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Daniel H. Pink

WHEN

DER RICHTIGE ZEITPUNKT

Aus dem Amerikanischen von Friederike Moldenhauer

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Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel When: The Scientific Secrets of Perfect Timing.

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Lektorat: André Pleintinger

Printed in Czech Republic

ISBN 978-3-7110-0110-8
eISBN 978-3-7110-5179-0

Inhalt

Einleitung: Captain Turner trifft eine Entscheidung

TEIL I – Der Tag

1. Die geheimen Muster des Alltags

Stimmungsschwankungen und Stockschläge

Vigilanz, Inhibition und das Geheimnis täglicher Höchstleistungen

Lerchen, Nachteulen und Normvögel

Synchronität und der Drei-Phasen-Tag

Zeithacker-Handbuch

Finden Sie mit der Drei-Stufen-Methode heraus, was Ihr täglicher optimaler Zeitpunkt ist

Finden Sie heraus, wann Ihr persönlicher günstigster Zeitpunkt am Tag ist – für Fortgeschrittene

Was ist, wenn Sie Ihren Tagesablauf nicht beeinflussen können?

Der richtige Zeitpunkt für Sport: ein ultimativer Leitfaden

Vier Tipps für einen besseren Morgen

2. Nachmittage und Koffein – Die Macht der Pause, das Versprechen des Mittagessens und ein Plädoyer für den Mittagsschlaf 2.0

Bermudadreiecke und Plastikvierecke: Die Macht von Achtsamkeitspausen

Ob Klassenzimmer oder Gerichtssaal: Der Einfluss von Erholungspausen

Die wichtigste Mahlzeit am Tag

Schlaf am Arbeitsplatz

Plädoyer für den Mittagsschlaf 2.0

Zeithacker-Handbuch

Erstellen Sie eine Pausen-Liste

Anleitung für den perfekten Mittagsschlaf

Menü: fünf Variationen der Erholungspause

Erstellen Sie Ihre individuelle Auszeit- und Nachmittagstief-Checkliste

Pausieren wie ein Profi

Kinder brauchen Pausen: unerbittliches Plädoyer für die Schulpause

TEIL II – Anfang und Ende und alles dazwischen

3. Der Anfang – Richtig anfangen, noch mal anfangen und zusammen anfangen

Richtig starten

Neu anfangen

Gemeinsam anfangen

Zeithacker-Handbuch

Vermeiden Sie einen Fehlstart mit einer Prävention

86 Tage im Jahr für einen Neuanfang

Wann sollten Sie als Erstes anfangen?

Wann sollten Sie heiraten?

4. Die Mitte – Was wir aus Hanukkah-Kerzen und dem Midlife-Unbehagen über Motivation lernen können

Die Lebensmitte oder that’s what I like about you

Kerzen anzünden und Ecken abschneiden

Der O-weh-Effekt

Halbzeit

Zeithacker-Handbuch

Fünf Tricks, um das Halbzeittief motiviert zu überwinden

Nutzen Sie die Methode des Forming-Storming-Performing

Fünf Wege, um das Midlife-Tief zu bekämpfen

5. Das Ende – Marathon, Schokolade und die Macht der Intensität

Neue Energie: Warum wir uns in der Endgerade (meist) mehr anstrengen

Einordnung: Jimmy, Jim und das gute Leben

Überarbeiten: Warum weniger mehr ist – besonders gegen Ende

Gute Nachrichten, schlechte Nachrichten und ein Happy End

Zeithacker-Handbuch

Lesen Sie die letzten Zeilen

Der rechte Zeitpunkt zu kündigen: ein Leitfaden

Der richtige Zeitpunkt für die Scheidung

Vier Gelegenheiten, das Ende besser zu machen

TEIL III – Timing: Abstimmen und Denken

6. Zeitliche Abstimmung – Das Geheimnis von Gruppen-Timing

Chorleiter, Steuerfrau und Uhr: Orientierung am Boss

Über den Vorteil, ein Teil zu sein: der Gleichklang mit dem Stamm

Anstrengung und Ekstase: Harmonie nach Herzschlag

Zeithacker-Handbuch

Sieben Möglichkeiten, um das »Harmonie-High« zu erreichen

Stellen Sie Ihrem Team diese drei Fragen – immer wieder

Vier Improvisationsübungen, die das Gruppen-Timing verbessern

7. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft – Ein paar letzte Worte

Weiterführende Literatur

Dank

Anmerkungen

Zeit ist nicht die Hauptsache. Es ist die einzige Sache.
Miles Davis

EINLEITUNG

CAPTAIN TURNER TRIFFT EINE ENTSCHEIDUNG

Am 1. Mai 1915, einem Samstag, macht ein Luxusliner um 12.30 Uhr die Leinen los. Vom Pier 54 am Hudson River in Manhattan aus geht es nach Liverpool in England. Sicherlich war einigen der 1959 Passagiere und der Besatzung an Bord des riesigen britischen Schiffes nicht ganz wohl, was eher an der Zeit lag als an den Gezeiten.

Großbritannien befand sich im Krieg gegen Deutschland, im Sommer vergangenen Jahres war der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Erst kürzlich hatte Deutschland das Seegebiet um die Britischen Inseln zur Kriegszone erklärt – das Schiff musste genau dort durch. In den Wochen, die der geplanten Abfahrt vorausgingen, hatte die deutsche Botschaft in den USA sogar Anzeigen in amerikanischen Zeitungen geschaltet, um die potenziellen Passagiere zu warnen: Diejenigen, die die Gewässer »auf Schiffen aus Großbritannien oder seinen Verbündeten [befahren], tun dies auf eigene Gefahr«.1

Nur wenige Passagiere stornierten daraufhin ihre Überfahrt. Schließlich hatte dieses Linienschiff schon mehr als 200 Transatlantiküberquerungen ohne Zwischenfälle hinter sich. Es war eines der größten und schnellsten Passagierschiffe der Welt. Zur Ausrüstung an Board gehörten ein kabelloser Telegraf sowie Rettungsboote in ausreichender Anzahl (man hatte aus dem Untergang der Titanic drei Jahre zuvor gelernt). Außerdem, und das war vielleicht das Wichtigste, stand der Ozeanriese unter dem Kommando von Captain William Thomas Turner, einem der erfahrensten Seeleute der Passagierschifffahrt. Der schroffe 58-Jährige hatte im Laufe seiner Karriere zahlreiche Auszeichnungen erhalten und verfügte über »die Statur eines Banksafes«2.

Das Schiff überquerte fünf ereignislose Tage lang den Atlantischen Ozean. Aber als sich das massige Dampfschiff am 6. Mai der Küste Irlands näherte, erfuhr Turner, dass sich in diesem Gebiet deutsche U-Boote befanden. Umgehend verließ er das Kapitänsquartier und stellte sich auf die Brücke, um von dort den Horizont abzusuchen und schnell Entscheidungen treffen zu können.

Am Freitagmorgen, dem 7. Mai, befand sich das Schiff nur noch 100 Meilen von der Küste entfernt, als dichter Nebel aufzog, woraufhin Turner die Geschwindigkeit von 21 Knoten auf 15 Knoten drosseln ließ. Gegen Mittag hatte sich der Nebel gelichtet, und in der Ferne konnte Turner die Küste ausmachen. Der Himmel war klar. Die See war ruhig.

Jedoch bemerkte der deutsche U-Boot-Kommandant Walther Schwieger gegen 13 Uhr den Passagierdampfer, ohne dass der dortige Captain oder die Crew davon etwas mitbekamen. Im Laufe der nächsten Stunden traf Turner zwei unverständliche Entscheidungen. Zunächst erhöhte er die Geschwindigkeit des Schiffes nur ein wenig, nämlich auf 18 Knoten, jedoch nicht auf die Maximalgeschwindigkeit von 21 Knoten, obwohl die Sicht gut und die See ruhig war und er wusste, dass ihnen U-Boote auflauern könnten. Während der Überfahrt hatte Turner den Passagieren versichert, er werde das Schiff so schnell wie möglich nach Europa lenken, und bei Maximalgeschwindigkeit könne der Ozeanriese jedes U-Boot mit Leichtigkeit abhängen. Zweitens führte Turner gegen 13.45 Uhr eine sogenannte Vier-Punkt-Peilung zur Positionsbestimmung durch. Diese nahm 40 Minuten in Anspruch, obwohl es auch ein einfacheres Verfahren zur Kurskorrektur gab, das nur fünf Minuten gedauert hätte. Aufgrund dieses Verfahrens musste Turner das Schiff auf gerader Linie lenken, anstatt einen Zickzackkurs zu wählen, mit dem er etwaigen U-Booten samt ihrer Torpedos am besten hätte ausweichen können.

Um 12.10 Uhr wurde das Schiff an der Steuerbordseite von einem deutschen Torpedo getroffen, der ein gewaltiges Loch in den Rumpf riss. Es entstand eine riesige Wasserfontäne, die Ausrüstung und Schiffsteile an Deck schleuderte. Einige Minuten später lief ein Kesselraum voll Wasser, dann der nächste. Diese Zerstörung löste eine weitere Explosion aus. Turner wurde über die Reling geschleudert, schreiende Passagiere liefen zu den Rettungsbooten. Danach, nur 18 Minuten nach dem Treffer, kippte das Schiff auf die Seite und begann zu sinken.

Nachdem er die angerichtete Verwüstung in Augenschein genommen hatte, fuhr U-Boot-Kommandant Schwieger hinaus aufs Meer. Er hatte die Lusitania versenkt.

Dieser Angriff kostete fast 1200 Menschen das Leben, von den 141 Amerikanern an Bord überlebten nur 18. Dieser Vorfall sorgte dafür, dass der Erste Weltkrieg eskalierte, dass die Gesetze der Kriegsschifffahrt neu geschrieben wurden und dass im Weiteren die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten. Aber was genau vor einem Jahrhundert an diesem Nachmittag im Mai passierte, ist bis heute ein Geheimnis. Zwei Untersuchungen, die unmittelbar im Anschluss an das Unglück durchgeführt wurden, brachten keine zufriedenstellenden Ergebnisse. Die Resultate der ersten Untersuchung wurden von den britischen Behörden zurückgehalten, um Militärgeheimnisse zu schützen. Die zweite Analyse durch John Charles Bingham entlastete Captain Turner und die Schifffahrtsgesellschaft. Der britische Jurist, auch als Lord Mersey bekannt, hatte ebenfalls den Untergang der Titanic untersucht. Pikanterweise zog sich Lord Mersey einige Tage, nachdem die Anhörungen abgeschlossen waren, von dem Fall zurück und lehnte jedes Honorar für seine Leistungen ab. »Der Fall Lusitania war ein verdammtes, dreckiges Geschäft!«, so Bingham einige Zeit später.3 Im letzten Jahrhundert haben sich Journalisten mit Zeitungsartikeln und den Tagebüchern der Passagiere beschäftigt, ebenso haben Taucher versucht, anhand des Wrackes Schlüsse zu ziehen, was damals wirklich geschehen ist. Sowohl Autoren als auch Filmemacher produzieren weiterhin Bücher und Dokumentationen, die vor Spekulationen nur so strotzen.

Hatte Großbritannien vorgehabt, die Lusitania einer Gefahr auszusetzen, oder gab es sogar eine Konspiration, das Schiff zu versenken, um damit die USA in den Krieg hineinzuziehen? Wurde der Passagierdampfer, der mit kleinkalibriger Munition beladen war, in Wahrheit zum Transport größerer und gefährlicherer, geheimer Waffen für die Briten benutzt? War Großbritanniens wichtigster Mann der Marine, ein 40-Jähriger namens Winston Churchill, irgendwie an dem Vorfall beteiligt? War Captain Turner, der den Untergang überlebte, nur eine Schachfigur im Spiel einflussreicherer Männer, nur »ein Dummkopf, [der] das Unglück anzog«, wie ihn ein überlebender Passagier beschrieb? Oder hatte er einen kleinen Schlaganfall erlitten, der sein Urteilsvermögen beeinträchtigte, wie andere behaupteten? Handelte es sich bei den Untersuchungen und Ermittlungen, deren umfänglichen Berichte bis heute unveröffentlicht geblieben sind, um massive Verschleierungsversuche?4

Mit Bestimmtheit kann das niemand sagen. Mehr als 100 Jahre investigativer Journalismus, historische Analysen und reine Spekulationen konnten bisher keine endgültigen Antworten geben. Aber vielleicht gibt es auch eine einfache Erklärung, die bisher nur keine Beachtung fand. Vielleicht hat Captain Turner, betrachtet aus der noch neuen Perspektive der Verhaltenswissenschaften und Biologie des 21. Jahrhunderts, einfach ein paar falsche Entscheidungen getroffen, die zu einem der größten Unglücke der Seeschifffahrt führten. Und vielleicht waren diese Entscheidungen deswegen so schlecht, weil er sie am Nachmittag traf.

In diesem Buch geht es um Timing. Wir wissen alle, wie wichtig der richtige Zeitpunkt ist. Allerdings wissen wir nicht viel über das Timing an sich. Im Laufe des Lebens müssen wir ununterbrochen Entscheidungen über das »Wann« treffen: Wann suchen wir uns einen neuen Job, wann übermitteln wir jemandem eine schlechte Nachricht, legen einen Termin für einen Kurs fest, lassen uns scheiden, gehen joggen oder widmen uns ernsthaft einem Projekt oder einer Person? Doch kommen die meisten dieser Entscheidungen aus dem diffusen Dunst aus Intuition und Raterei. Timing, so glauben wir, sei eine Kunst.

Ich möchte zeigen, dass das Finden des richtigen Zeitpunktes in Wirklichkeit eine Wissenschaft ist – immer mehr Ergebnisse aus verschiedenen und interdisziplinären Untersuchungen bieten dazu neue Einsichten über den Menschen. Darüber hinaus liefern sie einen nützlichen Leitfaden für effektiveres Arbeiten und ein besseres Leben. Geht man in einen beliebigen Buchladen oder in eine Bibliothek, stehen dort Regalmeter voller Ratgeber, wie man Dinge tun kann – wie man Freunde findet, andere beeinflusst oder innerhalb eines Monats lernt, Tagalog zu sprechen. Ständig werden neue Bücher publiziert, sodass die Zahl allein ihre Kategorie »Wie man …« braucht. Betrachten Sie dieses Buch als ein vollkommen neues Genre – ein Buch zum Thema »Wann«.

In den letzten beiden Jahren habe ich mit zwei furchtlosen Forschern mehr als 700 Studien gelesen und analysiert. Sie berücksichtigten die Disziplinen Wirtschaft, Anästhesiologie, Anthropologie, Endokrinologie, Chronobiologie und Sozialpsychologie. Unser Ziel war es, die versteckte Wissenschaft des rechten Zeitpunktes ans Licht zu bringen. Auf den nächsten Seiten werde ich anhand dieser Recherche Fragen untersuchen, die uns unser ganzes Leben begleiten, aber meistens unseren Blicken verborgen sind. Warum spielen Anfänge – ob wir einen guten oder schlechten Start erwischen – eine so große Rolle? Und können wir noch einmal von vorn anfangen, wenn wir schon bei den Startblöcken ins Stolpern geraten? Warum hemmt uns manchmal die Mitte – eines Projektes, eines Spieles, ja sogar eines Lebens –, oder warum treibt sie uns in anderen Fällen an? Aus welchen Gründen erfüllt uns ein nahendes Ende mit neuer Energie, die nötig ist, um die Ziellinie zu erreichen, oder warum bringt es uns dazu, das Tempo herauszunehmen und den Sinn unseres Tuns zu hinterfragen? Wie stimmen wir unsere Zeit mit der anderer Leute ab – ob es nun darum geht, Software zu designen oder eine Chorprobe zu organisieren? Woran liegt es, dass die Stundenpläne einiger Schulen das Lernen behindern, während bestimmte Pausen dafür sorgen, dass die Schüler bei Prüfungen besser abschneiden? Aus welchem Grund verhalten wir uns auf eine ganz bestimmte Weise, wenn wir uns an die Vergangenheit erinnern, aber wiederum anders, wenn wir an die Zukunft denken? Und wie lassen sich schließlich Organisationen, Schulen und Leben gestalten, wenn man die unsichtbare Macht des Timings berücksichtigt? Wie, um es mit Miles Davis zu sagen, erkennen wir, dass das Timing nicht die Hauptsache ist, sondern die einzige Sache?

Dieses Buch steckt voller Wissenschaft. Sie werden viele Studien kennenlernen, die ich alle im Anhang aufgeführt habe, falls Sie sich eingehender damit beschäftigen (oder meine Sorgfalt überprüfen) wollen. Aber es ist definitiv auch ein Praxis-Buch. Am Ende jedes Kapitels findet sich das »Zeithacker-Handbuch«, das Maßnahmen, Übungen und Tipps aufführt, damit Sie Ihre Einsichten praktisch umsetzen können. Wo fängt man also an?

Der Startpunkt, an dem wir die Forschungsreise beginnen, ist die Zeit an sich. Beschäftigt man sich mit der Geschichte der Zeit, von den ersten Sonnenuhren der alten Ägypter über die frühen mechanischen Uhren des 16. Jahrhunderts in Europa bis zur Einführung der Zeitzonen im 19. Jahrhundert, stellt man schnell Folgendes fest: Das, was wir als »natürliche« Zeitabschnitte empfinden, sind im Prinzip nichts anderes als die Grenzen, die unsere Vorfahren festgelegt haben, um Zeit im Zaum zu halten. Sekunden, Stunden und Wochen sind Erfindungen des Menschen. Nur indem der Mensch sie abzählt, schreibt der Historiker Daniel Boorstin, »wird die Menschheit von der zyklischen Monotonie der Natur befreit«.5

Doch entzieht sich eine Einheit von Zeit unserer Kontrolle, nämlich der Inbegriff von Boorstins zyklischer Monotonie. Wir bewohnen einen Planeten, der sich mit gleichmäßiger Geschwindigkeit und in wiederkehrendem Muster um die eigene Achse dreht und uns regelmäßig Licht und Dunkelheit aussetzt. Jede Rotation der Erde nennen wir einen Tag. Vielleicht ist der Tag unsere wichtigste Einheit, sie bestimmt, wie wir unsere Zeit aufteilen, gestalten und bewerten. Daher soll der erste Teil dieses Buches mit der Erkundung dieser Zeitangabe beginnen. Was können uns Wissenschaftler über den Rhythmus eines Tages sagen? Wie können wir mit diesem Wissen unsere Leistungsfähigkeit stärken, Gesundheit verbessern und Zufriedenheit steigern? Und warum sollte man, wie das Beispiel Captain Turners zeigte, wichtige Entscheidungen nie am Nachmittag treffen?

TEIL I

DER TAG

1.

DIE GEHEIMEN MUSTER DES ALLTAGS

Was Menschen täglich tun, und wissen nicht, was sie tun! William Shakespeare, Viel Lärm um nichts

Versucht man herauszufinden, was in den Menschen weltweit vorgeht, welche großen Emotionen sich auf dem ganzen Erdball finden lassen, gibt es Schlechteres als Twitter. Über eine Milliarde Menschen haben 2016 Accounts, und sie posten circa 6000 Tweets pro Sekunde.6 Allein der Umfang dieser 140-Zeichen-Messages, also was Menschen mitteilen und wie sie es tun, hat ein Meer von Daten erzeugt. Sozialwissenschaftler bedienen sich daran, um menschliches Verhalten zu untersuchen.

Vor einigen Jahren haben die beiden Soziologen Michael Macy und Scott Golder von der Cornell University mehr als 500 Millionen Tweets analysiert. Diese Nachrichten wurden von 2,4 Millionen Usern in 48 Ländern innerhalb von zwei Jahren gepostet. Macy und Golder sahen in dieser Gesamtheit eine Möglichkeit, die Gefühle der Menschen zu erheben, insbesondere, wie sich »positive Affekte« (Emotionen wie Begeisterung, Zuversicht und Aufmerksamkeit) und »negative« (Emotionen wie Wut, Lethargie und Schuld) im Laufe der Zeit veränderten. Natürlich haben die beiden Wissenschaftler nicht jeden einzelnen der 0,5 Milliarden Tweets gelesen. Stattdessen setzten sie das effektive und weitverbreitete Textanalyseprogramm LIWC (Linguistic Inquiry and Word Count – Linguistische Untersuchung und Worthäufigkeit) ein, das jedes genutzte Wort hinsichtlich seiner emotionalen Bedeutung auswertete. Macy und Golder stellten ein bemerkenswert regelmäßiges Muster in den Tweets fest, die die Leute im Verlauf des Tages und der Nacht posteten (veröffentlicht in der angesehenen Zeitschrift Science). Der positive Affekt, der durch die Sprache, die die Twitterer wählten und durch die ihre aktive, engagierte oder hoffnungsvolle Stimmung ausgedrückt wurde, stieg im Allgemeinen am Morgen, erlangte nachmittags seinen Tiefpunkt und stieg wieder am frühen Abend. Ob ein Twitterer nun Nordamerikaner oder Asiate, Moslem oder Atheist war, spielte dabei keine Rolle. »Die zeitliche Verteilung des affektiven Musters ähnelt sich ungeachtet verschiedener Kulturen und geografischer Standorte«, so Macy und Golder. Ebenso wenig machte es einen Unterschied, ob die Tweets am Montag oder Donnerstag abgesetzt wurden. Am Wochenende waren die Ergebnisse jedoch leicht verändert. An Sonnabenden und Sonntagen lagen die Werte für positive Affekte im Allgemeinen etwas höher, und der Höhepunkt am Morgen fand etwa zwei Stunden später statt als an Wochentagen, doch blieb die Kurve insgesamt gleich.7 Ungeachtet der Tatsache, ob die Werte nun für ein großes Land wie die USA, die sich sehr von Region zu Region unterschieden, oder für ein kleineres und eher homogenes Land wie die Vereinigten Arabischen Emirate erhoben wurden, ähnelte sich das tägliche Muster komischerweise, und zwar wie folgt:

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Über Kontinente und Zeitzonen hinweg herrschten die gleichen täglichen Schwankungen – so vorhersehbar wie Ebbe und Flut: Nach einem hohen Wert kommt eine Talsohle, dann folgt ein Maximum. Es gibt ein verborgenes Muster unter der Oberfläche unseres Alltags, das so wichtig wie unerwartet und aufschlussreich ist.

Um dieses Muster, seine Hintergründe und seine Bedeutung zu verstehen, müssen wir in das 18. Jahrhundert zurückreisen, und zwar nach Frankreich, wo auf dem Fensterbrett eines Büros eine Topfpflanze stand: Mimosa pudica. Sowohl Pflanze als auch Büro gehörten Jean Jacques d’Ortous de Mairan, zu seiner Zeit ein berühmter Astronom. An einem Sommerabend 1729 saß de Mairan an seinem Schreibtisch und tat, was französische Astronomen aus dem 18. Jahrhundert ebenso wie amerikanische Autoren tun, wenn sie vor dem Abschluss eines wichtigen Werkes stehen: Er starrte aus dem Fenster. Als die Abenddämmerung einsetzte, bemerkte de Mairan, dass sich die Blätter der Mimose auf dem Fensterbrett zusammenfalteten. Tagsüber, als das Sonnenlicht durch die Scheiben schien, waren die Blätter ganz ausgebreitet. Dieses Schema – bei Tageslicht entfalteten sich die Blätter, bei einsetzender Dunkelheit klappten sie zusammen – warf Fragen auf. Wie nahm die Pflanze ihre Umgebung wahr? Und was würde passieren, wenn die Abfolge von Licht und Dunkelheit unterbrochen würde?

Es stellte einen Akt historisch bedeutsamer Prokrastination dar, als de Mairan den Blumentopf vom Fensterbrett holte, ihn in einen Schrank stellte und die Tür schloss, um kein Licht hineindringen zu lassen. Am nächsten Morgen öffnete er den Schrank, um nach seiner Pflanze zu schauen, und – mon Dieu! – die Blätter waren gespreizt trotz der Dunkelheit im Schrank. De Mairan führte seine Untersuchungen noch einige Wochen lang fort, indem er die Fenster mit schwarzen Vorhängen verhüllte, um dem kleinsten Lichtstrahl keine Chance zu geben, sein Büro zu erhellen. Das Muster blieb. Morgens öffneten sich die Blätter der Mimosa pudica, abends schlossen sie sich. Die Pflanze reagierte nicht auf Licht, das von außen auf sie schien. Sie gehorchte ihrer eigenen inneren Uhr.8

Seit de Mairans Entdeckung, die nun fast drei Jahrhunderte zurückliegt, haben Wissenschaftler festgestellt, dass fast alle Lebewesen über eine biologische Uhr verfügen, von Einzellern, die sich in Tümpeln versteckt halten, bis zu Vielzellern, die in Minivans herumfahren. Für das reibungslose Funktionieren des Organismus spielen diese inneren Zeitmesser eine wichtige Rolle. Sie herrschen über eine Reihe sogenannter circadiane Rhythmiken (lat. circa um … herum und diem Tag), die bei jedem Lebewesen im Hintergrund ablaufen. (Und in der Tat erwuchs aus de Mairans Topfpflanze die ganz neue Wissenschaft der Chronobiologie, die biologische Rhythmen untersucht.)

Für Sie und mich übernimmt sozusagen die Funktion des Big Ben der Nucleus suprachiasmaticus oder SCN. Er besteht aus einer Ansammlung von ungefähr 20 000 Zellen, hat etwa die Größe eines Reiskorns und befindet sich im Hypothalamus, im unteren zentralen Bereich des Gehirnes. Der SCN kontrolliert das Ansteigen und Abfallen der Körpertemperatur, reguliert unsere Hormone und hilft uns, abends einzuschlafen und morgens wieder aufzuwachen. Der SCN braucht ein wenig länger als die Erde für eine ganze Umdrehung, nämlich circa 24 Stunden und elf Minuten.9 Unsere eingebaute Uhr nutzt also soziale Hinweise (Öffnungszeiten und Busfahrpläne) und Signale aus der Umwelt (Sonnenaufgang und Sonnenuntergang), um die inneren und äußeren Zyklen mehr oder weniger aufeinander abzustimmen – in einem Prozess, der »Phasenkopplung« genannt wird.

Das hat zum Ergebnis, dass Menschen jeden Tag, genau wie die Pflanze auf de Mairans Fensterbank, im übertragenen Sinne zu bestimmten Zeiten »offen« und »geschlossen« sind. Diese Muster sind nicht bei allen Menschen identisch, ebenso wenig wie mein Blutdruck mit Ihrem übereinstimmt oder derselbe vor 20 Jahren war oder in 20 Jahren sein wird. Aber die Ähnlichkeiten sind im Großen und Ganzen bemerkenswert. Und wo sie das nicht sind, lassen sich die Unterschiede vorhersagen.

Zunächst hatten sich Chronobiologen und andere Forscher mit den physiologischen Funktionen wie etwa der Melatoninproduktion oder metabolischen Reaktionen beschäftigt, doch nun umfasst ihr Arbeitsgebiet auch Emotionen und Verhalten. Die Wissenschaft bringt einige erstaunliche Muster in Bezug auf Zeit ans Licht, die unsere Gefühle und Leistungsfähigkeit beeinflussen – was uns wiederum Hinweise darauf gibt, wie wir unseren Alltag gestalten können.

Stimmungsschwankungen und Stockschläge

Trotz ihres Umfangs können Millionen von Tweets keinen perfekten Einblick in unseren täglichen Seelenzustand geben. Während andere Twitter-Studien bei der Untersuchung von Stimmungen zu ähnlichen Mustern gekommen sind wie Macy und Golder, haben sowohl das Medium als auch die Methodologie ihre Grenzen.10 In sozialen Medien präsentieren Menschen häufig ein Ideal, hinter dem sie ihre wahren und vielleicht nicht so idealen Gefühle verstecken. Darüber hinaus sind hochleistungsfähige Analyseinstrumente nötig, um diese Masse an Daten zu interpretieren, die nicht unbedingt in der Lage sind, Ironie, Sarkasmus und die anderen perfiden Tricks in der zwischenmenschlichen Kommunikation zu entdecken.

Glücklicherweise gibt es in den Verhaltenswissenschaften andere Methoden, um unsere Gedanken und Gefühle zu erforschen. Die Day Reconstruction Method (DRM) ist dazu besonders geeignet, denn mit ihrer Hilfe lässt sich Stunde für Stunde nachvollziehen, wie wir uns fühlen. Sie wurde von vier Forschern entwickelt, darunter Daniel Kahneman, der 2002 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, und Alan Krueger, der den Vorsitz des Wirtschaftsrates im Weißen Haus unter Barack Obama innehatte. Mithilfe des DRM rekonstruieren die Studienteilnehmer den vorherigen Tag, indem sie alles aufschreiben, was sie getan und wie sie sich dabei gefühlt haben. Ein Ergebnis der DRM-Forschung ist beispielsweise, dass an jedem beliebigen Tag Menschen am wenigsten glücklich sind, wenn sie zur Arbeit beziehungsweise zurückfahren, und am glücklichsten, wenn sie mit jemandem schmusen.11

Im Jahr 2006 nutzten Kahneman, Krueger und Kollegen das DRM, um »die Qualität eines Effektes [zu untersuchen], die häufig übersehen wird: die Rhythmik im Laufe des Tages«.

Mehr als 900 Amerikanerinnen aller ethnischen Gruppen, Altersgruppen, Haushaltseinkommen und Bildungsniveaus wurden gebeten, den vorangegangenen »Tag als eine fortlaufende Reihe von Szenen oder Episoden in einem Film« zu betrachten, wobei jede Szene zwischen 15 Minuten und zwei Stunden dauern konnte. Die Teilnehmerinnen beschrieben also, was sie in jedem Zeitabschnitt gemacht hatten, und wählten aus zwölf Adjektiven dasjenige aus, was am besten auf ihren jeweiligen Gemütszustand zutraf: glücklich, frustriert, erfreut, gereizt …

Bei der Analyse der Daten entdeckten die Forscher im Verlauf eines Tages ein »konsistentes und starkes bimodales Muster«, also eine Struktur mit zwei Höhepunkten. Der positive Affekt stieg bei den Befragten in den Morgenstunden bis zu einem »optimalen emotionalen Punkt« gegen Mittag. Dann sank die Laune rapide ab und blieb im Verlauf des Nachmittages mäßig, bis sie in den frühen Abendstunden wieder anstieg.12

Im Folgenden werden die Kurven für drei positive Emotionen präsentiert: glücklich, warm, erfreut. (Auf der y-Achse ist die Stärke des Gefühls aufgetragen: je höher die Zahl, desto positiver der Zustand; je geringer, desto weniger positiv; auf der x-Achse ist die Tageszeit von 7 Uhr bis 21 Uhr verzeichnet.)

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Die drei Kurven sind offensichtlich nicht identisch, aber sie folgen alle drei demselben Muster. Darüber hinaus ähnelt dieses Muster dem Tagesverlauf wie auf Seite 23 abgebildet: früh am Tag ein hoher Wert, dann fällt er ab, und danach steigt er wieder an.

Betrachtet man ein schwer fassbares Phänomen wie menschliche Emotionen, kann keine Studie oder Methodologie definitive Ergebnisse erbringen. Dieses DRM untersuchte ausschließlich Frauen. Außerdem kann es sich herausstellen, dass es schwer ist, das Was und Wann genau auseinanderzuhalten. Ein Grund dafür, dass »ich freue mich« gegen Mittag einen hohen Wert erzielt und um 17 Uhr nachmittags komplett gegenteilig ausfällt, ist, dass wir gern unter Menschen sind, was beim Mittagessen häufig passiert, und dass wir es hassen, uns durch den Straßenverkehr zu quälen (was häufig am späten Nachmittag der Fall ist). Dennoch ist das Muster so gleichmäßig und tritt so häufig auf, dass es sich kaum ignorieren lässt.

Bislang habe ich geschildert, was DRM-Wissenschaftler bisher über positive Affekte herausgefunden haben. Die Ergebnisse für negative Emotionen – frustriert, besorgt, genervt sein – waren nicht so ausgeprägt, zeigten aber typischerweise ein gegenläufiges Muster. Negative Gefühle stiegen am Nachmittag an und sanken wieder gegen Ende des Tages. Kombinierten die Wissenschaftler beide Emotionen, war der Effekt besonders deutlich. Folgende Grafik stellt etwa eine »netto gute Stimmung« dar. Der Wert basiert auf den Bewertungen für das jeweilige Glücksgefühl, von denen die Frustrationswerte subtrahiert worden sind.

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Und hier wieder: ein Höhepunkt, ein Absinken, ein erneutes Ansteigen.

Stimmungen sind ein innerer Gefühlszustand, doch haben sie Auswirkungen nach außen. Wir können uns noch so sehr anstrengen, unsere Gefühle zu verbergen, unvermeidlich teilen sie sich anderen mit und beeinflussen, wie unsere Mitmenschen auf unsere Äußerungen und unser Verhalten reagieren.

Haben Sie jemals eine Tomatencremesuppe zu Mittag gemacht, war dafür vielleicht Doug Conant der Grund. Zwischen 2001 und 2011 war Conant CEO der Campbell Soup Company, der berühmten Marke mit den von Andy Warhol verewigten Dosen. Während seiner Amtszeit trug Conant zum Wiederaufleben der Marke und zum steten Wachstum der Firma bei. Wie alle Geschäftsführer musste Conant die verschiedensten Aufgaben unter einen Hut bringen. Aber einer Tätigkeit ging er mit besonderem Bedacht und jovialer Souveränität nach: Es ging um einen Ritus im Geschäftsleben, nämlich die Konferenz, in der die Quartalsbilanzen bekannt gegeben wurden.

Alle drei Monate setzte sich Conant, begleitet von drei Führungskräften (normalerweise der Finanzvorstand, ein Controller und der Head of Investor Relations), in einen Konferenzraum in der Firmenzentrale, Campbell’s Camden in New Jersey, USA. Jeder der Beteiligten nahm seinen Platz an einem viereckigen Tisch ein, auf dem eine Telefonanlage stand. Auf dieser Bühne sollte die einstündige Telefonkonferenz stattfinden. Dem Gespräch zugeschaltet waren über 100 Investoren, Journalisten und – weitaus am wichtigsten – Analysten der Börse, die die Stärken und Schwächen des Unternehmens bewerteten. Die erste halbe Stunde der Konferenz bestritt Conant mit einem Bericht über Campbells Umsatz, Ausgaben und Einnahmen des vorangegangenen Quartals. In den verbleibenden 30 Minuten konnten die Analysten Fragen stellen, um Näheres über das Geschäftsergebnis zu erfahren.

Wie bei allen börsennotierten Unternehmen steht auch für Campbell Soup bei der Verkündung der Quartalsergebnisse viel auf dem Spiel. Wie werden die Analysten reagieren? Werden die Kommentare des Geschäftsführers bezüglich der Firmenzukunft Optimismus oder Pessimismus auslösen? Das kann darüber entscheiden, ob die Aktienkurse steigen oder sinken. »Sie müssen den Faden ins Nadelöhr bekommen«, sagte mir Conant im Gespräch. »Sie müssen verantwortlich und unparteiisch sein und die Fakten darstellen. Aber Sie haben auch die Chance, sich für die Firma einzusetzen und Sachverhalte richtigzustellen.« Conant zufolge seien seine Ziele immer, »einem unsicheren Markt die Unsicherheit zu nehmen. In den Beziehungen mit Investoren geben mir diese Konferenzen eine regelmäßige Sicherheit.«

Wie wir alle sind CEOs natürlich auch Menschen, und vermutlich unterliegen auch sie den täglichen emotionalen Schwankungen wie wir. Aber CEOs sind auch ein unerschütterlicher Haufen, sie sind zielstrebig und denken strategisch. Sie wissen, dass Millionen von Dollar von jedem Wort abhängen, das sie bei diesen Telefonkonferenzen äußern, und diese Besprechungen bereiten sie eingehend vor. Sicherlich spielt es keine Rolle – was den Auftritt des Geschäftsführers oder das Vermögen der Firma angeht –, wann diese Konferenz angesetzt wird. Oder doch?

Drei amerikanische Professoren der Wirtschaftswissenschaften beschlossen, genau das herauszufinden. In einer noch nie dagewesenen Studie analysierten sie über 26 000 Quartalszahlen von mehr als 1200 börsennotierten Unternehmen. Die Studie erstreckte sich über sechseinhalb Jahre und nutzte ähnliche linguistische Algorithmen wie die beschriebene Twitter-Studie. Die Wissenschaftler untersuchten, ob die Tageszeit den emotionalen Tenor dieser wichtigen Konferenzen beeinflusste und damit als Konsequenz möglicherweise auch den Börsenwert des Unternehmens.

Wurde die Quartalsbilanz morgens als Erstes verkündet, stellten sich die Konferenzen als einigermaßen optimistisch gestimmt und positiv heraus. Doch im Verlauf des Tages »wurde der Ton negativer und weniger entschieden«. Um die Mittagszeit herum stieg die Stimmung wieder, möglicherweise weil alle Teilnehmer ihre mentalen und emotionalen Batterien wieder aufgeladen hatten, so nahmen die Professoren an. Doch am Nachmittag nahm die Negativität wieder zu, und die Stimmung stieg erst wieder, nachdem die Börse geschlossen war. Darüber hinaus erwies sich dieses Muster als stabil, »selbst nachdem Faktoren wie Industriestandards, finanzielle Engpässe, Wachstumschancen und die Neuigkeiten, von denen die Firmen berichteten, einbezogen worden waren13«. Auch wenn Nachrichten (eine Verzögerung in China, die den Export einer Firma beeinträchtigte) oder grundsätzliche Informationen (ein Unternehmen berichtete von extrem schlechten Quartalsergebnissen) von den Wissenschaftlern berücksichtigt wurden, waren Quartalskonferenzen am Nachmittag »negativer, gereizter und aggressiver« als die am Morgen.14

Aber vielleicht noch weitaus wichtiger – insbesondere für die Investoren – ist der Zeitpunkt der Verkündung und die daraus resultierende Stimmung, die die Aktienpreise des Unternehmens beeinflussen. Als Reaktion auf eine negative Note sanken die Aktien, selbst wenn sie zuvor auf tatsächlich gute oder schlechte Nachrichten reagierten, »was dazu führt, dass der Aktienkurs für die Unternehmen falsch bewertet wird, die später im Laufe des Tages ihre Bilanzen offenlegen«. »Die Teilnehmer an einer Bilanzkonferenz stellen fast eine Verkörperung eines idealen Homo oeconomicus dar«, so die Wissenschaftler. Obgleich die Aktienpreise sich schließlich wieder selbst korrigierten, sind diese Ergebnisse doch erstaunlich.

Sowohl die Analysten als auch die Führungskräfte wissen, was dabei auf dem Spiel steht. Es dreht sich nicht nur um die Personen, die an der Konzernquartalssitzung teilnehmen und zuhören, sondern um den gesamten Markt. Ein falsches Wort, eine unbeholfene Antwort, eine Stellungnahme, die nicht überzeugt, und der Aktienpreis stürzt ab, gefährdet die Prognosen des Unternehmens ebenso wie die Gehälter der Führungskräfte. Diese knallharten Geschäftsleute haben allen Grund, rational zu handeln, und ich bin mir sicher, dass sie davon auch überzeugt sind, es zu tun, aber die Realität der Wirtschaftswelt ist nichts gegen eine biologische Uhr, die sich im Laufe von Millionen von Jahren der Evolution entwickelt hat. Sogar »im Rahmen ihrer beruflichen Pflichten und umgeben von starken Anreizen, ist die Leistung von ausgebildeten Wirtschaftsakteuren vom Tageszyklus geprägt«.15

Den Akademikern zufolge haben diese Erkenntnisse weitreichende Auswirkungen. Die Befunde »weisen auf ein weitaus verbreitetes Phänomen des Tageszyklus hin, das über alle Hierarchieebenen und Geschäftsfelder in der gesamten Wirtschaft hinweg Unternehmenskommunikation, Entscheidungen und die Leistung beeinflusst«. Die wissenschaftlichen Ergebnisse waren derart robust, dass die Autoren etwas taten, was in akademischen Veröffentlichungen selten vorkommt: Sie gaben einen praktischen Ratschlag.

»Eine wichtige Kernaussage für Führungskräfte in Unternehmen ist laut unserer Untersuchung, dass die Kommunikation mit Investoren und wahrscheinlich auch andere richtungsweisende Managemententscheidungen sowie Verhandlungen zu einer frühen Tageszeit stattfinden sollten.«16

Sollten wir vielleicht alle diesen Rat beherzigen? (Wie sich herausstellt, hält Campbell normalerweise seine Bilanzkonferenzen morgens.) Unsere Stimmungen richten sich nach einem regelmäßigen Muster und beeinflussen damit – fast unsichtbar –, wie Führungskräfte in Unternehmen ihren Job erledigen. Sollten also diejenigen von uns, die noch nicht das Eckbüro in der Vorstandsetage bezogen haben, die Tage ganz anders anpacken und die wichtigsten Aufgaben in die Morgenstunden legen? Die Antwort lautet Ja. Und Nein.

Vigilanz, Inhibition und das Geheimnis täglicher Höchstleistungen

Ein genauerer Blick auf Linda offenbart Folgendes: Sie ist 31 Jahre alt, Single, geradeheraus und sehr klug. Linda hat einen Universitätsabschluss in Philosophie. Als Studentin hat sie sich eingehend mit Diskriminierung und sozialer Gerechtigkeit beschäftigt und sich in der Anti-Atomkraft-Bewegung engagiert.

Bevor ich Ihnen noch mehr über Linda erzähle, möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Was ist wahrscheinlicher?

a. Linda arbeitet als Kassiererin in einer Bank.

b. Linda arbeitet als Kassiererin in einer Bank und ist in der feministischen Bewegung aktiv.

Auf diese Fragen antworten die meisten mit (b). Intuitiv scheint das richtig, oder? Eine gerechtigkeitsliebende Philosophin, die gegen Atomkraft ist? Das klingt doch verdammt nach jemandem, der eine aktive Feministin sein muss. Aber (a) ist – zwangsläufig – die richtige Antwort. Es geht hier nicht um Fakten, denn Linda ist nicht real. Ebenso wenig geht es um Meinungen, es ist rein eine Frage der Logik. Bankkassiererinnen, die auch Feministinnen sind (das Gleiche gilt für Schalterbeamtinnen, die jodeln und eine Abneigung gegen Koriander haben), sind eine Untergruppe von Kassierern, und eine Untermenge kann nie größer sein als ihre Gesamtmenge.* Im Jahr 1983 veröffentlichte Daniel Kahneman zusammen mit seinem mittlerweile verstorbenen Kollegen Amos Tversky das Linda-Problem, um die sogenannte Verknüpfungstäuschung zu illustrieren, einer der zahlreichen Gründe, warum unsere Schlussfolgerungen verzerrt werden.17

Als Wissenschaftler das Linda-Problem Experimentteilnehmern zu verschiedenen Tageszeiten präsentierten, beispielsweise um neun Uhr morgens und um 20 Uhr, ließ sich anhand der Tageszeit häufig vorhersagen, ob die richtige Antwort gegeben wurde oder die Befragten auf der kognitiven Bananenschale ausrutschten. Morgens war die Wahrscheinlichkeit größer, dass die Probanden korrekt antworteten, als später am Tag. Doch gab es auch eine faszinierende und wichtige Ausnahme bei den Ergebnissen (dazu komme ich gleich noch). Aber ähnlich wie bei den Managern in den Bilanzkonferenzen war die Leistung im Allgemeinen besser zu Beginn des Tages und wurde mit jeder Stunde schwächer.18

Dasselbe Muster trifft auf Vorurteile zu. Die Wissenschaftler baten Probanden, das Maß der Schuld eines fiktiven straffälligen Angeklagten zu bemessen. Alle »Geschworenen« hatten dieselben Informationen zur Verfügung. Aber bei der Hälfte der Teilnehmer lautete der Name des Angeklagten Robert Garner, bei der anderen Hälfte hieß er Roberto Garcia. Als die Befragten ihre Entscheidungen am Morgen trafen, bestand zwischen den beiden Verdächtigen kein Unterschied bezüglich des Urteilsspruches. Wurden die Urteile jedoch später am Tag gefällt, tendierten die Probanden stärker zu der Meinung, Garcia sei schuldig und Garner zu Unrecht der Tat bezichtigt. Bei dieser Teilnehmergruppe war, wie sich anhand wissenschaftlicher Evaluation belegen ließ, die mentale Scharfsichtigkeit früher am Tag größer. Ebenso stieg die geistige Unbestimmtheit, wie sie sich in Stereotypen äußert, im Laufe des Tages.19

Vor mehr als einem Jahrhundert begannen Wissenschaftler, den Effekt von Tageszeit auf die Leistung des Gehirnes zu erforschen, allen voran der Pionier Hermann Ebbinghaus mit seinen Experimenten. Der Psychologe führte Versuche durch, in denen er zeigte, dass Menschen am Morgen besser eine Reihe von sinnlosen Silben lernten als abends. Seitdem haben sich Forscher mit dieser Frage in Bezug auf verschiedene mentale Aufgaben beschäftigt und sind zu drei wichtigen Erkenntnissen gekommen.

Erstens bleibt unser kognitives Vermögen tagsüber nicht immer gleich. Unsere Fähigkeiten verändern sich in den etwa 16 Stunden, die wir wach sind, und das passiert häufig auf regelmäßige, vorhersehbare Weise. Wir sind klüger, schneller, begriffsstutzig, langsamer, kreativer und weniger kreativ, abhängig von der Tageszeit.

Zweitens sind diese Tagesschwankungen extremer, als wir meinen. »Die Leistungsschwankungen zwischen dem täglichen Höhepunkt und dem Tagestief lassen sich mit den Auswirkungen von Alkoholgenuss der gesetzlichen Promillegrenze vergleichen«, so Russell Foster, Neurowissenschaftler und Chronobiologe an der University of Oxford.20 Andere Untersuchungen zeigen, dass der Effekt der jeweiligen Tageszeit 20 Prozent Varianz bei Leistung und kognitiven Aktivitäten erklärt.21

Drittens hängt die Art und Weise, wie wir etwas tun, davon ab, was wir tun. »Vielleicht lautet die Hauptaussage, die wir aus den Studien über die Auswirkungen der Tageszeit auf die Leistung ziehen können, dass der beste Zeitpunkt, etwas Bestimmtes zu machen, davon abhängt, um was es dabei geht«, stellt der britische Psychologe Simon Folkard klar.22

Das Linda-Problem ist eine analytische Aufgabe. Sie ist nicht so einfach, das stimmt. Aber um sie zu lösen, bedarf es weder besonderer Kreativität noch Scharfsinns. Auf diese Frage gibt es eine einzige korrekte Antwort, die man durch logisches Denken ermitteln kann. Es gibt reichlich wissenschaftliche Belege dafür, dass Erwachsene dieser Art des Denkens am Morgen am besten gewachsen sind. Nach dem Aufwachen steigt unsere Körpertemperatur langsam. Dieser Temperaturanstieg sorgt schrittweise für eine Erhöhung unseres Energieniveaus und unseres Wachheitsgrades – und das wiederum verbessert unsere Exekutivfunktionen, unsere Konzentrationsfähigkeit und unser Vermögen, deduktive Schlüsse zu ziehen. Bei den meisten von uns erreicht die Fähigkeit, klug und analytisch zu denken, am späten Vormittag oder um Mittag herum ihren Höhepunkt.

Das ist ein Grund dafür, dass unser Geist in den frühen Stunden des Tages vigilant, also wachsam ist. Beim Linda-Problem stellen die politisch aufgeladenen Informationen über Lindas Studienzeit eine Ablenkung dar. Sie erfüllen keine Funktion bei der Lösung der Aufgabe an sich. Wenn unser Geist hellwach ist, wie es morgens häufiger der Fall ist, können wir unser Gehirn vor derartigen Ablenkungen abschirmen.

Aber Vigilanz hat auch ihre Grenzen. Nachdem unsere mentalen Wachleute Stunde für Stunde dafür gesorgt haben, dass keine überflüssigen Informationen in unser Gehirn gelangen, werden auch sie müde. Sie verziehen sich für eine kurze Zigarettenpause oder um aufs Klo zu gehen. Und sobald sie um die Ecke sind, schleichen sich Eindringlinge wie undurchdachte Logik, gefährliche Stereotypen und irrelevante Informationen hinein. Wachsamkeit sowie Energie, die morgens zunächst ansteigen und gegen Mittag auf dem Höchststand sind, sinken am Nachmittag wieder ab.23 Mit diesem Abfall geht ein Sinken der Konzentrationsfähigkeit und von Hemmungen einher. Wie die Blätter bestimmter Pflanzen klappt unsere Fähigkeit zu analytischem Denken zusammen.

Die Auswirkungen können bedeutsam sein, fallen aber häufig unter unsere Wahrnehmungsschwelle. Wie überall auf der Welt unterziehen sich Schüler in Dänemark jedes Jahr einer Reihe standardisierter Tests, um ihren Lernfortschritt und das Abschneiden ihrer Schule zu überprüfen. Dänische Schulkinder erledigen diese Tests an Computern. Da die Schulen nicht für jeden Schüler mit einem Computer ausgerüstet sind, machen die Kinder den Test zu unterschiedlichen Zeiten. Daher hängt der Zeitpunkt dafür von den jeweiligen Tücken der Stundenpläne und der Verfügbarkeit eines PC ab. Einige Schüler machen den Test morgens, andere im Laufe des Tages.

Der rechte Zeitpunkt war nicht alles. Aber er war wichtig.