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Dominik Dusek

Er tritt
über
die Ufer

Roman

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Dominik Dusek

Er tritt über die Ufer

lectorbooks, ein Imprint der Torat GmbH, Zürich

info@lectorbooks.com

www.lectorbooks.com

Wir danken der Stadt Zürich für die Unterstützung des Buches.

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Gesamtproduktion: www.torat.ch

Umschlagbild: iStock.com/PeopleImages

1. Auflage 2017

© 2017, lectorbooks/Torat GmbH

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-906913-14-8

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

DANK

ZUM AUTOR

1

Es gibt nichts aufzudecken. Es gibt nur Geschichten zu erzählen. Geschichten über einen Mann, der nicht weiß, dass ich existiere. Ich aber weiß, wie er existiert hat. Und wie er immer noch, im Moment unbeachtet, existiert.

Gelegentlich frage ich mich, wie ich in diese Situation gekommen bin. Alles über Peter Arbogast zu erzählen, anstatt von Dingen zu schreiben, die mir nahe sind. Die ich mir nicht zusammenklauben muss aus Gesprächen, Verweisen, Zeugenaussagen, Dokumenten. Warum halte ich mich nicht an das, was ich selbst erlebt habe? Warum suche ich mein Heil irgendwo anders, irgendwo da draußen, irgendwo weit weg?

Das sind sinnlose Fragen, dumme sogar. Ich habe alles abgebrochen. Ich habe meine Verwandtschaft zum Teufel gejagt. Meine Verwandtschaft hat mich zum Teufel gejagt. Wie auch immer. Es ist ja zum Lachen, vor Kurzem saß ich an meinem Küchentisch und spann mir folgendes Bild zusammen: Ich stehe auf einem handgezimmerten, aber zweckmäßigen Holzdeckel, den ich über die Jauchegrube, die meine angeheiratete Verwandtschaft ist, gelegt habe. Manchmal hebt sich der Deckel leicht, wegen der grässlichen, unberechenbaren Schwaden, die darunter zum Licht der Welt streben. Dann gerate ich kurz ein wenig aus der Balance. Aber im Großen und Ganzen hält der Deckel. Leider wird mir ganz schlecht, wenn ich daran denke, wie sich die Schwaden da unten immer wieder neu formieren, sich genau in dem Moment mit großer Kraft zusammenballen, in dem ich am wenigsten damit rechne. Darum darf ich nicht daran denken.

Vergiss doch die Schwaden, sagte ich mir am Küchentisch sitzend. Vergiss die Jauche. Soll sie da unten vor sich hin gären, wie sie will. Ich ziehe in die Ferne. In die weite Ferne eines anderen Kopfes.

Ja, so spann ich, so konnte ich dank Ihres Auftrages spinnen, aber als sich das Bild dann wieder aufgelöst hatte, bin ich schon ein bisschen erschrocken. Das geht ja alles nicht auf. Jauche hat keinen Willen, wie lächerlich ist das denn? Da saß ich und unterstellte allen möglichen Dingen, Geschehnissen, Sätzen einen Willen, vor dem ich ohne Schutz nicht bestehen kann. Und ich bezeichnete Menschen nicht nur als Jauche, sondern sah sie auch so vor mir. Ich meine, klar, die Gedanken sind frei, aber so etwas bin ich von mir selbst nicht gewohnt, verstehen Sie? Die Vernunft glaubt zu wissen: Es gibt den Willen nicht. Das Nervensystem glaubt zu wissen: Der Wille ist da, er ist real, renn weg, renn so schnell, wie du kannst, versteck dich.

Also verstecke ich mich, wenn Sie so wollen, in Peter Arbogast. Und bin Ihnen sehr dankbar für diese Möglichkeit. Ein lohnendes Objekt ist er zweifellos. Ein Wolkenmeister. Einer, der Spuren hinterlässt, die bislang niemand schlüssig zu deuten vermochte. Weil sie sich ständig verändern, wie Wolken eben. Eine große, eine fantastische Flüchtigkeit. Ich könnte mir kein besseres Versteck für mich vorstellen.

2

Die Welt hörte von Peter Arbogast zum ersten Mal im Jahr 2000. Es war allerdings nur ein verschwindend kleiner Teil der Welt. 2000 nahm er eine Platte auf und gab sie im Eigenverlag heraus. Sie hieß Hallo. Arbogast war einundzwanzig Jahre alt. Interessant fanden die paar wenigen, die die Platte interessant fanden, vor allem ihre Entstehungsgeschichte: Arbogast hatte sich drei Tage lang in einem Raum eingeschlossen, in dem sich außer ihm nur ein Klavier und drei Mikrofone befanden; und ein Computer, mit dem er aufnahm. Er war – und ist bis heute – kein großer Instrumentalist. Sein Klavierspiel ist rudimentär, er weiß gerade so eben, wie man welchen Dur- oder Moll-Akkord greift. Zumindest erweckt er den Eindruck. Naturgemäß hat niemand eine Ahnung, was genau in diesen drei Tagen passiert ist.

2004 erzählte Arbogast einem jungen Journalisten der Saarbrücker Zeitung, der sich übermäßig für musikalische Grundlagenforschung begeistern konnte, übermäßig jedenfalls, wenn man an die Leserschaft der Saarbrücker Zeitung denkt: »Ursprünglich wollte ich ein ausgetüfteltes Instrumentalalbum aufnehmen, das Elemente der Minimal Music, der südostasiatischen Volksmusik und des deutschen Zwanzigerjahre-Schlagers verbindet.« Nach meiner heutigen Einschätzung von Arbogasts Persönlichkeit und seinen Methoden der Öffentlichkeitsarbeit muss man annehmen, dass diese Aussage völliger Mumpitz war. Jedenfalls fanden sich auf Hallo elf Lieder, die das neue Jahrtausend begrüßten. Die Texte waren, so Arbogast, völlig improvisiert. »Ich hatte über fünfzig Stunden nicht geschlafen und dachte mir: Das wird nichts. Meine Hände zitterten wie die eines Greises. Also habe ich einfach ›Record‹ gedrückt und losgelegt.« (Saarbrücker Zeitung)

Es wird immer fetter werden

Und es wird immer enger werden

Komm, großer rosa Flamingo!

Ich sitze hier und betrachte die riesenhafte Bahnhofsuhr,

bis mein Augenlicht schwindet. Wir schreiben den

8. Januar 2000, ihr Arschgeigen. Ihr Arschgeigen!

Geigt ruhig, ihr Möchtegernpaganinis

Auch du, mein Sohn Schröder

Hör auf, krank zu sein. Das bringt doch nichts

Afrika! Afrika! Wer will heute noch nach Afrika?

Nur die, die Seltene Erden suchen

Sie backen aus ihnen den Mobiltelefonkuchen

Solche Liedzeilen ziehen sich durch Hallo. Peter Arbogasts Stimme klingt belegt, nur selten findet er wirkliche Melodien. Die Reime sind, wie man an den Beispielen merkt, häufig eher ungeschickt, sofern überhaupt welche vorhanden sind. Am Schluss, elf Sekunden nach dem elften Lied »Karacho«, einem ruhigen Stück über nächtliches Streifen durch leere Straßen, in dem nur der Akkord d-Moll in verschiedenen Zerlegungen gespielt wird, ertönt ein markerschütternder Schrei. Die meisten Kenner behaupten, es sei eine Frauenstimme. Arbogast hat sich einer Auskunft zu dieser Stimme bis heute verweigert. Nur wenige Kritiken zu Hallo sind erschienen, und sie reichen von »unerträglich prätentiös« (Neue Zürcher Zeitung, weiß der Teufel, warum die sich bemüßigt gefühlt hat, Hallo zu rezensieren) bis »geiler Hirnfick« (Combat, ein 2001 wieder eingestelltes Fanzine).

Es gibt aus jener Zeit keine Nachweise von Live-Auftritten Peter Arbogasts. Hallo entschwand in den Weiten der Musikproduktionslandschaft.

3

Peter Arbogasts Vater Erich war Diplomat. Als Peter am 7. Juni 1978 in Brasilia geboren wurde, war Erich bereits zweiundvierzig Jahre alt. Seine Karriere im deutschen diplomatischen Dienst verlief im Großen und Ganzen erfolgreich, allerdings scheint er einen großen Bewegungsdrang gehabt zu haben. Er ließ sich häufig auf eigenen Wunsch versetzen. Peter verbrachte seine Kindheit in Brasilien, den USA, Norwegen und Malaysia. Der Umzug nach Malaysia 1993 scheint bemerkenswert. Kurz davor hatten sich Peter Arbogasts Eltern auf Initiative seiner Mutter Salome getrennt, die Scheidung wurde drei Jahre später vollzogen. Peter Arbogast, zum Zeitpunkt der Trennung gerade fünfzehn Jahre alt, bestand darauf, dem Vater nach Kuala Lumpur zu folgen.

»Warum soll das seltsam sein?«, antwortete Arbogast 2010 auf eine entsprechende Frage der Washington Post. Der Journalist setzte nach: »Nun, man könnte annehmen, dass die ständigen Ortswechsel …« Arbogast unterbrach ihn: »Nehmen Sie ruhig an, aber ich frage Sie: Was zum Teufel soll daran seltsam sein? Sie haben keine Ahnung, was seltsam ist. Sie haben keine Ahnung, was Leichtigkeit ist. Noch eine Frage in diese Richtung, und ich breche das Interview ab.«

Das geschah dann auch, das Gespräch durfte nie veröffentlicht werden.

Peter Arbogast war zweisprachig – Englisch und Deutsch – erzogen worden. Seine Leistungen an den vier internationalen Schulen, die er besuchte, wurden einhellig als ausgezeichnet beurteilt. In den letzten zwei Jahren in Kuala Lumpur allerdings fiel er durch eine hohe Anzahl an Fehlstunden auf, das Abitur bestand er nur mit durchschnittlichem Erfolg. Ein Begutachtungspapier der Schule in Oslo beschreibt ihn 1992 wie folgt: »A. ist ein wacher Kopf, lässt das aber nicht immer erkennen. Auffallend sind die großen Unterschiede in seinem Sprachverhalten: Wenn er im Turnunterricht körperlich angestrengt ist, vor allem in Mannschaftssportarten, wird er laut, kommuniziert viel und zum Teil hektisch. Im Unterricht und im persönlichen Gespräch hingegen ist seine Stimme fast tonlos, er redet langsam und wohlüberlegt. Typisch sind seine langen Herleitungen bei Antworten auf Prüfungsfragen. Aus Sicht unseres Schulpsychologen Dr. Alsgaard grenzt dieses Verhalten an eine Hemmung, zumindest zeigt es ein starkes Verlangen nach Absicherung. Wir empfehlen den Eltern, unserem Wunsch nach Aufnahme in die schulische Basketballmannschaft zu entsprechen.«

4

Interview mit Erich Arbogast, 15. März 2015, Trier

Herr Arbogast, erinnern Sie sich an die Zeit, in der Peter sprechen gelernt hat?

»Äh … (Pause). Ja, das muss kurz nach unserem Umzug nach San Francisco gewesen sein. Ich arbeitete dort im Konsulat, man hatte mir nahegelegt, nach Washington zu gehen, aber ich … (Pause), ich wollte nur noch Beamter sein, der ganze Repräsentationsquatsch … (Pause). Wissen Sie, wenn man ständig nur noch von Politikern und Geistlichen umgeben ist, dann kann einem das schon zu viel werden. Ich hatte die Schnauze voll, ich sagte damals immer (lacht), ich nehme mich aus der Schusslinie, obwohl da natürlich gar keine Schusslinie war.«

Und Peter?

»Aha, Peter, ja. Der sagte damals plötzlich etwas wie ›pedju‹. Das war schon (lacht) ein bisschen verrückt, wir hatten am Anfang keine Ahnung, was das heißen soll, und er hat ja vor allem immer Englisch und Deutsch gehört, nicht wahr? Aber irgendwie muss Brasilien in ihm weitergelebt haben, denn er hat auf unser Haus gezeigt und ›pedju‹ gesagt, und dann haben wir verstanden, dass er ›predio‹ meint, das portugiesische Wort für ›Gebäude‹. (Pause) Na ja, wahrscheinlich hat er schon auch, und wahrscheinlich schon vorher, ›Mama‹ oder ›Mommy‹ gesagt und sonst noch unverständliches Zeug, aber das ist mir geblieben, dieses ›pedju‹.«

War Peter ein soziales Kind?

»Hä! (Pause) Nein, das kann man nun wahrlich nicht sagen.«

Warum nicht?

»Na, wissen Sie, das ist ja im Grunde kein Leben für einen Jungen, immer wieder diese Ortswechsel. Für mich war das die Welt. (Pause) Das ist ja doof, das zu sagen, es war ja wirklich die Welt, aber ich meine …, ich wollte herumreisen, ein paar Jahre mit den Amis, ein paar Jahre in Skandinavien, und dann – schwupp – Malaysia, von mir aus hätte auch noch, was weiß ich, Usbekistan dazukommen können oder Neuseeland oder meinetwegen Burkina Faso. Ich hätte mich überall wohlgefühlt, drei Jahre lang. Das ist doch …«

Und Peter?

(Seufzt.) »Na, spätestens ab Oslo hat er sich einfach schwergetan mit Freunden. Ich meine, schauen Sie sich doch an, was aus ihm geworden ist. Da allein in dieser Hütte oder diesem Haus am Fluss. Da lebt er doch jetzt, oder? Ich lese ja nur davon …, manchmal … (lange Pause). Er hat nie Freunde nach Hause gebracht. Aber er ist zu ihnen hingegangen. Wenn er mit Jungen Kontakt hatte, hat er sie immer besucht. Einmal haben ihn in Oslo drei Langhaarige abgeholt, am Nachmittag. Die habe ich durchs Fenster gesehen. Ich habe mir da schon meinen Teil gedacht. Aber ich war dann auch … Es war eine schwierige Zeit. Und dann hat uns dieser Alsgaard, ein widerlicher alter Mann, Verzeihung, wenn ich das so sage, zu einem Gespräch in die Schule gebeten. Der hat nur Unsinn geredet. Ich habe ihn jedenfalls nicht verstanden. Er wollte Peter ins Basketballteam stecken, aber Peter wollte nicht. Also ist er nicht gegangen. Ende der Geschichte … Wissen Sie, ich habe wohl Fehler gemacht, aber einen Vierzehnjährigen lasse ich doch selbst entscheiden, was er in seiner Freizeit tun und lassen will. Sonst kommt der ja nirgends hin. Oder nur dorthin, wo Leute wie … Alsgaard ihn haben wollen.«

5

Sie merken vielleicht, es soll hier ein Flickenteppich ausgelegt werden. Ich denke, nein, ich bin sicher, dass das die würdige, die angemessene Art ist, von Peter Arbogast zu erzählen.

Die ersten Gegenleser haben mir nahegelegt, systematischer vorzugehen. Streng chronologisch. Mit Kapiteln und Kapitelnamen, die die Stationen seines Lebens klar voneinander trennen. Mit klaren Zuweisungen: Hier der »Mensch«, da der »Künstler«. Mit allen Daten schön übersichtlich im Anhang. Aber eine solche Zusammenfassung eines vielgestaltigen Wolkenmeisterlebens, eine solche Biografie, könnte jeder beliebige Kleingeist schreiben, wenn er ein bisschen recherchiert. Und sehen Sie, zweifelhafte Bilder von Jauchegruben hin oder her, ein Kleingeist bin ich nicht. Das wissen Sie ganz genau. Ich gehöre nicht zu denen, die mit Sorgfalt und Berufsehrenkodex angeben, die sich durch penibles Faktenerklären absichern, damit sie dann ihre Entstellungen, ihre Überzeichnungen, die nur Anpassung an eine allgemein akzeptierte Begriffsordnung sind, besser rechtfertigen können. Ich habe keine Lust, Aufregerpotenzial zu behaupten. Ich nehme die Sprache und schildere. Mehr muss man gar nicht tun. Außer durch geschickte Anordnung die Wachsamkeit des Lesers einfordern. Hier soll jederzeit alles zur Sprache kommen können, hier soll hinter jeder Ecke, hinter jedem Satzzeichen mit allem gerechnet werden müssen. Und zack, der Umzug nach Detroit. Und zack, die Sache mit dem neuen Dylan. Und zack, die Zeiten, in denen sich fast jede Spur verliert. Und zack, das Verhältnis zur Party ohne Herkunft. Und zack, die Abnabelung von den Eltern und die Versuche, sich an der Uni zurechtzufinden.

So, in dieser Reihenfolge, könnte es sein, so wird es aber nicht sein. Oder doch? Wie werde ich das Durcheinander bändigen? Ja, ja, raten Sie nur. Das ist jetzt meine Arbeit, die Betonung liegt auf »meine«, und ich kann nicht anders. Weil ich nicht daran denken darf, was andere bevorzugen würden. Weil ich nicht zulassen darf, dass irgendjemand Marionettentheater mit meinen Gedanken und meinen körperlichen Reaktionen spielt. Meine Verwandtschaft darf das nicht und Sie auch nicht, geehrte Auftraggeber. Es muss hier ohne Abweichung weitergehen. Und es geht weiter. Verstehen Sie?

6

Am 24. Juni 2003 wurde Peter Arbogast dabei beobachtet, wie er auf schlammigem Boden mit einer fünf Meter hohen metallenen Stehleiter hantierte. Die Beobachter waren die Veranstalter des Hopfensee-Open-Airs im Allgäu. Sie hatten in jenem Jahr ein wenig Wetterpech gehabt. Ausgedehnte Niederschläge hatten das kleine Festivalgelände in fast schon sumpfiges Terrain verwandelt. Arbogast war mit seiner Band aufgetreten, danach hatte er sich vergnügt, wie man sich eben auf provinziellen, aber liebevoll aufgezogenen Open-Airs vergnügt. Er hatte getrunken und er hatte wohl auch gekifft. Letzteres kann man nicht beweisen, aber alles andere anzunehmen, wäre fortgeschrittene Idiotie.

Jedenfalls stand er da, seine Hände umfassten je eine Sprosse auf je einer Seite der Leiter. Unsicheren Schrittes bewegte er sich mit dieser Leiter durch Pfützen und Matsch, flankiert vom nicht mehr sehr zahlreichen, aber immer noch vorhandenen Publikum. Jede Sekunde konnte er entweder hinschlagen und dabei Menschen verletzen oder die zwischen den Bäumen gespannten Elektroleitungen herunterreißen, befürchteten die Veranstalter. Zwei von ihnen, die Kräftigsten, gingen auf Arbogast zu und sprachen auf ihn ein, wobei sie sich bemühten, einen gut gelaunten, aber doch bestimmten Ton anzuschlagen. Arbogast soll angefangen haben, »Ich bin ein Elefant, Madame« zu singen.

Es war eine verzwickte Situation: Niemand wusste, wie gut sie Arbogast einschätzen konnte. Würde man allzu abrupt eingreifen und die gegen den Nachthimmel zuckende und kreisende Leiter nicht sofort unter Kontrolle bekommen, würde man das Unglück, das man verhindern wollte, vielleicht erst herbeiführen. Die Leute wichen zurück, die beiden zu einer Art absurden Leibwächtern gewordenen Veranstalter verfolgten den unberechenbaren Marsch des Elefanten Arbogast und riefen ihm immer wieder Dinge zu, die ihm sein gefährliches Tun bewusst machen sollten. Am Schluss hatte Peter Arbogast die Leiter bis zum Waldrand getragen, mehrere Male war er ausgeglitten wie ein dementer Clown, nie jedoch war er hingefallen. Er stellte die Leiter neben eine Fichte, deren erste Äste erst weit über dem Boden aus dem Stamm ragten, und sagte: »So. Jetzt könnt ihr da raufklettern. Ich hab keine Lust mehr dazu.«

Die ganze Zeit über hatte eine junge Frau gelacht, Ideen zum Zweck der Leiter herausgeprustet und Arbogast immer wieder an der Hüfte ausbalanciert: Maria Veit.

7

Maria Veit starb am 12. Mai 2011. Drei Tage später wurde ihr Begräbnis abgehalten. Einer der etwa dreißig Trauergäste war Peter Arbogast, der heftig, krampfartig weinte. Das verwunderte die Verwandtschaft und die Bekannten der Toten, denn Arbogast und Veit hatten seit sechs Jahren keinen Kontakt mehr zueinander gehabt.

8

Interview mit Rudi »Rude« Etter, Gründer des Plattenlabels Wasserträger, 8. März 2015, Osnabrück

Wie haben Sie Peter Arbogast kennengelernt?

»Also getroffen habe ich ihn 2002. Aber das Erste, was ich von ihm bekommen habe, war ein Brief. Er hat uns seine Debütplatte zur Veröffentlichung angeboten. Ja, echt, angeboten, er hat das wohl wirklich als Angebot gesehen. Nicht als … Bittbrief oder so was. Das war im Frühling 2000. Er hat damals alle möglichen Leute angeschrieben, ich habe mir sein Ding angehört, das Hallo, und muss sagen, das konnte einen schon beeindrucken. Aber in Wahrheit war es total unmöglich. In dem Brief stand, ich hab ihn mir wieder herausgesucht: ›Leider werde ich diese Platte nicht mit Konzerten bewerben können. Diese Musik hat nur genau einmal, zum Zeitpunkt ihrer Entstehung, Gestalt angenommen.‹ Ich meine, hallo? Was soll das denn? Du kriegst einen Brief von einem jungen Typen, den keine Sau kennt, und der schreibt dir: ›Mich kennt keine Sau, und live auftreten werde ich auch nicht.‹ Ich konnte das nicht machen, obwohl’s mich schon gereizt hätte. Ist ja eine verrückte Platte.«

Und dann?

»Dann war Ebbe. Also das Zeug hat bei uns irgendwo rumgelegen und ist in Vergessenheit geraten. Und eben 2002, als es auf den Sommer zuging, kam der zweite Brief. Da schrieb er, er hätte jetzt eine Band und vielleicht könnten wir uns ja noch an seine erste Platte erinnern. Beigelegt war eine Besprechung, aus der Züricher Zeitung, wo drinstand, dass die Platte nichts als Schrott wäre. Was soll ich sagen? Ich wollte den einfach gerne kennenlernen. Also habe ich geantwortet, komm doch mal vorbei.«

Und er kam? Hat er rasch reagiert?

»Ja, der stand nach zwei, drei Tagen vor meiner Tür. Und es war lustig. Ich meine, ich habe nach dem Hallo Teil gedacht, das wäre so ein Maniker, ja? So eher der Typ Berserker, einer, der dich niederquasselt und mindestens mal sehr selbstbewusst tut. Und Peter – na ja, Peter ist einer, der unglaublich viele Pausen lassen kann, gerade da, wo’s kein anderer erträgt. Ich mach die Tür auf, und er sagt ›Hallo‹. Ich meine, ausgerechnet ›Hallo‹, hätte er nicht ›Hi‹ sagen können? Und dann nichts. Schaut mich nur an, Hände in den Jackentaschen. Glatt rasiert wie der Innenminister. Und hinter ihm die Maria. Das waren schon zwei.«

Maria? Maria Veit war dabei?

»Ja, und die sagte auch nichts. Hat sich nur umgesehen, die ganze Zeit, und immer wieder kurz gegrinst, so zu sich selber irgendwie. Das war wirklich … far out, anders kann ich das nicht sagen. Obwohl, im Grunde lief das Reden völlig zivilisiert ab, ich meine, die Bands, die ich damals so hatte, kamen ja eher vom Punk oder aus der abgedrehten Elektronik-Ecke, da wurde immer viel schultergeklopft und Biere wurden geöffnet und so, im Vergleich dazu war das mit dem Peter ein echtes Businessmeeting. Es fehlte jeder Enthusiasmus. Er sagte zum Beispiel: ›Ja, ich hab jetzt eine Band. Wir proben drei Mal in der Woche.‹ Und dann wieder Pause. Und ich so was wie: ›Und das läuft gut oder wie? Also, die Musik muss ja dann anders sein, weil das auf der ersten Platte kann man so ja nicht machen, also wie ist das denn nun?‹ Und er: ›Üben. Wir üben. Man muss üben.‹ Und ich: ›Ist das jetzt mehr so Folk oder wie?‹ Folk war für mich damals ein Hasswort, das war noch vor der großen Folk- und Hexen- und Bart-Welle, die dann ja eine Zeit lang schon ganz interessant war. Ich dachte nur: Sag nicht Ja. Und er sagte nicht Ja. Er sagte gar nichts.«

War er schüchtern?

»Das würde ich so nicht sagen. Nein, gar nicht, eigentlich. Man hat bei Peter immer das Gefühl, der macht nicht mehr Wind als unbedingt notwendig. Der vergeudet keine Silben. Und das ist natürlich ein bescheuertes Gefühl, weil er will ja genauso Spaß haben wie wir alle. Und der hat auch Spaß, ich bin sicher, der hat mehr Spaß gehabt als der Funpunk-Dachverband, aber er lässt sich neunzig Prozent der Zeit nicht aus der Reserve locken. Mal lieber etwas wirken lassen. Man hat immer das Gefühl, dass er genau das denkt: Mal lieber etwas wirken lassen. Und wenn’s nur so ein debiles Wort wie ›üben‹ ist.«

Und welchen Eindruck hatten Sie vom Verhältnis der beiden?

»Na, Maria war halt total wichtig für ihn. Das habe ich mir damals schon gedacht, obwohl sie bis zum Schluss stumm geblieben ist. Und dann, bei der Verabschiedung, sagt sie: ›Hey!‹, so auffordernd, und hält mir die Hand hoch hin, zum Abschlagen. Als wären wir im selben Basketballteam. Ich bin aus dieser ganzen Begegnung nicht schlau geworden. Aber sie war ja auch später, jahrelang, bis zur Trennung, praktisch immer dabei. Und irgendwann habe ich mir gedacht: Die schafft’s einfach, dass Peter mit ihr im Augenblick lebt. Auf sie hat er immer sofort und ohne zu überlegen reagiert. Die hatte das irgendwie auf dem Kasten, mit ihren Ideen, mit ihrer Ausdrucksweise, und schlecht sah sie ja auch nicht aus, vielleicht nicht so traditionell hübsch, aber sie hatte so einen Glanz in den Augen. Und auf der Haut, manchmal … Ach, ich weiß auch nicht. Es war eine tolle Zeit.«

9

Peter Arbogast verließ Malaysia am 12. August 1997. Er wollte nach Deutschland gehen, um zu studieren, und hatte von Kuala Lumpur aus organisiert, dass er ab Oktober seinen Wehrdienst leisten konnte. Dieses Engagement überraschte nicht zuletzt seine Eltern, zumal Vater Erich zweifellos Wege und Mittel gefunden hätte, ihm das Soldatendasein zu ersparen, und auch dazu bereit war (»Ich hätte ihn sogar offiziell als Priesterseminarist gelten lassen können.«). Arbogast aber soll wiederholt darauf bestanden haben, dass es sein Wunsch sei, »das jetzt rumzubringen. Nach der ganzen Herumeierei hier, nach dem linden Quatsch im Sonnenlicht, kann man ja mal ein Jahr lang strengen Quatsch machen«. Er zog nach München, wo ihm sein Vater über Bekannte eine Wohnung besorgte.

Von der Bundeswehrzeit ist wenig bekannt, Arbogast fiel kaum auf. Angesichts diverser späterer Äußerungen und Handlungen wirkt das ungewöhnlich. Zwei Vorfälle aus jener Zeit sind notiert.

Am 6. November 1997 begann Arbogast während einer Exerzierübung laut zu lachen und konnte damit, wie er selbst zu Protokoll gab, auch nicht aufhören, als ihn der diensthabende Offizier aus nächster Nähe anschrie. Im Gegenteil. Arbogast erhielt einen Strafdienst.

Am 27. Mai 1998 schlich sich Peter Arbogast in der Nacht mit seiner Schusswaffe in einen Aufenthaltsraum. Er stellte dort auf einem Tisch eine satte Anzahl Kerzen im Kreis auf und zündete sie an. In die Mitte legte er sein Gewehr. Der Nachtdienst fand ihn an diesem Tisch sitzend, das Gewehr mit starrem Blick fixierend. Auf Anfrage gab sich Arbogast überzeugt, er könne den Gewehrlauf mit Willenskraft verbiegen. Die Vorgesetzten vermuteten einen Scherz aus Langeweile, laut Protokoll widersprach Arbogast dieser Darstellung entschieden. Er erhielt ein Ausgehverbot. Es wurde darauf verzichtet, einen Psychologen hinzuzuziehen.

10

Die hohen Gänge

Die weiten Gänge

Diese Bögen, die triumphieren und nichts vermögen

Die Esslokale

Die Rituale

Dieses Knarren der alten Bretter, wo wir verharren

Die Angst ist körperlich

Diese Songzeilen aus dem Lied »Körperlich« von Peter Arbogasts zweiter Platte Ode an die Gehirne der Raben werden oft als Reaktion auf seine Zeit an der Münchner Universität gedeutet, wo er sich 1998 für das Hauptfach Ethnologie eingeschrieben hatte. Er selbst hat das immer abgestritten. »Das ist doch Science-Fiction. Die ganze Platte ist nichts als Science-Fiction. Es geht da, glaube ich, um das Monumentale und um Routine als Strategie. Ich habe mich jedenfalls damals sehr dafür interessiert, wie wir mit dem Monumentalen umgehen«, wurde er Ende 2009 in der Frankfurter Rundschau zitiert. Fest steht, dass er in seinem Studium, salopp gesagt, nichts auf die Reihe bekam.

Arbogast ist zweifellos ein großer Müßiggänger. Er sieht sich auch sehr gern in dieser Rolle, schließlich hat er seine gesamte zweite englische Platte Right Away diesem Thema gewidmet. Seine Unfähigkeit, sich im akademischen Betrieb zurechtzufinden, hat ihn damals aber sicher überrascht und sehr wahrscheinlich auch gekränkt.

Wegen der großzügigen Unterstützung durch seinen Vater war er nicht gezwungen, einen Job zu suchen. Dennoch arbeitete er in der Zeit von 1998 bis 2002 als Kellner, in einem Copyshop, als Essensausfahrer für daheim wohnende alte Menschen und für kurze Zeit sogar in einem Callcenter. Es liegt nahe, diese wechselnden Engagements als Ablenkungen zu deuten, als Beschäftigung, um nicht über seine Stagnation nachdenken zu müssen.

Ich erlaube mir, an dieser Stelle eine Szene wiederzugeben, die sich in jener Zeit ereignet hat. Sie ist nicht bis ins Letzte abgesichert, aber ich habe mit einigen Gästen einer Privatparty gesprochen, auf der Arbogast im Mai 1999 auftauchte. Im Sinne der Lebendigkeit, die ich unbedingt anstrebe, steckt da die eine oder andere dichterische Freiheit drin, aber so oder zumindest sehr ähnlich ist es abgelaufen:

Eine Altbauwohnung in der Münchner Isarvorstadt. 23.30 Uhr. Die Wohnung ist gerammelt voll mit jungen Menschen, zumeist Studenten. Peter Arbogast, eine nicht unattraktive Erscheinung mit seinen ein Meter siebenundachtzig, seinem gepflegten Äußeren und der auffallenden Lücke zwischen seinen Schneidezähnen, die als unpassendes Stigma in seinem Gebiss klebt, ist soeben eingetroffen. Er betritt das Badezimmer und nimmt sich ein Bier aus der Wanne.

Partygast 1, männlich: »Peter.«

Arbogast: »Ähm …«

Gast 1: »Fonsel, wir haben uns mal gesehen, in den Kammerspielen, da, wo Renate die eine Nebenrolle hatte.«

Arbogast: »Ah ja, klar. Hallo.«

Gast 1: »Hallo. Läuft’s?«

Arbogast: »Von Laufen … kann nicht die Rede sein. Ich gleite so durch die Gegend.« Er lächelt.

Gast 1: »Tja. Schade eigentlich. Das war sehr lustig damals, du hast ständig gesagt, auf Theaterbühnen sollte gar nicht geredet werden … oder so, das war’s doch, oder?«

Arbogast: »Hm, ja, wahrscheinlich. Wahrscheinlich wär’s auch ganz gut, wenn andere weniger reden würden.«

Gast 1: »Nein, nein, das war doch guter Spaß. Hast du eigentlich den Dings wiedergesehen, den …«

Partygast 2, weiblich: »Peter. Der Peter ist da. Cheers!« Sie lacht laut.

Arbogast: »Cheers.« Er streicht sich die Haare aus der Stirn und sieht die junge Frau an.

Gast 2 sieht Arbogast an. Eine kurze Stille entsteht. Dann blickt sie um sich und ruft laut: »Gaudenz! Schau mal! Das ist der Peter.«

Partygast 3, männlich, drängt sich durch die Leute.

In seiner Hand hält er eine Ein-Liter-Fruchtsaftpackung. Gast 1: »Hey, Gaudenz, immer noch auf Vitaminkur? Immer noch auf dem Weg zur Erlösung?«

Gast 2: »Ach, Fonsel, lass ihn doch. Er denkt halt über Sachen nach. Länger als einen Abend lang, gell, Gaudenz?«

Gast 3: »Wir preisen die Kraft der Ribisel.«

Gast 1: »Der was?«

Gast 2: »Der roten Johannisbeere. Siehst du doch.«

Gast 1: »Nein, im Ernst jetzt: Ist das so Krishna-Kram?«

Gast 3: »Kann man schon so sagen. Obwohl, Vorschrift ist das nicht.«

Gast 1: »Du meinst, ihr seid frei, was ihr zu euren Reisbällchen trinkt?«

Gast 3: »Frei ist hier gar keiner.« Er lacht. »Aber ich habe die Wahl, welches Getränk ich mir selber mitnehme. Magst du auch?«

Gast 1 verzieht sein Gesicht.

Gast 3: »Ich sehe schon, du sprichst mäßig an auf die Härten der geistigen Empfänglichkeit.«

Gast 1: »Ja, wenn es um die befleckte Empfängnis ginge, wäre das was anderes, aber …«

Gast 2: »Och, jetzt hört aber mal auf hier! Ist doch doof, so Sticheleien, nur weil einer … Peter, was meinst du? Ist doch doof, oder?«

Arbogast hält seinen Kopf schräg. Wegen seiner Körpergröße sieht er die anderen immer von leicht oben an. Er hat keine Ahnung, was er sagen soll. Er sagt nichts. Seine Finger bewegen sich, sie reiben aneinander, ein Zucken läuft über seine Mundwinkel. Er sagt nichts. In seinem Blick liegt der Wunsch, sich zu entschuldigen.

Gast 2: »Na ja. Macht, was ihr wollt. Ich schau mal zur Musik. Kommst du mit, Peter?«

Arbogast: »Nein.« Seine Augen flackern, fast unmerklich schüttelt er den Kopf.

Gast 2 gibt ein kurzes Lachgeräusch von sich, das zwischen Erstaunen, aufrichtigem Bedauern und Geringschätzung liegt. Dann ruft sie laut: »Yeah, Radiohead.« Mit wippendem Oberkörper entfernt sie sich.

Arbogast: »Was ist das mit dem Krishna-Ding?«

Gast 1: »Ach Mann, der ist da reingekippt. Ich kenne den schon seit … was weiß ich, sieben Jahren? Oder? Und ich hätte mir nie gedacht, dass …«

Arbogast: »Nein, du, Lorenz.«

Gast 3: »Gaudenz.«

Arbogast: »Entschuldige, Gaudenz. Was ist das mit dem Krishna-Ding?«

Gast 3: »Ich weiß auch nicht so genau. Ich war da auf einem Rockfestival, und da haben die Krishnas einen Stand gehabt. Die sind drei Tage lang ununterbrochen von Besoffenen beleidigt worden. Da habe ich Mitleid gehabt. Und ich hab mit denen getanzt. Und jetzt … gehe ich halt dahin, manchmal.«

Arbogast: »Aber du gehst ja auch zu … Veranstaltungen wie diesen hier.«

Gast 1: »Ja genau, total schizophren. Gaudenz, Gaudenz.« Er schnalzt mehrmals leise mit der Zunge, wie zu einer kleinen Katze.

Arbogast: »Was meinst du, verhältst du dich schizophren, Gaudenz?« Er schaut Gast 3 ins Gesicht. Niemand weiß, ob er einen ironischen Scherz oder eine gute Antwort erwartet. In seinem Gesicht zuckt nichts mehr.

Gast 3: »Ich glaube, das ist Blödsinn.«

Gast 1: »Hoho, eine toughe Ansage, steht so was in der Anskhapurna Kravata?«

Arbogast: »Blödsinn it shall be. Reden wir von etwas anderem.«

Niemand spricht. Gast 1 schaut unruhig durch den Raum.

Gast 3 sieht Arbogast an.

Arbogast: »Ich, äh …, also auf dem Weg hierher war es wieder einmal so, dass ich mich an Sachen erinnert habe, und gleichzeitig habe ich mir gesagt, dass die Erinnerung so ganz sicher nicht stimmen kann. Ich … hab mich an eine vor Feuchtigkeit glänzende Stadt mit einer großen Brücke erinnert. Alle wollen diese Brücke sehen. Alle bewegen sich von allen Seiten in einer Art Prozession hin zu ihr, mehr oder weniger rhythmisch, so wie der Zikadenchor, der zwischendurch kurz unisono dröhnt, aber meistens völlig unzusammenhängend. Die Sonne scheint, ihr Licht ist fast schon brutal, trotzdem ist es kühl. Was machen diese Menschen da? Warum schnappen sie sich nicht eine Teigtasche mit Bohnen und Fleisch, die gibt’s günstig an jeder Straßenecke? Warum wollen sie alle nur auf die Brücke? Oder warum brennt sich das Bild der Brücke so ein, dass Menschen wie ich glauben, alle wollen nur zu ihr?«

Gast 1: »He pff, also bitte …«

Gast 3: »Okay.« Und nach einer Pause: »Studierst du auch Ethnologie? Macht das das Ethnologiestudium aus einem?«

Arbogast: »Nein, im Gegenteil.« Arbogast schaut Gast 3 ins Gesicht und lächelt. »Im Gegenteil. Sag, bevor du zu diesem Rockfestival gefahren bist, hast du dir da gedacht: Ich muss hier raus?«

Gast 3 denkt nach. Dann sagt er: »Kann ich mir nicht vorstellen.«

Arbogast verzieht seine Unterlippe, sodass man darüber die Zähne sieht. Er atmet deutlich hörbar einmal ein und aus. Ganz kurz kneift er seine Augen zusammen. »Eben«, sagt er. »Wenn man das denkt …, wenn man das ganz im Ernst denkt, dann … hat man ein Hindernis zu viel gebaut.«

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Peter Arbogasts Wohnung in München befand sich in Bogenhausen, einem Viertel für die Wohlbetuchten, mit Alleen und Villen. Wiederholt hat er sich darüber in Briefen an seinen Vater lustig gemacht (»Ich glaube, meine Hauptaufgabe hier ist, die Verbrauchszahlen für Diskontbier und Diskontschnaps in die Höhe zu treiben.«). Er empfand die Wohnung als deutlich zu groß für sich. Zwei Zimmer sollen in den gut acht Jahren, die Arbogast dort verbrachte, völlig unmöbliert geblieben sein. Es gehörte aber zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, sich in ebendiesen Zimmern aufzuhalten, zu rauchen und immer wieder auf die Ismaninger Straße hinunterzublicken.

Seine Versuche, im Münchner Studenten- und Kreativenmilieu Anschluss zu finden, können nur als halbherzig bezeichnet werden. Ende 1999 war er an einer Tanztheaterproduktion beteiligt. Er schrieb ein Skript für Umma, eine Choreografie, die lose sektenartige Rituale beziehungsweise Anordnungen, die an sektenartige Rituale erinnerten, verband. Mit der Umsetzung auf einer Off-Bühne zeigte er sich jedoch sehr unzufrieden. »Warum muss hier alles in die Befindlichkeitssoße getunkt werden?«, echauffierte er sich. »Das Sehnen nach Gemeinschaft, nach einer neuen Spiritualität, das steht alles nicht in meinem Text. Das steht da einfach nicht drin.« Die kurze künstlerische Partnerschaft mit der Tänzerin Elisa Guntersohn, über zehn Jahre älter als Arbogast, ging rasch in die Brüche.

Ansonsten bleibt vieles von dem, was Peter Arbogast in jener Zeit getan hat, ungreifbar. Es ist, als hätte sich ein Nebel darübergelegt, ein Nebel, durch den sich Arbogast in scheinbarer Ziellosigkeit bewegte. Ein bisschen Studium, ein bisschen Partys, zahllose Spaziergänge. Gedankenströme, die durch den ruhig wirkenden, dabei aber naturgemäß ehrgeizigen End-Teenager und Früh-Zwanziger rauschten. Die Straßen, die Gassen, die Kirchen, die Satellitenstädte, Schloss Nymphenburg, die Gärten, die pseudobarocken Prunkgebäude des Vormärz. Die Biergärten, aber niemals das Hofbräuhaus. Wie ein Trabant, der seine Umlaufbahn selbst festlegt, kreiste und zickzackte er durch München. »Die Gosse. Wo ist die Gosse? Wo gibt’s denn hier noch eine anständige Gosse?« heißt es im Lied »G.« auf seiner ersten Platte. Und »Manchmal wünsche ich mir, ich wäre ein unbegabter Kunstmaler« im Lied »Die Anspielung«. Es muss eine frustrierende Zeit gewesen sein.

Verbürgt ist, dass Arbogast sich am 4. Februar 2000 ein Pianino in einen Keller im Münchner Westend liefern ließ, den er kurz davor angemietet hatte. In San Francisco und Oslo hatte er sporadisch Klavierunterricht genommen, ohne als übermäßig begabt zu gelten. Außerdem hatte er in Norwegen eineinhalb Jahre lang auf eigenen Wunsch Oboe gelernt, ein Instrument, das er erst viel später wieder einsetzen sollte. Die Bewohner des Hauses in der Kazmairstraße bestätigen, dass er ab Februar sehr viel Zeit in diesem Kellerraum verbracht haben muss. Weil die unterirdischen Gewölbe sehr weitläufig waren und Arbogasts Raum im zweiten Kellergeschoss lag, kam es zu keinerlei Klagen über die Lautstärke. Und dann, im März, die Aufnahmen zu Hallo. Mit dem Ergebnis soll Peter Arbogast laut Aussagen einiger Bekannter sehr zufrieden gewesen sein. Umso größer war seine Enttäuschung darüber, dass sich kein Plattenlabel zur Veröffentlichung entschließen konnte.

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Solche Zeiten, in denen sich Peter Arbogast jeder Öffentlichkeit, jeder Nachvollziehbarkeit zu entziehen scheint, gab es in seinem Leben immer wieder. Gerade jetzt ist es wieder so weit. Auch seine ersten Jahre in Detroit, ab Ende 2005, bleiben zu weiten Teilen im Dunkeln. Vor seine Abreise aber hatte er eine Aktion gesetzt, die für großes Aufsehen sorgte.

Arbogasts Beziehung zu Maria Veit war im September 2005 endgültig zu Ende gegangen. Im Oktober trat er auf diversen Jahrmärkten in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf. Diese Auftritte hatten jedoch nichts mit Musik zu tun. Arbogast reiste mit einem Kleinbus. Im Stauraum befanden sich mehrere mit Stroh gefüllte lebensgroße Menschenpuppen. Diese trugen Schilder an ihren Köpfen, auf denen »Der Türke«, »Der Kosovare«, »Der Tamile« und so weiter stand. Ihre Gesichtszüge wiesen die jeweiligen Stereotype für Menschen aus diesen Ländern auf. Schnauzbärte, Fußballerfrisuren, kaffeebraune Haut. An Arbogasts Stand konnten nun die Besucher der Jahrmärkte diese Puppen gegen eine geringe Gebühr kräftig ins Gesicht oder auch in andere Körperteile schlagen. Auf einem Messgerät, das aber, wie man im Nachhinein feststellte, tatsächlich von Arbogast selbst gesteuert wurde, wurde die Stärke der Schläge angezeigt. Erreichte man mehr als 88 Punkte, hatte man Anrecht auf einen Preis, auf ein Stoff-Marsupilami, eine Trockenhaube oder einen Gutschein für einen Autoservice. Gemeinhin erreichte man die höchste Punktezahl durch Schläge in die Weichteile und durch Tritte gegen den Hinterkopf. Die Firmen, die die Preise zur Verfügung gestellt hatten, betonten später einhellig, über den Inhalt des Wettbewerbs in die Irre geführt worden zu sein.

An den meisten Orten zeigten sich die Jahrmarktbesucher irritiert und weigerten sich zunächst, mitzumachen. Oft zeigte Arbogast dann selbst, wie viel »Spaß« man an seinem Stand haben konnte. Er prügelte brutal auf die Puppen ein und stieß dazu martialische Schreie aus. Mit der Zeit ließen sich zahlreiche Anwesende, in der Hauptsache betrunkene Männer, auf das »Spiel« ein. Lief es besonders gut, trieb es Arbogast auf die Spitze, indem er behauptete, die Preise seien ausgegangen, dafür könne man jetzt gratis weiterschlagen. Bei zahlreichen Gelegenheiten kam es zu Aufruhr, insbesondere reagierten junge Ausländergruppen aggressiv auf Arbogast und seine Kunden. Nicht selten musste die Polizei einschreiten. Nach zwei Wochen wurde Arbogast die ordnungsgemäß erworbene Lizenz entzogen. Er reagierte mit Protestbriefen an etliche Behörden.

Die Argumentationen in diesen Schreiben fielen höchst unterschiedlich aus. Sie widersprachen sich. Winterthur: »Der Lizenzentzug meine Person betreffend ist ein Schlag gegen die Meinungsfreiheit.« Wiesbaden: »Das Lenken zweifellos vorhandener Wut gegen schmerzunempfindliche Puppen statt gegen echte Menschen hat eine wertvolle Ventilfunktion.« Wien: »Dieses Spiel setzt nur konsequent um, was der Gesetzgeber vorbereitet hat.« Die Staatsanwaltschaft Leipzig leitete ein Verfahren wegen Volksverhetzung gegen Peter Arbogast ein, das 2007 wieder eingestellt wurde. Seine Aktion war damit quasi offiziell als Satire anerkannt. Der taz, die ihn einige Wochen später unter Mühen in Detroit aufstöberte, sagte Arbogast dazu nur: »Satire? Das ist traurig. So etwas Trauriges habe ich selten gehört. Ich werde mir aus meiner Traurigkeit ein Haus bauen.«

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Interview mit Salome Swansrud, ehemals Arbogast, geborene Mayer, 18. März 2015, Oslo

Welcher Eindruck von Peter ist Ihnen am stärksten geblieben?

(Sie lächelt.) »Ich glaube, am liebsten habe ich seine Unruhe gehabt. Obwohl sie mir auch Angst gemacht hat, besonders zur Zeit der Trennung. Das war … Ich konnte …« (Sie nimmt einen Schluck Tee und schweigt.)

Viele, mit denen ich gesprochen habe, haben ihn als sehr überlegt auftretenden Menschen erlebt.

»Ja, natürlich.«

Sie nicht?

»Ja, also …, das kann man doch gar nicht vergleichen. Ich habe sicher mehr Zeit mit ihm verbracht als jeder andere. Und ich bin seine Mutter.«

Und das heißt?

»Das heißt …, ach, ich weiß doch auch nicht genau, was das heißt. Seine Geburt hat unendlich lange gedauert. Am Schluss wurde er mit einer Saugglocke herausgeholt. Und dann, als er sechs Jahre alt war, hätte er fast ein Geschwisterchen bekommen. Aber ich habe das Kind verloren. Ich könnte schwören, er war …, also es ist schwierig, das zu sagen, er war sicher um mich besorgt, ich musste dann ja Tage im Krankenhaus bleiben. Er hat jedenfalls … An der Oberfläche war er froh, dass er weiterhin unser Einziger war.«

Aber Sie vermuten, das war nicht alles.

»Zwei Jahre später, es war ein wunderbar sonniger Tag, da sagte er plötzlich, wie aus dem heiteren Himmel dieses Tages heraus: ›Mami, jetzt könnte ich Klarabella den Park zeigen und den schönen alten Baum.‹«

Und Klarabella wäre …

»Ja, so hätte seine Schwester geheißen.«

Aber das mit der Unruhe, könnten Sie das noch näher erklären?

»Da bin ich gerade dabei, junger Mann.«

Aha.