst du?“, schrie das Mädchen aufgebracht.

Rufius lachte auf. Es war nur ein kurzes Lachen, nicht mehr als ein „Ha“. Dann besann er sich wieder. Es war nicht seine Art, zu lachen. Lachen verbrauchte zu viel Zeit.

Afflictis tenae, celeres gaudentibus horae: Den Bekümmerten vergehen die Stunden langsam, rasch den sich Freuenden.