Jack London

WOLFSBLUT

 
 
 
 
 
 
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2017 OK Publishing

 
ISBN 978-80-272-3247-5

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil
1. Kapitel. Auf der Fährte nach Fleisch
2. Kapitel. Die Wölfin
3. Kapitel. Heulender Hunger

Zweiter Teil
1. Kapitel. Kampf mit den Zähnen
2. Kapitel. Das Lager
3. Kapitel. Das graue Junge
4. Kapitel. Die Wand der Außenwelt
5. Kapitel. Das Recht auf Fleisch

Dritter Teil
1. Kapitel. Die Feuermacher
2. Kapitel. Die Knechtschaft
3. Kapitel. Der Ausgestoßene
4. Kapitel. Die Fahrt der Götter
5. Kapitel. Der Bund mit dem Menschen
6. Kapitel. Die Hungersnot

Vierter Teil
1. Kapitel. Der Feind seiner Gattung
2. Kapitel. Der tolle Gott
3. Kapitel. Das Regiment des Hasses
4. Kapitel. Im Rachen des Todes
5. Kapitel. Unzähmbar
6. Kapitel. Der Gebieter

Fünfter Teil
1. Kapitel. Die lange Fahrt
2. Kapitel. Das Südland
3. Kapitel. Des Herrn Besitztum
4. Kapitel. Die Stimme des Blutes

3. Kapitel. Heulender Hunger

Inhaltsverzeichnis

Der Tag begann günstig. Kein Hund war in der Nacht verschwunden, und in besserer Stimmung begaben sich die Männer auf die Fahrt durch das Schweigen, die Dunkelheit und die Kälte. Bill schien die trüben Ahnungen der letzten Nacht vergessen zu haben und scherzte und spaßte sogar mit den Hunden, die um die Mittagszeit den Schlitten an einer schlechten Wegstelle umgeworfen hatten.

Die Verwirrung war fürchterlich. Der Schlitten war zwischen einem Baumstamm und einem ungeheuren Felsblock eingeklemmt und noch dazu um und umgekehrt. Die Männer waren gezwungen, die Hunde auszuspannen, und als sie sich über den Schlitten beugten, um ihn aufzurichten, bemerkte Heinrich, daß Einohr zur Seite schlich.

»Hierher, Einohr!« rief er ihm zu, indem er sich aufrichtete und nach dem Hund umwandte. Aber Einohr begann über den Schnee zu laufen, indem er die Stricke hinter sich herschleppte, denn auf der zurückgelegten Bahn stand die Wölfin und wartete auf ihn. Als er näher kam, wurde er plötzlich vorsichtig. Anstatt zu laufen, machte er kurze, zierliche Schritte und blieb dann stehen. Er betrachtete sie aufmerksam und mißtrauisch, doch voller Verlangen. Sie schien ihm zuzulächeln, indem sie ihm die Zähne in mehr schmeichelnder als drohender Weise zeigte. Sie machte spielend ein paar Schritte auf ihn zu und blieb dann stehen. Einohr ging näher, immer noch auf der Hut, mit gespitzten Ohren, erhobenem Schwanz und den Kopf hoch in der Luft. Er machte den Versuch, sie zu beschnuppern, aber sie sprang scheu wie spielend rückwärts, und jedesmal, wenn er sich näherte, wich sie zurück und lockte ihn so Schritt für Schritt aus der Sicherheit der menschlichen Gefährten. Einmal, als ob eine unbestimmte Warnung ihm durch den Kopf geschossen wäre, blickte er sich nach dem umgeworfenen Schlitten, den Gefährten und den beiden Männern um, die ihm fortwährend zuriefen. Allein was auch immer in seinem Geiste vorgehen mochte, es wurde durch die Wölfin zerstreut, die auf ihn zukam, ihn einen Augenblick beschnüffelte und dann wieder scheu vor ihm zurückwich, als er sich von neuem ihr näherte.

Mittlerweile hatte sich Bill der Büchse erinnert, die eingeklemmt unter dem umgeworfenen Schlitten lag, doch bis Heinrich ihm geholfen hatte, denselben aufzurichten, standen Einohr und die Wölfin dicht beisammen, und die Entfernung war für einen Schuß zu groß.

Zu spät erst sah Einohr seinen Fehler ein. Bevor die Männer sehen konnten, was vorging, hatte er sich umgedreht und begann auf sie zuzulaufen. Plötzlich sahen sie, wie ein Dutzend hagere, graue Wölfe über den Schnee springend sich im rechten Winkel der Bahn näherten und ihm den Rückzug abschnitten. Augenblicklich verschwand die Scheu und die spielerische Laune der Wölfin. Wild knurrend sprang sie auf Einohr los. Er parierte den Angriff mit der Schulter und versuchte, da ihm der gerade Rückweg zum Schlitten abgeschnitten war, im Bogen dahin zu gelangen. Allein immer mehr Wölfe erschienen und nahmen die Verfolgung auf, während die Wölfin nur wenige Schritte hinter ihm herlief.

»Wo willst du hin?« fragte Heinrich plötzlich und legte die Hand auf den Arm des Gefährten. Bill riß sich los. »Ich kann das nicht länger mit ansehen,« sagte er. »Sie sollen keinen von den Hunden mehr haben, wenn ich's verhindern kann.«

Mit der Flinte in der Hand sprang er in das Gebüsch neben der Bahn. Seine Absicht war klar genug. Er wollte den Bogen, den Einohr beschrieb, noch vor dessen Verfolgern berühren, und er hoffte, mit der Büchse in der Hand und im hellen Licht des Tages würde es ihm möglich sein, den Wölfen Furcht einzujagen und den Hund zu retten.

»Höre, Bill,« rief ihm Heinrich nach, »sei vorsichtig. Wage dich nicht zu weit vor!«

Heinrich setzte sich auf den Schlitten und wartete, für ihn war weiter nichts zu tun. Bill war ihm gänzlich aus dem Gesicht verschwunden, aber er konnte Einohr sehen, wie er hin und wieder im Gebüsch oder hinter den Tannen verschwand und wieder zum Vorschein kam. Heinrich hielt das Schicksal des Hundes für hoffnungslos und dieser schien sich seiner Gefahr vollkommen bewußt zu sein, denn er rannte in dem weiteren Bogen, während das Rudel Wölfe den innern und kleineren Kreis beschrieb. Es war eine vergebliche Hoffnung, daß Einohr über die Verfolger einen so großen Vorsprung gewinnen würde, daß er an ihnen vorbei und quer zum Schlitten gelangen konnte. Rasch näherten sich die verschiedenen Linien dem verhängnisvollen Punkte. Draußen im Schnee, von Bäumen und Gebüsch verdeckt, das wußte Heinrich, waren die Wölfe mit Einohr und Bill zusammengekommen. Nur zu schnell, viel schneller als er es erwartet hatte, war es geschehen. Er hörte einen Schuß, dann noch zwei in rascher Aufeinanderfolge und wußte, daß Bills Munition verbraucht wäre. Dann erhob sich ein fürchterlicher Lärm, ein wütendes Knurren und Kläffen. Er erkannte Einohrs gellenden Todesschrei, er hörte das Wehgeschrei eines sterbenden Wolfs, dann war alles aus. Das wütende Geknurr hörte auf, das wilde Gekläff erstarb und tiefes Schweigen senkte sich über das einsame Land.

Der Mann blieb noch eine Zeitlang auf dem Schlitten sitzen. Er brauchte nicht hinzugehen, um zu sehen, was sich zugetragen hatte; er wußte es als wäre es vor seinen Augen geschehen. Einmal fuhr er auf und griff hastig nach der Axt, die auf dem Schlitten festgebunden war. Aber er setzte sich wieder und brütete weiter, während die beiden noch übrigen Hunde sich zitternd an ihn schmiegten.

Endlich erhob er sich müde, wie wenn alle Widerstandskraft aus seinem Körper gewichen wäre, und schickte sich an, die Hunde vor den Schlitten zu spannen. Er schlang einen Strick um die Schulter und zog mit den Hunden gemeinsam. Er wanderte nicht weit. Sobald die Dunkelheit hereinbrach, schlug er schnell das Lager auf und trug für einen reichlichen Holzvorrat Sorge. Er fütterte die Hunde, kochte das Abendessen und machte das Bett dicht neben dem Feuer zurecht.

Allein er sollte keine Ruhe finden. Bevor er die Augen schloß, waren die Wölfe für seine Sicherheit viel zu nahe gekommen. Man brauchte sich nicht mehr anzustrengen, um sie zu sehen. Sie waren alle in engem Kreise dicht um das Feuer, er konnte sie deutlich sehen. Einige lagen, andere saßen, noch andere krochen auf dem Bauche heran oder schlichen vor- und rückwärts, und einige schliefen sogar. Hier und da sah er einen, der wie ein Hund zusammengerollt im Schnee dalag und sich des Schlafes erfreute, der ihm versagt war.

Er unterhielt ein helles Feuer, denn er wußte, daß das das einzige Mittel sei, ihre gierigen Zähne von seinem Leibe fernzuhalten. Die beiden Hunde hielten sich dicht in seiner Nähe und schmiegten sich, wie um Schutz flehend, an ihn und knurrten wütend oder winselten erschrocken, wenn ein Wolf sich zu nahe heranwagte. In solchen Augenblicken pflegte der ganze Kreis lebendig zu werden. Die Wölfe sprangen dann auf und drängten vorwärts, während lautes Gekläff und wütendes Geknurr ringsum erscholl. Dann wieder legte sich der Lärm, und hier und da versank ein Wolf von neuem in Schlaf.

Doch immer enger ward der Kreis. Allmählich, Zoll für Zoll zog er sich zusammen, indem hier und da ein Wolf näher kroch, bis die Tiere nur noch auf Sprungweite entfernt waren. Dann pflegte wohl der Mann ein brennendes Holzscheit in die Hand zu nehmen und es unter das Rudel zu schleudern. Ein eiliger Rückzug erfolgte unter ärgerlichem Gekläff und Geknurr, wenn ein wohlgezielter Wurf ein zu dreistes Tier getroffen und versengt hatte.

Der Morgen fand den Mann müde, matt und schlaftrunken an. Er kochte im Dunkeln das Frühstück, und als der Tag um neun Uhr anbrach und das Rudel sich zurückzog, machte er sich an die Arbeit, die er in den langen Stunden der Nacht geplant hatte. Er hieb junge Tannenbäume um und machte daraus Stangen, der er hoch oben in den Kronen einiger Bäume zu einem festen Gerüste verschränkte. Dann zog er mit Hilfe der Hunde mit den Schlittenriemen, die er als Seil benutzte, den Sarg auf dieses Gerüst hinauf.

»Sie haben Bill gekriegt, und sie mögen auch mich bekommen, aber, junger Mann, dich sollen sie nicht haben,« sagte er zu der Leiche auf dem Baum.

Dann machte er sich auf den Weg, während der leichte Schlitten hinter den willigen Hunden rasch dahintanzte, denn auch sie wußten, daß ihre Sicherheit nur von ihrer Ankunft in Fort Mc. Gurry abhinge. Die Wölfe wurden in ihrer Verfolgung immer dreister, sie trabten lässig im Rücken und zu beiden Seiten hinterher, während die roten Zungen heraushingen und die Rippen in den mageren Körpern bei jeder Bewegung zu sehen waren. Sie waren wirklich nur noch Haut und Knochen und die Muskeln zu Bindfäden zusammengeschrumpft, so daß Heinrich sich im Stillen wunderte, wie sie noch auf den Beinen bleiben konnten, und sich fragte, ob sie nicht jeden Augenblick im Schnee zusammenbrechen würden.

Er wagte es nicht, bis zum Dunkelwerden zu wandern. Um Mittag erwärmte die Sonne nicht nur den südlichen Horizont, sondern sie zeigte sogar einen blassen, goldenen Streifen am Himmel. Er nahm dies als Zeichen, daß die Tage nun wieder länger würden und die Sonne wiederkehre. Allein kaum war ihr freundlicher Schein verschwunden, als er schon das Lager aufschlug. Es blieben ihm noch mehrere Stunden matten Tageslichtes und grauer Dämmerung, allein er benutzte dieselben, um einen großen Vorrat Brennholz zu schlagen.

Mit der Nacht kehrten die Schrecken wieder. Nicht nur wurden die hungrigen Wolfe dreister, sondern Heinrich litt auch unter der Schlaflosigkeit. Er entschlummerte unwillkürlich, wie er mit den Decken um die Schultern, dem Beil zwischen den Knien und die Hunde zu beiden Seiten neben dem Feuer hockte. Er erwachte einmal und erblickte vor sich, nicht zwölf Schritte entfernt, einen großen grauen Wolf, einen der größten des Rudels. Als er ihn erblickte, reckte sich das Tier bedächtig wie ein Hund und gähnte ihm ins Gesicht, indem er ihn mit einem Ausdruck anschaute, als sei er nur eine hinausgeschobene Mahlzeit, die bald verzehrt werden würde, und diese Sicherheit zeigte auch das ganze Rudel. Er zählte noch zwanzig Wölfe, die ihn alle hungrig anstarrten oder ruhig im Schnee liefen. Sie erinnerten ihn an Kinder, die um einen gedeckten Tisch herumstehen und nur auf die Erlaubnis zum Essen warten. Und er selber war diese Mahlzeit! Er wunderte sich nur, wie und wann dieselbe beginnen würde.

Wie er so Holz auf das Feuer warf, kam es ihm in den Sinn, daß er seinen Körper noch nie zuvor so bewundert hätte. Er betrachtete das Spiel der Muskeln, er bewunderte die sinnreiche Mechanik der Finger. Beim Schein des Feuers krümmte er dieselben langsam und wiederholt; bald jeden einzeln, bald alle zusammen spreizte er sie aus und machte damit schnelle Bewegungen des Greifens. Er besah genau die Nägel, betastete bald derb, bald sanft die Fingerspitzen, um das Gefühl in den Nerven zu prüfen. Das alles entzückte ihn, und er fing auf einmal an, diesen zu künstlich bereiteten Leib liebzugewinnen, der so schön, so glatt, so fein arbeitend ihm gehorchte. Dann warf er einen scheuen Blick auf die Wölfe, die erwartungsvoll im Kreise um ihn herumstanden, und mit einem Schlage fuhr es ihm durch den Sinn, daß dieser wunderbare Leib, dies lebendige Fleisch nichts weiter sei als eine von den hungrigen Tieren heißbegehrte Speise, die sie gierig mit den Zähnen zerfleischen würden, geradeso wie ein Elch, ein Kaninchen auch nur Speise für ihn gewesen wäre.

Einmal fuhr er aus dem Schlummer, der nur einem bösen Traume glich, empor und sah die rötliche Wölfin vor sich. Sie saß nur ein halb Dutzend Schritte von ihm entfernt im Schnee und blickte ihn unverwandt an. Die beiden Hunde ihm zu Füßen winselten und knurrten, aber sie kümmerte sich darum nicht. Sie blickte nur den Mann an, und auch er starrte sie eine Weile an. Es lag keine Drohung in ihrem Blick. Sie schaute ihn nur gleichsam sinnend an, aber er wußte, daß dieser Ausdruck nur eine Folge großen Hungers wäre. Er war Speise, und sein Anblick erzeugte in ihr die Begier des Appetits. Ihr Mund öffnete sich, der Speichel floß heraus und sie leckte sich das Maul im angenehmen Gefühl der Vorfreude.

Eine wilde Angst durchzuckte ihn. Er streckte die Hand nach einem brennenden Holzscheit aus, um es nach ihr zu werfen. Allein ehe seine Finger das Wurfgeschoß erfaßt hatten, sprang sie schnell zurück, und er wußte, daß sie es gewohnt gewesen war, mit Feuerbränden geworfen zu werden. Sie hatte beim Wegspringen geknurrt und dabei all ihre weißen Zähne bis zur Wurzel entblößt. Der sinnende Ausdruck war verschwunden und eine boshafte Gier an seine Stelle getreten, die ihm Schauder einflößte. Er blickte auf seine Hand, die noch das brennende Holzscheit hielt, und bemerkte, wie sich die Finger so zart und fein um die ungleiche Oberfläche legten, wie sie sich um das rauhe Holz krümmten, und wie der kleine, der dem brennenden Teil des Holzes zu nahe kam, feinfühlig von selber vor der sengenden Glut zurückfuhr und einen kühleren Platz aufsuchte, und im nämlichen Augenblick schaute der Mann wie in einem Gesichte, wie diese feinfühligen, zartbesaiteten Finger von den weißen Zähnen der Wölfin zermalmt wurden. Nein! nie zuvor hatte er seinen Leib so lieb gehabt als nun, da er denselben vielleicht nicht mehr lang sein eigen nennen würde.

Die ganze Nacht scheuchte er das hungrige Rudel mit Feuerbränden zurück. Wenn er unwillkürlich einschlummerte, so weckte ihn das Gewinsel und Geknurr der Hunde. Der Morgen kam, aber zum erstenmal verscheuchte das Licht des Tages die Wölfe nicht mehr. Der Mann wartete vergebens, daß sie sich zurückziehen sollten. Sie blieben im Kreise um ihn und um das Feuer und zeigten eine freche Sicherheit, die seinen durch das Morgenlicht erzeugten Mut erschütterte.

Er machte einen verzweifelten Versuch, sich auf den Weg zu machen, allein in dem Augenblick, als er den Schutz des Feuers verließ, sprang der kühnste Wolf auf ihn los, doch zu kurz. Der Mann rettete sich dadurch, daß er zurückwich, aber kaum sechs Zoll von seiner Hüfte klappten die Zähne des Tieres zusammen. Das übrige Rudel drang auf ihn ein, und nur durch Feuerbrände, die er rechts und links um sich warf, trieb er die Wölfe in eine respektvolle Entfernung zurück.

Selbst am hellen Tage wagte er es nicht, das Feuer zu verlassen, um Holz zu hauen. Etwa zwanzig Fuß entfernt erhob sich eine ungeheure vertrocknete Tanne. Er verbrachte die Hälfte des Tages damit, das Lagerfeuer nach dem Baume hinzuziehen, wobei er stets ein halbes Dutzend brennender Reisigbündel bereit hielt, um sie auf die Feinde zu schleudern. Als er den Baum erreicht hatte, studierte er den Wald in der Umgegend, um den Baum in der Richtung zu fällen, wo es das meiste Brennholz gab.

Die Nacht verlief wie die vorige, nur daß das Bedürfnis nach Schlaf überwältigend wurde. Das Knurren der Hunde verlor seine Wirksamkeit, denn sie knurrten jetzt fortwährend, und seine schlaftrunkenen, halb erstarrten Sinne nahmen es nicht mehr wahr, wenn der Ton lauter und dringender wurde. Einmal schreckte er empor; die Wölfin war kaum einen Meter von ihm entfernt. Mechanisch ergriff er einen Feuerbrand und schleuderte ihn ihr in den offenen Rachen. Sie sprang zurück und heulte gellend vor Schmerz, und während er über den Gestank des versengten Haares und Fleisches frohlockte, sah er, wie sie zornig knurrend mit dem Kopfe hin und her schlenkerte.

Darauf band er sich, bevor er wieder einschlummerte, einen brennenden Fichtenast an die rechte Hand. Nur auf wenige Augenblicke schloß er die Augen, dann erweckte ihn der Schmerz der Flamme an dem eigenen Fleische. An diesem Plane hielt er mehrere Stunden lang fest, und alles ging gut, bis er den Ast einmal nicht fest genug angebunden hatte. Als diesmal seine Augen sich geschlossen hatten, fiel ihm der Ast aus der Hand.

Er träumte, daß er in Fort Mc. Gurry wäre. Es war warm und gemütlich dort, und er spielte mit dem Agenten Karten. Dabei schien es ihm, als sei das Fort von Wölfen umzingelt. Sie heulten vor dem Tor, und manchmal hielt er oder der Agent im Spiel inne, um zu lauschen und über ihre fruchtlosen Versuche einzudringen, zu lachen. Plötzlich gab es einen Krach. Die Tür wurde seltsamerweise erbrochen, und er konnte sehen, wie die Wölfe in das große Wohnzimmer des Forts eindrangen. Der Lärm und das Geheul war fürchterlich geworden, und dieses Geheul störte ihn jetzt. Der Traum verwandelte sich, aber das Geheul blieb.

Plötzlich erwachte er vollständig und fand, daß der Lärm Wirklichkeit sei. Mit furchtbarem Geheul und Gekläff stürzten die Wölfe über ihn her. Die Zähne des einen hatten sich über seinem Arm geschlossen, und als er instinktiv ins Feuer sprang, fühlte er, wie die Zähne eines andern ihm ins Bein drangen. Und nun begann ein Kampf mit den Waffen des Feuers. Eine Zeitlang schützten die dicken Pelzhandschuhe ihm die Hände, und so warf er nach allen Richtungen glühende Kohlen in die Luft, bis das Lagerfeuer einem Vulkan glich.

Doch konnte das nicht lange dauern. Die Hitze versengte ihm das Gesicht, die Augenbrauen und Wimpern waren ihm verbrannt und an den Füßen wurde die Glut unerträglich. Mit einem brennenden Ast in der Hand sprang er aus dem Feuer heraus, doch die Wölfe hatte er zurückgetrieben. Überall, wohin die glühenden Kohlen gefallen waren, zischte es im Schnee, und von Zeit zu Zeit verkündete ein knurrendes Gebrumm und ein wilder Satz, daß ein fliehender Wolf auf eine glühende Kohle getreten war.

Nachdem der Mann noch ein paar feurige Brände den letzten Feinden nachgeschickt hatte, warf er die rauchenden Pelzhandschuhe in den Schnee und stampfte umher, um sich die Füße abzukühlen. Die beiden letzten Hunde waren fort, und er wußte wohl, daß sie nur ein Gang bei dem lang ausgesponnenen Mahl gewesen waren, das mit dem Dicken begonnen hatte, und dessen letzter wahrscheinlich er selber sein würde.

»Ihr habt mich aber doch noch nicht!« schrie er und ballte die Faust gegen die hungrigen Bestien, und bei dem Ton seiner Stimme geriet das ganze Rudel in Aufregung. Das Knurren wurde allgemein, und die Wölfin schlich heran und betrachtete ihn gierig.

Er machte sich jetzt daran, eine Idee, die ihm gekommen war, auszuführen. Er dehnte das Feuer zu einem großen Kreise aus und ließ sich innerhalb desselben auf den Schlafdecken nieder, um sich gegen den schmelzenden Schnee zu schützen. Allein kaum war er hinter der Flammenmauer verschwunden, als das ganze Rudel neugierig näher kam, um zu sehen, was aus ihm geworden wäre. Bisher war ihnen die Nähe des Feuers verwehrt gewesen, nun ließen sie sich dicht um dasselbe nieder, und wie Hunde zwinkerten sie mit den Augen, gähnten und dehnten die mageren Glieder in der ungewohnten Wärme. Auf einmal setzte sich die Wölfin nieder, richtete die Nase zu den Sternen empor und begann zu heulen. Sogleich stimmte ein Wolf nach dem andern ein, bis das ganze Rudel mit himmelwärts gerichteten Nasen das Hungergeheul ertönen ließ.

Die Morgendämmerung kam und endlich das Tageslicht. Der Mann machte den Versuch, den Flammenkreis zu verlassen, aber die Wölfe stürzten über ihn her, und doch mußte er Brennholz holen, denn sein Vorrat war zu Ende und das Feuer heruntergebrannt. Zwar scheuchten die geschleuderten Feuerbrände die Wölfe zur Seite, doch nicht mehr völlig zurück, und als er es endlich aufgab und in den Flammenkreis zurücktaumelte sprang ein Wolf auf ihn los, doch zu kurz und fiel mit allen Vieren in die Kohlen. Das Tier schrie erschrocken auf, fletschte die Zähne und hinkte zurück, um die Pfoten im Schnee abzukühlen.

Der Mann kauerte auf den Decken nieder. Den Oberkörper vornübergelehnt, den Kopf zwischen den Knieen, schien er den Kampf aufgegeben zu haben, nur von Zeit zu Zeit hob er die Augen, um das Niedersinken des Feuers zu beobachten. Der Flammenkreis begann Lücken zu zeigen, die allmählich immer größer wurden.

»Vermutlich könnt ihr bald kommen, um mich zu holen,« murmelte er. »Auf jeden Fall will ich jetzt schlafen.«

Einmal erwachte er und sah in einer Lücke zwischen den Flammen gerade vor sich die Wölfin stehen und ihn unverwandt anblicken. Wiederum wachte er auf, nur wenig später, obgleich es ihm schien, als seien Stunden verstrichen. Allein eine merkwürdige Veränderung war eingetreten, eine so rätselhafte, daß er verwundert die Augen aufriß. Was sich zugetragen hatte, konnte er anfangs nicht verstehen, doch die Wölfe waren fort, nur der zertretene Schnee ringsum zeigte, wie nahe sie ihm gewesen. Der Schlaf übermannte ihn von neuem, sein Kopf sank herab, als er plötzlich zusammenfuhr. Er hatte Menschenstimmen gehört, das Knirschen des Schnees unter den Schlitten, das Knarren von Lederriemen, das Bellen von Hunden. Vier Schlitten kamen vom Flußbett herauf und nach dem Lagerplatz unter den Bäumen. Ein halbes Dutzend Leute umstanden den Mann, der mitten in dem ersterbenden Feuer hockte. Sie rüttelten ihn, sie brachten ihn mit Gewalt zu sich. Er blickte sie wie ein Betrunkener an und lallte in seltsam schlaftrunkener Weise: »Rothaarige Wölfin – kam mit den Hunden zum Füttern – fraß zuerst das Hundefutter, – dann die Hunde – und hernach Bill –«

»Wo ist Lord Alfred?« schrie einer der Männer ihm ins Ohr, indem er ihn derb schüttelte. Der andere schüttelte den Kopf.

»Nein, den hat sie nicht bekommen. Der ist oben in den Bäumen am letzten Lagerplatz.«

»Tot?« schrie der Mann.

»Ja, – und im Kasten,« antwortete Heinrich. Dann schüttelte er verdrießlich die Hand des Fragenden von der Schulter ab und fuhr fort: »Laß mich in Ruh', hörst du? Ich bin ganz kaputt. – Gute Nacht, ihr alle.«

Die Augen fielen ihm zu, sein Kinn sank auf die Brust, und kaum hatten sie ihn auf die Decken im Schnee gelegt, so erklang sein Schnarchen durch die frostkalte Luft.

Doch ein anderer Ton ließ sich noch vernehmen, schwach und in weiter Ferne – das Geheul der hungrigen Wölfe, die auf andern Raub ausgingen, da der Mensch ihnen entgangen war.

5. Kapitel. Das Recht auf Fleisch

Inhaltsverzeichnis

Das Wölflein entwickelte sich schnell. Es ruhte sich zwei Tage aus, dann wagte es sich wieder aus der Höhle. Bei diesem Abenteuer fand es das junge Wiesel wieder, dessen Mutter es mitverzehrt hatte, und es sorgte dafür, daß das Junge der Mutter nachfolgte. Diesmal aber verirrte es sich nicht. Als es müde war, trat es den Rückzug zur Höhle an, um zu schlafen, und jeden Tag machte es sich nun auf Abenteuer aus und wagte sich immer weiter hinaus.

Es fing an, seine Stärke gegen seine Schwäche genau abzuwägen und zu wissen, wann es kühn und wann es vorsichtig sein müßte. Es fand es ratsam, immer vorsichtig zu sein, bis auf die seltenen Augenblicke, wo es auf die eigene Unerschrockenheit sicher bauen konnte, um sich Wutanfällen oder Begierden hinzugeben.

Immer gebärdete es sich wie ein kleiner Teufel, wenn es ein verirrtes Schneehuhn antraf, und stets antwortete es wütend auf das Geschnatter des Eichhörnchens, das es zuerst an der zerschmetterten Tanne getroffen hatte. Der Anblick eines Hähers versetzte es fast immer in die wildeste Wut, denn nie vergaß es den Schnabelhieb, den es von dem ersten Vogel dieser Gattung auf die Nase erhalten hatte. Allein es gab Zeiten, wo selbst ein solcher Vogel es nicht aufregen konnte, und das war, wenn es sich vor einem lauernden Feind in Gefahr glaubte. Nie vergaß es den Habicht und ein beweglicher Schatten trieb es ins nächste Dickicht, wo es niederkauerte. Es schritt nicht länger breitbeinig und ungeschickt einher, sondern nahm allmählich den schleichenden, verstohlenen Gang der Mutter an, indem es scheinbar ohne Anstrengung mit unberechenbarer Schnelligkeit dahinglitt.

Aber nur am Anfang hatte es bei der Jagd auf Raub Glück gehabt. Die sieben Küchlein des Schneehuhns und das junge Wiesel waren lange alles, was es getötet hatte. Mit jedem Tage jedoch wuchs sein Verlangen zu töten, und hungrig und ehrgeizig verlangte es auch nach dem Eichhörnchen, das so geläufig schnatterte und alle wilden Geschöpfe vor der Annäherung des Wölfleins warnte. Aber wie die Vögel in die Luft aufflogen, so konnten die Eichhörnchen auf Bäume klettern, und das Wölflein konnte nur versuchen, das Eichhörnchen unbeobachtet zu beschleichen, wenn es auf dem Boden war.

Es hatte großen Respekt vor der Mutter. Ging sie auf Raub aus, so brachte sie ihm stets seinen Anteil daran heim; auch hatte sie vor nichts Angst. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß diese Furchtlosigkeit auf Erfahrung beruhte, es machte ihm den Eindruck von Macht. Die Mutter stellte ihm die Macht vor, und es fühlte dieselbe, als es älter wurde, in der härter strafenden Pfote, in dem scharfen Biß der Zähne, der gegen den sanften Stoß der Nase vertauscht wurde. Deshalb hatte es vor ihr Respekt, denn sie zwang es zum Gehorsam, und je älter es wurde, desto leichter wurde sie böse.

Abermals brach eine Hungersnot aus, und das Wölflein erfuhr von neuem; und diesmal mit klarem Bewußtsein, die Pein des nagenden Hungers. Die Wölfin magerte aus Mangel an Nahrung ab. Sie blieb kaum mehr in der Höhle, sie verbrachte die meiste Zeit auf der Suche und immer ohne Erfolg. Diese Hungersnot dauerte zwar nicht lange, war aber sehr heftig. Das Wölflein fand keine Milch mehr in der Mutterbrust, auch bekam es nicht einen Bissen Fleisch. Früher hatte es zum Scherz gejagt, zum bloßen Zeitvertreib, jetzt war es bitterer Ernst damit und dennoch fand es nichts. Doch dieser Mißerfolg entwickelte seine Fähigkeiten. Es studierte die Gewohnheiten des Eichhörnchens sorgfältiger und bemühte sich, dasselbe mit größerer Schlauheit zu beschleichen. Es studierte auch die Waldmäuse und versuchte, sie aus ihren Löchern herauszugraben; es lernte die Gewohnheiten der Spechte und anderer Vögel kennen. Dann kam ein Tag, wo der Schatten des Habichts es nicht mehr ins Gebüsch und ins Versteck trieb. Es wurde stärker, klüger, zuversichtlicher; auch war es in Verzweiflung. So saß es ganz offenkundig in der Lichtung und forderte den Habicht in den Lüften heraus. Denn es wußte, daß dort über ihm im Blauen Speise sei, wonach sein Magen so beharrlich verlangte. Allein der Habicht wollte nicht herabkommen, um zu kämpfen, und das Wölflein kroch ins Dickicht zurück und winselte vor Enttäuschung und Hunger.

Aber auch diese Hungersnot ging vorüber, und die Wölfin brachte wieder Fleisch heim. Es war eine ganz seltsame Beute, etwas ganz anderes, als sie je früher heimgebracht hatte. Es war ein halb ausgewachsener junger Luchs, nicht ganz so groß wie das Wölflein, und ganz allein für ihn. Die Mutter hatte ihren Hunger anderwärts gestillt. Es wußte ja nicht, daß der Luchs der letzte von dem Wurf sei, der ihr vollständig zum Opfer gefallen war. Auch wußte es nicht, wie verzweifelt die Tat gewesen war. Nur daß das Kätzchen mit dem Sammetfell Fleisch sei, wußte es, und es verzehrte dasselbe, und bei jedem Bissen wurde ihm wohler.

Ein voller Bauch führt zur Untätigkeit, und das Wölflein lag in der Höhle dicht neben der Mutter und schlief. Es wachte durch ihr Knurren auf. Nie hatte es so fürchterlich knurren hören. Vielleicht nie im Leben hatte sie einen so furchtbaren Ton ausgestoßen, und sie hatte auch allen Grund dazu, das wußte niemand besser als sie, denn das Lager eines Luchses wird nicht ungestraft beraubt. Im vollen Licht der Nachmittagssonne sah das graue Wölflein die Luchsin geduckt vor dem Eingang der Höhle liegen; sein Haar sträubte sich ihm auf dem Rücken empor. Hier war etwas Furchtbares, das brauchte ihm der Instinkt nicht erst zu sagen, und wenn der Anblick allein nicht genügt hätte, so wäre das wütende Geschrei des Eindringlings, das mit Knurren begann und rasch zu heiserem Kreischen wurde, hinreichend überzeugend gewesen. In dem Wölflein regte sich die Liebe zum Leben, es stand auf und stellte sich mit tapferem Knurren neben die Mutter. Allein sie schob es verächtlich beiseite und stellte sich vor es. Die Luchsin konnte des niedrigen Eingangs wegen nicht in die Höhle hineinspringen, aber als sie behende hineinkroch, sprang die Wölfin auf sie los und drückte sie zu Boden. Das Wölflein sah von dem Kampfe nur wenig, allein es hörte fürchterlich knurren, fauchen und kreischen. Die beiden Tiere hieben aufeinander los, die Katze, indem sie mit den Krallen riß und kratzte und auch die Zähne gebrauchte, während die Wölfin nur diese als Waffe besaß. Einmal sprang das Wölflein zu und biß der Luchsin in eines der Hinterbeine. Es hielt fest und knurrte wütend. Ohne daß es das wußte, lähmte das Gewicht seines Körpers die Bewegung des Beines, und es ersparte dadurch der Mutter manche Wunde. Bei einer Wendung des Kampfes jedoch kam es unter die beiden Kämpfenden und ließ das Bein fahren. Einen Augenblick später trennten sich die beiden Feinde, und bevor sie von neuem aufeinander losstürzten, versetzte die Luchsin dem Wölflein einen Schlag mit der Vorderpfote, riß ihm die Schulter bis zum Knochen auf und schleuderte es an die Wand. Nun mischte sich auch sein gellendes Schmerzensgeschrei in den Lärm, aber das Wölflein hatte Zeit, sich auszuheulen und noch einmal mutig einzugreifen, indem es wiederum die Luchsin bei einem Hinterbeine packte und zornig knurrend festhielt, bis der Kampf zu Ende war.

Zwar war die Luchsin endlich tot, aber auch die Wölfin war sehr wund und krank. Sie liebkoste ihr Junges und leckte ihm die wunde Schulter, aber der große Blutverlust hatte sie sehr schwach gemacht, und einen Tag und eine Nacht lag sie bewegungslos und kaum atmend neben der toten Feindin. Acht Tage lang verließ sie die Höhle nur, um zu trinken, und hernach noch waren ihre Bewegungen langsam und matt. In dieser Zeit wurde der tote Feind verzehrt und die Wunden der Wölfin heilten wieder so weit, daß sie auf Raub ausgehen konnte.

Eine Zeitlang blieb die Schulter des Wölfleins nach dem furchtbaren Schlage, den es erhalten hatte, steif und tat sehr wehe, und es hinkte beim Gehen. Aber die Welt hatte sich seitdem für es verändert. Es schritt mit erhöhter Zuversicht einher, es fühlte sich als Held. Das Leben hatte sich ihm von einer wilderen Seite gezeigt, es hatte gekämpft, die Zähne ins Fleisch des Feindes geschlagen und war am Leben geblieben. Drum trat es kühner und trotziger auf, und kleinere Geschöpfe jagten ihm keine Furcht mehr ein. Seine Schüchternheit war verschwunden, wenn auch das Unbekannte ihm immer noch geheimnisvolle Schrecken einflößte.

Fortan begleitete es die Mutter auf ihren Streifzügen, und es sah nicht nur, wie Beute gemacht wurde, sondern spielte dabei auch eine Rolle. So lernte es in seiner Weise das Recht auf Fleisch kennen. Es gab zwei Arten von Leben, das eigne, das auch die Mutter einschloß, und das der andern. Dies umfaßte all die Geschöpfe, die entweder von ihm und den Seinen getötet und gefressen wurden, oder die ihn töten und fressen würden, wenn sie es könnten. Und aus dieser Einteilung entstand das Recht. Fleisch war die Grundbedingung des Lebens, Fleisch war selbst Leben, und so lebte das Leben vom Leben. »Friß oder werde gefressen«, so lautete das Gesetz. Zwar brachte das Wölflein dasselbe nicht in einen so klaren, bestimmten Satz und dachte auch nicht weiter darüber nach; aber es lebte nach dem Gesetze, ohne darüber nachzudenken.

Es sah, wie das Gesetz rings umher in Kraft war. Es hatte einst die Küchlein des Schneehuhns gefressen und der Habicht die Mutter. Dieser hätte auch es gefressen, und später, als es stärker geworden war, hatte es den Habicht fressen wollen. Es hatte den jungen Luchs verzehrt, und die Luchsin würde dasselbe mit ihm getan haben, wäre sie nicht selber getötet worden, und so ging es immer weiter. Alle lebenden Wesen ringsum lebten nach dem Raubgesetz, und das Wölflein war nur ein winziger Bruchteil desselben, ein Fleischfresser wie sie, dessen einzige Nahrung lebendes Fleisch war, das flink vor ihm herlief, emporflog, auf die Bäume kletterte oder sich im Boden versteckte, oder das den Spieß umkehrte, sich zur Wehr setzte und es jagte und verfolgte.

Hätte das Wölflein nach Menschenweise überlegt, so hätte es das Leben als eine gefräßige Gier bezeichnet und die Welt als einen Ort, worin zahllose ähnliche Begierden herrschten, die sich verfolgten, sich jagten, sich gegenseitig vernichteten, all das wirr und blind, gewalttätig und ohne Ordnung, ein wildes Durcheinander, gelenkt nur durch den Zufall, unbarmherzig, plan- und endlos.

Aber das Wölflein sah die Dinge nicht von so hohem Standpunkte an. Es hatte nur den einen Zweck im Auge, nur den einen Gedanken, die eine Begier. Außer dem Raubgesetz gab es noch viele andere, weniger wichtige Gesetze, die es lernen und befolgen mußte. Die Welt war voller Überraschungen. Das eigene Leben, das Spiel seiner Muskeln verursachte ihm unendliches Wohlbehagen, die Jagd auf Beute lebendiges Entzücken. Selbst Zorn und Kampf war Genuß. Sogar der Schreck und das Geheimnis des Unbekannten erhöhte das Lebensgefühl.

Und es gab auch Erleichterung und Zufriedenheit. Mit vollem Magen faul in der Sonne zu dösen, das war voller Ersatz für Arbeit und Mühe, während diese Mühe und Arbeit ihre Belohnung in sich selbst fanden. Waren sie doch eine Betätigung des Lebens, das glücklich ist, wenn es sich betätigt. So war das Wolfsjunge mit der ihm feindlichen Umgebung nicht unzufrieden, denn es lebte ja, war glücklich und sehr stolz auf sich selber.

6. Kapitel. Die Hungersnot

Inhaltsverzeichnis

Der Frühling war ganz nahegekommen, als der Graue Biber seine lange Fahrt beendet hatte. Es war wieder April und Wolfsblut ein Jahr alt, als er in das heimische Dorf einzog und Mitsah ihn ausspannte. Obgleich noch nicht völlig ausgewachsen, war er neben Liplip der größte Hund seines Alters. Schon jetzt konnte er sich mit erwachsenen Hunden messen, denn von beiden Eltern hatte er Wucht und Stärke geerbt, und es fehlte ihm nur noch an Breite. Sein Körper war hager und eckig und seine Stärke mehr ausdauernd als gewichtig. Sein graues Fell zeigte die echte Wolfsfarbe, und dem Anschein nach war er ein echter Wolf. Was vom Hunde er von Kische geerbt, hatte ihm körperlich keinen Stempel aufgedrückt, wenn es auch in seiner geistigen Begabung eine Rolle spielte.

Er wanderte durch das Dorf und sah mit ruhiger Befriedigung die Personen wieder, die er vor der langen Fahrt gekannt hatte. Auch die Hunde besah er sich, junge, die, wie er, herangewachsen waren, und erwachsene, die nicht so groß und so schrecklich aussahen wie das Bild, das er von ihnen im Gedächtnis trug. Darum hatte er jetzt weniger Angst vor ihnen und schritt mit einet sorglosen Sicherheit unter ihnen umher, die ihm ebenso neu wie angenehm war. Unter ihnen gab es einen alten, grauen Burschen, Besik, der in früheren Tagen ihm nur die Zähne zu zeigen brauchte, um Wolfsblut die eigene Unbedeutendheit fühlen zu lassen, und durch den er nun erfahren sollte, welche Veränderung mit ihm vorgegangen war.

Beim Zerlegen eines frischerlegten Elches sollte Wolfsblut einsehen lernen, wie verändert seine Beziehungen zu den Hunden jetzt waren. Er hatte einen Huf und einen Teil des Schienbeins bekommen, an dem noch ein gut Stück Fleisch hing. Er hatte sich aus der unmittelbaren Nähe der Hunde entfernt und verzehrte seinen Anteil hinter einem Gebüsch, als Besik auf ihn loskam. Ohne sich lange zu besinnen, hatte Wolfsblut den mutmaßlichen Angreifer zweimal gebissen und war dann zur Seite gesprungen. Dieser war über die Verwegenheit und Schnelligkeit des Angriffs verblüfft und stand und starrte Wolfsblut an, während der blutige Knochen zwischen ihnen lag. Der Alte hatte schon bei den Hunden, die er früher anzuschnauzen pflegte, bittere Erfahrungen gemacht und die Klugheit zu Hilfe rufen müssen, um mit ihnen zu wetteifern. Früher wäre er in angebrachtem Zorn auf Wolfsblut losgesprungen, aber die mangelnden Kräfte erlaubten ihm kein solches Vorgehen mehr. Er sträubte nur wild die Haare und blickte finster nach dem Knochen hinüber. In Wolfsblut erwachte ein gut Teil der früheren Ehrfurcht, er zögerte, ob er nicht doch zurückweichen und einen nicht allzu schimpflichen Rückzug antreten sollte.

Hätte Besik sich damit begnügt, noch weiter drohend und finster zu blicken, so hätte Wolfsblut ihm am Ende den streitigen Knochen überlassen. Allein jener beging den Fehler, nicht zu warten. Er betrachtete den Sieg schon als errungen und machte einen Schritt auf die Beute zu. Als er sorglos den Kopf hinabbog, um diese zu beschnuppern, sträubten sich auch Wolfsbluts Haare. Selbst dann wäre es noch nicht zu spät gewesen, und Wolfsblut wäre endlich weggeschlichen, wäre der andere mit erhobenem Haupte und finsteren Blicken stehen geblieben. Allein der Geruch frischen Fleisches stieg Besik in die Nase, und er fing an, davon zu kosten. Dies war für Wolfsblut zu viel. All die monatelange Herrschaft über die Genossen des Gespanns war ihm zu frisch im Gedächtnis, um müßig dabei stehen zu sollen, wenn ein anderer das ihm zukommende Fleisch verzehrte. Ohne Warnung schnappte er seiner Gewohnheit gemäß zu, und Besiks rechtes Ohr hing in Fetzen herab. Die Plötzlichkeit des Angriffs verblüffte jenen, doch schlimmeres noch sollte mit ebensolcher Plötzlichkeit kommen. Er wurde umgeworfen, am Halse gebissen, und als er sich endlich auf die Füße stellte, brachte ihm der junge Hund noch zwei tiefe Wunden in die Schulter bei. Die Schnelligkeit, womit dies alles vor sich ging, war erstaunlich, Besik leistete zwar Gegenwehr, aber nur schwach, denn seine Zähne schlugen in der leeren Luft zusammen, und einen Augenblick später war ihm die Nase aufgeschlitzt, und er taumelte von dem Knochen zurück.

Das Blatt hatte sich gewendet, und Wolfsblut stand drohend und mit gesträubtem Haar über dem Knochen, während Besik sich zum Rückzug anschickte. Er wagte keinen weitern Kampf mit einem so blitzschnellen Feinde, und von neuem fühlte er mit erhöhter Bitterkeit die Schwäche des herannahenden Alters. Er machte einen Versuch, seine Würde zu behaupten, kehrte ruhig dem jungen Hunde und dem Knochen den Rücken und schritt stolz davon. Erst als er eine Strecke entfernt war, blieb er stehen, um sich die blutenden Wunden zu lecken.

Dies Abenteuer erhöhte Wolfsbluts Selbstvertrauen und seinen Stolz. Festeren Schrittes ging er fortan unter den großen Hunden umher, seine ganze Haltung war nicht mehr demütig. Nicht daß er Streit suchte, aber er verlangte Achtung. Er wollte unbelästigt seines Weges gehen und vor keinem Hunde beiseite treten, kurz, man sollte Rücksicht auf ihn nehmen. Er wollte nicht mehr übersehen werden, wie es den jungen Hunden, selbst den Genossen seines Gespannes, erging. Sie drückten sich vor den großen zur Seite und gaben auch wohl notgedrungen ihren Anteil am Fleisch hin. Aber Wolfsblut, der ungesellig, einsam und verdrossen kaum nach rechts und links blickte, wurde, fremd und zurückhaltend wie er war, von den erwachsenen Hunden als ihresgleichen behandelt. Nach wenigen erbitterten Zusammenstößen fanden sie es wünschenswert, ihn in Ruhe zu lassen und wagten weder feindselige Angriffe noch freundliche Annäherungen, und so tat er dasselbe.