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Inhalt

[Cover]

Titel

ERSTER TEIL

Vorwort 1

Vorwort 2 [1972]

Berufssuche und Berliner Tageblatt

Die Oldens

Kunstprozeß

Der Stammtisch ›Capri‹ in der Anhaltstraße und Das Wunderbare

Reise nach Griechenland 1927

Rückkehr zu den deutschen Belangen

Der Anfang des Endes

September 1930

Roman

Das Jahr 1932

Unser Sohn

Die letzten Monate 1933

Besuch des Sturm 33

Besuch bei Theodor Wolff

ZWEITER TEIL

Wir finden Karl wieder

Erste Reise nach Berlin Mai 1948

Besuch bei Karl

Hamburg 1948

Zweite Reise nach Deutschland

Reise mit Heinz nach Berlin

Nachwort

Nicole Henneberg»Wer sind Sie überhaupt?«

Anmerkungen

Bildnachweise

Namenregister

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

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Bild 1

ERSTER TEIL

Vorwort 1

Wir sahen Ravenna an, ich, und, da ich das besitzanzeigende Fürwort in Verbindung mit Mann nicht leiden kann, werde ich in diesem Büchlein über fünfzig Jahre nur allzu oft falsch dargestellter Ereignisse den mir staatlich verbundenen Herrn beim Vornamen Heinz nennen. Er kannte das alles vom Studium her. Wie immer war es das große Glück, auf einer Piazza zu sitzen, einen Espresso zu trinken und dann die unsterblichen Mosaiken vom Glanz eines Hofes zu sehen, Kaiser Justinian mit Gefolge, Kaiserin Theodora mit Gefolge vor anderthalb Jahrtausenden, die Gotik vorgeahnt, alle überlang, aber sonst Menschen wie du und ich, in herrlichen Gewändern mit herrlichem Schmuck, ein prächtiger Vorhang zum Ziehen, ein Sprungbrünnlein in einem Marmorbecken und viel aus dem alten Testament, die Friedenstaube, Abrahams Opfer, die Geschichten Josephs.

»So«, sagte Heinz mit der Heiterkeit, die uns immer auf solchen Reisen beschieden war: »Und nun gehen wir zum Grabmal des Theoderich.« Wir standen, wie vor den Kopf geschlagen, vor etwas unerwartet Kleinem. »Da wundert man sich über Hitler«, sagte Heinz. Ich wußte genau, was er meinte. Keine dicken Bücher nötig, ein Blick genügte. Untergang einer Kultur, Ende einer Epoche. Jämmerlich, ungekonnt. Aus. Vorbei. Eine Kunstgeschichte aus einer verhältnismäßig noch guten Zeit, Anton Springer, 1907 nimmt kein Blatt vor den Mund: »Die große Rohheit fast aller dekorativen Glieder«, »Verwilderung des ornamentalen Sinns« … Er sagts, wie es ist. Diese antike Welt war nach genau tausend Jahren wiederentdeckt worden, Homer und Horaz, Parthenon und Pästum, blieb etwa fünfhundert Jahre mehr oder weniger lebendig, noch in ihren letzten Ausläufern geliebt, Biedermeiermöbel, Häuser von 1800. Hermann und Dorothea. Wann hat die Ablehnung der Antike angefangen? »Vernehmt, ihr Völker, unsern Schritt, wir sind die letzten Goten«, »die große Rohheit«, »die Verwilderung«, von der Anton Springer schreibt. Er benutzte die Worte »Rohheit« und »Verwilderung« für Ästhetisches, aber Ästhetisches ist ja nur Ausdruck einer Gesamtatmosphäre.

Nie sind die Franzosen auf die Idee gekommen, ihre grausamen fränkischen Merowinger zu bewundern. Die Engländer finden es gut, daß sie fünfhundert Jahre von den Römern besetzt waren, »die uns für die zivilisierte Welt entdeckt haben und die zivilisierte Welt für uns«. Und dann kamen die Germanen, doch wahrscheinlich zwei Pferde, wieso sonst »Hengist« und »Horsa«. »Sie machten uns wieder zu Wilden, abgeschnitten vom Rest der Welt, beinahe wie vor der Landung Cäsars«, schreibt Quiller-Couch, ein englischer Literaturhistoriker, und daß er nichts mehr von dem Unsinn hören möchte, daß die englische Literatur von Beowulf herkommt: »Papperlapapp, wir kommen von Virgil und Horaz her. Keats und Shelley sind sehr wohl ohne Beowulf denkbar, aber nicht ohne Ilias und Aeneas.« Auch Goethe und Schiller sind ohne Nibelungen und Gudrun denkbar, aber nicht ohne Horaz und Homer. Der Sieg von Hermann über die Römer war gewiß eine große militärische Leistung, auf lange Sicht eine Katastrophe. Man sollte das Niederwalddenkmal genauso entfernen wie den Peter von Amiens in Amiens. Es ist heute unangebracht, den Erfinder der ersten Pogrome in Europa auf einen Sockel zu stellen.

»Es ist der Geist, der sich den Körper baut«, der Geist, das heißt, die Zeitideen überschreiten jede Landesgrenze. Also wie kam es zu den fünfzig Millionen Toten, die Millionen entwurzelter Menschen, eine Weltterroristenbewegung, kurzum, wie kam es zu Hitler?

Vorwort 2 [1972]

Ich werde nicht reingelassen«, sagte der Herr.

»Ich auch nicht«, sagte ich.

»Sie kommen aus dem Ausland. Sie wissen nicht, was sich hier abspielt. Alles manipuliert.«

»Warum soll denn das manipuliert sein? Es ist überfüllt.«

»Nein, nein. So einfach ist das nicht. Wir haben hier dreizehn Millionen Judenstämmlinge, die haben alles in der Hand.«

»Dreizehn?« sagte ich, »ich dachte, es sind elf.«

Er nahm mich natürlich ernst. »Nein, nein«, sagte er, »dreizehn.« »Und ich werde Ihnen noch einen Beweis geben. In der ganzen Welt ist Arbeitslosigkeit. Bloß bei uns nicht. Und warum? Weil die Judenstämmlinge Gastarbeiter hereinbringen wollten, Marokkaner, Türken, alles, um unsre Rasse zu verderben.«

»Was fürne Rasse?«

»Unsere arische Rasse.«

»Was, Sie sind arische Rasse mit kohlschwarzem Haar und kohlschwarzen Augen?«

»Ich bin reinblütiger Germane.«

»Da haben Sie aber noch nie reinblütige Germanen gesehen. Brauchen Sie bloß nach Dänemark oder Schweden zu fahren. Das sind Leute mit blauen Augen und blonden Haaren.«

Der Herr sehr ernst: »Ich weiß, daß ich ein reinblütiger Germane bin.«

»Ach, da haben wohl Ihre Eltern die Ahnenprobe ablegen müssen?« Der Herr nickte weiter sehr ernst mit dem Kopf.

Na ja, denke ich, davon wirds ja doch wohl noch ein paar hundert geben, womöglich ein paar tausend. Die Nazipartei hat mit sieben angefangen.

Berufssuche und Berliner Tageblatt

Seit ich neunzehn Jahre alt war, hatte ich für Zeitungen geschrieben. 1915 veröffentlichte der Zeitgeist, eine Beilage des Berliner Tageblatts, einen Artikel »Frauendienstjahr und Berufsbildung«. In der Nacht, bevor der Artikel erschien, bekam ich eine tödliche Angst, ich stand auf, zog mich an, aber schon beim Strumpfanziehen wurde mir klar, daß man keine Schnellpresse anhalten kann. Ich erkannte, daß ich zu wenig wußte, und faßte deshalb in dieser schrecklichen Nacht den Entschluß, mein Abiturium zu machen und zu studieren. Als ich zum Frühstück kam, sagte meine Münchner Mama: »Ja, wie schaust du denn aus?« Als der Artikel erschien, sah ich, daß meine Angst völlig berechtigt war. Ein junges Mädchen aus guter Familie hatte nicht in Zeitungen zu schreiben. Ich begegnete allgemeiner Verachtung. In meiner angeborenen Wirrköpfigkeit meldete ich mich bei bekannten Gymnasialkursen an, um mein Abiturium nachzumachen, und brachte ein weißes Kostüm zum Schwarzfärben, nichts ahnend, daß man nie mehr ein weißes Kostüm würde kaufen können, erst wegen Krieg, dann wegen Inflation, weil ich hoffte, damit älter auszusehen. Es war alles der gleiche Unsinn. Für künftige Laufbahn und Unterhaltverdienen war Abiturium und Doktor, womit ich meine Jugend verdorben hatte, völlig überflüssig, genau wie das Schwarzfärben des einst so hübschen weißen Kostüms, denn als ich ins Zimmer trat, rief der Redakteur des Zeitgeistes: »Wenn ich gewußt hätte, daß Sie so jung sind, hätte ich den Artikel nicht gebracht.« Das Honorar, das erste größere Geld, fünfzig Mark, wurde mir aus der Manteltasche auf dem Schulkorridor gestohlen.

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Bild 2: Titelseite Berliner Tageblatt 1922: Walther Rathenau ermordet

Nach der Stabilisierung der Mark 1924 hatte mir Erich Vogeler, Feuilletonchef des Berliner Tageblatts, für den ich seit 1920 Feuilletons schrieb, den Posten einer Gerichtsberichterstatterin angeboten. Ich sollte es wenigstens versuchen. Er nannte mir einen Fall, Ort und Zeit der Verhandlung. Man konnte einem Menschen die Wege nicht liebevoller ebnen. Ich ging in dem Gerichtsgebäude die Treppe zum Zuhörerraum hinauf, aber ich konnte mich nicht entschließen, die Tür zum Gerichtszimmer zu öffnen. Nach einer Weile ging ich die Treppe wieder hinab. »Dumm und lebensunfähig«, nannte ich mich selber. Auf der Straße sprach mich ein Arbeiter an: »Was fehlt Ihnen denn, Fräulein?« Aber auch hier hatte ich keine Antwort. Es war Heinz, der immer erklärte: »Aber Sie wissen doch, meine Frau kann keine Türen öffnen, ist also die geborene Journalistin.«

Ich fuhr im Sommer nach Hiddensee, das der Sommerwohnsitz Gerhart Hauptmanns war und überhaupt beliebt bei der höheren Bohème. Hauptmann, wie ein römischer Imperator in ein weißes Frottiertuch gewickelt, öffnete mir einmal mit unvergleichlicher Grandezza eine Gartenpforte. Thomas Mann war da und nahm ihm Maß, um ihn als Peeperkorn in den Zauberberg einzuarbeiten. Thomas Mann war nervös, denn im Hotelgarten wurde mit Pfeil und Bogen geschossen, und seine kleinen Kinder flitzten herum, tatsächlich in ständiger Gefahr. Heinz war zur gleichen Zeit wie das Ehepaar Mann im Waldsanatorium Davos, dem »Zauberberg«, und kannte Leute aus dem Roman, nicht den Naphta, der ja Züge des ungarischen Philosophen Lucács trägt, auch nicht Hauptmann, der nicht dort war, wohl aber glaubte er Settembrini zu erkennen, sowohl die geistige Haltung wie seine Sprache, seinen Tonfall, und zwar sei er weitgehend, meinte Heinz, ein Dr. Berlin, der damals im Waldsanatorium war. Dr. Berlin war ein russischer Jude. Heinzens Bruder besuchte nach dem zweiten Weltkrieg noch einmal das Waldsanatorium und fand die eigenen Namen in einer alten Kladde. »Ja«, sagte einer der Herren, »wir haben das Jahr 1913 als letztes der normalen Jahre mit allen Eintragungen aufgehoben.« Der Leiter des Sanatoriums, der im Zauberberg Behrens genannt wird und sogar einen Rechtsstreit mit Thomas Mann führte, weil er sich so falsch dargestellt fand, hat sich herrlich gegen Heinz benommen. Er korrespondierte mit dem preußischen Militär, daß sie diesen kranken Jungen freistellen müßten. Es half nichts. Heinz kam mit dem Gardefeldartillerieregiment in die schlimmsten Kämpfe, Verdun und Flandern. Das Groteske ist, daß dieser jahrelange Aufenthalt im Schützengraben, im Freien seine Tuberkulose völlig ausheilte.

In Hiddensee waren auch sonst bekannte Leute, der Maler Trier mit einem grotesken drahthaarigen Terrier, der sich ständig um sich selber drehte, weil er mit seiner Schnauze seinen Schwanz erreichen wollte, und von dem mir Trier sagte, er habe ihn seinen Stil gelehrt; dann der Architekt Breslauer, der, beim preußischen Adel beliebt, auch das Schloß des Grafen Arnim, den man den »first gentleman of Prussia« nannte, renovierte. Breslauer, ein Traditionalist, war Heinzens erster Chef. Seine erste Aufgabe war den Plan irgendeines Schlosses aus rheinischem Fuß ins Metrische zu übertragen. Heinz, ein Nervenbündel nach drei Jahren Westfront und einer Dreiwochenflucht aus französischer Gefangenschaft nach Deutschland, sah das große Vermögen seiner verwitweten Mutter – die Großmama hatte ein offenes Konto von fünf Millionen Goldmark – sich einfach in Papierscheinen auflösen, und er saß hilflos bei Breslauer, der natürlich auch in schweren Verhältnissen durch die Inflation war.

Hiddensee hatte für mich zwei permanente Folgen. Ich lernte von Frau Trier, Kugeln um den Hals tragen, was ich ein Leben lang tat, so daß Heinz, wenn er mich mal ohne Kugeln sah, sagte: »Du hast doch son nackten Hals«, und ich traf zwei Referendare, denen ich sagte, daß ich gerne einer Gerichtsverhandlung beiwohnen würde. Der eine sagte, er würde mich mitnehmen, stutzte dann: »Aber jeder kann doch in den Zuhörerraum?« Ich antwortete nicht, aber verabredete mich vor dem Landgericht in der Turmstraße. Er nahm mich durch den Vordereingang mit, führte mich in das völlig leere Gerichtszimmer, ließ mich durch die Gerichtsschranken gehen, und hier saß ich allein in der vordersten Reihe des Zuhörerraums. Ich schrieb kein Wort mit, um nicht aufzufallen, und sandte meinen Bericht an den Börsen-Courier mit den im Kopf behaltenen Dialogen, denn Vogeler war inzwischen Korrespondent in Kopenhagen geworden. Ich hatte noch nie einen Gerichtsbericht gelesen, ich sah auch nicht nach, ob er erschienen war, aber ich ging weiter ins Gericht und schrieb weiter. Etwa zwei Wochen, nachdem mich der Referendar ins Gericht geführt hatte, traf ich ihn zufällig am Zeitungskiosk Kurfürstendamm Ecke Joachimsthalerstraße, wo er noch heute ist, der Zeitungskiosk, nicht der Referendar, der sagte: »Ich habe Berichte von Ihnen im Börsen-Courier gelesen.« Alle Berichte waren erschienen. Der Chef des lokalen Teils des Börsen-Couriers war Felix Joachimsohn, der dann den riesigen Erfolg mit Fünf von der Jazzband hatte und nach Hollywood ging. Drei Monate, September, Oktober, November 1924. In der Jugend lebt man langsam. Es waren drei reizende endlose Monate. Wir waren begabt, wir konnten miteinander reden, wir besprachen unsere Artikel. Im Berliner Tageblatt waren noch immer keine guten Gerichtsberichte. Ich schrieb einen kurzen Brief an den Chefredakteur Theodor Wolff mit ein paar eingelegten Artikeln. Am 24. Dezember bat mich Wolff, ihn zu besuchen.

Er kam von seinem Schreibtisch voll mit Papieren hervor, aber seine berühmten Leitartikel schrieb er an einem Stehpult. Verbindung, wie es mir schien, mit der großen vergangenen Welt des Liberalismus. Er war von einem so großen persönlichen Charme, daß man die Häßlichkeit des Gesichts und der Gestalt völlig vergaß. Im Mundwinkel steckte eine dicke Zigarre. Hilde Walter, eine Waise, lebenserfahren, hatte mir vor der Unterredung den Rat gegeben: »Verlange kein Gehalt. Wer bietet ist der Dumme.« »Wieviel habe ich gesagt?« sagte Wolff. »Vierhundert im Monat?« Ich schwieg.

»Das Mädchen sitzt im Sessel, sieht aus und gibt mir das Gefühl, daß ich sie ausnutze. Also fünfhundert Mark?«

Natürlich ging ich darauf ein: fünfhundert Mark für neun Gerichtsberichte im Monat. Extra Artikel sollten mit fünfundsiebzig Mark bezahlt werden. Das bekam ich, weil mir Monty Jacobs bei den großzügigen Ullsteins so viel für jeden Artikel bezahlt hatte und Wolff ebensoviel bezahlen wollte.

Kapitalismus 1924. Längst war der Anteil meines Vaters an der von ihm gegründeten Fabrik verwässert. In den russischen Fabriken von Heinzens Familie waren kostbare Maschinen während des Krieges zerstört worden, weil die deutsche Besetzung für ein paar Mark Kupfer daraus gewinnen konnte. Die großen Summen von der Augustmesse 1917 in Nischni Nowgorod wollte ein Verwandter auf die Bank von England bringen. Niemand erfuhr je Genaueres. Der Zug war von Revolutionären überfallen worden, der Mann getötet, die Summe verschwunden. Mit den preußischen Konsols, mündelsicheren Papieren, mit denen Heinzens Großvater für seine Nachkommen ausgesorgt zu haben glaubte, konnte man nur noch die Zimmer tapezieren. 4,20 Mark waren immer einen Dollar wert gewesen. Also wartete die Reichsbank, bis ein Dollar viertausendzweihundert Milliarden Mark wert war. In diesem Augenblick stand die Notenpresse still und ein Dollar war 4,20 Mark wie eh und je. So einfach wäre es also in jedem Augenblick gewesen, dachten alle und fühlten sich betrogen. Leute taten sich zusammen, um ihre alten »rotgestempelten« Hundertmarkscheine aufgewertet zu bekommen, um Betrugsanzeigen zu erstatten gegen die Republik, gegen die Reichsbank. Die Sparethik war die moralische Grundlage seit Ewigkeit, denn alles mußte mühselig mit der Hand gemacht, gesät, geerntet werden. Der Verschwender mußte ein Lump sein, der von der Mühsal anderer lebte. Die Menschen hatten, wie man sagte, Pfennig auf Pfennig gelegt, sich alle Freuden versagt, um im Alter, bei Krankheiten, gesichert zu sein. Und nun? Betrogen! Natürlich wurden sie Nazis.

Wolff gehörte zum 19. Jahrhundert. Er fühlte sich ohne jede Einschränkung als Deutscher und hatte eine christliche Deutsche geheiratet. Er hat viel für Berlin getan. Er hatte die erste deutsche Ausstellung von Edvard Munch in Berlin organisiert, was zu einem Skandal und zur Gründung der Sezession führte; er gehörte zu den wenigen Entdeckern von Gerhart Hauptmann, die 1889 Vor Sonnenaufgang im Lessingtheater ermöglicht hatten. Er hatte Anatole France übersetzt, er war ein Freund Max Reinhardts. Er hatte in den neunziger Jahren in Paris gelebt und von dort seine aufsehenerregenden Artikel geschickt. Sein Kampf gegen die französische Politik nach 1918 war der des enttäuschten Liebenden. Er wurde in der Redaktion tief verehrt. Er hatte es aufgegeben, seine Leitartikel am Montag zu veröffentlichen, weil ihm das alle Sonntage verdarb. So schrieb er sie am Freitag und Sonnabend. War an diesen Tagen eine laute Unterhaltung auf dem Korridor der Redaktion, so kam sicher jemand, der leise sagte: »Seid mal ruhig, Wolff ist noch nicht mit seinem Leitartikel fertig.« Das genügte völlig.

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Bild 3: Gabriele Tergit und ihr Mann Heinz Reifenberg 1928 in ihrer Wohnung am Potsdamer Platz

Emil Faktor, der Redakteur des Berliner Börsen-Couriers, war nicht böse, als ich ihm meinen Weggang mitteilte, er war traurig. Er bot mir dreihundert Mark im Monat und ein Zimmer an. Ich fand mich gräßlich. Faktor hatte Joachimsohn und mich entdeckt, und nach einem Vierteljahr gingen wir einfach weg. Aber zum Berliner Tageblatt zu gehören galt damals als große Sache. Und Hollywood! »Heute war Lubitsch bei mir«, sagte unser Freund Dr. Bohne, »na selig! Nach Hollywood engagiert.« Lubitsch hatte bei Reinhardt die Diener, den dritten Reiter, einen aus der Volksmenge gespielt. Und nun Hollywood! Obwohl er nicht wissen konnte, daß er ein Glück für Millionen werden würde. Meine Zeit beim BT vom 1. Januar 25 bis 33 waren auch für mich die sieben fetten Jahre im Leben einer ganzen Generation. Die Arbeit in der Lokalredaktion war nicht erfreulich. Der Chef genau wie der Feuilletonchef Fred Hildenbrandt war blond, groß, gutaussehend und fand sich hinreißend. Sie waren nicht freundlich. Ich hatte einen Artikel mit »Und dann gabs Cointreau« enden lassen. Ich schrieb das ahnungslos hin wie Cognac. Am nächsten Tag kam ein Bote und brachte mir eine Flasche Cointreau. Natürlich war es dumm von mir, die Flasche zu nehmen. Statt daß einer in der Redaktion einfach gesagt hätte: »Lassen Sie uns einen heben«, begann ein Gerede, daß ich mich bestechen lasse.

Walther Kiaulehn, dem die Atmosphäre in der Lokalredaktion auch nicht gefiel, erfand die Berlin-Seite. Theodor Wolff erlaubte sie. Wir zogen um in Rudolf Oldens Zimmer. Es war ein Geniestreich Kiaulehns.

Er hatte für uns eine eigene Wochenzeitschrift gegründet, gleich mit zweihunderttausend Abonnenten und ohne die Sorgen, die mit kleinen Zeitschriften verknüpft sind. Kiaulehns Vater war Maurer gewesen. »Damals sind die Maurer mit der Droschke zur Arbeit gefahren«, sagte Kiaulehn. Er war ein Berliner Proletarier. Seine Mutter war einmal beim Teigmachen vor Müdigkeit und Überarbeitung hingeschlagen, und eine herrliche Kindererinnerung war sein Aufenthalt im Krankenhaus. Er strich nachher immer um das Krankenhaus herum, weil er hoffte, sie würden ihn wieder aufnehmen. Dabei war er geschmäcklerisch wie ein Duc de Guermantes. Er kaufte Rokokoliteratur auf Bücherwagen, verstaubte Beiträge zur Geschichte der menschlichen Dummheit. Er liebte Anatole France, aber auch hier nicht die weltberühmten, sondern die abseitigen Bücher. Die Bratküche zur Königin Gänsefuß oder Nützliche und erbauliche Meinungen des Herrn Abbé Coignard, gesammelt von seinem Schüler Jaques Tournebroche. Veröffentlicht von Anatole France. Mir brachte er einmal Morgenländisches Kleeblatt, aufgelesen durch Joseph von Hammer, 1819, Wien, das folgende Widmung von 1819 trug: »Freundinn, Dichterinn, Frau, als solche dreymal verehrt, weil du glücklich vereinst Sitte mit Geist und Gemüth. Nimm als Opfer des Freunds dieses seltene östliche Dryblatt von sarazenischem Klee, medischem, türkischem auch.«

Man konnte aus dem Proletariat aufsteigen zur verzwicktesten Geistigkeit, aber umgekehrt müssen Proletarier nicht die besseren Menschen sein. Kiaulehn hatte als der Helfer eines Elektrikers angefangen. Nach ein paar Jahren las er eine Annonce, wo ein ausgebildeter Elektriker verlangt wurde. Kiaulehn bekam die Stellung und als erste Arbeit eine ungeheuer komplizierte Klingelanlage in einer Bank. Er holte sich Bücher, arbeitete immer nach den Büchern, die Nacht durch. Er bekam einen sehr anständigen Lohn. Es war der erste Schritt. Aber er hatte, um diese Stellung zu bekommen, Papiere gefälscht. Es war geglückt. Kiaulehn entdeckte die Komik des Alltags, das Abstruse, das Skurrile. Er schrieb über einen Mann, der auf der äußersten Spitze der Loreley einen Handstand versuchte und dabei in die Tiefe stürzte. Kästner machte ein Gedicht daraus. Beide fanden, daß der Handstand auf der Loreley eine ganz besonders deutsche Abart der allgemeinen menschlichen Narrheit ist. Er romantisierte Berlin, erfand einen Heinebalkon, der nie existiert hatte, machte das verlassene Billardcafé zur Billardlegende.

Wenn ich über einen Prozeß schrieb, so hielt das Aufnahmeband, das mein Gehirn ist, den einen entscheidenden Satz des Prozesses fest, aber aus diesem Satz entwickelte Kiaulehn eine »Studie zur Frauentreue«. Die Waage auf der Herrentoilette auf dem Wittenbergplatz wurde zum »Bacchanal auf der Wiegeschale«. Kiaulehn war ein Ziseleur der Sprache wie jeder Humorist, aber mehr noch ein Genie der Geselligkeit, ein Causeur. Die Anregungen, die er um sich streute, hätten genügt, mehrere Zeitungen zu füllen. Wir wanderten durch Berlin. Er nahm mich in Arbeiterkneipen mit, zu Demonstrationen, so zu der für Sacco und Vanzetti. Ich lernte von ihm. Den Gerichtsdienern (Amtsbezeichnung im Kaiserreich), Wachtmeistern (unter der Weimarer Republik) gab er die Hand. Ich tat das nie, nicht aus Hochmut, eher aus Schüchternheit. Von nun an tat ich es auch und bekam gleich eine ganz andere Beziehung. Bedienten wurde in Berlin nicht die Hand gegeben. In der Stanislawskischen Aufführung des Kirschgartens vor 1914 sah ich, daß das in Rußland ganz selbstverständlich war.

Die Oldens

Rudolf Olden, der Dritte unserer Berlin-Seite, kam aus Wien, und ich lernte an ihm das Wienerische kennen. »Wir spielen alle, wer es weiß, ist klug«, sagte Schnitzler.

Nur nichts ernst nehmen, nur nichts Ernstes sagen. Ich nahm alles ernst, mein Schreiben, mein Judentum, meine Ehe, mein Kind, meinen Haushalt. Von Spielen konnte da wohl keine Rede sein. Ich bin Olden wohl zuerst einfältig vorgekommen, so wie Olden mir zuerst ausgesprochen albern in einem schwarzen Schoßmantel von 1840, einem schwarzen Kalabreser, groß, schlank, sein Gesicht entstellt von den Schmissen der Mensuren seiner Corpsstudentenzeit. In unserem Zimmer legte er diese Verkleidung eines Wiener Dandys ab, steckte sein Monokel in die Tasche, zog eine graue Jacke an und setzte eine Brille auf. Er hielt die Hand an die Hüfte, sagte: »Ich habe wieder solchen Ischias, bestellen Sie uns einen Kaffee.« Und begab sich an unsre Manuskripte. Er strich, stellte zusammen, hob einen Gedanken aus der Wirrnis des dunkel Gefühlten in die Klarheit einer lichtvollen Prosa, und so wurde aus unsern Artikeln erst ein guter Kiaulehn, ein guter Tergit. Um drei Uhr, wenn die Schnellpresse das Wort hatte, verkleidete sich Olden wieder. Die freundliche Brille des selbstlosen Redakteurs verschwand, der tolle Mantel wurde angezogen, das extravagante Monokel eingeklemmt, und so gepanzert, konnte er sich der Welt stellen oder den Mädchen, aus denen Olden sich viel machte. Es war alles schrecklich kompliziert. Ich mußte am Telefon sagen, ich wüßte nicht, ob er da ist, ihn leise fragen: »Sind Sie da?« Einmal sagte ich: »Ihre Frau.« »Welche, die Erste, die Richtige?« fragte er. Sie war die Tochter des Wiener Historikers Fournier und der Tochter des Wiener Burgtheaterschauspielers Gabillon, eigentlich Gabrilowitsch aus Pommern. Felix Hollaender, Reinhardts rechte Hand, hat einen Roman Unser Haus geschrieben, mit dem Türschild »Unpraktischer Arzt und Geburtshelfer«, höchst amüsant. In diesem Haus in der Oranienburgerstraße wohnten Oppenheims mit einem bildschönen Sohn, dem Schriftsteller Hans Olden, der mehrfach heiratete. Zur Geburt eines Sohnes kam Pauline Metternich, Witwe des richtigen Metternich, eine witzige Frau, die, als man ihr ein Baby zeigte, sagte: »Ein Bub, wenn ich mich recht entsinne.« Eine der Frauen von Hans Olden war die Schwester der Fürstin Liechtenstein. Ihre Kinder waren unser Rudolf Olden, der kommunistische Schriftsteller Balder Olden und Ilse, die Frau des österreichischen Grafen Carlo von Seilern. Auch Rudolf heiratete dreimal, jedesmal eine Zwanzigjährige. Nach der Fournier die Tochter eines österreichischen Generals, die im Gegensatz zu dem entsprechenden preußischen Frauentum einmal in einem aus Dutzenden verschiedener Pelzstückchen zusammengesetzten Mantel in die Redaktion kam und später eine der großen Modeschöpferinnen Frankreichs wurde.

Zuletzt, kurz vor der Machtergreifung Hitlers wieder eine bildschöne Zwanzigjährige aus einer ähnlichen Mischung wie er selber. Ihr Vater, Georg Halpern aus Pinsk, Vetter von Martin Buber heiratete die Tochter eines anglikanischen, also englischen Bischofs, war Handelsredakteur der Frankfurter Zeitung, dann Direktor eines Hamburger Versicherungskonzerns und schließlich Gründer des Versicherungswesens von Israel. Auch wie Oldens Vater hatte Halpern drei Kinder. Das Töchterchen einer geschiedenen Tochter ertrank im Meer. Der Sohn wurde in der Battle of Britain, der Luftschlacht um England, abgeschossen. Rudolf, der glühende Antinazi, wurde im Sommer 1940 in der allgemeinen Fremdeninternierung mitinterniert. Er hatte seit 1933 in Oxford Vorlesungen gehalten und es so geliebt, daß er seine Briefe an mich immer endete mit: »Ceterum censeo, Gott erhalte dieses wahrhaft humanistische England!« Und nun interniert! Er war so enttäuscht, daß er nach New York weggehen wollte, wo ein Lektorenposten für ihn bereit war. Er erwartete den sofortigen Friedensschluß mit Hitler. »Ausgeschlossen«, sagte ich. Ich erzählte ihm, daß im Augenblick der höchsten Gefahr zwei Tage lang im Parlament über die falsche Internierung der Antinazis debattiert wurde, daß H.G. Wells in Anlehnung an den berühmten Zola-Artikel gegen den Dreyfus-Prozeß ein neues »J’accuse« veröffentlichte, ich erzählte ihm, wie in Bordeaux das letzte Schiff von Bordeaux nach England alle Wartenden aufgenommen hatte, ohne jede Kontrolle, da konnten ja Dutzende von deutschen Spionen darunter sein. Ich würde ihm alles bringen. Er verlangte danach wie nach einem Rettungsseil. Er lag im Bett, es hatte sich herausgestellt, daß er Leukämie hatte. Ich begriff nicht, daß sie ihr winziges Töchterchen vor den Londoner Bomben mit einem Kindertransport zu einer Professorenfamilie in Kanada geschickt hatten. Bei diesem letzten Besuch erzählte er mir eine Geschichte mit Brüning.

Brüning hatte als Emigrant Rudolf Olden in Oxford besucht. Olden hatte Gilbert Murray, den Kenner des antiken Griechenlands, dem das Häuschen, in dem Oldens wohnten, gehörte, und Wickham Steed, den Chefredakteur der Times dazu eingeladen. Nach kurzer Unterhaltung rief Brüning begeistert: »Aber da haben wir uns ja mit unseren Maschinengewehren gegenübergelegen!« Die Engländer sahen sich an und begannen das Tick-Tack und die Bewegung eines Maschinengewehrs nachzuahmen. Olden war fassungslos, denn er erkannte sofort, daß sich die beiden Engländer über Brüning lustig machten, was Brüning nicht merkte. Im Gegenteil, er ging begeistert auf das Spiel ein und schoß mit einem erträumten Maschinengewehr auf seine Gegenüber. Jahrzehnte später schrieb Professor Deuerlein in München: »Brünings Tätigkeit als Führer einer Maschinengewehrscharfschützenkompagnie hatte für ihn zeitlebens autosuggestive Faszination.« Deutscher Reichskanzler in entscheidender Zeit!

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Bild 4: Olden 1914 als Soldat

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Bild 5: Das letzte Bild von Rudolf Olden

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Bild 6: Stolperstein für Rudolf Olden in der Genthiner Str. 8, Berlin

Aber die Begeisterung für Maschinengewehrscharfschützenkompagnie war noch nicht alles. Als er sofort nach der englischen Kriegserklärung, die dem Einmarsch in Polen gefolgt war, England mit dem ersten Schiff verließ, erwiderte er den Reportern, er könne doch nicht in einem Land leben, das mit seinem Vaterland im Krieg sei. Das erhebt große moralische Fragen. Chamberlain hatte Hitler geglaubt, als er in München versprach, dies sei seine letzte endgültige Besetzung gewesen. Dumm oder nicht dumm, falsch oder nicht falsch, hielt Brüning es für möglich, daß Menschen, Völker, Staaten mit Lügen als Verkehrsform leben können? Und er war noch nicht einmal konsequent. Er ging nach USA und blieb.

Die Oldens wurden in der »City of Benares« torpediert. Die junge Ika, Anfang Zwanzig, hätte sich retten können. Aber obwohl die Ehe schon nicht mehr sehr gut war, ein Altersunterschied von über dreißig Jahren, wollte sie ihn im Tod nicht verlassen, sehr heldenhaft, sehr imponierend. Ihr Vater Halpern war in Jerusalem, ein Hiob, Kinder und Enkel tot. Da beschlossen seine Freunde zu seinem achtzigsten Geburtstag das nun zwanzig Jahre alte Töchterchen von Rudolf und Ika, das bei der christlichen Professorenfamilie in Kanada aufgewachsen war, zu dem Großvater als Geburtstagsgeschenk zu holen. Sie kam, verliebte sich in einen Israeli, heiratete und blieb in Jerusalem. Durch eine Kette von Zufällen traf ich sie in London. Sie besuchte mich. Im Gegensatz zu den vier Generationen atemberaubender Schönheiten, auch ihre Mutter gehörte dazu, war sie durchschnittlich, aber ungemein sympathisch. Sie konnte kein Deutsch, hatte also kein Wort von ihrem Vater gelesen. Überall haben Enkel Bibliotheken, Bücher, gesammelt oder geschrieben, von ihren Vorfahren, zu denen sie keinen Zugang haben. Ich erzählte ihr von Rudolf Olden. Er gehörte zu den Männern, die sich in jede Frau verlieben und jede gern, wenn es sich ergibt, besitzen, aber dieser sehr schöne Mann, der nur von den Schmissen der Mensuren seiner Corpsstudentenzeit, dem Abzeichen der Oberklasse, entstellt war, war kein Pfau, kein Gockel, sondern immer ein bißchen verlegen über das, was sich ihm da bot, entzückt von Frauenschönheit, dankbar und verwirrt über das Durcheinander, das er ungewollt verursachte.

Sie sagte mir, niemand habe ihr ihren Vater so klargemacht wie ich. Das war ein Glücksmoment, ein kleiner Orden. Ich besuchte sie in London, bevor sie nach Jerusalem zurückkehrte. Zurückgefunden, dachte ich, in eine tausendjährige Tradition des Familienglücks, »Du sollst nicht ehebrechen«. Da ging die Tür auf und hereintrat ein blonder Aristokrat, der sechzehnjährige Sohn der beiden Israelis. Was hatte herausgemendelt? Der Schriftsteller Oppenheim/Olden? Die Schwester der Fürstin Liechtenstein? Ein Minnesänger vor Jahrhunderten, der die Ritterfräulein anschwärmte und die einfachen Mädchen ein bißchen auf der Landstraße vergewaltigte? Und dann endlich Rudolf Oldens Schwester Ilse. Sie hatte mir 1940 nach seinem Tod aus Südamerika geschrieben, ob ich nicht seine Biographie schreiben wolle, sie habe alles Material. 1940? Wo ich die Erfahrung mit den Effingers-Manuskripten gemacht hatte, die ich vor den Londoner Bomben retten wollte und die nie in New York angekommen waren. Ich antwortete. Auch dieser Brief erreichte sie nie. Keiner von uns war da, wo er hingehörte. Dreißig Jahre später besuchte ich sie in Basel, Heinz hatte immer gesagt, 2 cm breiter oder höher machen den ganzen Unterschied bei einem Bau. Für Bauherren, die an diesen zwei Zentimetern sparen wollen, kann man nicht bauen. Als ich vor diesem gläsernen Mietshaus stand, wünschte ich, ich könnte es mit Heinz bewundern. Im riesigen gläsernen Treppenhaus der Fahrstuhl, blau und Nickel und oben ein Empfangszimmer nicht von 1750 wie in London, sondern von heute, und daneben das Schlafzimmer mit einem Bett der Pompadour. Ich war über achtzig, sie neunzig, eine große elegante Frau in einem hellblauen Kleid mit dem berühmt schönen Gesicht. Sie wußte von mir. »Rudi« hatte geschrieben und es wurde gedruckt: »Etwas Seltenes ist die Tergit überhaupt …« Sie hatte alle Artikel von ihm gesammelt und in rotes Leder binden lassen und nach Marbach in den Bücherfriedhof, auch Bibliothek genannt, gegeben. »Ach wenn wir doch alles so bekämen«, hatte der Bibliothekar bewundernd gesagt. Wir waren dieselbe Generation. Alles war uns gemeinsam. 1914/15 Schickeles Hans im Schnakenloch. In ganz Deutschland waren alle Theater ausverkauft.

»Seine Frau war netter und klüger als er.«

»Sicher. Was für eine zufällige Sache ist der Ruhm. Dieser überschätzte Sternheim. Ich hatte ihn gebunden und dann noch jede Kurzgeschichte einzeln.«

»Er war damals eine Offenbarung, ein neuer Ton. Der Polizist, der von einer Liebesnacht so entzückt ist, daß er sich ans Klavier setzt und ›Heil dir im Siegeskranz‹ spielt«.

»Busekow«, sagte ich, »ich glaube, es war an Heinrich Manns 60. Geburtstag, daß Tilly Wedekind mir begeistert erzählte, daß Sternheim ihr Schwiegersohn geworden war.«

»Sie wissen natürlich den Ausbruch?«

»Natürlich«, lachte ich, »wie er plötzlich laut gerufen hat: ›Sieht er nicht aus wie ein Adler? Er ist ein Adler!‹«

»Das alles auf Seeckt, der am Nebentisch saß«, sagte sie. Seeckt war der Chef der Reichswehr.

»Wurde er nicht gleich in ein Sanatorium gebracht?«

»Irre.«

»Eigentlich traurig, aber wir haben doch alle gelacht.«

»Seeckt als Adler.«

»Und diese albernen Memoiren«, sagte ich.

»Mütterchen Olden!« sagte Ilse.

»Genau das habe ich gemeint«, sagte ich.

»Unsere Mutter ›Mütterchen Olden‹«, sagte Ilse richtig ärgerlich. »Das ist ganz selten, daß man sich so sofort versteht«, und meinte uns beide.

Und dann sprachen wir von Tilly Wedekind. Ich sagte: »Sie war mittelgroß mit glatten schwarzen Haaren, ein süßes Gesicht. Sie war ganz unbewußt, ganz einfach, als sie mir von ihrem Schwiegersohn Sternheim vorschwärmte. Aber ich konnte kein Wort sprechen. Ich sah das Wunder. Ich sah sie mit Wedekinds Augen, Lulu, die Naturgewalt, die die Männer zu Schöpfern macht. Daß Wedekind das Wunder an dieser Frau sah und sie zur Weltfigur machte, zum Symbol der ewigen Erneuerung, das allein macht ihn zum Genie. Zart möchte ich sagen, das war das Wesentliche an ihr, das Gegenteil der Hollywood-Sex-Bombe oder der klassischen Schönheiten unserer Väter vor dem ersten Weltkrieg, keine Aphrodite, bescheiden und ein bißchen dümmlich, meinen Sie nicht?«

»Ach, ich muß Ihnen noch etwas erzählen. Kurz nach dem Krieg gab Pamela Wedekind auf einer winzigen Londoner Bühne einen Abend. Es war natürlich ein ältliches Publikum der früheren deutschen Theaterwelt. In der Pause kam der Regisseur einer berühmten Aufführung des Strindbergschen Traumspiels bei Bernauer auf uns zu.«

»Traumspiel?« sagte Ilse.

»Ich weiß nur noch, daß darin einer etwas Grünes wiederzufinden sucht, aber was er findet, ist nicht das Grün. Seitdem sagten Heinz und ich bei jeder Enttäuschung: ›Es ist wieder mal nicht das Grün.‹ Er kam aufgeregt auf Heinz zu: ›Das ist ja Wedekind selber. Sie kann ja ihren Vater nicht mehr selber gehört haben, also vererbt, jeder Ausdruck, jede Gebärde genau wie Frank Wedekind, gespenstisch und wunderbar zugleich, das noch einmal zu erleben.‹ Für uns war es neu, aber in dieser im wesentlichen Alten Herrengesellschaft, aufgeregt von einem Jahrzehnte zurückliegenden Kunsterlebnis. ›Reifenberg‹, sagte der Regisseur, ›passen Sie auf die Hand auf, genau so hat Frank die Hand gehalten.‹«

»Ich begleite Sie nach unten«, sagte Ilse, als ich mir meinen Mantel vom Pompadourbett nahm.

»Ich kann doch allein im Fahrstuhl runterfahren«.

Aber sie kam mit. Wir wußten, es war das erste und letzte Mal. Sie stand am Fahrstuhl. Ich ging zum Taxi. Wäre es in London oder Paris gewesen, hätten wir uns einen Kuss gegeben, aber deutsche Länder haben kein Klima der Zärtlichkeit. Kein Kuss für Haushilfen oder von Lieferanten.

In den siebziger Jahren nahm ich mir Oldens PEN-Korrespondenz vor, bevor ich sie in ein Archiv gab. 1934 wurde nach dem Anschluss des deutschen Nazi-PEN ein PEN-Zentrum deutschprachiger Autoren im Ausland gegründet. Heinrich Mann wurde Präsident, Olden Sekretär. Ein allererster kleiner Verdacht, daß er die Dinge nicht richtig sah, kam mir, als ich ihm schrieb, als altes Mitglied würde ich gern wieder eintreten, und er antwortete: »Wozu denn? Der PEN ist doch nur dazu da, Geld auszugeben, nicht um was zu verdienen.« Als Hitler 1938 begann, Europa zu besetzen, kamen die Hilferufe der gefährdeten Schriftsteller, Olden, ein Einzelner ohne Büro, ohne Sekretärin, ohne jeden Betrieb der Wohltätigkeit, widmete den Kollegen, weit über seine Kräfte, Geld und Zeit. Er beantwortete Hunderte von Briefen, keiner war zu dumm, kein Kollege zu unsympathisch. Zwei große Engländerinnen, Mrs. Chance und Miss Storm-Jameson verhandelten mit den Behörden und den Garantoren, und der Sekretär des Internationalen PEN, der schon der Sekretär des Gründungspräsidenten John Galsworthy gewesen war, zuerst zögernd, weil er nicht recht wußte, in welche Todesstrudel sein freundlicher Dichterklub da gerissen wurde, rettete Hunderte, organisierte den Exodus. Aber nur den Exodus der Antinazischriftsteller. Noch kam keiner auf die Idee, daß ein ganzes Volk vernichtet werden sollte, die Erwachsenen in Gaskammern, die Kinder in riesigen Feuern lebendig verbrannt.

Und die Briefe handelten nicht nur von Rettung. War es ergreifend oder ahnungslos, daß Heinrich Mann und Olden es wirklich für wichtig hielten, ob Klaus Mann oder Feuchtwanger auf den PEN-Kongressen 1935 in Barcelona, 1936 in Buenos Aires, 1937 in Paris eine Rede hielten, um über Hitler aufzuklären?

»Wer wird für unsere Gruppe sprechen?« wird in vielen Briefen diskutiert. Glaubten sie wirklich, von einem Schriftstellerkongreß aus die Welt alarmieren zu können? Vielleicht war es auch früher anders. Vielleicht genügte es früher wirklich, die winzige mächtige Oberschicht, zu der auch große Gelehrte und große Künstler gehörten, zu warnen? Heute bedarf es eines Fernsehens für Millionen, um beileibe nicht das Gleiche, aber wenigstens annähernd das Gleiche zu erreichen. Auch ein paar andre Briefe sind erschütternd. Am groteskesten erscheint, was Hermon Ould im August 1939 mitteilt, Hermon Ould, ein Lyriker, aber eben doch ein Engländer, Erbe eines mit der Welt vertrauten Empires, schreibt an Olden: »Emil Ludwig fand, daß im Kriegsfall die PEN Zentren zusammengerufen werden sollten, um sofort etwas zu tun. Diese Idee erschien mir nicht nur unpraktisch, sondern offenbarte einen rührenden Glauben an die Macht von uns Schriftstellern, mit einer wirklichen politischen Krise fertigzuwerden. An solche Kleinigkeiten wie Visas und Transport, wenn ein Krieg ausbricht, scheint er nicht gedacht zu haben.«

Ludwig war damals ein Millionenbestseller mit Biographien geschichtlicher Figuren.

Heinz lebte nicht mehr. Ich saß vor Oldens Briefen und konnte nicht zu Heinz ins Zimmer gehen und ihm von meinen Entdeckungen berichten, der einzige Mensch, der das alles bis in die kleinsten Fältchen verstanden hätte. Die letzten zehn Jahre unseres Lebens hatte er jeden Morgen beim Frühstück halb ironisch, halb »frozzelnd«, hätte meine Münchener Mama gesagt, und halb liebevoll gefragt: »Na, was ist heute wieder wahnsinnig interessant in der Zeitung?« Das hätte er auch gesagt, wenn ich mit diesen Briefen zu ihm gekommen wäre.

Kunstprozeß

Paul Cassirer, der in Berlin einen Kunstsalon hatte, hatte die französischen Impressionisten für Deutschland entdeckt. 1901 hatte er die erste Cézanne-Ausstellung gewagt, die Wilhelm II. so beurteilte: »Paul Cassirer, der die Dreckkunst aus Paris zu uns bringt.« Cassirer verkaufte ein einziges Bild, ein Blumenstilleben für 250 Mark. Er stellte auch als erster van Gogh aus. Jahrzehnte später fand wieder eine van Gogh-Ausstellung bei Cassirer statt. Heinz sah sie und sagte: »Ich weiß nicht. Es war gar nicht eindrucksvoll. Haben wir van Gogh überschätzt?« Die van Goghs bei Cassirer waren als Fälschungen entdeckt worden. Paul Cassirer lebte nicht mehr, und Grete Ring, die seine Nachfolgerin geworden war, sagte bei einem Prozeß, der nun stattfand: »Es hatte damit angefangen, daß wir aus Paris und New York hörten, daß man dort sagte: ›Sie können nicht in Berlin kaufen, da verkauft man Ihnen gefälschte van Goghs.‹« Und nun bekamen wir unvergeßlichen Kunstunterricht. Die van Goghs der Cassirer-Ausstellung hingen an den Wänden und waren, wie Heinz gesagt hatte, nicht eindrucksvoll, und dann ließ Geheimrat Justi die große Zypresse von van Gogh aus der Nationalgalerie bringen, deren Direktor er war. Sitzungssaal und Zuhörerraum waren voll von Kunstkritikern, Kunstinteressierten. Auch Heinz war in dem Zuhörerraum. Als das Bild in den Saal gebracht wurde, ging ein unwillkürliches »Ah« durch den Raum. Justi sagte: »Ich habe mich ja nicht mit Kunst beschäftigt, um ein Beamter Seiner Majestät zu werden, sondern weil ich Augen habe.« Es wäre sehr schwer, Fälschungen von alter Kunst zu entdecken, anders bei moderner Kunst, wo der Strich des Meisters so klar zu erkennen ist! Und dann wurde es noch aufregender. Die Bilder wurden geröntgt, und man sah den kraftvollen Strich des echten van Gogh und den vorsichtigen, immer wieder absetzenden der Fälschungen. Der Kunst auf eine so wissenschaftliche, ganz unkünstlerische Weise nah zu kommen rührte an die großen Geheimnisse. In der Pause, als wir alle aufgeregt diskutierten, sagte Heinz leise zu mir: »Ich habe auch die Fälscher entdeckt. Da sitzen sie, die rheinischen Gauner aus Düsseldorf.« Heinz lächelte ihnen zu. Sie lächelten zurück. Es war gar kein Zweifel, daß sie wußten, daß Heinz wußte. Ich stand auf Kohlen. »Wenn die verhaftet werden, wirst du als Komplize mitverhaftet.« Aber Vorsicht konnte man von einem Mann wie Heinz nicht verlangen. Und dann kam van Gogh selber. Niemand traute sich mehr zu atmen. Es war van Goghs Neffe, Sohn von Theo, dem Empfänger von Vincent van Goghs berühmten Briefen, ein scheuer Mensch aus Holland mit dem auf so vielen Bildern verewigten Gesicht. Grete Ring erzählte: »Auf dem Boden im van Goghschen Haus lag der ganze Nachlaß. Es gab keine Listen. Wenn einer kam und wollte die vielen Bilder sehen, ließen ihn die Van Goghs einfach auf den Boden und kramen.« Diese Menschen kannten kein Mißtrauen. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß einer ihnen was stehlen würde. 1930 gab es noch etwas so Weltfremdes, Integeres.

Grete Ring war die Nichte des Malers Max Liebermann, dessen Tochter mit Kurt Riezler verheiratet war, Bethmann Hollwegs Gehilfen, aber auch Eberts. Aus seinen fünfzig Jahre zu spät erschienenen Tagebüchern geht hervor, daß Deutschlands Führer den ersten Weltkrieg nicht planmäßig herbeigeführt, aber bewußt riskiert hatten.

Als Cassirer 1926 Selbstmord beging, war das Berliner Tageblatt die einzige Zeitung Berlins, die diese Nachricht nicht hatte. Einer der Lokalredakteure sagte verbittert: »Ich habe ja kein Gehalt, daß ich mir einen Smoking leisten kann, um in solchen Kreisen zu verkehren.« An diesem Satz war nun alles falsch. Cassirer war zwanzig Jahre mit Tilla Durieux verheiratet, nicht nur eine der größten Schauspielerinnen, sondern auch eine hochintelligente Frau, bei der sich Kautsky und Hilferding mit Rathenau trafen, die von Corinth und Renoir, Gulbransson und Barlach abkonterfeit wurde, wo alle Theaterdirektoren und Gerhart Hauptmann und Georg Kaiser verkehrten. Richard Strauss hatte für sie die Josephs Legende geschrieben. Ich fand es bemitleidenswürdig, daß dieser Berliner Arbeiterjunge, der schließlich von seiner Feder lebte, das geistige Leben so falsch sah. Aber man konnte sich auch keinen größeren Gegensatz als die aus dem gleichen Milieu, weltzerstörend Klasse genannt, herkommenden Kiaulehn und diesen Lokalredakteur denken.

Der Kunstsalon Cassirer emigrierte nach London, eröffnete einen neuen »Cassirer« an einer der märchenhaftesten Ecken von London, an der Ostseite des Green Parks, wo noch 18.-Jahrhundert-Häuser standen. Ganz weniges von Cézanne war auf die Wände verteilt. Drei Striche für einen Baum von Cézanne, der nichts weggeworfen hat. Wir gingen verstimmt die Treppe hinab. »Ein Ende«, sagte Heinz und zündete sich eine Zigarette an. »Bißchen viel Enden, die wir miterleben«, sagte ich.