Kurfürstenklinik – 68 – Hoffnung für Marie-Claire?

Kurfürstenklinik
– 68–

Hoffnung für Marie-Claire?

Ein schwerer Schicksalsschlag trifft die begabte Sängerin

Nina Kayser-Darius

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-486-7

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»Ich bin hier fehl am Platze, Frau Senftleben«, sagte Dr. Adrian Winter zu der gepflegten grauhaarigen Dame, die neben ihm stand. Er betrachtete die vielen elegant gekleideten Menschen um sich herum mit einem nachdenklichen Blick, während er ihre mehr oder weniger fachkundigen Äußerungen aufschnappte. Neben ihm unterhielten sich zwei ältere Herren, und an sein Ohr drangen Satzfetzen wie »eine Jahrhundertstimme, sage ich Ihnen« oder »ja, damals in Florenz kannte sie noch kaum jemand« an sein Ohr.

»Sie wissen doch«, fuhr Adrian fort, »die Musik ist nicht meine Welt.«

Carola Senftleben lächelte ihn voller Zuneigung an. »Das ist auch gar nicht nötig, Adrian, wie oft soll ich Ihnen das noch sagen? Sie sind hier keineswegs fehl am Platze. Was glauben Sie wohl, wie viele Leute hier sind, die von Musik noch viel weniger verstehen als Sie.«

Er machte ein ungläubiges Gesicht.

Sie fuhr unbeirrt fort: »Es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie mich heute Abend in die Oper begleitet haben, wo meine Freundin doch überraschend absagen mußte. Und ich bin ganz sicher, daß es Ihnen gefallen wird. Marie-Claire Michaelis ist eine der besten Sopranistinnen der Welt, und Sie werden es nicht bereuen, mich begleitet zu haben.« Sie legte den Kopf ein wenig schief und sah ihn von unten herauf an – sie war wesentlich kleiner als er. »Außerdem arbeiten Sie zuviel und gönnen sich in Ihrer kargen Freizeit zu wenig Entspannung. Ab und zu muß man Sie regelrecht zwingen, sich auch mal wieder unter Menschen zu begeben.«

»Sie übertreiben«, widersprach Adrian, insgeheim jedoch mußte er ihr zustimmen. Er war erst fünf­unddreißig Jahre alt, aber manchmal kam er sich selbst schon wie ein Einsiedler vor. Er leitete als jüngster Chefarzt der Kurfürsten-Klinik die dortige Notaufnahme, die eine der größten des Landes war. Adrian war Unfallchirurg, und er liebte seinen Beruf. Nein, mehr noch: Er lebte für seinen Beruf, er ging in ihm auf. Aber natürlich hatte seine reizende Nachbarin völlig recht: Im Leben eines Menschen sollte es auch noch anderes geben als seine Arbeit.

»Ich gelobe Besserung, Frau Senftleben. Wollen wir hineingehen und unsere Plätze suchen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Viel zu früh«, sagte sie. »Wir trinken erst noch ein Glas Champagner, schließlich sind wir zum Vergnügen hier. Ich lade Sie ein.«

»Kommt nicht in Frage«, wehrte er ab. »Sie haben mich schon zu diesem Konzert eingeladen. Den Champagner bezahle ich.«

»Und holen müssen Sie ihn auch«, sagte sie verschmitzt lächelnd. »Ich warte hier.«

»Ganz wie Madame befehlen«, sagte Adrian, verbeugte sich und entschwand.

Carola Senftleben ließ sich auf einen Stuhl sinken und sah sich zufrieden um. Sonst lud sie ihren chronisch überarbeiteten jungen Nachbarn regelmäßig zum Abendessen ein – daß sie miteinander ausgingen, kam höchst selten vor. Aber ihr gefiel es gut, es war eine nette Abwechslung.

Andererseits, dachte sie, sollte er eigentlich mit einer hübschen jungen Frau ausgehen und nicht mit mir, ich könnte ja glatt seine Mutter sein. Doch eine Freundin hatte Adrian Winter nicht. Sie vermutete, daß er unglücklich verliebt war, aber das äußerte sie ihm gegenüber nicht. Sie führten sehr offene Gespräche miteinander, das Thema Liebe jedoch war tabu.

Er kam bereits zurück, die beiden Gläser vorsichtig balancierend, damit von dem kostbaren Champagner nichts verschüttet wurde.

»Das ging aber schnell«, staunte sie.

Er nickte und machte ein zerknirschtes Gesicht. »Ich habe mich vorgedrängelt«, gestand er. »Aber ich glaube, es hat niemand gemerkt.«

Sie lachte. »So einer sind Sie also, Adrian. Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.«

Er hob sein Glas. »Auf Ihr Wohl, Frau Senftleben.«

»Auf Ihres auch, Adrian. Und auf einen schönen Abend.«

Sein Blick war skeptisch, doch er sagte nichts. Vielleicht gefiel ihm das Konzert mit dieser angeblich so begabten jungen Sängerin ja tatsächlich?

*

»Mußt du nicht in den Saal, Janine?« fragte Marie-Claire Michaelis nach einem Blick auf die Uhr. Die junge Sängerin saß in ihrer Garderobe, hatte die Atemübungen gemacht, die sie vor jedem Auftritt machte, sich eingesungen, ihre verspannten Nackenmuskeln gelockert – und nun wartete sie auf das Zeichen für ihren Auftritt.

»Es hat noch nicht mal geklingelt, Clärchen«, erwiderte die fünfzehnjährige Janine gelassen. Der Kosename wirkte rührend aus ihrem Mund, denn sie war immerhin neun Jahre jünger als ihre Schwester. »Ich bleibe lieber noch ein paar Minuten hier, du weißt doch, daß ich dir Glück bringe.«

Marie-Claire zog sie an sich. Unterschiedlicher hätten zwei Schwestern nicht sein können: Die Ältere war schmal und blond, fast durchsichtig mit schönen blauen Augen und einem feingezeichneten Gesicht. Die Jüngere war dunkelhaarig und kräftig. Hübsch auch sie, aber auf eine handfeste, eher bodenständige Art. Das Feenhafte ihrer älteren Schwester ging Janine völlig ab. Sie war ein niedlicher pummeliger Teenager mit einer Stupsnase und klugen dunklen Augen.

»Glück brauche ich auch«, murmelte Marie-Claire.

»Wieso? Was ist denn?« Sofort war Janines Gesichtsausdruck ängstlich und wachsam.

»Ach nichts. Ich fühle mich einfach seit einiger Zeit nicht richtig wohl«, murmelte Marie-Claire. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Vielleicht bin ich auch nur aufgeregt, weil Hans und ich bald heiraten.«

Das Gesicht ihrer jüngeren Schwester verdüsterte sich, ohne daß Marie-Claire es bemerkte. Janine konnte Hans von Flatow, den Manager und zukünftigen Mann ihrer Schwester, nicht ausstehen. Sie glaubte ihm einfach nicht, daß er Marie-Claire wirklich liebte, aber da alle anderen von ihm sehr beeindruckt waren, sah sie keine Chance, sich mit ihrer Ansicht durchzusetzen.

Das erste Klingelzeichen ertönte, und im selben Augenblick öffnete sich die Tür, und Hans von Flatow trat herein, ein dunkelhaariger, schlanker Mann, der an den Schläfen bereits erste graue Haare hatte. Sein gut geschnittenes Gesicht war angespannt, als er fragte: »Alles in Ordnung, Marie-Claire? Wie fühlst du dich?«

»Großartig«, lächelte sie.

»Ich geh dann jetzt«, murmelte Janine und schlüpfte aus der Garderobe, ohne sich um Hans zu kümmern, was dieser offenbar auch nicht erwartete.

Nach ihrem Platz mußte sie zum Glück nicht lange suchen. Sie saß ganz vorn in der Mitte – es war ein absoluter Spitzenplatz. Etwas mußte man ja schließlich davon haben, daß man die Schwester des Stars war. Auf dem Stuhl rechts neben ihr saß bereits ein sympathisch aussehender Mann mit dunkelblonden Haaren und freundlichen braunen Augen, der sie anlächelte, als sie sich setzte. Neben ihm saß eine grauhaarige Dame, die sicher seine Mutter war. Auch sie lächelte freundlich.

Janine atmete auf. Nette Sitznachbarn in einem Konzert waren wichtig. Nichts war schlimmer als Leute, die man schon auf den ersten Blick unausstehlich fand – und dann mußte man zwei Stunden praktisch auf Tuchfühlung mit ihnen ausharren. Auch auf ihrer anderen Seite hatte sie Glück: Dort nahm ein alter Herr Platz, der sie an ihren Opa erinnerte. Jetzt mußte nur Marie-Claire noch gut singen, dann war alles in bester Ordnung.

*

»Du bist nervös«, stellte Hans von Flatow fest, als es zum zweiten Mal klingelte. Er zog die Augenbrauen hoch. »Dafür gibt es keinen Grund, Marie!«

Sie lächelte entschuldigend. »Ich weiß, Hans. Aber es gehört dazu, wenn man auftritt.«

Er schüttelte leicht ungeduldig den Kopf. »Das meine ich nicht. Ein bißchen Lampenfieber ist normal, das ist sogar nötig. Aber bei dir ist es etwas anderes, scheint mir.«

»Mag sein«, sagte sie leise, »aber ich möchte nicht ausgerechnet jetzt darüber sprechen, wenige Minuten, bevor ich auftrete.«

»Sicher, entschuldige.« Er trat rasch zu ihr und küßte sie auf die Schläfe. »Verzeihst du mir?« Er begann ihr sanft den Nacken zu massieren.

Ihre Blicke begegneten sich im Spiegel. Sie lächelte ihn an. »Natürlich«, sagte sie. »Ich weiß ja, daß du dir immer Sorgen machst, ob alles gutgeht.«

»Ist Janine da?«

Sie sah ihn erstaunt an. »Du hast sie doch selbst gesehen, als du gekommen bist. Da war sie noch hier in der Garderobe. Sie ist dann gegangen – da hatte es gerade zum ersten Mal geklingelt.«

»Ich habe sie gar nicht bemerkt«, erwiderte er zerstreut. »Wie lange hat sie eigentlich noch Ferien?«

»Du meinst, wie lange sie noch bei mir ist?«

Er nickte stumm.

»Eine Woche noch. Ich bin froh, daß sie da ist, es tut mir gut, mit ihr zusammenzusein.«

Wieder schwieg er. Es klingelte zum dritten Mal. Er hörte auf, sie zu massieren, ließ seine Hände auf ihre Schultern gleiten und küßte sie auf den Nacken. »Ich lasse dich die letzten Minuten allein, Marie.«

Sie schloß die Augen und nickte. Leise ging er hinaus, und sie machte noch einmal eine ihrer bewährten Entspannungsübungen. Tief atmete sie aus und ein, alle Gedanken schienen aus ihr herauszuströmen. So mußte es sein vor einem Konzert. Sie hörte in ihrem Kopf bereits die Musik, das Herz wurde ihr leicht. Die Musik war ihr Leben – und zu singen bedeutete für sie, lebendig zu sein.

»Frau Michaelis, kommen Sie bitte?«

Sie öffnete die Augen und stand auf. »Ja«, sagte sie. »Ich bin bereit.«

*

Dr. Wolfgang Brunner und Dr. Julia Martensen hatten Nachtdienst auf der Inneren Station der Kurfürsten-Klinik in Berlin-Charlottenburg. Sie trafen sich im Ärztezimmer, um gemeinsam eine Tasse Kaffee zu trinken – die Nacht würde lang werden, ohne Kaffee blieb kaum jemand wach. Julia sah ihren jüngeren Kollegen, der erst seit einigen Wochen in Berlin war, neugierig an. »Wie gefällt es Ihnen denn bei uns, Herr Brunner?«

»Gut«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen. »Ich wollte unbedingt an die Kurfürsten-Klinik, wissen Sie? Das Haus hat einen ausgezeichneten Ruf, und dann arbeiten hier ja richtige Berühmtheiten.«

Sie lachte. »Dr. Adrian Winter, meinen Sie?«

Er nickte.

»Er hat die hiesige Notaufnahme praktisch aufgebaut«, erklärte sie. »Und er ist tatsächlich ein phantastischer Unfallchirurg. Au­ßerdem ist er ein ausgesprochen netter Mensch. Ich arbeite oft mit ihm zusammen – ich brauche die Abwechslung.«

Jetzt war er es, der neugierig geworden war. »Sie lassen sich freiwillig für die Notaufnahme einteilen?« fragte er ungläubig.

»Ja, warum denn nicht?«

»Ich weiß nicht – da geht es doch sicher schrecklich zu.«

»Manchmal ja«, gab sie zu. »Aber oft kann man den Menschen ganz unmittelbar helfen, und das finde ich sehr schön. Außerdem ist die Notaufnahme chronisch unterbesetzt, dort wird immer Hilfe gebraucht.«

»Dann könnte ich ja vielleicht auch mal…«, murmelte er.

Sie neckte ihn. »Wenn Sie sich trauen, Herr Brunner!«

Er gefiel ihr gut, der neue Kollege. Zweiunddreißig Jahre alt war er, wirkte jedoch älter durch seine ruhige, überlegte Art. Er war eher untersetzt, von kräftiger Statur, hatte ein ausdrucksstarkes Gesicht mit grauen Augen, einer geraden Nase und einem Mund, der sich gern zu einem Lächeln verzog. Die dunkelbraunen Haare waren ein wenig zu lang, was ihm aber ausgesprochen gut stand.

»Klar traue ich mich«, antwortete er. »Jedenfalls, was die Arbeit betrifft. Wenn ich allerdings daran denke, mit jemandem wie Dr. Winter zusammenzuarbeiten, also dann weiß ich nicht, ob mein Selbstbewußtsein dazu ausreicht.«

»Ich denke schon, daß Sie das schaffen würden«, meinte Julia trocken. Sie ging auf die Fünfzig zu, sah blendend aus und fühlte sich auch so. Viele ihrer jüngeren Kolleginnen und Kollegen holten sich Rat bei ihr, und sie half gern, wenn sie konnte.