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Debora Sommer

DIE LEISEN
WELTVERÄNDERER

Von der Stärke introvertierter Christen

SCM Hänssler

Rolf, meinem Lieblings-Extrovertierten, zum 20. Hochzeitstag!

Zwanzig Ehejahre haben uns geprägt. Ohne dich wäre ich nicht diejenige, die ich heute bin. Du bist ein Segen für mein Leben.
Zusammen mit Ruben und Dina, die unser extro-, intro- und zentrovertiertes Familienleben mit Lebendigkeit, Spannung und Einzigartigkeit füllen. Ich danke Gott für euch und liebe euch.

Inhalt

Über die Autorin

Vorwort

Einleitung

Introversion – ein globales Thema!

Zum Anliegen dieses Buches und wer es lesen sollte

Zum Aufbau dieses Buches

1. Introvertiertes (Christ-)Sein

Unterschiede zwischen Introvertierten und Extrovertierten

Introversion und Hochsensibilität

Kennzeichen introvertierter Christen (mit Test!)

2. Introvertiert an Stärke gewinnen

Stille Wasser sind tief

Innere Stärke suchen

Innere Stärke entdecken

Innere Stärke empfangen

Innere Stärke bewahren

3. Introvertiert den Alltag meistern

Introvertiert im Alltag

Introvertierte Kindheit, Jugend- und Studienzeit

Introvertiert im Beruf und in der Berufung

Introvertiert in Freundschaften und in der Liebe

Introvertiert in der Familie (als introvertierte/-r Mutter/Vater)

4. Introvertiert die Gemeinde prägen

Vom Leiden introvertierter Christen

Introversion in der Bibel

Introvertierte Christen der Gegenwart und Vergangenheit

Gemeinden prägen durch introvertierte Stärken

Gemeinden prägen durch Sichtbarkeit

5. Introvertiert die Welt verändern

Introvertierte Weltveränderer

Verändern durch Horizonterweiterung

Verändern durch Hingabe

Verändern durch Kreativität

Verändern durch Selbstfürsorge

Schlussgedanken

Dank

Gedicht »Hidden me«

Weiterführende Literatur

Anmerkungen

Über die Autorin

DEBORA SOMMER, promovierte Theologin, ist Studienleiterin Fernstudium Theologie am Theologischen Seminar St. Chrischona und Co-Researcher an der University of South Africa. Daneben arbeitet sie als Autorin und Referentin (www.deborasommer.com). Sie ist verheiratet, zweifache Mutter und lebt in der Schweiz.

VORWORT

November 2011. Entspannt liege ich neben meinem Ehemann auf einer bequemen Liege an einem Swimmingpool in Eilat/Israel. Zum gefühlt hundertsten Mal trällert Sting aus dem Lautsprecher: I’m an alien. I’m a legal alien. I’m an Englishman in New York. Zu Deutsch: Ich bin ein Fremder. Ich bin ein rechtmäßiger Fremder. Ich bin ein Engländer in New York. Ich atme tief durch. Ich mag dieses Lied. Es bringt ein Lebensgefühl zum Ausdruck, das mir vertraut ist – auch wenn ich keine Engländerin bin. Nämlich das Gefühl, sich fremd zu fühlen. Und damit meine ich nicht das Fremdsein jenes Augenblicks, das durchaus nachvollziehbar gewesen wäre für eine Touristin im Ausland. Ich meine vielmehr das eigenartige Gefühl des Fremdseins in der Heimat. In einem vertrauten Umfeld. Unter Menschen, deren Sprache ich spreche.

Sich fremd fühlen in der Heimat

Anders als Sting, in dessen Lied unüberhörbar Nationalstolz mitschwingt, fühlte ich mich lange Zeit vielmehr verwirrt und einsam als stolz. Verwirrt von meinen eigenen Empfindungen und unsicher, ob es auch andere gibt, die so empfinden wie ich. Jahrelang hatte ich keine Ahnung, zu welchem »fremden Volk« ich denn gehöre und worin dieses Gefühl des Fremdseins gründet. Heute weiß ich, dass ich zum »Volk der Introvertierten« gehöre. Und zwar zur extremen Sorte. Den stillen Beobachtern (die nicht unbedingt auf den ersten Blick als solche zu erkennen sind und die gelegentlich sogar extrovertiert scheinen mögen). Solchen, die sich tief in ihrem Innersten vorstellen könnten, den Rest ihres Lebens – oder zumindest einen großen Teil davon – in der Einsamkeit zu verbringen. In einem abgelegenen Kloster, einem Häuschen am Meer, der Idylle eines gemütlichen Apartments mit inspirierender Aussicht auf See und Berge. Umgeben von Büchern, mit Blick auf die endlose Weite und unberührte Natur oder auch als geheime Beobachter der Geschäftigkeit anderer Menschen. Die friedvolle Stille einer Umgebung, speziell das Glitzern und Plätschern von Wasser, übt eine unglaublich beruhigende Wirkung auf mich aus. Ansonsten bräuchte ich keinerlei Ablenkung, Betrieb oder Unterhaltung. Denn die Welt in mir ist so laut, bunt und intensiv, dass meistens Hochbetrieb in mir herrscht.

Andererseits sträubt sich etwas in mir gegen ein Einsiedlerleben jener Art. Insbesondere die Tatsache, dass ich sehnsüchtig verbunden bin mit Menschen, die mir kostbar sind: mit meinem Ehemann, meinen Kindern, meinen Eltern, meiner Schwester und ihrer Familie, Verwandten, meinen Freunden … Ich bin reich beschenkt durch sie. Und möchte an ihrem Leben teilhaben – selbst wenn es mich oft herausfordert und manchmal auch überfordert. Ich möchte an der Begegnung mit meinen Mitmenschen reifen und ihnen auch einen Teil von mir schenken. Ich habe einen Auftrag, der zu Berührungspunkten mit anderen Menschen führt. Das große Bedürfnis nach Rückzug und Einsamkeit auf der einen Seite und der Dienst mit und unter Menschen auf der anderen Seite sind und bleiben jedoch ein großes Spannungsfeld.

Sich fremd fühlen in der geistlichen Heimat

Als besonders beklemmend erlebe ich es, wenn mich das Gefühl des Fremdseins in meiner »geistlichen Heimat« (wie man in frommen Kreisen so schön sagt) beschleicht. Damit meine ich die christliche Gemeinschaft, der ich angehöre, in meinem Fall eine Schweizer Freikirche. »Geistliche Heimat« steht dabei nicht selten austauschbar für die wirklichkeitsferne Vorstellung einer geistlichen Großfamilie, in der »Glaubensgeschwister« – allen Unterschieden und Meinungsverschiedenheiten zum Trotz – harmonisch miteinander umgehen. Ich frage mich: Wie sollte in einer »geistlichen Familie« dieser Dimension automatisch funktionieren, was selbst in der eigenen Familie ein intensives Übungsfeld für alle Beteiligten darstellt? Das Gefühl der Fremdheit im Kontext der christlichen Kirche rührt nicht zuletzt daher, dass Gemeinschaft als einer der wichtigsten Werte deklariert wird. Doch was ist, wenn mir Gemeinschaft schwerfällt? Wenn mich die Begegnung mit anderen Menschen unglaublich viel Kraft kostet? Wenn ich mich unsicher und unwohl fühle unter vielen Menschen, selbst wenn sie mir mehrheitlich vertraut sind? Wenn es mich überfordert, neue Kontakte zu knüpfen und bestehende zu pflegen? Macht mich dies zu einem ungeistlichen Menschen? Stimmt etwas nicht mit mir?

Während ich an anderen ihre ausgeprägte Gabe und Fähigkeit, Gemeinschaft und Gastfreundschaft zu leben, bewundere, fällt der Blick auf meinen eigenen Beitrag in dieser Hinsicht äußerst ernüchternd aus. Gaben wie Kontaktfähigkeit und Gastfreundschaft, die prototypmäßig als Markenzeichen einer frommen Christin gelten, scheinen in meinem Fall irgendwie vergessen worden zu sein. Auf unangenehme Weise fühle ich mich mit diesen (von mir so empfundenen) Defiziten nicht der christlichen Norm entsprechend. Ungenügend qualifiziert, meinen Teil zur Gemeinschaft beizutragen. Es kostet mich große Anstrengung und sehr viel Überwindung, überhaupt auf andere Menschen zuzugehen. Menschen einzuladen und zu bewirten, würde ich je nach Verfassung manchmal nicht ungerne. Aber ehrlich gesagt fühle ich mich ziemlich überfordert damit. Andere Menschen mögen mein Verhalten als distanziert deuten, vielleicht sogar als arrogant. Im Grunde genommen sind es Hilflosigkeit und Ausdruck einer Begrenzung, mit der ich lebe und an der ich oft auch leide. Andere Introvertierte erleben diese Begrenzung anders und empfinden Gastfreundschaft in einem überschaubaren Rahmen als durchaus angenehm und erstrebenswert.

Dafür habe ich andere Begabungen. Die Leidenschaft des Forschens, des Schreibens, des Lehrens, des Musizierens. Lange Zeit hat sich mir die Frage aufgedrängt: Sind diese Begabungen für eine christliche Gemeinschaft denn überhaupt von Bedeutung? Anderen introvertierten Christen mit anderen Gaben mag es ähnlich gehen.

Dieser innere Konflikt introvertierter Christen kann sich auch in weiteren Fragen äußern. Zum Beispiel: Brauche ich die christliche Gemeinschaft überhaupt? Es kostet so viel Kraft und ist auch oft mit Enttäuschungen verbunden, anderen Menschen zu begegnen. Ist es in einem solchen Fall nicht viel sinnvoller, am Sonntag zu Hause zu bleiben und mir in der Geborgenheit meiner eigenen vier Wände eine Radio- oder Fernsehpredigt anzuhören? Weiter stellt sich wiederholt und auf belastende Weise die Frage, wie ich den christlichen Auftrag erfüllen soll, andere Menschen mit dem Evangelium zu erreichen und ihnen die gute Nachricht von Jesus zu erzählen. Dies geschieht über Beziehungen. Doch was ist, wenn mir Beziehungen schwerfallen? Kann ich dem christlichen Auftrag unter solchen Voraussetzungen je gerecht werden?

Neulich in London

April 2017. Gemächlich schlendere ich mit meinem siebzehnjährigen Sohn am Südufer der Themse entlang. Wir genießen die Zweisamkeit und den herrlichen Frühlingstag in London mit allen Sinnen. Plötzlich erregen sanfte Klänge meine Aufmerksamkeit. Sie heben sich vom Stimmengewirr der Straßenkünstler ab und treffen mich mitten ins Herz. Da ist er wieder, jener Song. Englishman in New York. Meisterhaft interpretiert von einem jungen Musiker mit Gitarre. Für einen Bruchteil der Sekunde protestiert mein Verstand gegen die Widersprüchlichkeit der Situation: Ich bin ein Engländer in New York – gesungen in England? Was den Künstler wohl dazu bewegt hat, dieses Lied in sein Repertoire aufzunehmen? Ist er vielleicht gar kein Engländer, sondern ein Ausländer – a legal alien, ein rechtmäßiger Fremder? Hat er – falls er gebürtiger Engländer ist – vielleicht schon mal eine vergleichbare Situation im Ausland erlebt? Oder kennt vielleicht auch er jenes Gefühl, sich in der eigenen Heimat fremd zu fühlen? Energisch gebiete ich meinem inneren Gedankenkarussell Einhalt. Möglicherweise hat sich der Sänger all diese Gedanken gar nicht gemacht, sondern war schlicht und einfach überzeugt von dem Song und seiner positiven Wirkung auf die Passanten.

Während wir am Quai zum Musiker aufschließen, neigt sich der Song bereits dem Ende zu. Die Musik tanzt mit dem Frühlingswind um die Wette und versinkt in der Geräuschkulisse des geschäftigen Aprilmorgens. Gebannt lausche ich den letzten Worten des Liedes: Be yourself no matter what they say. – Sei du selbst, egal was die anderen sagen. Erst als der Straßenmusiker in meine Richtung schaut, fällt mir auf, dass ich die Einzige bin, die stehen geblieben ist. Schnell eile ich meinem Sohn nach, der sich schon wundert, wo ich geblieben bin. Federleichte Klänge und Worte, aber so unfassbar schwer und gewichtig in der Umsetzung …

Nichtsdestotrotz will ich dranbleiben und weiter an mir arbeiten. Ich will mehr und mehr wagen, ich selbst zu sein. Und ich möchte auch andere dazu ermutigen, genau das zu tun. Die Vorstellung davon, was geschehen könnte, wenn ganz viele Introvertierte damit beginnen, ihrer Persönlichkeit entsprechend zu leben und zu handeln (auch und ganz besonders im christlichen Kontext), beflügelt meine Schritte und pulsiert durch die Zeilen dieses Buches.

Debora Sommer, Strengelbach (Schweiz), im Juli 2017

EINLEITUNG

Introversion – ein globales Thema!

Als zwei Monate nach unserer Israelreise im Januar 2012 Susan Cains Buch Quiet – The Power of Introverts in a World That Can’t Stop Talking1 erschien, war nicht abzusehen, was dieses Buch weltweit auslösen würde. Es war in der Tat eine nicht geringe Überraschung, als sich die attraktive Amerikanerin, die als erfolgreiche Anwältin an der Wall Street gearbeitet hatte, als Introvertierte zu erkennen gab und damit unter anderem ihren Rücktritt aus jenem Berufsfeld begründete. Quiet (Still) ist ein Plädoyer für die Stärke und Kraft der Introversion, die bis heute – so Cain – von vielen Menschen verkannt wird. Mit ihrem Buch wollte sie in erster Linie Vorbehalte gegenüber Introvertierten entkräften. »Unsere Schulen, Arbeitsplätze und religiösen Institutionen sind für Extrovertierte gemacht, und viele Introvertierte glauben, mit ihnen stimme etwas nicht und sie sollten versuchen, als Extrovertierte ›durchzugehen‹. Diese negative Voreinstellung führt zu einer kolossalen Verschwendung von Talenten, Energie und letztlich von Glück.«2

Mit ihrem Buch über die stille Hälfte der Menschheit landete Susan Cain einen Volltreffer.3 Das Buch wurde in vielen Ländern zum Bestseller. Mehr als drei Jahre hielt es sich gar auf der prestigeträchtigen The New York Times-Bestsellerliste. Cains Buch wurde in den vergangenen fünf Jahren in sechsunddreißig Sprachen übersetzt.4 Tausende von Menschen rund um den Globus haben sich seither der Stillen Revolution5 angeschlossen. Es besteht kein Zweifel: Introversion ist ein globales Thema. Introversion macht nicht halt vor den unterschiedlichsten Nationalitäten!

Soziale Netzwerke als Weltcafé

Dies bestätigt auch ein Blick in die sozialen Netzwerke. Seit einigen Jahren folge ich mit großem Interesse den Beiträgen einiger Introversionsseiten auf Facebook, zum Beispiel Introverts are Awesome (»Introvertierte sind fantastisch«). Diese Seite wurde im Jahr 2011 von einer introvertierten jungen Frau ohne bestimmte Absicht ins Leben gerufen. Heute (im Mai 2017) zählt ihre Facebook-Seite rund eine halbe Million Fans weltweit! Gar über zwei Millionen Menschen folgen den Bildern und Zitaten auf Introvert Problems (»Probleme der Introvertierten«). Auch Seiten wie Introvert Nation oder Introvert, Dear6 sind rege besucht.

Reaktionen auf einen Beitrag im Herbst 2016 haben mich dermaßen überrascht und bewegt, dass ich eine Menge Screenshots auf meinem Smartphone gespeichert habe. Leider habe ich in meiner Faszination vergessen festzuhalten, zu welcher Facebook-Seite dieser Beitrag gehörte, und ich konnte es nachträglich nicht mehr feststellen. Ganz beiläufig wurde am Ende des Posts in die (eher passive) Runde der Introvertierten gefragt: »Hey, wo kommt ihr denn eigentlich her?« Und dann ging es los … Tausende von Menschen rund um den Globus meldeten sich innerhalb kürzester Zeit zu Wort: Apapa aus Nigeria, Sushmita aus Indien, Rookeya aus Südafrika, Mauri aus Finnland, Miguel aus Südkalifornien, Eleonora aus Italien, Beth aus einem Vorort von Chicago, Jagadish aus Nepal, Elin aus Schweden, Syahnaz aus Singapur, Ole aus Norwegen, Zsófia aus Ungarn, Frits aus Holland, Kerry aus Australien, Janet aus Schottland, Joe aus England, Gaby aus Deutschland und – um noch ein letztes verblüffendes Beispiel zu nennen – Rene von der Kenai-Halbinsel in Alaska. Viele von ihnen öffneten ihr Herz und erzählten, wie es ihnen als Introvertierte erging in ihrem Umfeld, ihrem Land, ihrer Kultur. Andere äußerten ihre große Dankbarkeit für diese Gruppe, die ihnen das Gefühl gab, nicht so einsam zu sein. Ich lag auf dem Sofa, als ich mich durch diese Flut von Beiträgen scrollte. Dabei liefen mir Tränen über die Wangen, weil mich dieses globale Zusammentreffen auf seltsame Weise anrührte.

Das Zeitalter von Web 2.0 eröffnet dem »Volk der Introvertierten« ganz neue Möglichkeiten, sich zu sammeln. Nicht zuletzt deswegen, weil viele Introvertierte die schriftliche Kommunikation bevorzugen. Dies erinnert mich an den englischen Slogan, den ich neulich auf einem T-Shirt im Internet gesehen habe (ja, es gibt tatsächlich Artikel für Introvertierte!): Introverts unite – separately in your own homes (»Introvertierte, vereinigt euch – alle separat, in euren eigenen Häusern«)! Dieser Slogan kommt tatsächlich nicht von ungefähr. Social Media machen aus der Welt ein Dorf. Die sozialen Netzwerke werden zum virtuellen Marktplatz oder Weltcafé. Dies birgt selbstverständlich Gefahren, aber (und ganz speziell für Introvertierte) auch ganz viele Chancen! So ist dieses globale »Dorfwissen« auch maßgeblicher Bestandteil dieses Buches, indem vieles mit einfließt, was mir im Laufe der vergangenen Wochen, Monate und Jahre im Netz begegnet ist.

Die Rolle der Kultur

Introversion ist global und doch gibt es kulturelle Gegebenheiten, die das Leben von Introvertierten vereinfachen oder erschweren. So ist es zumindest in diversen Büchern und Artikeln zu lesen. Anne Heintze schreibt beispielsweise in ihrem Buch Auf die leise Weise, dass introvertierte Menschen in Asien sehr geschätzt werden.7 Dies liege besonders an deren Zurückhaltung und der damit verbundenen Bescheidenheit, die dort nicht nur als angenehm, sondern auch als Erfolg versprechend eingestuft werde. In der asiatischen Kultur hätten das Stetige und Stille von jeher einen höheren Stellenwert gehabt. Ebenso Qualitäten wie Hingabe, Konzentration, Entschlossenheit und Achtsamkeit.

Wiederholt begegnete mir die Äußerung, dass Amerika ein sehr extrovertiertes Land sei, in dem es Introvertierte schwer hätten. Nicht zuletzt deshalb, weil extrovertiertes Verhalten viele begeistert. Großbritannien und nordische Länder wie Schweden, Norwegen und Dänemark werden hingegen oft als introvertiertenfreundlicher beschrieben. In der kulturellen Diskussion kommt verwirrend hinzu, dass die extrovertierte Art häufig positiv, die introvertierte Art hingegen negativ assoziiert wird. So schwärmte etwa die Bloggerin und Fotografin Andrea Monica Hug nach einem dreiwöchigen Aufenthalt in Los Angeles von der unglaublichen Herzlichkeit und Nächstenliebe der Amerikaner. Zurück in der Schweiz musste sich Hug erst wieder an ihre Heimat gewöhnen: »Ich fühlte mich in L. A. mehr zu Hause als hier. Die Schweizer sind so introvertiert und distanziert – das ist schlimm.«8 Undifferenzierte Aussagen dieser Art sind alles andere als hilfreich. Denn genau mit solchen Vorurteilen sehen sich Introvertierte konfrontiert. Im Gegensatz zu den lebensfreudigen, freundlichen, hilfsbereiten und großzügigen Extrovertierten werden Introvertierte nicht selten als unfreundlich, distanziert, verklemmt und Ähnliches bezeichnet.

Stereotype Festlegungen kultureller Art sind eine Sackgasse. Selbst wenn gewisse Tendenzen auszumachen sind: So wenig wie es den introvertierten Schweizer gibt, gibt es den extrovertierten Amerikaner oder die introvertierte Asiatin. (Dasselbe gilt auch für die Introversion an sich: Es gibt nicht die oder den Introvertierten.)9 Was »die introvertierte Asiatin« betrifft, relativiert Christine Tan, eine introvertierte Asiatin, in einem Artikel10 den Mythos der introvertierten Asiaten. Sie selbst wurde von einem extrovertierten chinesisch-malaysischen Elternpaar in Kanada großgezogen. Nachdem sie immer wieder mit dem Vorwurf der »introvertierten Asiatin« konfrontiert worden war, begab sie sich auf eine Reise der Selbstfindung nach Asien: zunächst nach Singapur und nach einem Aufenthalt in London nach Schanghai. Heute lebt sie ein ruhiges Leben in Malaysia. Was sie auf ihrer Reise lernte: Es gibt introvertierte Asiaten. Aber auch extrovertierte. Und genau dies wiederholt sich überall auf der Welt. Mit Verweis auf die Art und Weise, wie sich einige chinesische Studenten verhalten oder wie Chinesen feilschen, einen Streit klären oder miteinander plaudern, schreibt sie: »Unterstehen Sie sich, mir zu sagen, dass Asiaten von Natur aus ein schüchterner, introvertierter Haufen sind!«11

Introversion ist also kein kulturell bedingtes Phänomen. Andererseits beeinflussen das Land und die Kultur, in der wir leben, maßgeblich, wie es Introvertierten im Alltag geht. So finden sich auch in jeder Kultur und jedem Land christliche Gemeinschaften, die stärker oder weniger stark extrovertiert ausgerichtet sind. Und ich wage zu behaupten, dass introvertierte Christen verschiedener Länder und Kulturen mit ähnlichen Herausforderungen zu kämpfen haben.

Zum Anliegen dieses Buches und wer es lesen sollte

Dass ich über Introvertierte schreibe, könnte für einige überraschend sein. »Wieso schreibt Debora Sommer über Introversion? Ich habe sie bei Vorträgen erlebt. Dabei hat sie kein bisschen introvertiert gewirkt.« Solche und ähnliche Reaktionen wären durchaus nachvollziehbar, da sich mein öffentliches Auftreten nicht unbedingt mit der Vorstellung eines introvertierten Menschen deckt. Allerdings können mein Ehemann und meine Kinder ein Lied davon singen, wie ich bin, wenn ich aus dem Rampenlicht zurückkehre. Sie wissen um meine stark introvertierte Seite.

Das Anliegen für dieses Buch entspringt primär meinem persönlichen Ringen um meinen Lebens- und Berufungsweg. Vor ungefähr eineinhalb Jahren hielt ich in meinem Tagebuch fest, dass folgende drei Adjektive mein Leben und meinen Dienst prägen, herausfordern und begrenzen wie keine anderen: weiblich, introvertiert und hochsensibel. Die Auseinandersetzung mit jedem dieser Adjektive hat mich viele schlaflose Nächte gekostet, mich letztendlich aber auch einen großen Schritt weitergebracht. Nach jahrelangem Ringen um meine Rolle und meinen Dienst als Frau im christlichen Kontext setzte ich mich als Nächstes intensiv mit dem Thema Hochsensibilität auseinander. Und nun ist das dritte Adjektiv an der Reihe: introvertiert. Genau wie die Weiblichkeit und Hochsensibilität ist auch die Introversion ein Teil von mir. Sie berührt den innersten Kern meiner Persönlichkeit und somit alle Lebensbereiche. Auch mein Christsein. Und genau dieser Aspekt liegt mir ganz besonders am Herzen, weil ich hier eine große Not feststelle.

Introvertiertes Christsein

Schweren Herzens habe ich in den vergangenen Monaten zahlreiche Aussagen von introvertierten Christen gelesen, die zum Schluss kamen, sie hätten in einer christlichen Gemeinde nichts verloren. Oder schlimmer noch, dass man mit einer solchen Persönlichkeit vermutlich gar kein echter Christ sein könne. Neulich sprach ich mit einer Christin, die vehement abstritt, introvertiert zu sein, obwohl es für mich ihrer Beschreibung nach offensichtlich schien. Als ob es etwas ganz Schlimmes wäre, als »introvertiert« entlarvt zu werden. Dies zeigt, wie wichtig und dringend notwendig Aufklärungsarbeit in diesem Bereich ist. Introvertiert zu sein, ist keine Schande, sondern vielmehr eine wunderbare Gabe, die es zu entdecken und zu entfalten gilt. Mit diesem Buch möchte ich introvertierten Christen, die an sich zweifeln, eine Stimme geben und Mut machen. Leise Menschen – wie Sylvia Löhken Introvertierte auch gern in ihren Büchern12 bezeichnet – haben besondere Fähigkeiten, brauchen aber auch besondere Rahmenbedingungen, um diese Fähigkeiten und Gaben kraftvoll auszuleben.

Als stark introvertierte und hochsensible Christin in den frühen Vierzigern habe ich schon diverse Facetten dieser Thematik durchlebt und durchkämpft. Als Pfarrerstochter und spätere Pfarrersfrau sind mir die Erwartungen, denen Introvertierte in einer christlichen Gemeinschaft ausgesetzt sind, bestens vertraut. Trotz aller Herausforderungen bin ich heute wieder aktives Mitglied einer christlichen Gemeinde. Gott hat mich in den vergangenen zwanzig Jahren einen Weg geführt, der mich wiederholt vor die Entscheidung gestellt hat, mich ängstlich zurückzuziehen oder aber eine Horizonterweiterung zu wagen. Obwohl ich stark introvertiert bin und mich die Begegnung mit Menschen viel Mut und Energie kostet, sehe ich einen Teil meines Lebensauftrags darin, anderen Menschen zu dienen. Zum Beispiel, indem ich Referate, Schulungen oder Predigten halte oder Lobpreiszeiten leite. Das Tagebuchschreiben und die Autorentätigkeit gehören zu meinen kostbarsten Lebensoasen. Hier schöpfe ich besonders viel Lebensenergie, da ich mein Leben schreibend bewältigen kann. Auch die Leitung und Betreuung eines Fernstudiums13 entspricht zu einem großen Teil meiner introvertierten Natur. Trotzdem bleiben immer noch genügend Spannungsfelder übrig, in denen ich in meinen Rollen als Ehefrau, Mutter von zwei lebhaften Teenagern, aktives Gemeindeglied, Vorstandsmitglied, Selbstständige etc. um einen gangbaren Weg zwischen persönlichen Begrenzungen und Auftrag ringe.

Im Rückblick auf die vergangenen fünfzehn Jahre bin ich bewegt von dem, was Jesus geschenkt und möglich gemacht hat. Er hat mir Türen geöffnet, die ich nie erwartet hätte, und ich bin gespannt darauf, wie und wo mein Weg weitergeht. Auf dem Hintergrund dieser persönlichen Erlebnisse möchte ich mit diesem Buch auch andere ermutigen, einen kraftvollen Umgang mit ihrer Introvertiertheit zu finden und sichtbar zu werden. Mein extro-, zentro- und introvertiertes Familienleben ist und bleibt ein tägliches Übungs- und Bewährungsfeld. Dies ist auch der Grund, weshalb sich in diesem Buch sehr viele persönliche Einsichten und Erlebnisse finden.

Kernanliegen

Auf dem Hintergrund meiner persönlichen Erfahrungen verfolgt dieses Buch folgende Kernanliegen:

1. Zunächst möchte ich introvertierten Christen Mut machen, ein Ja zu ihrer introvertierten Art zu finden. Und zwar nicht unbegründet, sondern indem sie die verborgene Stärke der Introversion als Geschenk erkennen. Es ist nichts, wofür man sich schämen oder entschuldigen müsste. Im Gegenteil: Es ist ein Schatz, der auch anderen zum Segen werden kann, wenn er sichtbar wird und Introvertierte den Mut aufbringen, andere daran teilhaben zu lassen. Als ich einen introvertierten Bekannten um seine Meinung zu einigen Aussagen in diesem Buch bat, schrieb er mir: »Schon nur zu wissen, dass jemand ein Buch darüber schreibt, hilft meiner Seele – ich fühle mich endlich ernst genommen.« Das hat mich zutiefst bewegt. Es wird höchste Zeit, dass introvertierte Christen ernst genommen werden!

2. Ausgehend von dieser Erkenntnis möchte ich introvertierte Christen dazu ermutigen, ihre introvertierte Komfortzone zu erweitern, damit sie sich auf Gottes Abenteuer mit ihrem Leben einlassen. Ich möchte dazu ermutigen, dass introvertierte Christen ihren ganz eigenen Weg finden, wie sie ihren Glauben und Auftrag in Übereinstimmung mit ihrem introvertierten Wesen leben können. Introversion wird man – genauso wie Extroversion – nie ablegen können. Sie ist seit dem Tag der Geburt da und wird es bleiben.14 Aber wir können daran arbeiten, wie wir mit ihr umgehen, damit ein erfülltes, zufriedenes Leben, das uns und anderen zum Segen dient, möglich wird.

3. Und schließlich möchte das Buch auch Nicht-Introvertierten Einblick in die Denk- und Lebensweise introvertierter Menschen geben und sie für das oft ungenutzte Potenzial introvertierter Menschen sensibilisieren. Besonders in Teams und somit auch in der christlichen Gemeinde kann eine konstruktive Zusammenarbeit von Introvertierten, Zentrovertierten (der Begriff wird in Kapitel 1 auf den Seiten 33–34 erklärt) und Extrovertierten ein großer Gewinn sein. Es wäre fantastisch, wenn in christlichen Gemeinschaften neu erkannt würde, wie kostbar diese ergänzende Vielfalt ist.

Den Kernanliegen zufolge richtet sich mein Buch in erster Linie an introvertierte Christen. In zweiter Linie richtet es sich auch an all diejenigen, die mit introvertierten Christen in Berührung kommen (auch wenn ihnen das bis jetzt vielleicht nicht einmal bewusst ist): insbesondere Verantwortliche in christlichen Gemeinden – vom Pastor bis zu den Mitarbeitenden –, aber auch Ehepartner, Eltern, Lehrpersonen, Therapeuten, Freunde und so weiter.

Kein Fachbuch über Introversion

Was Sie hier in Händen halten, ist kein Handbuch oder Fachbuch über Introversion. Davon gibt es mittlerweile etliche (vgl. hierzu das Literaturverzeichnis am Ende des Buches).15 Selbstverständlich prägt die Auseinandersetzung mit der Fachliteratur meine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen. Mein Buch unterscheidet sich von anderen existierenden Büchern über Introversion durch seine gezielt christliche Ausrichtung. Als Theologin gilt mein besonderes Augenmerk zudem der Frage, was wir aus der Bibel lernen können. Ich persönlich erlebe die Bibel in meinem Alltag als wertvollen und weisen Ratgeber, den ich nicht missen möchte. Dies ist auch der Grund, weshalb ich im Buch immer wieder auf Bibeltexte zurückgreifen werde, die mir hilfreich erscheinen.

In meiner Teenagerzeit und auch danach wäre ich unglaublich dankbar gewesen für ein Buch zu diesem Thema. Es hätte mir geholfen, mich besser zu verstehen, vielleicht auch früher ein Ja zu meiner Andersartigkeit zu finden und ehrlicher dazu zu stehen. Unzählige Male habe ich mich gefragt: Was stimmt nicht mit mir? Wieso erlebe ich es so intensiv und anstrengend, mit anderen Menschen zusammen zu sein? Wieso mag ich keine Gruppenarbeiten? Wieso macht es mich so nervös, mit Menschen zu sprechen? Fragen über Fragen … Im Laufe der Jahre fragte ich mich zudem immer öfter, wie es wohl anderen introvertierten Menschen in der christlichen Gemeinschaft geht. In einem Setting, dessen Fokus stark auf gelebter Gemeinschaft und der Investition in Beziehungen liegt. Mit welchen Herausforderungen sehen sie sich konfrontiert?

Doch es gab kein Buch, das mir bei meinen Fragen weitergeholfen hätte (zumindest war mir zu jenem Zeitpunkt keines bekannt). Und bis heute sind Beiträge hierzu – zumindest im deutschsprachigen christlichen Literaturmarkt – rar.16 Mit meinem Buch möchte ich einen Beitrag dazu leisten, dass die Lücke in der deutschsprachigen christlichen Literatur etwas kleiner wird.

Zum Aufbau dieses Buches

Unsere literarische Reise ins Land der Introversion umfasst fünf Kapitel. Jedes Unterkapitel der Kapitel 2 bis 5 schließt mit Impulsen zum Weiterdenken. In Kapitel 1 werden zunächst einige grundlegende Dinge geklärt. Für den Aufbau der Kapitel 2 bis 5 habe ich das Bild von konzentrischen Kreisen gewählt, wie in der folgenden Darstellung zu sehen ist:

Der konzentrische Aufbau führt zu folgender inhaltlichen Struktur:

Kapitel 1: Introvertiertes (Christ-)Sein (Grundsatzkapitel)

Kapitel 2: Introvertiert an Stärke gewinnen (Innenleben)

Kapitel 3: Introvertiert den Alltag meistern (Alltagsleben)

Kapitel 4: Introvertiert die Gemeinde prägen (Gemeindeleben)

Kapitel 5: Introvertiert die Welt verändern (Zukunftsleben)

Die Schlüsselrolle spielt der innerste Kreis. Er steht symbolisch für die innere Mitte eines Menschen. Für das Innenleben. Das menschliche Herz als Sitz der Gefühle und der Seele. Der Zustand der inneren Mitte wirkt sich unmittelbar auf alle weiteren Lebensbereiche aus, die sich in konzentrischen Kreisen um die Mitte anordnen. Das gilt natürlich nicht nur für introvertierte Menschen, aber für jene doch im Besonderen. Denn wenn Sie introvertiert sind, wirkt sich dies auf all Ihre Lebensbereiche aus. Je gesünder und kraftvoller der Umgang mit dem eigenen Innenleben ist, desto gesünder und kraftvoller entwickeln sich auch die übrigen Lebensbereiche. Ich musste schmunzeln, als ich lange nach der Planung meiner Gliederung in Sylvia Löhkens Buch Leise Menschen – starke Wirkung mit Verweis auf den dortigen Aufbau las: »Das Buch ist so aufgebaut, wie Intros gern denken und kommunizieren: von innen nach außen.«17 Ich fühlte mich ertappt. Denn tatsächlich denke ich so und auch viele meiner Texte oder Referate sind genau so aufgebaut. Allerdings war mir bis jetzt nie bewusst, dass es sich dabei um eine typische Intro-Eigenschaft handeln könnte.

Die innere Mitte kann man mit den Wurzeln eines Baumes vergleichen. Damit ein Baum in die Höhe und Breite wachsen kann, muss sein Wachstum zunächst in die Tiefe führen. Mit seinen Wurzeln greift er tief in die Erde hinein, um dann umso kraftvoller in die Höhe zu treiben. Der Baum strebt so dem Licht entgegen, ohne dabei die Dunkelheit zu meiden. Denn es braucht beides: Licht und Dunkelheit. Sichtbares und Verborgenes. Keines auf Kosten des anderen und keines unter Verleugnung des anderen. Sichtbares muss oft erst im Verborgenen reifen. Doch das Reifen im Verborgenen soll in eine Sichtbarkeit münden. Das ist die besondere Botschaft an Introvertierte, die sich von Natur aus lieber um eine lebenslange Pflege ihrer verborgenen Wurzeln kümmern würden als um eine Sichtbarkeit dessen, was tief verborgen gewachsen ist.

Die konzentrischen Kreise erinnern mich an ein Gedicht von Rainer Maria Rilke:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.18

Im Prozess des Wachsens und Werdens, des Fragens und Ringens auf der Suche nach meinem innersten Kern, nach meiner Identität, ist Gott »der uralte Turm«, die feste Konstante, an der ich mich orientieren kann. Er ist es, der mich mitten in den Unklarheiten und Turbulenzen des Lebens festhält und aushält.

1. INTROVERTIERTES (CHRIST-)SEIN

Der besondere Fokus dieses Buches liegt auf introvertierten Christen. Das sind introvertierte Menschen wie andere auch. Der Unterschied liegt in der christlichen Glaubensausrichtung und dem christlichen Kontext, in dem sich viele introvertierte Christen bewegen. Genau dies führt zu besonderen Herausforderungen, da der christliche Kontext und damit verbundene Verhaltensregeln und Werte (von wem auch immer aufgestellt) der introvertierten Art in mancherlei Hinsicht zu widersprechen scheinen.

Da introvertiertes Christsein jedoch ganz ursächlich introvertiertes Sein ist, möchte ich in diesem Grundsatzkapitel zunächst einen Blick auf die Frage werfen, was »introvertiert« denn eigentlich bedeutet. Dies zu klären, ist grundlegend und soll dabei helfen, Missverständnissen und Vorurteilen gegenüber Introvertierten vorzubeugen. Klärung schaffen soll auch die Frage, wie sich »introvertiert« zu »hochsensibel« verhält. Es hängt in vielen Fällen eng zusammen und ist doch klar zu trennen. Und falls sich Ihnen beim Lesen mehr und mehr die Frage aufdrängt, ob vielleicht auch Sie oder jemand, der Ihnen nahesteht, zu den introvertierten Christen gehören, habe ich am Ende dieses Kapitels einen Test für Sie vorbereitet, der Ihnen dabei helfen soll, einer entsprechenden Antwort näherzukommen.

Unterschiede zwischen Introvertierten und Extrovertierten

Vor einigen Jahren bin ich auf ein Kunstwerk gestoßen, das bis heute in mir nachklingt. Es bringt treffend auf den Punkt, inwiefern sich Introversion und Extroversion19 unterscheiden. Auf dem Bild sieht man zwei identisch angezogene schlanke Frauen in einem langen grauen Rock, die einander in einem gefühlten Abstand von rund zwei Metern gegenüberstehen. Sie würden sich direkt ins Gesicht schauen, wäre da nicht die Tatsache, dass der Körper beim Hals aufhört, weil bei beiden der Kopf fehlt. Anstelle des Kopfes ist im Hintergrund der beiden Frauen an der Wand jeweils ein Bild aufgehängt, das ihre Persönlichkeit zum Ausdruck bringt und zeigt, was in ihrem Kopf vorgeht.

Das linke Bild, das zur introvertierten Gestalt gehört, zeigt den Eingang eines Stollens, der in das Innere eines Berges gehauen ist. Vorne ist der Eingang noch relativ breit und durch künstliches Licht gut beleuchtet. Das Bild besteht aus kühlen dunkelroten, grauen und schwarzen Bildfarben und versetzt den Betrachter in ein mit Schwere behaftetes Tunnelerlebnis. Dort, wo bei der Frau der Hals ansetzen würde, ragt eine Schiene aus dem Halsansatz. Diese führt schnurgerade ins Berginnere. Je weiter sich die Schiene vom Rumpf entfernt, desto schmaler wird sie und desto dunkler, grauer, eintöniger und kleiner wird der in den Felsen gehauene Tunnelgang. Dieser wird schließlich zusammen mit der Schiene von der Finsternis in einem kleinen schwarzen Punkt in weiter Ferne verschluckt.

Das rechte Bild, das zur extrovertierten Frau gehört, ist völlig anders. Es steht auf dem Kopf und zeigt eine helle, sonnige Sommerlandschaft. Zwei breite Flüsse, die durch einen schmalen, mit Sträuchern bewaldeten Landstreifen getrennt sind, fließen von links nach rechts durch das Bild. Die beiden Gewässer bewegen sich entlang eines weit entfernten Landstriches, der von Wald, Feldern, braunorangen Hügeln und kleineren Straßenzügen durchzogen ist. Der Himmel ist sommerlich blau und von einigen Wolkenfeldern unterbrochen. Warme Bildfarben wechseln sich ab und vermitteln dem Betrachter hochsommerliche Gefühle. Blickfang des Bildes ist eine hellbraune, breite, zweispurige Verkehrsbrücke, die über die beiden Flüsse ans andere Ufer in Richtung Landesinnere führt. Doch ehe die Brücke das andere Ufer erreichen könnte, trifft sie auf den Rumpf der kopflosen Frau und verschwindet da, wo ihr Hals ansetzen würde.

Dieses Kunstwerk hilft uns dabei, drei grundsätzliche Dinge über die Wesensart introvertierter Menschen festzuhalten:

• Introvertierte sind nicht zwingend als solche zu erkennen! Introvertierte und Extrovertierte können – wie im Kunstwerk dargestellt – völlig identisch aussehen und wirken. Dies, obwohl sie innerlich ganz anders ticken.

• Der Unterschied liegt im Kopf. »Introvertiert« bezeichnet die Art und Weise, wie ein Mensch seine Umwelt wahrnimmt und sein Leben innerlich bewältigt. Wörtlich bedeutet introvertiert »nach innen gewandt« und extrovertiert »nach außen gewandt«. Die Gemälde bringen es auf den Punkt: Während die Bewegung und Energie der Verarbeitung bei den Extrovertierten nach außen führt, fließt sie bei den Introvertierten bevorzugt nach innen. Extrovertierte Menschen nimmt man als gesellig, abenteuerlustig, risikofreudig wahr, Introvertierte hingegen als eher ruhig, zurückhaltend, in sich gekehrt.

• Introvertierte sind tiefgründige Denker. Wie es das Bild des Stollens zeigt, verarbeiten Introvertierte Erlebtes bevorzugt im Verborgenen, ganz für sich allein. Extrovertierte hingegen verarbeiten Dinge, indem sie sie nach außen tragen und sich mit anderen Menschen austauschen. Während Extrovertierte ihr Herz auf der Zunge tragen, halten sich Introvertierte mit ihren Gefühlen und Äußerungen oft zurück. Sie geben nur zögerlich Dinge von sich preis. Dies verleiht ihnen oft etwas Geheimnisvolles. Sie sind schwer einzuordnen und man weiß nicht so genau, was sie tief in ihrem Innersten wirklich denken.

Die drei Punkte, die sich aus dem beschriebenen Kunstwerk ableiten, möchte ich nun noch um einige zusätzliche Informationen ergänzen. Sie erscheinen mir wesentlich und grundlegend für das, was ich im weiteren Verlauf ausführen werde:

1. Introversion ist kein neues Thema. Die Begriffe Extroversion und Introversion wurden erstmals im Jahr 1921 von dem Schweizer Psychoanalytiker Carl Gustav Jung geprägt. Mit Introversion beschrieb er das Verhalten jener Menschen, die ihre psychische Energie nach innen, weg von der Außenwelt, wandten. Bis heute gelten diese beiden Temperamente als wichtigste Aspekte der Persönlichkeitspsychologie. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass neben Intro- und Extroversion auch noch weitere Persönlichkeitsmerkmale das Verhalten eines Menschen beeinflussen. Jahrhundertelang war die vom griechischen Arzt Galen (129–199 n. Chr.) begründete Temperamentslehre weit verbreitet. Jener verband seine Lehre der vier Temperamente mit der Viersäftelehre, die Hippokrates (griech. Arzt, ca. 460–370 v. Chr.) zugeschrieben wird. Nach Galen gibt es vier Temperamentstypen: den Sanguiniker, den Phlegmatiker, den Choleriker und den Melancholiker. Im 20. Jahrhundert ergänzte der deutsche Psychologe Hans Jürgen Eysenck (1916–1997) jene Temperamentstypen durch zwei weitere Dimensionen: psychische Stabilität20 beziehungsweise Instabilität auf der einen und Introversion beziehungsweise Extroversion21 auf der anderen Seite. Eysencks Theorie der Persönlichkeitstypen ist aus unterschiedlichen Gründen jedoch nicht allgemein anerkannt. Offensichtlich reichen die zwei Achsen Extroversion und Stabilität nicht aus, um die gesamte Vielfalt persönlicher Eigenschaften zu beschreiben. In der Folgezeit definierten weitere Forscher bis zu hundert Faktoren. In der modernen Persönlichkeitspsychologie hat sich indessen das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit (die sogenannten Big Five) etabliert. Laut dieser Theorie kann eine Persönlichkeit mithilfe der folgenden fünf Eigenschaftsskalen beschrieben werden: Extroversion, Stabilität, Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit.

2. Introversion betrifft mehr Menschen, als viele vermuten. Weil Extrovertierte in unserer Gesellschaft durch ihr nach außen gerichtetes Verhalten von Natur aus mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen, geht man davon aus, dass sie eine überragende Mehrheit darstellen. Dies wird von etlichen Wissenschaftlern stark infrage gestellt. Will man das konkrete Verhältnis von Introvertierten und Extrovertierten benennen, wird es diffus. Die Angaben unterscheiden sich von Autor zu Autor. Einige sprechen von einem Viertel Introvertierter im Vergleich zu den Extrovertierten, andere von einem Drittel, weitere von der Hälfte. Die Psychologin Laurie Helgoe brachte in ihrem Buch Introvert Power22 Licht ins Dunkel. In einem einführenden Unterkapitel mit dem Titel The Big Lie (»Die große Lüge«) empörte sie sich über die Behauptung, dass Introvertierte in der Minderheit seien, da jene höchstens ein Viertel oder ein Drittel der Bevölkerung ausmachten.23 Diese Zahlen seien zwar schnell und überall zu finden – nicht nur bei der Webrecherche, sondern auch in vielen Ratgebern. Doch als Laurie Helgoe diesen Angaben auf den Grund ging, stellte sie fest, dass die Zahlen auf Schätzungen um das Jahr 1957 zurückzuführen sind. Damals entwickelte Isabel Myers einen Test, mit dessen Hilfe die von Jung entwickelten psychologischen Typen systematisch erfasst werden sollen. Ebenjener Test, bekannt als Myer-Briggs-Typenindikator (MBTI), hat in der Zeit danach, also seit rund sechzig Jahren, auswertbare Daten generiert. Dasselbe gilt für Ergebnisse des Big-Five-Persönlichkeitstests, der seit den 1980er-Jahren in Gebrauch ist. Ergebnisse aus den Jahren 1998 und 2001 belegen, dass es leicht mehr Introvertierte (beiden Geschlechts) gab als Extrovertierte.24 Mir ist nicht bekannt, wie die aktuellen Zahlen lauten. Ebenso wenig, ob diese Zahlen stärker im amerikanischen Kontext zu verorten sind als im europäischen. Daher halte ich es mit Sylvia Löhken, die zum Schluss kommt: »Das tatsächliche Zahlenverhältnis lässt sich wohl nicht ermitteln. Sicher ist aber: Es gibt viele, sehr viele introvertierte Menschen.«25 Und wenn ich mir vorstelle, dass jede vierte, jede dritte oder gar jede zweite Person in einer christlichen Gemeinde introvertiert ist (meiner Vermutung nach variiert das Verhältnis je nach Art der christlichen Gemeinschaft), bestätigt dies die Dringlichkeit dieses Buches!

3. Introversion in Reinform gibt es nicht. Jung vermutete, dass jeder Mensch von Geburt an mit einem Temperament ausgestattet ist, das ihn irgendwo auf einer Skala zwischen »sehr introvertiert« und »sehr extrovertiert« ansiedelt.26 Er kam zum Schluss, dass wir uns am besten an die Welt anpassen können, wenn wir auf dieser Skala eine gewisse Flexibilität aufweisen und je nach Bedarf eher introvertiert oder extrovertiert agieren. Allerdings war für ihn auch offensichtlich, dass sich jeder stärker zur einen oder anderen Seite hingezogen fühlt. Denn jeder Mensch hat eine »natürliche Nische«, in der er am besten funktioniert.

   Jungs Vermutungen wurden später durch die Wissenschaft bestätigt. Introversion und Extroversion sind demnach zwei Pole eines Kontinuums. Jeder Mensch verfügt über einen Bereich auf diesem Kontinuum, in dem er sich am wohlsten fühlt. Diese Wohlfühlzone entspricht einer Persönlichkeitseigenschaft, mit der man geboren wird und die das ganze Leben über relativ stabil bleibt. Sylvia Löhken, Expertin für intro- und extrovertierte Kommunikation, betont, wie wichtig es ist, dass ein Mensch idealerweise den größten Teil seiner Zeit in seiner Wohlfühlzone verbringen kann, »sonst wird es ungesund. Schwankungen und Verschiebungen zwischen Introversion und Extroversion sind normal und können mit der umgebenden Kultur, der konkreten Situation, der Rolle, dem Lebensalter und sogar der Stimmung zu tun haben.«27

   Die Tatsache, dass jeder Mensch an einem anderen Punkt auf einer Skala zwischen extrem introvertiert und extrem extrovertiert anzusiedeln ist, trifft auch auf die Leser dieses Buches zu. Selbst Introvertierte unterscheiden sich in der Ausprägung ihrer Introversion so stark, dass die Beispiele in diesem Buch längst nicht immer auf alle Intros zutreffen.

4. Intros, Extros und Zentros. Während nur wenige Menschen an den extremen Enden der Skala angesiedelt sind, liegen die meisten im Mittelfeld. Mit den Ambi- oder Zentrovertierten, kurz Zentros genannt, hat sich neben den Intro- und Extrovertierten ganz offiziell eine dritte Gruppe etabliert.28 Löhken schreibt: »Wenn Intros und Extros ›der Norden und der Süden des Temperaments‹ sind, dann sind die Zentros der Äquator.«29 In der Sprache der Psychologen werden Zentros oft auch »Ambivertierte« genannt. »Ambivertiert« (abgeleitet von englisch ambivert) bedeutet »nach beiden Seiten gewandt«. Zentros tragen demnach Eigenschaften beider Pole in sich und fühlen sich je nach Situation eher der einen oder der anderen Gruppe zugehörig.30 Je besser sich Intros, Extros und Zentros gegenseitig kennen, umso rücksichtsvoller können sie mit sich selbst und anderen umgehen. Die Gesellschaft ganz allgemein sowie die christliche Gemeinschaft im Besonderen braucht die Eigenschaften aller Persönlichkeitstypen!

5. Introversion ist wissenschaftlich nachweisbar. Die Wissenschaft hat seit den 1990er-Jahren große Fortschritte gemacht. Dabei ist insbesondere die Hirnphysiologie für die Intro-Extro-Thematik von Interesse. Löhken erklärt: »Verschiedenste Studien belegen in verschiedenen Bereichen des zentralen Nervensystems, dass das Intro-Extro-Kontinuum nicht nur eine psychologische Annahme, sondern auch eine biologische Realität ist.«31 Anders gesagt: Unsere Persönlichkeit und unser Handeln entsprechen physiologischen Gegebenheiten im Hirn. Konkret unterscheiden sich die Gehirne von Introvertierten und Extrovertierten einerseits darin, wie die Gehirne organisiert sind, und andererseits, auf welche Weise die Gehirne aktiv sind. So sind Unterschiede zwischen introvertierten und extrovertierten Menschen zum Beispiel neurologisch messbar.32 Das Gehirn von introvertierten Probanden wies in Untersuchungen eine höhere elektrische Aktivität auf. Und zwar unabhängig davon, ob sie sich bei der Arbeit oder in einem Ruhezustand befanden. Aufgrund dieser (von Natur aus) höheren Gehirnaktivität haben leise Menschen offenbar ein stärkeres Bedürfnis, sich gegen Reizüberflutung abzuschirmen. Um sich wohlzufühlen und neue Kraft zu schöpfen, brauchen Introvertierte Ruhe. Bei Extrovertierten ist es genau umgekehrt: Um einen optimalen neuronalen Erregungszustand zu erreichen, brauchen sie Anregungen von außen, zum Beispiel Musik, Gespräche oder Bewegung.

   Dies bestätigte auch ein Experiment an Studenten der University of Minnesota: Introvertierte lernten am besten in ruhiger Umgebung (maximal 65 Dezibel), während sich Extrovertierte besser konzentrieren konnten, wenn es lauter war (um die 85 Dezibel). »Andere Forschungsarbeiten weisen darauf hin«, erklärt Sophia Dembling, »dass das Gehirn Extrovertierter große Mengen des Neurotransmitters Dopamin (sehr vereinfacht gesagt, ist das die Substanz, die dazu beiträgt, im Gehirn die Belohnungs- und Vergnügungszentren zu kontrollieren) verlangt, die sie sich verschaffen, indem sie ausgehen und etwas unternehmen«33