Robert Menasse

Selige Zeiten, brüchige Welt

Roman

Suhrkamp

Am 26. Februar 1959 schüttete der damals 52jährige Kurt Walmen in Münchens Alter Pinakothek einen Becher »Universal-Abbeiz-Fluid« über Rubens’ »Höllensturz der Verdammten«. Das Gemälde wurde durch den ätzenden Farblöser für alle Zeiten entstellt. Der Attentäter konnte unbehelligt den Tatort verlassen, hatte aber schon vor Betreten der Bayerischen Staatsgemäldesammlung Briefe an Nachrichtenagenturen und Zeitungsredaktionen verschickt, in denen er sich zu dieser Tat bekannte und sie begründete. Er habe dieses eine Kunstwerk »opfern« müssen, um alle anderen Kunstleistungen der Menschheit, ja um die Menschheit selbst zu retten. Denn die Welt steuere auf einen neuen Krieg zu. Er, Walmen, aber habe ein philosophisches System entwickelt, in dem die Philosophie zu Ende gedacht sei und das, wäre es der Menschheit bekannt, die Welt von Grund auf verändern und dauernden Frieden bewirken würde. Als völlig Unbekannter habe er keine andere Möglichkeit gehabt, als durch diese Tat auf sich aufmerksam zu machen, um Gehör zu finden mit seinen philosophischen Thesen, die für die Zukunft der Welt überlebensnotwendig seien. Denn, so Walmen, die Atombomben würden anders aufräumen als ein bißchen Säure. Er beabsichtige, die Gerichtsverhandlung zur Bühne zu machen, auf der er seine Erkenntnisse präsentieren werde.

Am nächsten Tag stellte sich Walmen der Polizei. Bei der Verhandlung machte der vorsitzende Richter allerdings kurzen Prozeß mit der Selbstdarstellung des Angeklagten. Der von den Medien als »Wahnsinniger« und »Spinner« bezeichnete Rubens-Attentäter wurde als strafrechtlich voll verantwortlich zu einer unbedingten Haftstrafe verurteilt und war schon bald darauf wieder vergessen.

Als sich Leo Singer und Judith Katz im Frühjahr 1965 in Wien kennenlernten, war aber just dieser Kurt Walmen Gegenstand ihres ersten längeren Gesprächs. Weitschweifig erzählte Singer von diesem selbsternannten verkannten Genie und gescheiterten Weltveränderer, mit einer Emphase, die ihn selbst verwunderte angesichts der beinahe betäubenden körperlichen Anziehung, die Judith Katz auf ihn ausübte und die ihn, wie er meinte, so kopf- und sprachlos machte, daß er selbst nicht wußte, woher seine vielen Worte kamen. Für ihre Beziehung, die ab diesem Tag mit Unterbrechungen schließlich achtzehn Jahre dauern sollte, war diese Ouvertüre allerdings so stimmig, als hätte Singer sie sich bewußt ausgedacht, schon von seiner eigenen Tat am Ende wissend, als wollte er sie später einmal als letzte folgerichtige Konsequenz dessen entschuldigen können, was schon im Beginn angelegt war.

Man muß sich das vorstellen, sagte Singer, und erwartete jetzt Zustimmung und damit gleich eine Komplizenschaft mit dieser Frau gegen die ganze restliche absurde Welt, heutzutage wird man schon als wahnsinnig bezeichnet, wenn man nur den Anspruch hat, die Welt zu verändern, oder wenn man sagt, daß man die Philosophie zu Ende gedacht hat. Aber was hat denn zum Beispiel Wittgenstein gesagt, nachdem er den Tractatus geschrieben hatte? Genau dasselbe!

Das weiß ich nicht. Aber dieser, wie heißt er, dieser Walden ist ja nicht deshalb als Wahnsinniger bezeichnet worden, sondern weil er ein Rubens-Gemälde zerstört hat.

Nein, er ist schon vorher immer der Wahnsinnige gewesen, schon bevor er das Bild zerstört hat. Löwinger hat auch immer gesagt: der Wahnsinnige!

Ja, über Löwinger ist Leo Singer auf den verhinderten Weltverbesserer zu sprechen gekommen. Leo Singer hatte Judith Katz auf der Universität, im Buffet beim Audimax, gesehen, von ihrer Erscheinung sofort in einer Weise verzaubert, daß er wie in Trance zu ihrem Tisch hingegangen war, um sie anzusprechen. Eine entscheidende Sekunde lang war ihm dies selbstverständlicher erschienen, als etwa zu essen, weil man hungrig ist, oder Herzklopfen zu bekommen, weil man Angst hat, und als er in jener Beklemmung erwachte, die wieder damit rechnete, in irgendeiner Weise erniedrigt oder zurückgewiesen zu werden, war sein »Störe ich? Darf ich mich setzen?« schon gesagt und hatte er, wie durch beschlagenes Glas, schon gesehen, daß Judith nickte. Schon eine halbe Stunde später waren sie gemeinsam von der Uni weggegangen, um woanders mitsammen in Ruhe weiterzureden, einander alles zu erzählen, fast schon ein trautes Paar, unbestreitbar füreinander bestimmt.

So ein wunderbarer Zufall, daß wir uns begegnet sind.

Es war unvermeidlich, sagte Judith, früher oder später hätten wir uns auf alle Fälle begegnen müssen.

Ja, vielleicht ist wirklich jede zufällige Begegnung in Wahrheit eine Verabredung!

Beide waren sie Kinder Wiener Juden, die 1938 vor dem Nationalsozialismus geflüchtet und schließlich in Brasilien gelandet waren, Singer, noch in Wien geboren, ist in São Paulo aufgewachsen, Judith ist in Porto Alegre zur Welt gekommen und schließlich mit ihren Eltern ebenfalls nach São Paulo übersiedelt. Nun studierten sie beide in Wien, Leo Singer, weil er 1959 mit seinen Eltern »leider«, wie er sagte, mitgekommen war, als diese beschlossen hatten, heimzukehren, »da wieder alles in Ordnung war«. Judith Katz hingegen hatte den Wunsch, in Wien zu studieren, ihrer Heimatstadt, die sie nicht kannte, gegen den Willen ihrer Eltern durchsetzen müssen, die, obwohl sie eigentümlicherweise zu Hause immer Deutsch gesprochen hatten, von einer Rückkehr nach Österreich nichts wissen wollten.

Auf dem Weg ins Café Sport überprüften sie schon, ob sie nicht gemeinsame Bekannte in São Paulo hätten. Leo fragte, ob sie Löwinger kenne. Josef Löwinger, bester Freund von Leo Singers Eltern und zu Leo wie ein zweiter Vater, selbst jüdischer Immigrant, hatte es in Brasilien zum Direktor einer großen Bank gebracht und mit derselben Hingabe und Konsequenz, mit der er seine berufliche Karriere vorangetrieben hatte, eine der größten privaten Kunstsammlungen seiner Zeit aufgebaut. In seinem weitläufigen Haus in São Paulo führte er einen Salon, in dem nicht nur die deutschsprachige Kolonie São Paulos, sondern auch die bedeutendsten Künstler und Intellektuellen Brasiliens, ja Lateinamerikas verkehrten. Judith sagte, daß ihre Eltern, soviel sie wisse, einige Male bei Löwinger gewesen seien, sie hätten sie aber nie mitgenommen, wahrscheinlich weil sie damals noch zu klein gewesen sei. Er selbst, erzählte Leo, habe gerade als. Kind sehr viel Zeit bei Löwinger verbracht, nicht nur wenn offenes Haus gewesen sei. Löwingers Haus und sein großer Garten seien viel interessanter gewesen als das Apartment seiner Eltern, und Löwinger – Onkel Zé – habe ihn auf eine zurückhaltende und geduldige Art geliebt, ihm letztlich beinahe mehr Zuwendung entgegengebracht als Leos wirklicher Vater. Kunstwerke aus seiner Sammlung habe er ihm gezeigt und ihn mit ernster Neugier, wie einen Erwachsenen, nach seinen Eindrücken befragt. Miteinander seien sie in tiefen Lederfauteuils gesessen in Löwingers Bibliothek, die so umfangreich geworden war, daß sie eines festangestellten Bibliothekars bedurft habe. Mit dem Ernst, den er sich von dem über ein Buch gebeugten Löwinger abgeschaut habe, sei Leo über einem Bildband gesessen, blind für die Abbildungen in dem schweren Buch auf seinen Knien, habe er ein diffuses Gefühl der Ehrfurcht und eine gewichtige schöne Scheu empfunden, schließlich habe Onkel Zé Leo auf seinen Schoß gesetzt und ihm eine kleine Geschichte erzählt, ihm Fragen stellend, die seine Phantasie anregen und ihn zu Antworten herausfordern sollten, die Leo am Ende das Gefühl gegeben hätten, die Geschichte zum Teil selbst erfunden zu haben. Im riesigen Garten, erzählte Leo, sei er aber alleine herumgetollt, weil Löwinger mit der »freien Wildbahn«, wie er es genannt habe, nicht gerade befreundet gewesen sei, für ihn sei der Garten lediglich ein ruhiger Ausblick aus dem Fenster gewesen und Schutz vor einem unmittelbaren Nachbarn. Bei zwei oder drei gemeinsamen Spaziergängen, die sie anfänglich noch durch die ausgedehnte Gartenanlage gemacht hätten, habe Leo durch stetes Fragen, wie diese Pflanze heiße oder jener Baum, Löwinger ungemein irritiert, und der sei nach zunächst absurden oder tautologischen Antworten (»Das sind Azaleen, nur eben größer als Azaleen, zumindest so etwas ähnliches!«, oder: »Der Strauch da? Nun, das ist eben ein Strauch!«) verstummt und habe Leo nicht mehr in den Garten begleitet. Aber Löwingers Geschichten habe er mit hinaus genommen und sie, die er im Haus so verhalten und starr dasitzend gelernt hatte, gleichsam herausgelebt. Er erzählte, wie er durch den Garten marschiert sei als bandeirante, der ins Landesinnere vordringe, es sich unterwerfe und São Paulo gründe. Dann wieder sei der Garten gleich ganz Europa gewesen und er Napoleon, und an den Fingerkuppen habe er noch immer das Buch gefühlt, das er vorhin in Händen gehalten habe, und er habe sich vorgestellt, daß dieses Buch der code civil sei, den er den Völkern Europas bringe. Und dann seien eben immer wieder Menschen dagewesen, viele Menschen, wenn offenes Haus war, oder aber vereinzelter Besuch, bedeutende Persönlichkeiten, die, wenn sie nach São Paulo kamen, es sich nicht nehmen hätten lassen, Löwinger zu besuchen, wie etwa Otto Maria Carpeaux, der Leo immer Schokolade geschenkt habe, oder Jorge Amado, Carlos Drummond, Guimarães Rosa, de Cavalcanti, Cândido Portinari, Villa-Lobos, ja sogar Jorge Luis Borges sei einmal erschienen. Dieser habe auf Leo noch viel mehr als Onkel Zé den Eindruck eines Mannes gemacht, der gleich als alter Herr auf die Welt gekommen sei.

Er hat mich zu sich auf den Schoß gehoben und mir irgend etwas auf deutsch ins Ohr geflüstert, ja auf deutsch. Seine Stimme hat geklungen, als würde sie von weit her, um viele Ecken herum kommen, wie aus einem Labyrinth!, log Singer. Und danach hat jemand zu mir gesagt: Weißt du, wer das war, Kleiner? Das war Borges! Und ein anderer hat gefragt: Was hat Borges dir da ins Ohr geflüstert? – Ich werde das nie vergessen!

Und einmal ist auch dieser Kurt Walmen bei Löwinger aufgetaucht, wahrscheinlich hatte ihn irgendwer von der deutschen Kolonie mitgenommen, es hieß, daß er vor den Nazis nach Lateinamerika geflüchtet sei, sich an verschiedensten Orten mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen habe und nun eben in São Paulo bleiben wolle. Walmen verkündete, daß er Philosoph sei, und Leo konnte sich besonders deutlich an ihn erinnern, nicht nur weil er behauptet hatte, als blinder Passagier nach Lateinamerika gekommen zu sein, was die kindliche Phantasie Leos natürlich besonders beschäftigen mußte, sondern vor allem auch wegen der Art, wie Walmen sich inszenierte: während von den anderen Gästen Löwingers dem kleinen Leo immer nur gesagt wurde, wie bedeutend sie seien, pflegte Walmen von selbst und aus sich heraus ein für jedes Kind erkennbares bedeutsames, genialisches Auftreten. Anders als bei den Geschichten, die Löwinger ihm erzählte, verstand Leo von den hitzigen Diskussionen im Salon kein Wort, aber die großen Gesten Walmens prägten sich doch in seiner Erinnerung nachhaltig ein, Walmens unduldsame, apodiktische Art zu reden, Einwände abzutun, vom Sitz aufzuspringen und in einen Verkündigungston zu verfallen, Tiraden, von denen Leo nur Wörter wie »unzweifelhaft«, »unübersehbar«, »restlos«, »absolut« auffaßte, und immer wieder »die Welt« oder »die Menschheit«, mit solcher Macht hingesagt, als hätte er sie erschaffen.

Als Leo Judith dies erzählte, merkte er, wie berauscht er war, in einem Rederausch, er veränderte und schmückte aus, erzählte vom »flackernden Blick« Walmens und vom »eisigen Befremden«, das unter den anderen Anwesenden geherrscht habe, von dem er aber in Wahrheit erst nachträglich, als später wieder einmal von Walmen gesprochen wurde, erfahren hatte. Aber er genoß es in diesem Moment so sehr zu erzählen, daß die Frage belanglos war, ob alles in jedem Detail haargenau so gewesen ist.

Bald war Leo allerdings in den Garten gelaufen, da er die Diskussion im Salon ja doch nicht verstehen hatte können, einige Zeit später ist er dann beim Dienstboteneingang wieder ins Haus geschlüpft, nun war er lampião im Kampf gegen die coroneis da terra. Er schlich durch den Korridor des Herrenhauses, kam bei der Küche vorbei und hörte durch die spaltoffene Tür seltsame Geräusche. Er spähte hinein. Da sah er in Strümpfen steckende Füße, ein hochgeschobenes Kleid, einen Männerrücken, Hände, die an einem Hemd zerrten, es war »der Mann«, Walmen, und die Köchin, die sich am Steinboden der Küche wälzten wie Ringer.

Da bin ich in den Salon gelaufen, habe mich vor Löwinger aufgestellt und, die Gestik und die Sprechweise Walmens imitierend, verkündet: Unübersehbar ringt die Menschheit in der Küche auf Leben und Tod! – Alle haben gelacht, nur Löwinger hat mich nachdenklich angeschaut und ist zur Küche gegangen, weil er eben begriffen hat, was ich gesehen habe.

Ist nicht wahr!, sagte Judith.

Natürlich ist es so nicht wahr. Es stimmt, daß Leo durch die Küchentür gespäht und Walmen mit der Köchin auf dem Boden liegen gesehen hatte, und es mag auch stimmen, daß er das für eine Balgerei gehalten hatte. Zugleich aber war es ihm auf eine beklemmende Weise rätselhaft erschienen und auch schockierend, er hatte sofort gewußt, daß er das nicht hätte sehen dürfen. Aber daß er dann Walmen im Salon imitiert habe, das war ihm eben erst beim Erzählen eingefallen. Und wenn Leo ehrlich wäre, hätte er nicht einmal sagen können, ob Walmen sich durch sein Auftreten im Salon oder durch sein Abenteuer mit der Köchin oder durch etwas ganz anderes so unmöglich gemacht hatte, daß er seitdem nie wieder bei Löwinger gesehen wurde, auch wenn er ab und zu noch insofern präsent war, als hitzig über ihn gesprochen wurde. Sogar noch Jahre danach. Nach dem Krieg zum Beispiel, so Leo, wurde kommentiert, daß Walmen in Rio eine Organisation gegründet habe, die Deutschen half, in Brasilien einzuwandern, aber Leo hatte nur irgendwie mitbekommen, daß es sich dabei um äußerst dubiose Geschäfte gehandelt habe.

Jetzt fiel Leo wieder ein, wie er auf dieses Thema gekommen war. Sie hatten überprüft, ob sie gemeinsame Bekannte in São Paulo hätten, und Leo hatte Judith gefragt, ob sie Löwinger kenne. Und dabei war ihm eingefallen, daß Löwinger ihm im Jahre 1959, als Leo ihn zum letzten Mal vor seiner Abreise nach Wien besucht hatte, einen Zeitungsausschnitt mit einem Foto Walmens gezeigt – die Zeitung berichtete von dem Rubens-Attentat in München – und gesagt hatte: Kannst du dich noch an den Wahnsinnigen erinnern? Schau, was er jetzt gemacht hat!

Man muß sich das vorstellen, sagte Leo, ich liebe Löwinger wirklich sehr, ich liebe ihn wie einen Vater. Und da liest der feinsinnige Kunstsammler, einer der bedeutendsten Kunstsammler unserer Zeit, in der Zeitung von einem Mann, der das wahrscheinlich wichtigste Rubens-Gemälde zerstört hat, und einige Zeit davor ist dieser Mann noch Gast in seinem Haus gewesen. Daß der ihn nicht verstehen kann, ist klar. Aber vielleicht hat Walmen recht. Ich meine, vielleicht hat er wirklich ein philosophisches System, das die Welt verändern könnte. Kein Mensch hat ihn je angehört. Kein Mensch hat das je diskutiert. Es muß furchtbar sein – nein, warte! Stell dir das vor!, es muß furchtbar sein, das Letzte zu wissen und zu sehen, daß es keiner hören will, vielleicht bedarf es da eines Fanals. Was ist schon ein Rubens-Gemälde gegen die ganze Welt, ich meine, wenn es geklappt hätte. Aber sie haben ihn dann erst recht zum Wahnsinnigen gestempelt, das ist ja das Problem, sie haben ihn nur dazu getrieben, ihnen eine Begründung dafür zu liefern, was sie ihm vorher schon unterstellt haben, nämlich ein Wahnsinniger zu sein. Aber so gesehen sind alle anderen an der Zerstörung des Bildes schuld, nicht Walmen!

Leo sah Judith an, mit einem Drängen, das alle Geräusche in diesem Lokal an die Wand drängte, wo sie dann möglicherweise klebten wie Bilder, und er wußte, daß er noch stundenlang reden und sie bezaubern mußte, um sie dann vielleicht verführen zu können, es war alles auf eine so angestrengte Weise kraftlos bei ihm, und immer nur dieses wissende Lächeln, mit dem man sich so leicht mit allen verbrüdern kann und dabei doch so ahnungslos ist, wenn man in ein Gesicht schaut wie das Judiths.

Aber es ist doch völlig absurd, sagte Judith, wenn ein Mensch glaubt, ganz allein und nur durch seine Ideen die Welt verändern zu können.

Wieso? Das ist doch immer so gewesen! Singer war trotz seiner neunundzwanzig Jahre ungewöhnlich unschuldig und naiv. Napoleon, zum Beispiel, veränderte die Welt, und der Lärm, den er dabei machte, dringt ins Arbeitszimmer Hegels, der inspiriert wird zu einer Philosophie, die wiederum die Welt verändern sollte, und so weiter. Die Geschichte lehrt doch nichts anderes als Weltveränderungen durch einzelne. So hat es Singer gelernt. Judith lachte; durch die Größe ihres Mundes schien ihr Lachen gleich auch Größe im übertragenen Sinn zu haben und somit ein Privileg zu sein, das nur wenigen Begnadeten gespendet wird. Er war ein kleiner magerer Mann von scharfer, man möchte sagen: ätzender Häßlichkeit, alles war scharf an ihm: die gebogene Nase, die sein Gesicht beherrschte, der schmale Mund, dessen Unterlippe sich beim Reden spitz und doch irgendwie obszön fleischlich nach vorn stülpen konnte, die dickgeschliffenen Gläser seiner schwarzen Brille, die er sich manchmal ins streng zurückgekämmte, fettig wirkende Haar schob, wenn sie ihn auf der Warze an seinem Nasenflügel drückte. Doch Judith mochte ihn, sie sah in seinen scharfen Gesichtszügen eine bis zum äußersten zugespitzte Sensibilität und Güte und zugleich eine schimmernde, aber noch nicht erprobte »Weltbereitschaft«. Und mit Rührung beobachtete sie das Gestikulieren seiner kleinen zarten Hände und hörte den Tonfall seiner Rede, diesen beinahe unmerklichen, für jeden anderen unbestimmbaren Akzent, der ihr aber sofort vertraut war, zusammengesetzt aus brasilianischer Kindheit und Wiener Eltern. Leo hätte so gern alles von Judith gewußt, alles von ihr gekannt, jede Sekunde ihres bisherigen Lebens, aber sie kam nicht zu Wort, weil er vor lauter Neugier nach ihr selbst ununterbrochen redete. Das Thema Walmen, nun allerdings verallgemeinert, ließ ihn nicht los, er redete vom Anspruch, die Welt zu verändern, und was die Gründe dafür seien, daß die Welt einen solchen Anspruch heute als Ausdruck von Wahnsinn empfand. Die Nazis, sagte er, hätten alles zerstört, auch das einfachste Wissen von der Geschichte. Und weil sie alles zerstört hätten, erscheine der Opfer- und Wiederaufbaugeneration alles als wahnsinnig, was über das hinausweist, was sie eben wiederaufbauen. Er sagte das einfach so hin, so wie er alles einfach so hinsagte, begeistert davon, was ihm alles spontan einfiel, nur weil Judiths Anwesenheit ihn dazu anregte und das so klang, als eröffnete er ihr exklusiv die Resultate langer Nachdenkprozesse. Seine Thesen klangen bizarr in einer Stadt, die so besonders abgebrüht ignorant war gegenüber allen Ideen, daß etwas anders sein könnte, als es war, die so besonders erstarrt erschien in ihrem Sein, daß der Satz »Wien bleibt Wien« nur deshalb als Lüge empfunden wurde, weil er zu euphemistisch klang: das Verbum »bleiben« war schon viel zu dynamisch. Sie waren ins Café Sport gefahren, weil es damals jenes Lokal war, das liberaler schien als diese Stadt, der einzige einigermaßen kosmopolitische Ort in dem Ort Wien, aber er nahm nichts mehr wahr von Ort und Zeit, nicht die Schmutzigkeit des Café Sport, die jene Romantik bediente, der ein Rotweinfleck auf dem Marmortisch schon Möglichkeit zur Meditation zu bieten vermochte; nicht die für Wien ungewöhnliche Urbanität des Publikums, zumeist würfelspielende Araber, Perser oder Griechen, ja es war urbaner, als Wien es war, das Sport, auch wenn einige Gäste Wiener waren, einige wenige, die schon draußen in der Welt gewesen waren und nun trotzig weltmännisch in kanadischen Pelzmänteln oder peruanischen Ponchos hier saßen, in der Mehrzahl aber vor allem Künstler, die Gruppen bildeten und sich gegenüber anderen Gästen im Erteilen von Lokalverboten einübten, was sie dann später, als sie selbst zu Kneipiers aufgestiegen waren, konkurrenzlos beherrschen sollten. Aber Leo war taub für die griechischen oder französischen Platten aus der Musikbox, blind für die Menschen, die hier beim Puff-Spiel saßen, oder die anderen, die diskutierten und schrien, und diejenigen, die wegen der herumliegenden Villon-Gedichtbände und Kerouac-Ausgaben sich ansoffen und dem Gedanken nachhingen, das Lesen aufzugeben. Blind für die braune Holzvertäfelung der Wände und die Spiegel, die hier hingen und die allesamt erblindet waren. Judith allerdings registrierte dies alles sehr wohl, beiläufig und nebenher, als Details, die vor ihren Augen, kaum daß sie sie wahrgenommen hatte, sofort zu einer Stimmung verdampften, ohne daß sie aufgehört hätte, Leo konzentriert und vergnügt anzusehen. Die Stimmung war ihr angenehm, dieses Lokal, das sie soeben erst durch Leo kennengelernt hatte, es erinnerte sie in seiner zerschlissenen bunten und lauten Einfachheit an die Sarado-Bar in der Rua Dona Veridiana in São Paulo, wo sie vor dem Militärputsch so gern gesessen war, Treffpunkt der Studenten der nahe gelegenen Mackenzie-Universität, der Ort, dem Judith den ersten Kater ihres Lebens verdankte, von zuviel Brahma-Bier und endlosen Gesprächen über Gott und die Welt.

Leo lauerte süchtig auf das kleinste Zeichen amüsierten Interesses bei Judith, die sich ihm zuneigte, lächelte, ihr Kinn in der Hand aufstützte, dann wieder auflachend den Kopf zurückwarf, wie viel Judith rauchte, noch nie hatte Leo jemanden gekannt, der so viel rauchte wie sie. Der Wein war fürchterlich, aber er tat seine Wirkung, er feuerte ihn an, löste seine Zunge, aber wenn er jetzt nicht bald etwas zu essen bekäme, würde ihm übel werden. Auch Judith hatte Hunger, wollte aber weder die Burenwurst noch eines dieser eigentümlichen »Appetit-Brote«, die hier angeboten wurden, also beschlossen die beiden, das Lokal zu wechseln. Sie fuhren mit Leos altem VW-Käfer in eine Pizzeria im siebenten Bezirk, die Leo kannte, weil er ganz in der Nähe, in der Schottenfeldgasse, wohnte. Judith kurbelte gleich das Seitenfenster herunter, obwohl es noch empfindlich kühl war, und sagte: In so einer fusca fühlt man sich gleich wieder wie zu Hause in Brasilien!

Hast du viel Heimweh?

Mehr oder weniger. – Ist es nicht witzig: als wären wir zwei namorados, wie sagt man? Na du weißt schon: namorados in São Paulo: mit der fusca in die Bexiga auf eine Pizza!

Leo Singer starrte geradezu pathetisch durch die Windschutzscheibe, trotz des offenen Fensters glücklich erhitzt von diesem Angebot, wie er es verstand, eine Gemeinsamkeit herzustellen, die allerdings auch schon längst vorausgesetzt war, jederzeit abrufbar durch ganz wenige Worte, die nur für sie beide hier an diesem Ort eine Bedeutung hatten.

Tudo bem, sagte er, auf in die Bexiga!

Die Pizzeria »da Roberto« war ein kleines Lokal, wenige Tische mit diesen grobgewirkten roten Universal-Tischtüchern, die es in Wien in italienischen, jugoslawischen oder chinesischen Restaurants genauso gab wie in den Gaststätten mit steirischer oder Wiener Küche. Auf jedem Tisch eine Kerze, die auf einer bastumflochtenen Chianti-Flasche steckt. Leo mußte sich, wenn er selbst nicht redete, so stark darauf konzentrieren, nicht mit dem an der Flasche heruntergeronnenen Wachs zu spielen, daran zu nesteln, es zu kneten, daß er zeitweise Mühe hatte zu verstehen, was Judith sagte.

Nach dem Putsch, sagte sie, habe sie nichts wie weg wollen von Brasilien. Ihre Eltern hätten dies nicht verstanden. Ihr Glück, Glück unter Anführungszeichen, sagte sie, sei gewesen, daß dann die Universitäten nicht mehr funktionierten. Der Lehrbetrieb ist einfach zusammengebrochen. Zum Teil, weil linke Professoren verhaftet wurden, andere sind geflüchtet und ausgewandert, die Militärs ließen die Uni-Bibliotheken durchwühlen nach marxistischer Literatur, dann streikten die Studenten und die Professoren. Ihre Eltern, sagte Judith, wollten immer, daß sie studiere. Etwas anderes sei gar nicht in Frage gekommen. Darum habe sie »Glück« gesagt, denn nun habe sie sagen können: wenn ihr wirklich wollt, daß ich studiere, dann zahlt mir ein Studium in Wien! Es war furchtbar damals, sagte Judith, bizarr und furchtbar, du weißt das vielleicht nicht, du bist ja schon fast sechs Jahre weg von Brasilien, aber es sind nach dem Putsch Menschen verschwunden, einfach verschwunden, und auch eine gute Freundin von mir war plötzlich verschwunden, kein Mensch weiß, wo sie ist.

Eine Pizza Cardinale, eine Pizza Quattro Stagione, ein halber Liter Chianti, sagte Singer, seine Hitze hielt an, der große Pizzaofen mitten im Lokal.

Man sagte, daß sie Mitglied in einer trotzkistischen Organisation gewesen sein soll, sagte Judith, gut möglich, daß das stimmt. Die Eltern, die Abgängigkeitsanzeige bei der Polizei gemacht hatten, wurden nur hingehalten, ewig diese dubiosen Aussagen vom delegado, man wußte, daß sie wußten, daß das ein politischer Fall war, da konnten sie nichts machen als nichts zu machen, aber sie konnten es nie klar sagen, sie blieb einfach verschwunden.

Und Judiths Eltern haben schließlich zugestimmt, also gut, dann zahlen wir dir ein Studium im Ausland, warum nicht Paris? Weil ich nicht Französisch kann, hatte Judith gesagt, ich kann Deutsch, durch euch, wir haben zu Hause immer nur Deutsch geredet, aber nach Deutschland will ich nicht (immer noch ein besetztes Land, eine amerikanische Kolonie), aber das dachte sie nur, das sagte sie nicht (und habt ihr nicht immer wieder von Wien erzählt, ich will das jetzt kennenlernen, für euch, weil ihr ja nicht mehr hinfahrt, das ist Urschlamm von euch in meinem Kopf), das sagte sie nicht, aber die Eltern verstanden schließlich, nein, nach Deutschland nicht, also gut nach Wien.

Die Uni-Streiks fanden meine Eltern wirklich nicht gut, und daß meine Freundin verschwunden war, und diese ganzen bizarren Sachen, stell dir vor, das weißt du ja nicht, die Professoren der Philosophischen Fakultät der Universität von Rio Preto sind mit Autos durch die Straßen gefahren, Autos mit so alto-falantes, wie sagt man, ja, so Lautsprecherwagen, und haben Propaganda gemacht für freie Liebe. Und? Was und? Zum Teil sind sie verhaftet worden, zum Teil sind sie untergetaucht. So war das. Kritisch und gefährlich und kindisch gleichzeitig. Und dann komme ich da her, und ich habe mir Wien wirklich anders vorgestellt. Wie? Anders eben, der Faschismus besiegt, die Linke hat Oberwasser, was weiß ich, aber wenn ich hier jemandem das erzähle, von meiner Freundin zum Beispiel, der hat keine Ahnung, was das ist, eine trotzkistische Organisation zum Beispiel, hier in Wien ist es so kalt und dunkel wie auf der erdabgewandten Seite des Mondes. Die wissen nicht einmal, daß man Marx mit ix schreibt, der Militärputsch muß hier eine Meldung unter »Kurz notiert« gewesen sein, denn wenn du hier Brasilien sagst, dann denken sie an Fußball und Karneval.

Das habe ich nicht verstanden, sagte Leo, das mit den Professoren von der faculdade von Rio Preto, was heißt, sie haben mit Lautsprecherwagen Propaganda für freie Liebe gemacht?

Na, sie sind durch die Straßen gefahren mit diesen Autos und haben Durchsagen gemacht, über die Notwendigkeit, wie sagt man, die Vorzüge der freien Liebe.

Leo beugte sich interessiert nach vorn. Da kamen die Pizzas. Cardinale? Für mich! sagte Leo. Er hatte auch noch keine Zeile von Trotzki gelesen – Judith übrigens auch nicht–, aber das mit der freien Liebe war immerhin ein Anhaltspunkt. Sie waren beim Thema.

Leo sah Judith jetzt entschlossen in die Augen, mit einem langen zupackenden Blick, heiß und beinahe grob, ein Blick, der gleichsam ein glühendes Fragezeichen auf einen Amboß legte und zu einem Ausrufezeichen zurechtschlug. Und dann begann Leo, in seine Pizza hineinsäbelnd, sich über die durch Lautsprecherwagen verbreitete Forderung nach freier Liebe lustig zu machen, sie sei, sagte er, zweifellos eine unreflektierte Reaktion auf die unerträgliche Bigotterie des brasilianischen Katholizismus, die unbegriffene Kehrseite unbegriffener Verhältnisse, wie etwa auch der Karneval, der ja ein geradezu mittelalterliches Ventil darstelle, um die ganzjährige dumpfe Ohnmacht und blöde katholische Züchtigkeit zu ertragen. Wenn man sich nun aber vorstelle, sagte er, wie Walmen damals, als er die Küche betreten hatte, nicht mit Lautsprechern, sondern bloß mit einem Blick alles klargemacht haben müsse, bevor er die Köchin zu Boden zog, absolut sicher in dem, was er tat, weil sein Blick ihr klar gesagt haben müsse, was er wollte, und er ihren Augen offenbar ablesen habe können, daß sie begriffen habe und daß sie dieses Begehren teile – dann sehe man, daß erst der Philosoph, im Moment absoluter Klarheit, auch die Begierden befreien könne.

Judiths Schmunzeln war, wie Leo glaubte, nicht bloß Reflex auf das Gesagte, sondern schien ihm vielmehr schon die begehrte Antwort auf sein Begehren zu sein, Vorwegnahme jenes Lächelns, das sie, wie er sich vorstellte, wohl haben würde, wenn sie später einander im Bett umarmen und kosen würden. Er sah, wie Judiths helle Augen glitzerten, als hätten sie einen Schimmer davon, was er jetzt empfand und dachte, als würde sie seine Empfindungen und Gedanken teilen. Die Augen sind nur für den Wissenden Fenster zur Seele, sagte er und meinte damit, daß sie Schlüssellöcher seien, die den Zugang zum Körper öffnen können. Konsequent bemühte er sich um einen Walmenschen Blick. Er war jetzt absolut sicher, daß eine Weiche umgesprungen war, der Triebwagen zog kräftig an, um seinem Ziel entgegenzurasen, und man konnte sich im Abteil mit übereinandergeschlagenen Beinen bequem zurücklehnen, ein wenig plaudern oder essen oder aus dem Fenster schauen, ganz egal, bald würde man so oder so ankommen. Er aß.

Judith hatte die Art, wie Leo soeben geschaut hatte, als ein wenig seltsam empfunden, ein Eindruck, der allerdings auch auf den Wein oder auf die flackernde Kerze zurückgeführt werden konnte, sie dachte darüber nicht nach. Sie dämpfte ihre Zigarette im Aschenbecher aus, Leo zulächelnd, und begann ebenfalls zu essen.

Leo aber machte das Schweigen plötzlich nervös, vielleicht wäre es doch besser, keine Stille und keine Langeweile aufkommen zu lassen, wie leicht könnte sonst die Stimmung in ihrem Abteil drückend und ermüdend werden. Während er noch darüber nachdachte, was er jetzt, beim Thema bleibend, reden könnte, begann Judith wieder zu erzählen, zu Leos Erleichterung zunächst, die aber bald einer hölzernen, starren Verwirrung wich. Judith erzählte wieder vom Alltag nach dem Militärputsch, sie war so froh, das alles endlich einmal loswerden zu können bei jemandem, dem das etwas sagte und der bei Brasilien nicht bloß an Strände, Samba und Kaffee dachte. Sie erzählte vor allem davon, wie das plötzliche Verschwinden von Menschen, die emigriert sind oder die verhaftet wurden, kommentiert worden sei, ignorant oder ängstlich oder zornig, je nachdem, mit wem man gesprochen habe, und wie Freundschaften zerbrochen seien aus Angst, daß diese Freundschaft nun vielleicht kompromittierend sein könne, oder umgekehrt, weil man den plötzlichen blöden ignoranten Opportunismus ehemaliger Freunde so sehr verachtete, und sie redete von der Zensur, wie sie sich in die Köpfe der Menschen hinein fortsetze und wie sie gleichzeitig jedem denkenden Menschen alle Vergnügungen, die man zuvor noch gedankenlos hatte genießen können, nun verbaue, weil man sie nur noch als Ersatz und als Instrument zur Ruhigstellung erleben könne. Straßenfeste habe es gegeben, erzählte sie, Hunderttausende seien auf die Straßen gegangen, um den Putsch zu feiern, den »Sieg der Revolution«, wie es genannt wurde, und die Zeitungen haben geschrieben: die Bevölkerung dankte für die Rettung Brasiliens vor dem Kommunismus! Es war unglaublich, sagte Judith, du hättest das erleben müssen, diese imbecils, wie sagt man, diese Schwachköpfe, überall waren sie plötzlich, unter deinen Freunden, unter deinen Bekannten …

Leo verwirrten Judiths Erzählungen, die ihm etwas Vertrautes, ja das ihnen gemeinsam Vertraute so verfremdeten. Er hörte ihr verwundert zu, als käme ihre Stimme aus einer weiten Ferne, die er zwar kannte und die er vor Augen hatte, wie bei einem Fenster mit gutem Ausblick; aber weil er schon zu lange nicht mehr draußen war, verlor sich alles, was er von seinem Fenster aus sah, im Unvorstellbaren und Unbekannten. Brasilien, das er vor über fünf Jahren verlassen hatte, war für Leo ein ganz anderes Land als das, von dem Judith erzählte, ein verlorenes Paradies, ein Land einer glücklichen Kindheit und Jugend und erster und zugleich letzter romantischer Erlebnisse. Ein ewig blauer Tag, Ferien in Guarujá, ein sanftes Heranspülen des Meeres am Strand Pernambuco, das kühne Rauchen einer »Mustang«-Zigarette mit einem Mädchen, auf deren brauner Haut die Wassertropfen des Meeres in der Sonne glitzerten wie lauter kleine Diamanten. Ein kitschiges Bild, zugegeben, aber Leo hatte es durchaus so in Erinnerung: kein feuchter Film auf der Haut, sondern viele kleine Tropfen, und jeder einzelne glitzerte, und jeder dieser glitzernden Tropfen war eine Metapher für das eigene große Gefühl bei jedem kleinen Anlaß. Und das Mädchen hatte, wie Judith, blauschwarzes Haar, naß und nach hinten gekämmt, so daß man die Linien sieht, die der Kamm gezogen hatte, und das Geld reicht noch für zwei gekühlte grüne Kokosnüsse mit einem Schuß Pinga, und reden, was man studieren werde – willst du Ingenieur werden? Nein, ich will Philosophie studieren! Und dann dieses dunkle Auflachen, wie ein Urubu, der vom Strand auffliegt, ein Lachen, das er in Wien nie wieder gehört hatte, nicht einmal und schon gar nicht bei Menschen, die es auch absurd finden, daß man Philosophie studiert. Flirrende Hitze in Weißgelb und Blau und da die Berührung durch eine vom Wasser noch kühle Hand, ganz anders als die feuchtwarmen Hände, eben erst aus Handschuhen herausgezogen, auf der ewig klammen Haut in einem Wiener Winter. Und dann wieder der Regen in São Paulo, die garoa, in der Löwingers Garten sich aufbäumte in Grün und Rot und Gelb, und drinnen im Haus das warme ockerfarbene Licht der Bibliothek, und man sitzt in einem Lederfauteuil wie eine Geige im Geigenkasten und hört Geschichten wie sphärische Musik, mit jenem Glücksgefühl, das samtig in die Gewißheit eingebettet ist, daß man das dereinst selbst einmal spielen werde können.

Zensur! Was macht ein Wort wie »Zensur« in so einer Geschichte? Wo ist sie mit so einem Blick zu sehen? Leo zog gewissermaßen den Vorhang vor seinem Fenster entschlossen zu, nun sah er gar nichts, und die Schwierigkeiten, die er hatte, Judith genau zu sehen, führte er auf den Wein zurück, der hier zweifellos besser war als im Café Sport, dem er aber, wie er dachte, wohl schon über Gebühr zugesprochen hatte. Der zweite halbe Liter war schon geleert, in sehr kurzer Zeit, und das Exaltierte seiner Angeregtheit war verflogen, er staunte, wie schnell das gegangen war. Leo fiel Judith ins Wort, um ihr zu antworten, »Dazu ist zu sagen, daß«, »Man muß doch ganz klar sehen, daß«, »Wir wissen doch beide, daß«, sagte er mit künstlicher Emphase, um sich selbst wieder mit der Emphase anzustecken, die ihm abhanden gekommen war, und er dozierte, wie er selbst wußte, haarsträubenden völkerpsychologischen Unsinn über »die brasilianische Mentalität«, Unsinn, in dem er sich immer stärker verstrickte, je vehementer er sich wieder herauszureden versuchte.

Judith verstand kein Wort von dem, was Leo jetzt redete, sie hatte Mühe, ihm zu folgen, sie machte die Augen weit auf und starrte ihn konzentriert an, sie wartete, genauso wie auf den noch bestellten Wein, auf einen kleinen Spalt zwischen Leos vorüberziehenden Sätzen, auf irgend etwas, wo sie sich wieder einhaken konnte und mitgenommen werden von der Bewegung seines Redens, leicht und selbstverständlich wie vorhin, aber sie war so bleiern und sank einfach ein, und da war nichts. Wenn sie wieder auf der Oberfläche auftauchte mit verschwommenem Blick und den Blick wieder synchronisiert hatte und Leo scharf ansah, dann hatte er schon wieder so viele Sätze gesagt, die ihr entgangen waren, aber was er jetzt gerade sagte, verstand sie noch weniger. Warum erzählte er nicht wieder von sich, es war so spannend, was er über seine Kindheit in Brasilien erzählt hat, über diesen Löwinger, oder warum erzählt er nicht, wie er nach seiner Übersiedlung nach Wien mit dem Leben hier fertig wurde oder wie es war, als er hier in Wien vom Putsch in Brasilien erfahren hat, welche Informationen er bekommen, ob er nach Brasilien telefoniert hat. Wozu dieses allgemeine Dozieren über die politische Situation, über den Katholizismus in Brasilien, brasilianische Mentalität und solchen Unsinn, sie hätte ihn unterbrechen müssen, aber nun war es zu spät, es war ihr entglitten. Vielleicht war es auch interessant, was er theoretisierte, sie konnte es einfach nicht mehr beurteilen, wollte es auch nicht, sie fühlte sich wohl mit Leo, diesem seltsamen und ihr doch auch schon so vertraut erscheinenden Mann, und wenn er jetzt still gewesen wäre, wäre es wunderbar gewesen. Da kam der Wein, sie trank, immer wieder am Glas nippend, das sie gar nicht mehr abstellte. Sie hatte die Ellenbogen aufgestützt und hielt ihr Glas mit beiden Händen vor ihrem Mund, über das Glas hinweg beobachtete sie Leos Mund, der sich immer wieder nach vorn stülpte und zuspitzte und sich dann wieder ausbreitete zwischen den beiden beweglichen auseinanderstrebenden Mundwinkeln, die nur durch die Klammer seiner Unterlippe zusammengehalten schienen. Und sie beobachtete seine flinken kleinen Hände, die sich rhythmisch öffneten und schlossen, und immer wieder sprang sein Zeigefinger hervor, um auf imaginäre Punkte zu deuten. Mund und Hände Leos erschienen Judith wie exotische kleine Tiere, die umeinander warben zu der Musik des Tonfalls seiner Rede. Was Leo aber sagte, war wirklich schwer zu verstehen, er tat sich schon sehr schwer beim Reden, aber nicht nur wegen des Weins und weil es tatsächlich schwierig war, die Thesen aufrechtzuerhalten, die er vertrat, sondern weil er auch mit seinen Gedanken schon wieder ganz woanders war als bei seinen eigenen Worten. Er wunderte sich darüber, wie belanglos es war, was er redete, belanglos, ob es vernünftig oder blöd war, es änderte nichts daran, daß eben alles schon wie auf Schienen auf sein Ziel zulief. Er sah Judith, wie sie ihm gegenübersaß mit nach vorn gebeugtem, ihm förmlich sich zudrängendem Gesicht, gleich würden sie mitsammen ins Bett gehen, dachte er, wenn nicht sie, wer dann sollte gleich mitsammen ins Bett gehen. Aber irgendwie empfand er die Situation jetzt als völlig verkehrt, er redete Unsinn und wußte, daß er Unsinn redete, Judith bedeutete ihm so viel, jetzt schon so viel, wie noch keine andere ihm je zuvor bedeutet hatte, aber gerade mit ihr wollte ihm kein gerader Satz mehr gelingen, wollte keine selbstverständliche Vergnügtheit, kein leichtes schwebendes Gelingen aufkommen, es lief alles verkehrt – und doch auf das sehnsüchtig begehrte Ziel zu. Leo verstand nicht, warum, und er verstand sich selbst nicht, war er nicht sonst immer, im Gegensatz zu jetzt, der Meister des wunderschön gedrechselten Holzwegs gewesen? Wie oft hatte er geglänzt und brilliert, um dann am Ende bloß mit einem »Danke für den schönen Abend!« dazustehen. Seine sexuelle Gier, die er stets äußerst demokratisch, um nicht zu sagen blindwütig auf Frauen verteilt hatte – denn er hatte kein Schönheitsideal, erwartete auch keine geistige oder womöglich seelische Übereinstimmung, sondern er fühlte sich immer wieder schon durch kleinste Reize zu großen Bemühungen herausgefordert, sei es durch eine bestimmte oder unbestimmte Art, wie eine Frau lächelte oder gestikulierte oder ging, manchmal sogar bloß dadurch, wie eine Frau gekleidet war und sich eine Körperlinie durch die Kleidung abzeichnete, es war ein unkontrollierbares Verhalten, wie das eines Glücksspielers, und seine große Sehnsucht, der Hauptgewinn, die zufällige große Erlösung, entstand gewiß aus der Einsamkeit, die er empfand nach mittlerweile beinahe sechs Jahren Leben in Wien, ohne hier wirklich heimisch geworden zu sein – diese seine sexuelle Gier jedenfalls war immer wie ein Magnet gewesen, der alle Worte, die bei einem Kennenlernen gewechselt werden können, wie Eisenfeilspäne zu schönen harmonischen Mustern ordnete – auch wenn sie dann, wenn die Körper zu Wort kommen sollten, immer wieder achtlos durcheinandergebracht und zerstört wurden. Aus diesem Grund hatte Leo in Wahrheit viel weniger Erfahrung, als er sich beinahe erobert hätte. Er war für sein Alter tatsächlich ungewöhnlich unschuldig, daran aber selbst nicht schuldlos. Denn er hatte kein anderes Verhalten je eingeübt als das eines Spielers, der, auch wenn es ihm mit seiner Sehnsucht sehr ernst war, von einem blind waltenden Geschick den großen Hauptgewinn erwartete, eine Haltung, die aktive Neugier und realistische Einschätzung einer Situation prinzipiell obsolet machte. Aus diesem Grund verspürte Leo jetzt bei dem Gedanken, daß er mit Judith nun endlich seinen Hauptgewinn hatte, nicht nur eine straffe freudige Aufgeregtheit, sondern auch – und das verwirrte ihn maßlos – Enttäuschung. Was ihn enttäuschte, war, daß eine Frau wie Judith sofort mit ihm ins Bett gehen würde, während belanglosere Bekanntschaften so schwer oder oft gar nicht zu verführen gewesen waren, obwohl es ihm, anders als heute, gelungen war, ununterbrochen Feuerwerke aus Witz, Intelligenz und Charme abzubrennen, so daß er vor Begeisterung regelmäßig hingeschmolzen war, aber eben nur er allein. Er hätte so gerne gerade jetzt bis zur letzten Sekunde brilliert und dieses sein Gelingen beim Reden dann ohne Nachdenken, als bloßes Hochgefühl, in sein körperliches Funktionieren umgesetzt. Und, nachdem alles gelungen war, was als Gelingen ohnehin schon angelegt war, hätte er ohne jene Trübung und Verwirrtheit, die er jetzt schon hinter seiner Stirn spürte und gegen die er sich reglos wehrte, empfinden wollen: ja, ich bin verliebt!

Leo verstand nicht, warum ausgerechnet für Judith sein Gelingen keine Rolle spielte, das machte ja aus dem, was er jetzt erwartete, bloß einen solipsistischen verlorenen Akt. So eine konnte doch Judith nicht sein. Andererseits: das Gefühl, bei ihr gar keine Chance zu haben, hätte er schon gar nicht ertragen. Leo fragte sich, ob er Judith nicht vielleicht noch seine Theorie über die Teleologie der lateinamerikanischen Entwicklung vortragen sollte, eine Theorie, die er einmal in einem Gespräch mit einer Studienkollegin, die er beeindrucken hatte wollen, in einem Moment launiger Angeregtheit spontan entwickelt hatte; aus der Vermengung eigentümlicher lateinamerikanischer Anekdoten mit der Geschichtsdialektik von Hegels Phänomenologie hatte er verblüffende Prognosen gezaubert, die ihm beinahe den Anschein einer originellen Gewalt über die Geschichte gegeben hatte. Er hatte diese Theorie wegen des Erfolgs, die sie bei dieser Kollegin gemacht hatte, später noch so oft zum besten gegeben, daß er sie mittlerweile schon wirklich mitreißend vortragen konnte. Nachdenklich brach er einen Wachsklumpen von der Flasche mit der Kerze, knetete ihn und sah über den Rand der Brille, die ihm die Nase hinuntergerutscht war, verschwommen auf Judith. Es war nun schon ein, zwei Minuten nichts gesprochen worden, Judith rauchte und sah Leo an. Sie spürte jetzt geradezu ein romantisches Triefen, das ihre innere Anspannung gleichsam einbalsamierte, diesen seltsamen immer wiederkehrenden Wunsch, wider alle Vernunft so viel zu trinken, bis sie unter den Tisch sank, diese zerrende Gier nach einem Exzeß, die sie immer wieder spürte, entweder um ein unerträgliches Gefühl zu betäuben oder um in einem wohligen Moment erst recht jede Selbstkontrolle zu verlieren und ihn in einer herbeigeführten Ohnmacht zu verewigen. Ein Suchtverhalten, das sie im Unglück hatte und im Glück – dem sie vielleicht nicht traute. Dankbar registrierte sie, daß sie es jetzt nicht empfand, fast nicht, oder zumindest so weit nicht, daß sie es schaffte zu sagen: Komm Leo, bestellen wir die Rechnung!

Zahlen! rief Leo so aufgeschreckt forsch, daß Judith lachen mußte, was Leo mit einem mulmigen Lächeln beantwortete. Sie traten aus dem Lokal, Judith hängte sich bei Leo ein und schmiegte sich an ihn, so daß eine perfekte Harmonie ihrer Schritte sich einstellte, aber ohne die Tendenz, daß sie plötzlich stehenblieben und sich umarmten. Bringst du mich nach Hause? fragte sie. Ja, sagte Leo leise, er wollte gerade hinzufügen, daß er hier gleich um die Ecke wohne, da sagte Judith ihre Adresse. Sie wohnte im dritten Bezirk, in einer Seitenstraße der Landstraßer Hauptstraße. Während der Fahrt sprach Leo kaum ein Wort, er war verwirrt, sehr glücklich und sehr unglücklich in einem. Und er fror. Judith hatte das Fenster wieder einen Spalt aufgemacht und summte ein brasilianisches Lied, Leo kannte es, aber er hatte vergessen, wie es hieß und wie der Text ging. Als sie in die Petrusgasse einbogen, eine ruhige kleine Allee, in der Judith wohnte, schrie sie halt!, es sei dieses Haus hier, da steige sie gleich aus. Sie saßen nebeneinander im Auto und sahen einander an. Leos Hände, die in dick gefütterten Handschuhen steckten, hielten starr und fest das Lenkrad, obwohl das Auto stand. Kann ich, sagte Leo und räusperte sich absurd laut, wie ihm schien, kann ich noch zu dir raufkommen? Nein, sagte Judith, ich bin schon sehr müde, ich möchte schlafen. Sie öffnete ihre Handtasche, nahm ein kleines Notizbüchlein und einen Bleistift heraus, schrieb ihre Telefonnummer auf ein Blatt, das sie herausriß und Leo gab, dann fragte sie ihn nach seiner Nummer, die er aufsagte, als wäre sie die Zahlenkombination eines Panzerschranks, ach würde Judith ihn doch gleich öffnen, vielleicht enthielte er unermeßliche Schätze. Judith notierte die Nummer, küßte Leo rechts und links auf die Wange, während er sich noch immer am Lenkrad festhielt.

Es war ein schöner Abend!

Ja, sagte Leo, sag, kann ich nicht doch noch zu dir mitkommen? Er krächzte es fast, er war von Sinnen, blind und taub und sprachlos.

Wir rufen uns morgen an, ja? Schlaf gut! sagte Judith, lächelte und stieg aus, er hätte schreien mögen, aber es gab nur eine taube rauhe Kehle und den Laut der zufallenden Autotür.

Noch viel lieber, als sie zu lieben, wäre er jetzt sie gewesen, nicht mehr sie umarmen wollte er jetzt, sondern sie sein – wie sehr hätte er dann sich selbst lieben können, mit einem solchen Einverständnis und solcher Innigkeit mit sich selbst wäre er jetzt gerne nach Hause gefahren und ins Bett gegangen.

Er startete, schlug das Lenkrad ein, um umzudrehen, gab Gas und versuchte gleichzeitig, im Rückspiegel zu beobachten, wie Judith das Haustor aufsperrte. Er sah im Rückspiegel, wie Judith sich noch einmal nach ihm umblickte, da verschwand ihr Bild aus dem Spiegel, als wäre es weggewischt, Leo warf den Kopf zurück, da gab es einen Krach und einen Ruck, der seinen Oberkörper nach vorne riß – Leo war beim Wenden an einen Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite angefahren.

Fassungslos starrte er auf diesen Baum, den er so knapp vor seiner Windschutzscheibe sah, als würde er aus der Kofferraumhaube herauswachsen, dann stieg er aus und sah den Schaden an. Er hatte den Baum frontal erwischt, die Stoßstange und die Haube seines Käfers waren V-förmig eingedrückt, die Scheinwerfer des Autos waren wie die Augen eines Schielenden schräg einwärts gerichtet, ein Scheinwerferglas war zerbrochen. Plötzlich stand Judith neben ihm. Wenn das ein Trick war, sagte sie, dann hilft es dir nichts, du mußt trotzdem zu dir nach Hause.

Leo stieg wieder ins Auto und schob ein paar Meter zurück. Dann kontrollierte er, ob die Vorderräder trotz des eingedrückten Blechs innerhalb der Kotflügel genug Spielraum hatten; tatsächlich war der Wagen soweit fahrtüchtig, daß er damit nach Hause kommen müßte. Er drehte sich nach Judith um, erst jetzt kam ihm zu Bewußtsein, was sie gesagt hatte, er war völlig fassungslos, aber sie war schon verschwunden, er sah nur den Dampf seines Atems in der kalten Luft, wie ein dicker Pfeil aus Rauch in Richtung des verschlossenen Tores von Judiths Wohnhaus. Langsam fuhr er nach Hause in den siebenten Bezirk, durch die nächtlich ausgestorbenen Straßen Wiens, und alle seine Verrichtungen während der Fahrt, all sein Denken, das un