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Über dieses Buch:

Nach dem plötzlichen Tod ihrer Eltern muss die junge Clara Verantwortung übernehmen: für die erfolgreiche Tuchfabrik ihrer Familie, ihr Erbe, ihren leichtsinnigen Bruder Robert. Als dieser die Fabrik verspielt und auch noch eine russische Adelige angreift, bleibt Clara und Robert nichts anderes übrig, als vor deren rachsüchtigen Brüdern aus New York zu fliehen. Im kanadischen Westen wollen sie neu anfangen, und schon kurz darauf findet Clara an der Seite des irischen Geschäftsmanns Jack das große Glück … doch Robert sorgt immer wieder für Ärger, und auch die russischen Brüder geben nicht so schnell auf. Als Clara erfährt, dass sie hoch oben im Norden Alaskas planen, Robert in einen Hinterhalt zu locken, begibt sie sich auf eine gefährliche Reise über den Yukon River, um ihn zu warnen …

„Es ist immer ein Genuss, ein Buch von Thomas Jeier zu lesen.“ Bücherschau Wien

Über den Autor:

Thomas Jeier wuchs in Frankfurt am Main auf, lebt heute bei München und „on the road“ in den USA und Kanada. Seit seiner Jugend zieht es ihn nach Nordamerika, immer auf der Suche nach interessanten Begegnungen und neuen Abenteuern, die er in seinen Romanen verarbeitet. Seine über 100 Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.

Bei dotbooks erscheint auch:

Biberfrau

Die Tochter des Schamanen

Das Lied der Cheyenne

Weitere Titel sind in Vorbereitung.

Die Website des Autors: www.jeier.de

Der Autor im Internet: www.facebook.com/thomas.jeier

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eBook-Neuausgabe Januar 2018

Copyright © der Originalausgabe 2000 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Steve Collender (Gänseschwarm), Olga Iutina (Frau), kenkistler (Farm)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-96148-183-5

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Thomas Jeier

Die abenteuerliche Reise der Clara Wynn

Roman

dotbooks.

Für Philip,
der seine abenteuerliche Reise
erst begonnen hat

Inhalt

NEW YORK (1897)
Wie ich von meinem Bruder gedemütigt wurde und meinen ganzen Besitz verlor

KAP HOORN (1897/98)
Wie ich einen Dieb überraschte und in einem Sturm vor Kap Hoorn beinahe über Bord ging

SKAGWAY (1898)
Wie Abigail und ich ein Unternehmen gründeten und gegen den König der Banditen kämpften

DAWSON CITY (1898)
Wie die Danilows meinen Bruder aufspürten und ich in der Wildnis mein Leben riskierte

NACHWORT

NEW YORK (1897)
Wie ich von meinem Bruder gedemütigt wurde und meinen ganzen Besitz verlor

1

Der 22. September 1897 war ein sonniger Herbsttag, viel zu warm für diese Jahreszeit, und ich saß unter dem offenen Fenster und las in der New York Times, als es klopfte. Unser Diener erschien in der Tür und verbeugte sich. »Mr Jonathan Burke, Ma'am! Er wartet im Salon. Er macht einen sehr aufgelösten Eindruck, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf!«

Ich legte die Zeitung auf den Beistelltisch und stand auf. Jonathan war unser Buchhalter, ein lieber und vertrauter Freund seit vielen Jahren, und es verhieß nichts Gutes, wenn er unangemeldet in unserem Wohnhaus erschien. »Danke, John«, erwiderte ich, »sagen Sie ihm, dass ich komme!« Ich wartete, bis der Diener gegangen war, blickte in den Spiegel und puderte hastig meine geröteten Wangen. Meine Aufregung war groß und ich ahnte, dass mich eine schlechte Nachricht erwartete. Ich legte einen Schal um meine Schultern und stieg die geschwungene Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Die Tür zum Salon stand offen.

Jonathan stand neben dem Fenster, ein stämmiger Mann mit schütterem Haar, und begrüßte mich höflich. »Tut mir Leid, dass ich Sie auf diese Weise überfalle, aber es ist wirklich sehr dringend!«, entschuldigte er sich und legte seine Aktenmappe auf das Klavier. Ich erkannte an seinem unsteten Blick, dass er sich ernsthafte Sorgen machte. Seine Nervosität wirkte ansteckend.

»Was gibt es denn, Jonathan? Haben Sie sich an der Börse verkalkuliert?« Jonathan Burke war in unsere Firma eingetreten, als meine Eltern noch gelebt hatten, und verwaltete unser Vermögen. Er genoss mein volles Vertrauen und mein Bruder und ich hatten ihm freigestellt, mit einem Teil des Geldes an die Börse zu gehen. »Oder hat Robert wieder über die Stränge geschlagen?« Sein Gesicht blieb besorgt und ich fragte: »Etwas Ernstes?«

»Sehr ernst, Miss Clara!« Er hatte mich schon als kleines Mädchen gekannt und durfte mich beim Vornamen nennen. »Ich habe einen Brief von Isaac Levinsky erhalten.« Der Tuchhändler besaß mehrere Fabriken und war der Wortführer der polnischen Juden, die während der letzten Jahre nach Amerika gekommen waren. Sie beschäftigten billige Arbeitskräfte von der Lower East Side, setzten ganze Heerscharen von hungrigen Frauen an die Nähmaschinen und unterboten die Preise der amerikanischen Konkurrenz. Wir hatten nur mithalten können, weil wir langfristige Verträge mit einer Kaufhauskette abgeschlossen und eine Kollektion von Modellkleidern herausgebracht hatten, die sogar in San Francisco gekauft wurden. Aber es hatte unseres gesamten Vermögens bedurft, um mit der Herausforderung fertig zu werden. »Levinsky ist im Besitz eines Schuldscheines, den Ihr Bruder nach einem Würfelspiel ausgefüllt hat! Er fordert einen sechsstelligen Betrag, den ich gar nicht auszusprechen wage!«

Er öffnete die Aktenmappe und zog den Brief heraus. »Sehen Sie selbst! Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, was der Verlust einer solchen Summe für die Firma bedeuten würde.« Er reichte mir das Schreiben und ich blickte ungläubig auf die Zahl. »Wir wären bankrott, Miss Clara! Wir müssten die Fabrik verkaufen und könnten von Glück sagen, wenn wir unsere Aktien mit Gewinn abstoßen und unsere Verbindlichkeiten damit abdecken könnten!« Er schnaufte verzweifelt. »Ich weiß nicht, was in Ihren Bruder gefahren ist! Er muss doch wissen, dass uns die Banken keinen Kredit mehr geben! Warum tut er so etwas? Warum?«

Ich wusste es auch nicht. Meine Eltern waren vor zwei Jahren tödlich verunglückt und ich hatte unsere Firma zusammen mit meinem Bruder und Jonathan Burke geführt. Ich war zur Schule gegangen und hatte die letzten Jahre meiner Lehrjahre auf einem vornehmen College zugebracht, zu der damaligen Zeit sehr ungewöhnlich, weil man in unseren Kreisen der Meinung war, dass ein Mädchen nur geboren wurde, um einen reichen Mann zu heiraten, schöne Kleider zu tragen und Konversation zu führen. Aber mein Vater war ein sehr fortschrittlicher Mann gewesen und hatte auf eine gute Ausbildung gedrängt. »Ich möchte, dass du deinem Bruder hilfst, unsere Firma zu führen, wenn ich nicht mehr da bin«, hatte er gesagt. Wahrscheinlich schätzte er Robert so ein, wie ich ihn nach dem Tod meiner Eltern kennen gelernt hatte. Als leichtsinnigen Spieler, der nichts von Arbeit wissen wollte und das Geld mit beiden Händen zum Fenster hinauswarf. Robert war dafür bekannt, dass er bei Pokerspielen und Pferderennen hohe Summen verspielte und leichte Mädchen zu Champagner und Kaviar einlud. »Eine sechsstellige Summe?« Ich schüttelte ungläubig den Kopf. »Robert ist ein leichtsinniger Bursche, aber so viel kann selbst er nicht an einem Tag verspielen! Haben Sie die Sache überprüft?«

»Natürlich«, antwortete Jonathan mit einem Kopfnicken. Er stand neben dem Klavier und fuhr mit einem Finger zwischen seinem Hals und dem gestärkten Kragen entlang. Er schwitzte stark. »Ich habe mich sofort mit Isaac Levinsky in Verbindung gesetzt. Er hat mir den Schuldschein gezeigt und keinen Zweifel daran gelassen, dass er ihn zum vereinbarten Termin einzulösen gedenkt. Der Betrag ist in einer Woche fällig!« Er zog ein Taschentuch hervor und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. »Woher soll ich das Geld nehmen? Wir haben alles in neue Maschinen investiert und einen Kredit aufgenommen! Die Banken geben uns nichts mehr!« Er zog eine Kladde aus seiner Aktentasche und reichte sie mir.

Ich vertiefte mich in die Aufzeichnungen und stellte fest, dass wir an die Grenze unserer Belastbarkeit gegangen waren. Unter dem Druck der osteuropäischen Juden, die mit ihren Textilfabriken zu einer ernsthaften Konkurrenz für alle amerikanischen Tuchfabriken geworden waren, hatten wir in neue Fabrikhallen und Nähmaschinen investiert und waren in einen finanziellen Engpass geraten, der nicht mal eine vierstellige Privatentnahme rechtfertigte. Wenn wir das Geld, das Robert dem reichen Tuchhändler schuldete, nicht auftreiben konnten, mussten wir verkaufen.

Ich ließ die Kladde sinken und starrte auf die gerahmte Fotografie meiner Eltern, die auf der englischen Kommode stand. Das Bild war während der Weltausstellung in Chicago entstanden, ein wohlhabendes Ehepaar vor einem Springbrunnen, meine Mutter in einem teuren Modellkleid aus Paris, einen extravaganten Hut mit einer großen Feder auf den hochgesteckten Haaren, und mein Vater in Anzug und Zylinder, die linke Hand auf einen Spazierstock gestützt. Er hatte meinen Bruder richtig eingeschätzt und seine ganze Hoffnung auf mich gesetzt und ich hatte ihn enttäuscht. Mein Bruder war immer leichtfertig mit unserem Vermögen umgegangen und ich hatte es nicht geschafft, ihn nachdrücklich an seine Verantwortung zu erinnern. »Was ist mit dem Haus?«, fragte ich. »Hat er das auch beliehen?«

»Ich glaube nicht«, antwortete Jonathan. Er nahm die Papiere und steckte sie in die Aktentasche. Seine Stimme klang bedrückt, als er fortfuhr: »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll, Miss Clara! Bei den Banken war ich bereits und habe mir eine Abfuhr nach der anderen geholt! Die wirtschaftliche Lage sei zu unstabil. Wenn ich so was schon höre! Levinsky hat bestimmt dafür gesorgt, dass sie von dem Schuldschein erfahren! Er will billig an unsere Fabrik kommen, und so wie es aussieht, hat er auch Erfolg mit dieser Taktik! Wenn wir das Geld nicht auftreiben, muss ich ihm die Fabrik für einen Spottpreis verkaufen. Es geht nicht anders. Ich habe alles getan, was in meiner Macht steht ...«

»Ich weiß, Jonathan. Es ist nicht Ihre Schuld. Sie können nichts dafür, dass mein Bruder über die Stränge schlägt.«

Ich ging ein paar Schritte und schloss für einen Augenblick die Augen. Ich verspürte tiefen Schmerz über den Leichtsinn meines Bruders, der unsere Familie an den Rand des Ruins getrieben hatte, und für meinen Vater, dessen Lebenswerk in die Hände der Konkurrenz fiel, wenn in der nächsten Woche kein Wunder geschah.

»Was werden Sie tun, Miss Clara?«, fragte Jonathan.

Ich öffnete die Augen und blickte den Buchhalter entschlossen an. »Noch haben wir nicht verloren, Jonathan. Ich werde versuchen, das Geld aufzutreiben! Ich werde den Bankiers schöne Augen machen, dann leihen sie mir die Summe bestimmt.« Ich wusste selber, wie trügerisch diese Hoffnung war, und lächelte trotzig. »Mir fällt schon etwas ein. Wenn alle Stricke reißen, verkaufen wir die Fabriken und investieren in ein neues Unternehmen. Oder wir beteiligen uns an einer anderen Firma. So schnell gehen die Wynns nicht unter! Mein Großvater hat die Schlacht von Gettysburg überlebt, haben Sie das gewusst?« Wir wussten beide, dass es beinahe unmöglich war, mit einem kleinen Unternehmen gegen die übermächtige Konkurrenz der Einwanderer zu bestehen. »Und wenn der Erlös nicht reicht, verkaufe ich das Familiensilber. Vielleicht arbeite ich sogar für Mister Levinsky?« Ich verbesserte mich rasch, als ich den entsetzten Ausdruck in Jonathans Augen sah. »Ich bin neunzehn, Jonathan! Mein Vater hätte bestimmt nicht gewollt, dass ich klein beigebe. Mach etwas aus deinem Leben, hätte er gesagt, und hör nicht auf deinen verrückten Bruder! Nimm dein Schicksal in die eigenen Hände!«

»Ihr Vater war ein kluger Mann«, sagte Jonathan. Er nahm seine Aktenmappe und verabschiedete sich von mir. Seine Augen waren feucht, aber er lächelte. »Leben Sie wohl, Miss Clara! Ich melde mich, sobald ich etwas Neues berichten kann ...«

Ich wartete, bis er gegangen war, und griff nach dem Bild meiner Eltern. Ihr Tod hatte mich sehr getroffen. Sie waren von einem der neuen Omnibusse überfahren worden und im Krankenhaus gestorben. Ich träumte heute noch davon. Gegen diesen Schicksalsschlag war der Bankrott unseres Unternehmens das kleinere Übel. Ich war anders als meine Eltern und mein Bruder, hatte persönlichem Besitz niemals große Bedeutung zugeschrieben. Natürlich war es schön, in einer vornehmen Villa aus Backsteinen zu wohnen und ein neues Automobil zu besitzen, und ich müsste lügen, wenn ich sagte, der Erfolg unserer neuen Kollektion von Modellkleidern ließe mich unberührt, aber ich war sicher, auch ohne diese Dinge leben zu können. Ich hatte mich in der vornehmen Gesellschaft immer beengt gefühlt, wurde von den anderen Damen schief angesehen, weil ich selten zu ihren Kaffeekränzchen erschien, die aufdringlichen Versuche der Herren, mich auf einen Ausritt mitzunehmen, abwehrte und mich stattdessen lieber um die Geschäfte unserer Firma kümmerte.

Eine anständige Frau in meinem Alter war längst verheiratet oder zumindest verlobt. Das waren auch die Worte meiner Mutter gewesen, die versucht hatte mich mit dem Sohn eines wohlhabenden Reeders aus Boston zu verkuppeln. Ich war einmal mit dem jungen Mann ausgegangen, hatte ihn tödlich beleidigt, als ich ihm gesagt hatte, ich sei nicht an ihm interessiert, und hatte beschlossen, nur noch mit einem Verehrer auszugehen, der mir gefiel. Bisher war ich einem solchen Mann noch nicht begegnet.

Ich stand auf und trat ans Fenster. Mein Bruder und ich wohnten in einer Seitenstraße der Fifth Avenue, weit genug von der belebten Hauptstraße entfernt. Aus der Ferne war das Rattern der Hochbahn zu hören. Ich beobachtete ein Automobil, das sich durch unsere enge Straße quälte, und zog mich rasch zurück, als der Wagen anhielt, ein junger Herr ausstieg und vor dem Haus gegenüber stehen blieb. Ich öffnete die Tür und rief nach unserem Diener. »John! Lassen Sie bitte den Wagen vorfahren!«

Wir hatten das Automobil vor einigen Monaten gekauft, aber es stand meistens im Hof und wurde kaum benutzt. Ich ging selten aus dem Haus, und wenn ich zur Fabrik fuhr, wurde ich von Jonathan in seiner Kutsche abgeholt. Robert setzte sich nicht mehr ans Steuer, seitdem er betrunken gegen eine Laterne gefahren und sich vor einer jungen Dame blamiert hatte. Er bevorzugte seinen Einspänner oder die zweispännige Kutsche, die wir von unseren Eltern geerbt hatten. Ich war während der letzten Monate regelmäßig aufgewacht, wenn die Kutsche nachts in den Hof gerattert und er mit einer zweifelhaften Dame nach oben gekommen war. Er wohnte im ersten Stock unseres Hauses, und wenn die Fenster offen standen, verstand ich fast jedes Wort.

Ich ließ mir mein dunkelblaues Cape bringen und eilte die Treppe hinab. Unser Kutscher, der auch als Chauffeur angestellt war, wartete neben dem Automobil auf mich. Er trug die Uniform, die unsere Angestellten für ihn geschneidert hatten, und begrüßte mich freundlich. »Guten Tag, Miss Wynn! Und ich dachte schon, Sie würden niemals mit dem Automobil fahren!« Er hielt mir die Wagentür auf und wartete, bis ich eingestiegen war. »Ein wunderschöner Herbsttag, nicht wahr? Wohin darf ich Sie bringen?«

»Nach Harlem«, erwiderte ich, »zum Biergarten, den mein Bruder immer besucht. German Pabst Harlem, nicht wahr?«

»Ja, aber ...«

»Fahren Sie mich hin, David, ja?«

Ich lehnte mich in die Polster zurück und hielt mir die Ohren zu, als der Chauffeur den Motor anwarf und der Wagen wie eine altersschwache Kutsche zu schaukeln begann. Ich würde mich nie an diese Ungetüme gewöhnen. Die Räder holperten über das Kopfsteinpflaster und ich hörte den lauten Pfiff eines Polizisten, als wir in die Fifth Avenue bogen und nach Norden fuhren. Eine Pferdebahn fuhr bimmelnd an uns vorbei. Ich entspannte mich und blickte in die vorbeiziehenden Schaufenster eines fünfstöckigen Kaufhauses, das vor einigen Monaten gebaut worden war.

Ob ich mir die Waren in der Auslage noch leisten konnte, wenn wir verkaufen mussten? Oder blieb nach dem Verkauf gerade so viel übrig, dass ich unbeschadet über den nächsten Monat kam? Ich wunderte mich selbst, wie gefasst ich die Nachricht unseres Buchhalters aufgenommen hatte, und erinnerte mich an eine Schlagzeile der New York World vor wenigen Wochen. Bankrott eines großen Bankhauses! Unternehmer springt aus dem Fenster! Ich würde mich nicht umbringen. Wenn die Firma wirklich Bankrott ging, würde ich an einer neuen Zukunft arbeiten. Dies war das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, so hieß es jedenfalls bei den Einwanderern, die zu Tausenden im Hafen von New York ankamen, und ich würde mich niemals unterkriegen lassen.

Wir fuhren am Central Park vorbei und tuckerten über eine sandige Straße nach Harlem hinauf. Die Backsteinhäuser des neuen Vorortes erinnerten mich an eine kleine Stadt in New England, die ich vor einigen Jahren mit meinen Eltern besucht hatte, und mir kamen die Worte meines Vaters in den Sinn, der zu meiner Mutter gesagt hatte: »In Harlem sollten wir investieren, meine Liebe! Hier steigen die Grundstückspreise am schnellsten!« Wir hatten es nicht getan und ich war nicht traurig darüber, denn Harlem war langsamer gewachsen, als viele Investoren gedacht hatten, selbst nachdem die Hochbahn gekommen war.

German Pabst Harlem war der Biergarten einer deutschen Brauerei, ein mit bunten Lampions geschmücktes Lokal abseits der Harlem Lane, die sich wie eine breite Allee durch den Vorort zog. Hierher pflegte mein Bruder seine Freundinnen auszuführen. Die Gäste saßen in sommerlicher Kleidung an den Gartentischen und lauschten den Klängen eines Streichquartetts, das auf einer Bühne saß und eine Sonate von Mozart spielte. Ich stieg aus und bedeutete dem Chauffeur den Motor abzustellen und zu warten.

Nach meinem Bruder brauchte ich nicht lange zu suchen. Er saß mit einer jungen Dame am Tisch und streichelte ihren linken Arm, während er seinen Bierkrug hob und ihr zuprostete. Er war ein stattlicher Mann, das musste ihm der Neid lassen, und in seinem modern geschnittenen Anzug aus feinstem Tuch und dem blütenweißen Hemd mit der dunkelblauen Krawatte sah er wie ein ehrenhafter Gentleman aus. Seine dunklen Augen und sein jungenhaftes Lächeln beeindruckten ganz offensichtlich seine junge Freundin, aber auch zwei ältere Damen am Nachbartisch, die bewundernd zu ihm herübersahen.

Ich ließ den verdutzten Kellner stehen, der mich in Empfang nehmen wollte, und steuerte geradewegs auf den Tisch mit meinem Bruder zu. Die Damen am Nachbartisch blickten mir neugierig nach. Sie hielten mich wohl für die betrogene Ehefrau und schienen nur darauf zu warten, dass ich mir ein Wortgefecht mit Robert lieferte.

»Clara! Was machst du denn hier?«, empfing mich mein Bruder erstaunt. Er stellte mich seiner jungen Freundin vor, die Olga hieß und der Familie eines russischen Unternehmers angehörte. Eine Anstandsdame war weit und breit nicht in Sicht und ich fragte mich, wie er es geschafft hatte, sie in dieses Lokal zu entführen. »Gibt es Probleme in der Fabrik?«

»Das solltest du doch am besten wissen«, antwortete ich aufgebracht. Am liebsten hätte ich mit dem Sonnenschirm seiner Begleiterin auf den Tisch geschlagen. »Kann ich dich sprechen?«

»Natürlich«, erwiderte er fröhlich. Robert war ein Lebenskünstler und es gab nichts, das ihn aus der Ruhe bringen konnte. Er wandte sich an Olga. »Halt dir mal die Ohren zu, mein Schatz!«

»Du hast unsere Fabriken verspielt«, erklärte ich ohne Umschweife. »Du hast ein Vermögen beim Würfelspiel verloren und ich habe keine Ahnung, wie ich Levinsky bezahlen soll! Er will den Schuldschein in einer Woche einlösen!« Meine Stimme war nicht lauter als sonst, sodass die Damen am Nachbartisch kein Wort verstanden.

Robert lächelte fröhlich und winkte mich zu sich herunter. »Kein Grund, sich aufzuregen, Schwesterherz!«, flüsterte er mir ins Ohr. »Weißt du, wer die hübsche Lady an meiner Angel ist? Eine russische Prinzessin, eine wirkliche Prinzessin! Ich werde sie heiraten und dann gehört uns die halbe Welt! Großes Ehrenwort!«

»Du bist unmöglich, Robert! Meinst du vielleicht, Levinsky wartet so lange? Lass dir was Besseres einfallen.« Aber mein Bruder würde sich niemals ändern, selbst wenn unser gesamter Besitz den Bach hinunterging. Er betrachtete das Leben als spannendes Spiel. Ich richtete mich auf und schenkte Olga ein spöttisches Lächeln. »Sie können die Hände wieder von den Ohren nehmen, Prinzessin! Robert will Ihnen eine wichtige Frage stellen!« Ich machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Biergarten.

2

Ich lernte den Mond auswendig. Er leuchtete voll und rund über den Dächern der Stadt und ich prägte mir jeden Schatten auf seinem blassen Antlitz ein, während ich in meinem Bett lag und durch das geöffnete Fenster nach draußen blickte. Ich konnte nicht schlafen. Die Probleme, die auf mich eingestürzt waren, lagen wie eine schwere Last auf mir und selbst der Kräutertee, den unser Diener mir kurz vor dem Schlafengehen gebracht hatte, verfehlte seine Wirkung. Wie konnte ich den drohenden Bankrott von unserer Firma abwenden? Die Frage beschäftigte mich die ganze Nacht, und als ich frühmorgens aus dem Bett kroch und mir das kalte Wasser aus der Waschschüssel ins Gesicht spritzte, dachte ich noch immer darüber nach. Robert würde das Geld nicht herbeizaubern können. Selbst wenn seine Olga tatsächlich eine russische Prinzessin war und auf seine Liebesschwüre hereinfiel, würde sie ihr Vermögen nicht zur Verfügung stellen. Isaac Levinsky würde darauf bestehen, den Schuldschein einzulösen. Er wartete nur darauf, sich unsere Firma einverleiben zu können. Mir blieben nur der Weg zur Bank und die Hoffnung, dass Conrad Rickenwood, der langjährige Freund meines Vaters, ein Einsehen mit uns hatte.

Ich verzehrte mein Frühstück in Eile, ließ die Morgenzeitung unberührt liegen aus Angst, ich könnte eine Nachricht über den Lebenswandel meines Bruders finden, und ließ David das Automobil vorfahren. »Zur National Bank«, sagte ich zu ihm. Ich setzte mich auf die Rückbank und schloss die Augen, versuchte mich auf die bevorstehende Unterredung mit dem Bankdirektor zu konzentrieren. Den Termin hatte ich bereits nach meiner Rückkehr aus Harlem verabredet. Der Straßenlärm, das Hupen der anderen Automobile und das Klingeln der Pferdebahnen drang wie aus weiter Ferne zu mir.

Vor der Bank, einem dreistöckigen Gebäude an der Fifth Avenue, blickte ich in meinen kleinen Taschenspiegel. Ich trug eines meiner besten Kleider, hochgeschlossen – der ernsten Unterredung angemessen – und hatte die bernsteinfarbene Brosche angesteckt, die ich von meiner Mutter geerbt hatte. Meine dunklen Zapfenlocken waren sorgfältig frisiert und fielen unter einem weinroten Hut hervor. Mein Gesicht wirkte blass, obwohl ich mit etwas Rouge nachgeholfen hatte, und meinen Augen sah man die durchwachte Nacht an.

Mein Seufzen ging im Hupen eines Automobils unter. Ich bedeutete David, auf mich zu warten, betrat das große Gebäude und stieg die Treppe zum Büro des Bankdirektors hinauf. Die Wände waren mit Marmor verkleidet und meine Schritte hallten durch das Treppenhaus.

»Clara! Welche Freude, Sie zu sehen!«, rief Conrad Rickenwood, nachdem mich die Sekretärin angemeldet hatte. »Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen! Bitte, nehmen Sie Platz.« Ich setzte mich auf einen der schweren Ledersessel in seinem Büro und Conrad trug seiner Sekretärin auf, uns frischen Tee zu bringen. Er war als junger Mann aus England eingewandert und verabscheute amerikanischen Kaffee. »Was kann ich für Sie tun, Clara?« Er hatte mit unserem Buchhalter gesprochen und wusste natürlich längst, was ich wollte, aber die Höflichkeit gebot ihm, um den heißen Brei zu reden.

Ich war von meinem Vater erzogen worden, die Probleme direkt anzugehen, und sagte: »Ich bin in Verlegenheit, Conrad. Wir sind gezwungen, einige Verbindlichkeiten zu begleichen, auf die ich nicht vorbereitet war, und ich besitze leider kein flüssiges Kapital.« Ich bemerkte, wie er die linke Augenbraue ein wenig hob, und fuhr rasch fort: »Es handelt sich um ein vorübergehendes Problem, Conrad. Ich habe unsere ganzen Ersparnisse in die neue Fabrik und die neuen Maschinen gesteckt, das wissen Sie am besten, und es wird ein paar Monate dauern, bis ich wieder flüssig bin. Unsere Umsätze sind in Ordnung. Aber für den Augenblick ...« Ich ließ den Satz unvollendet.

Die Sekretärin kam mit dem Tee und der Bankdirektor wartete, bis sie eingeschenkt hatte. Er nahm einen bedächtigen Schluck und musterte mich über die Tasse hinweg. Ich ahnte, was er sagen würde. »Sie brauchen einen Kredit, nicht wahr?« Er stellte die Tasse hin und rieb die Feuchtigkeit von seinem Schnurrbart. »Ich weiß von Ihren Verbindlichkeiten, Clara. Und ich habe vom unsteten Lebenswandel Ihres Bruders gehört. Die ganze Stadt weiß darüber Bescheid! Warum sollte ich Ihnen einen Kredit geben, wenn Ihr Bruder nichts Besseres zu tun hat als das Geld zu verspielen oder für seine ... seine Freundinnen auszugeben? Mir gehört diese Bank nicht, Clara. Ich muss alle Summen vor dem Aufsichtsrat verantworten und man würde mich fristlos entlassen, wenn ich den Leichtsinn begehen und Ihrer Firma einen größeren Kredit zur Verfügung stellen würde. Es geht nicht um Sie persönlich, Clara. Ihr Vater war einer meiner besten Freunde und ich habe ihm versprochen, Sie immer fair zu behandeln. Aber einen weiteren Kredit kann ich Ihnen nicht gewähren.« Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Tee. »Es tut mir Leid!«

Damit war eigentlich alles gesagt. »Ich verstehe Ihre Bedenken, Conrad.« Noch wollte ich nicht aufgeben. »Und ich weiß, wie leichtsinnig mein Bruder sich benommen hat. Ich habe ihm gestern ins Gewissen geredet und versichere Ihnen, dass so etwas nicht mehr geschehen wird. Ich werde mich persönlich um alle Zahlungen kümmern und dafür Sorge tragen, dass unsere Finanzen wieder in Ordnung kommen.« Ich hob meine Tasse und spürte, wie meine Hände zitterten. Auch meine Stimme klang nicht mehr so fest wie zu Beginn unserer Unterredung. »Aber ohne einen Überbrückungskredit kann ich den Schuldschein nicht bezahlen! Ich brauche nicht viel, Conrad. Und in einem halben Jahr bin ich wieder flüssig, spätestens in einem Jahr, wenn die neue Kollektion abgerechnet wird. Die neuen Modellkleider kommen gut an.«

»Das weiß ich, Clara«, meinte er mit einem schüchternen Lächeln. »Meine Frau hat sich die Kollektion angesehen und ist begeistert. Sie rechnet fest damit, dass ich ihr eines der Kleider zum Geburtstag schenke.« Er lehnte sich zurück. »Aber ich kann es nicht tun. Einen solchen Kredit könnte ich dem Aufsichtsrat gegenüber niemals verantworten. Man würde mich sofort von meinem Posten entheben! Sie wissen, dass ich Ihnen wohlgesonnen bin, Clara, aber das wäre unverantwortlich.«

»Wollen Sie denn, dass Isaac Levinsky die ganze Stadt übernimmt?«, fragte ich erregt. Ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass ein einziger Schuldschein unseren Ruin bedeuten sollte. »Wollen Sie, dass dieser Einwanderer unsere Geschäfte in den Bankrott treiben? Warum unterstützen Sie nicht die eingesessenen Firmen?«

»Weil auch unser Unternehmen auf Profit ausgerichtet ist«, antwortete er kühl. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Mir gefällt auch nicht, wie sich die Wirtschaftslage in dieser Stadt entwickelt, und mir steigen Tränen in die Augen, wenn ich mit ansehen muss, wie gute Freunde ihr Hab und Gut verlieren. Aber mir sind die Hände gebunden. Verzeihen Sie mir, Clara! Sie sind eine geschäftstüchtige Frau und schaffen es bestimmt, über diesen Engpass hinwegzukommen. Sie haben Zukunft, selbst wenn Sie die Firma verkaufen müssen. Sie sind stark. Trennen Sie sich von Ihrem Bruder! Fangen Sie von vorn an! Ich helfe Ihnen gern dabei, die Firma mit Profit zu veräußern, und dann finden wir sicher ein neues Projekt, das Ihnen zusagt und besseren Gewinn abwirft. Melden Sie sich bei mir, Clara! Wie gesagt, Ihr Vater zählte zu meinen besten Freunden und es täte mir unendlich weh, Sie in Schwierigkeiten zu sehen.« Er erhob sich, was wohl heißen sollte, dass unsere Unterhaltung beendet war, und verbeugte sich vor mir. »Tut mir Leid, dass ich Ihnen keine bessere Auskunft geben konnte, Miss Clara. Auf Wiedersehen.«

Seine Freundlichkeit war nicht geheuchelt und ich verabschiedete mich mit einem gequälten Lächeln. Auf der Treppe blieb ich ein paar Minuten stehen und rang nach Luft. Ich war traurig über den Verlust unserer Firma, der nicht mehr aufzuhalten war, und wütend auf meinen Bruder, der in seinem Leichtsinn alles verspielt hatte. Erst als ein Angestellter der Bank an mir vorbeiging und mich neugierig anstarrte, ging ich weiter. Ich ließ mich auf die Rückbank des Automobils fallen und sagte: »Nach Hause, David!«

Meine Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass ich ungestört bleiben wollte. Der Chauffeur ließ den Motor an und schwieg, während wir die Fifth Avenue hinauffuhren. Der Verkehrslärm schien lauter zu sein als auf der Hinfahrt und das Hupen der Automobile und das Klingeln der Pferdebahnen zerrten an meinen Nerven. »Ich hab's mir anders überlegt, David!«, rief ich nach einer Weile. »Bringen Sie mich zum Central Park!«

Er blickte mich verwundert an und blieb auf der Fifth Avenue, fuhr dem nördlichen Stadtrand entgegen. Der Central Park lag außerhalb von New York, in einer unbewohnten Gegend, die manche Leute als Wildnisbezeichneten, und hatte Schlagzeilen in der örtlichen Presse gemacht, weil es immer wieder zu Überfällen auf unbescholtene Bürger kam, die sich dort noch nach Einbruch der Dämmerung aufhielten. Mittags bestand kaum Gefahr und doch wäre es einer Dame niemals in den Sinn gekommen, dort allein spazieren zu gehen. Ein solches Verhalten hätte gegen die ungeschriebenen Gesetze der besseren Gesellschaft verstoßen, und dazu zählte ich, zumindest so lange, bis bekannt wurde, dass wir die Firma verkaufen mussten. Aber ich wollte allein sein, weit entfernt vom Trubel der Großstadt, die ich plötzlich als beengend empfand. Am liebsten hätte ich David aufgetragen, über die unbefestigten Straßen nach Westen zu fahren, ins Land der Cowboys und Indianer, das ich auf den Fotografien gesehen hatte, die im Museum ausgestellt waren. Dort war man wirklich frei.

Am südlichen Rand des Central Park hielt David den Wagen an. Er parkte im kniehohen Gras und half mir beim Aussteigen. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, Ma'am«, meinte er besorgt. »Wir sollten besser in die Stadt zurückfahren ...«

Ich hörte nicht auf ihn. »Sie warten hier!«, sagte ich entschlossen. Ich ließ ihn neben dem Automobil stehen und betrat den Park. Meine Reaktion auf die Abfuhr des Bankdirektors war unbesonnen und wenig damenhaft und ich verstand die Bedenken des Chauffeurs, der mir sorgenvoll nachblickte. Aber ich konnte nicht anders. Nichts machte mich wütender als einer Situation hilflos ausgeliefert zu sein. Ich musste irgendetwas Unüberlegtes tun, um wieder klar denken zu können. In der Abgeschiedenheit des Central Park würde ich die Scham und die Verlegenheit abstreifen, die ich im Büro des Bankdirektors empfunden hatte. Ich wollte wieder die Kontrolle über mein Handeln bekommen. Mit geballten Fäusten stapfte ich über den Schotterweg, der mit herbstlich gefärbten Blättern bedeckt war. Ich schimpfte auf den Bankdirektor und meinen Bruder und die ganze Welt.

Unterwegs begegnete ich einem jungen Liebespaar, wahrscheinlich einem verheirateten Mann und seiner Geliebten, und musste über ihre verlegenen Gesichter lachen. Auch sie verstießen gegen die Regeln der Gesellschaft. Ob die Reporter der Klatschblätter hinter den Bäumen lauerten und darauf warteten, dass sie die Herren der feinen Gesellschaft beim Ehebruch ertappten? Immerhin war ich nicht allein im Park. Ich ging schmunzelnd weiter und mir war wieder leichter ums Herz. Ich glaube, dass ich mir bereits in diesem Augenblick vornahm, New York zu verlassen. Zumindest schwor ich mir, den Verlust unserer Firma nicht kampflos hinzunehmen. Auch wenn kaum oder gar kein Geld übrig blieb, würde ich überleben und in eine bessere Zukunft gehen. Ich gehörte nicht zu den Firmenbesitzern, die sich nach einem Bankrott umbrachten.

Ich blieb am steilen Ufer eines künstlichen Sees stehen und blickte in das spiegelklare Wasser. Der Blick meiner dunklen Augen wirkte entschlossen, ganz anders als am frühen Morgen, als ich mein Aussehen vor dem Bankgebäude überprüft hatte. »Ihr werdet noch Augen machen!«, rief ich meinem Spiegelbild zu. »So leicht lässt sich eine Clara Wynn nicht unterkriegen!«

Der junge Landstreicher, der in diesem Augenblick zwischen den Bäumen hervortrat und mich mit einer Pistole bedrohte, hätte sich keinen ungünstigeren Zeitpunkt aussuchen können. »Hände hoch!«, rief er. Ich wirbelte herum und schlug ihm die Waffe mit der Handtasche aus der Händen. »Was fällt Ihnen ein?«, fuhr ich den Jungen an. »Wie kommen Sie dazu, eine Dame zu bedrohen? Haben Sie keinen Anstand im Leib?«

Der Junge war so verstört, dass er zu keiner Erwiderung fähig war. Er starrte mich an und bewegte stumm seine Lippen. Ich nützte die Gelegenheit, hob die Pistole auf und warf sie in den See. »Sie sollten sich schämen, Sie ungezogener Kerl!« Ich war immer noch so wütend, dass ich keine Angst verspürte. Erst später sollte ich darüber nachdenken, welches Risiko ich in diesem Augenblick eingegangen war. Meine Entschlossenheit, es der ganzen Welt heimzuzahlen, wischte alle Bedenken beiseite und trieb den jungen Mann zurück. Er machte einen verwirrten Eindruck und wirkte beinahe hilflos. Eine elegant gekleidete Dame, die weder hysterisch zu schreien begann noch in Ohnmacht fiel, sondern sich tatkräftig zur Wehr setzte, hatte er noch nicht erlebt.

»Sorry, Ma'am!«, erwiderte er unsicher. »Ich wollte Sie nicht erschrecken!« Er merkte gar nicht, wie albern seine Worte klangen. »Ich wollte nur ein paar Dollar. Ich hab verdammten ... Ich meine, ich hab ziemlich großen Hunger und ich geh jede Wette ein, so 'ne reiche Dame wie Sie würde gar nicht merken, wenn ich ihr ein paar Dollar wegnehme. Oder seh ich das falsch, Ma'am?«

»Wie heißen Sie?«, fragte ich. Der junge Mann hatte meine Neugier geweckt und ich muss zugeben, dass er mir gut gefiel. Er war ungefähr so alt wie ich, und wenn man ihm den Schmutz vom Gesicht wusch und neue Kleider anzog, kam sicher ein hübscher Junge zum Vorschein. Er blickte mich aus grünen Augen an, die wie bei einer Katze leuchteten. Erst als er seine Schiebermütze vom Kopf nahm und seine roten Haare zum Vorschein kamen, erkannte ich, dass er aus der alten Heimat kam.

»Patrick O'Riley«, antwortete er. Irischer konnte ein Name nicht sein, und da auch meine Vorfahren von der Grünen Insel kamen, verrauchte meine Wut. Ich glaube, ich lächelte sogar. »Die Leute im Park nennen mich Pat, aber ich möchte, dass Sie Patrick sagen. Das hat meine Mutter auch getan.« Er streckte mir die Hand wie ein Bierkutscher hin und ich griff danach und sagte: »Ich heiße Clara Wynn.« Dann fragte ich: »Leben Sie hier im Park? Gehören Sie zu den Schurken, die unschuldige Passanten überfallen?«, und zog die Hand zurück, die er noch immer umklammert hielt.

»Irgendwie muss ich über die Runden kommen«, antwortete er. »Ich hab keine reichen Eltern, die mir alles in den Hintern stecken.« Er wurde rot. »Sorry, ich wollte Sie nicht beleidigen, aber ich leb schon 'ne ganze Weile im Park und bin's nicht gewohnt, mit einer Dame zu sprechen.« Er hatte sich von seinem Schrecken erholt und lächelte wieder. Ein Lächeln, das unschuldig war und mich sehr berührte. »Sie hauen ganz schön zu, Ma'am! Woher wussten Sie, dass ich Sie nicht erschieße? Hatten Sie keine Angst vor mir?«

»Clara«, verbesserte ich, »ich bin keine Ma'am. Ich heiße Clara.« Ich hatte das Gefühl, dass mir der junge Mann schon mein ganzes Leben lang vertraut war. Es musste an seinen grünen Augen liegen. »Ich war wütend«, räumte ich ein. Ich erzählte ihm von dem drohenden Bankrott, war froh, irgendeinem Menschen mein Herz ausschütten zu können, auch wenn er ein Fremder war, und sagte: »Wer weiß? Vielleicht bin ich in ein paar Tagen genauso arm wie Sie! Die Bank will mir keinen Kredit mehr geben.«

Wir gingen nebeneinander zum Waldrand zurück und ich war versucht, nach seiner Hand zu greifen, hielt mich aber zurück. »Meine Eltern sind auf der Überfahrt gestorben. Vor 'nem halben Jahr. Ich hab in einer Konservenfabrik gearbeitet, hab Pfirsiche in Dosen gefüllt, aber dieser Mistkerl von einem Vorarbeiter konnte Iren nicht leiden und hing mir einen Diebstahl an. Als er auf die Straße lief und nach der Polizei rief, bin ich abgehauen. Eine verdammte Stadt, dieses New York. Sorry. Hab ich mir ganz anders vorgestellt, Amerika. Am liebsten würde ich mit dem nächsten Dampfer zum Klondike abhauen ...«

»Klondike? Ist das ein Land?«

»Ein Fluss«, erklärte er. Wir unterhielten uns wie gute Freunde und ich dachte gar nicht mehr daran, dass er mich vor wenigen Minuten mit einer Pistole bedroht hatte. Erst auf der Rückfahrt wurde mir klar, wie seltsam unsere Begegnung gewesen war. »Irgendwo an der Grenze zwischen Alaska und Kanada. Dort haben sie eine riesige Goldader gefunden! Gold, verstehen Sie? So viel Gold, dass die ganze Welt davon leben könnte! Aber ohne Geld kommst du nicht hin. Die Fahrt kostet über tausend Dollar!«

Ich erinnerte mich daran, in der New York Times über die Goldfunde gelesen zu haben, und winkte ab. »Die Meldungen sind sicher maßlos übertrieben! Wahrscheinlich ist die Ader längst ausgebeutet!« Aber der Gedanke, New York zu verlassen und in einem fremden Land ein neues Glück zu suchen, war verlockend. Das musste ich zugeben. Ich blickte den jungen Mann an und ließ mich von seiner Energie anstecken, verspürte plötzlich die Sehnsucht, mit ihm durchzubrennen und alles hinter mir zu lassen – die Fabriken, das Haus, meinen Bruder, einfach alles.

Wir hatten das Ende des Parks erreicht und blieben stehen. Ich kramte in meiner Handtasche und drückte ihm ein paar Münzen in die Hand. »Hier«, sagte ich, »mehr Geld habe ich nicht bei mir.«

»Das kann ich nicht annehmen.«

»Unsinn! Es ist ein Geschenk!«

»Meinetwegen.« Er verstaute die Münzen in seiner Hosentasche und drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Wissen Sie, was?«, fragte er grinsend. »Die Pistole war gar nicht geladen!« Er verschwand wie ein Blitz zwischen den Bäumen und ich blieb verdutzt stehen und berührte die feuchte Stelle auf meiner Haut.

3

Während der nächsten Tage musste ich oft an Patrick denken. Ich dachte an ihn, wenn ich nachts in meinem Bett lag und nicht schlafen konnte, und sein fröhliches Lachen kam mir in den Sinn, wenn ich mit Jonathan in der Kutsche saß und zur Fabrik fuhr. Der irische Junge mit dem feuerroten Haar hatte es mir angetan. Nicht nur, weil er aus der alten Heimat kam, die auch mir viel bedeutete, obwohl ich sie nur aus Erzählungen kannte. Seine unbekümmerte Art hatte mich bezaubert. Und das Leuchten in seinen grünen Augen, das ein Gefühl in mir weckte, das ich bisher nicht gekannt hatte. Mir lief ein angenehmer Schauer über den Rücken, wenn ich die Augen schloss und an Patrick dachte, und manchmal war ich so in meinen Traum versunken, dass ich sitzen blieb, wenn die Kutsche hielt und Jonathan mir beim Aussteigen helfen wollte.

Der Buchhalter deutete mein seltsames Verhalten natürlich anders und sagte: »Sie müssen jetzt sehr stark sein, Miss Clara! Es besteht immer noch die Chance, dass wir die Firma mit Gewinn verkaufen.«

Ich öffnete die Augen und zwang mich zu einem Lächeln. »Ich weiß, Jonathan, und ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich so für mich einsetzen. Ich werde mich erkenntlich zeigen, das verspreche ich Ihnen.« Ich blieb vor der Kutsche stehen und blickte auf das Fabrikgebäude, das in der Nähe des Hafens lag und von leichten Nebelschwaden umgeben war. Eine flackernde Lampe leuchtete vor dem Eingang. Es war kein besonders schönes Gebäude, aber der Name meines Vaters, der über der Doppeltür zu lesen war, hatte immer noch einen guten Klang und stand für ein Unternehmen, das bis zur Ankunft der vielen Einwanderer steigende Umsätze verzeichnet hatte. »Ich bin froh, dass mein Vater nicht mehr miterlebt, wie es um unsere Firma steht.«

»Die Fabrik war sein Leben. Er hatte seinen Traum verwirklicht.« Jonathan seufzte. »Ich mache mir Vorwürfe, weil ich nicht besser auf die finanzielle Entwicklung geachtet habe. Ich hätte wissen müssen, dass wir in Schwierigkeiten kommen. Ich habe erlebt, wie Ihr Bruder seine Geschäfte handhabte. Wenn er eine Dame umwarb oder zum Pferderennen ging, musste man mit allem rechnen. Ich hätte eindringlicher auf ihn einwirken sollen!«

Ich schüttelte den Kopf. »Robert hätte nicht auf Sie gehört. Er hört auf niemanden, nicht mal auf mich. Er lebt in einer anderen Welt. Er hat kein Verantwortungsgefühl.« Ich berührte die Schulter des Buchhalters. »Sie trifft keine Schuld, Jonathan.«

Er öffnete die Tür und wir betraten den Fabrikraum. Das vertraute Rattern der Nähmaschinen und die neugierigen Blicke der Arbeiterinnen begleitete uns ins Büro. Ich war immer wieder in der Firma erschienen, aber seitdem ich von dem Schuldschein erfahren hatte, war ich jeden Morgen gekommen. Ich wollte unserem Buchhalter helfen, einen sauberen Abschluss zu finden, bevor die Fabrik an einen anderen Besitzer überging. Die Belegschaft spürte natürlich, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, aber ich zögerte, die Gerüchte über einen bevorstehenden Verkauf zu bestätigen, und schämte mich dafür.

Mein Bruder hatte sich seit unserer Begegnung in Harlem nicht mehr blicken lassen. Das war nichts Besonderes. Er blieb öfter mal verschwunden, zog mit seinen Freunden durch die einschlägigen Lokale, spielte Karten oder schloss Wetten ab und stellte irgendwelchen Damen nach. Einmal hatte er zwei Monate bei einer zweifelhaften Lady gewohnt, bevor deren Mann zurückgekehrt war und ihn hinausgeworfen hatte. Er konnte von Glück sagen, dass der Mann ihn nicht zum Duell gefordert hatte. Ein anderes Mal hatte er sich im Landhaus einer Gutsbesitzerin versteckt und mit der reichen Dame und ihrer Küchengehilfin ein Verhältnis gehabt. Der Koch, der selber an dem Küchenmädchen interessiert war, hatte ihn mit der Suppenkelle verfolgt und war dabei in den Fluss gefallen, an dem das Landhaus lag. So war das mit meinem Bruder. Das Glück war sein bester Freund und er war dem Schlimmsten immer noch entkommen. Bis zu jenem Tag, als er einen Schuldschein von Isaac Levinsky ausgefüllt hatte.

Auf sein Versprechen, die russische Prinzessin zu heiraten und mir die halbe Welt zu Füßen zu legen, gab ich nicht viel. Ich hatte mich umgehört und erfahren, dass Olga Danilow einen ebenso zweifelhaften Ruf wie mein Bruder genoss und dafür bekannt war, gut aussehenden Männern den Kopf zu verdrehen. Sie gehörte nicht zu den naiven Einwanderinnen, die sich von dem erstbesten Amerikaner betören ließen und alles glaubten, was man ihnen sagte. Sie hatte ihren eigenen Kopf und würde sich bestimmt nicht ausnehmen lassen. Diesmal würde Robert der Leidtragende sein. Er konnte von Glück sagen, wenn er unbeschadet aus dieser Verbindung herauskam. Ich hatte gehört, dass Olgas ungleiche Brüder eifersüchtig über jede Bewegung ihrer Schwester wachten. Sie machte sich einen Spaß daraus, ihnen zu entwischen, aber lange würden sich die beiden Männer nicht an der Nase herumführen lassen. Wenn sie herausbekamen, dass ihre Schwester von einem leichtsinnigen Spieler und Taugenichts umworben wurde, gab es sicher Ärger.

Meine bösen Ahnungen wurden bestätigt, als ich die New York World aufschlug und einen kurzen Artikel über eine Gesellschaft fand, die ein russischer Unternehmer in seiner Villa in Harlem gegeben hatte. ... erschien Olga Danilow in der Begleitung ihrer beiden Brüder, die erkennen ließen, dass es einen aussichtsreichen Bewerber für eine baldige Hochzeit mit ihrer Schwester gab ... Ich brauchte keine Wahrsagerin zu sein, um herauszufinden, dass sie nicht meinen Bruder meinten. Nachdenklich ließ ich die Zeitung sinken. Zum wiederholten Male wurde mir bewusst, dass es keine Hoffnung mehr für unsere Firma gab und ich nur auf das Verhandlungsgeschick unseres Buchhalters hoffen konnte. Nur wenn er die Fabriken Gewinn bringend verkaufte, konnte es eine aussichtsreiche Zukunft für mich geben.

Ich blätterte weiter und stieß auf einen Artikel über den Goldrausch am Klondike. Unter der Überschrift: Ho! For the Klondike! wurde über die vielen Abenteurer berichtet, die ihre Arbeit und manchmal sogar ihre Familien im Stich ließen, um in der Ferne ihr großes Glück zu machen. Die meisten Goldsucher schifften sich auf einem Dampfer oder einem Segelschiff ein und gingen das Wagnis einer zwanzigtausend Meilen langen Reise um Kap Hoorn ein. In weitschweifigen Worten wurden die tosenden Stürme beschrieben, die um diese Zeit an der Südspitze von Südamerika tobten und den Kapitänen das Leben schwer machten. Ich las über die tausend Gefahren, die auf die Glückssucher warteten, und konnte zu dieser Zeit nicht ahnen, dass ich schon zwei Wochen später zu den tollkühnen Männern und Frauen gehören würde, die dieses Wagnis eingingen. Sogar aus dem fernen Europa waren Schiffe unterwegs. Voller Ernst wurde über zwei Frauen aus Boston berichtet, die auf Fahrrädern unterwegs waren und den fernen Klondike auf dem Landweg erreichen wollten. Ein Geschäftsmann aus Schottland wollte die endlosen Landschaften im Westen in einem Ballon überqueren.

Den Start des kühnsten Unternehmens erlebte ich persönlich mit. Jonathan hatte mir vorgeschlagen, beim Start dieses Unternehmens dabei zu sein, ohne zu wissen, was er damit in Bewegung setzte. Seit Patrick O'Rileys beiläufiger Bemerkung, er würde vielleicht zum Klondike reisen, hatte ich immer wieder darüber nachgedacht, ob das auch für mich ein Weg sein könnte, ein neues Leben zu beginnen. Mein Herz klopfte vor Aufregung bei dem Anblick des stattlichen Dampfschiffes, das majestätisch im Hafen lag und dessen Schornsteine mit vierblättrigen Kleeblättern verziert waren. Hannah S. Gould, eine unternehmungslustige Krankenschwester, hatte einige wohlhabende Männer dazu gebracht, in ein Unternehmen zu investieren, das selbst in der aufregenden Geschichte des großen Goldrausches einmalig war. Ihr Women's Clondyke Express bestand aus fünfhundert Frauen, die zum Klondike fahren und dort eine Stadt für gottesfürchtige Menschen aufbauen wollten. Ein wahnwitziges Unternehmen, wie mir einige Monate später klar wurde, als ich in Skagway an Land ging.

»... und wir werden die Zivilisation in dieses wilde Land bringen!«, hörte ich Hannah S. Gould sagen. Sie stand auf der Landungsbrücke, die schulterlangen Locken mühsam gebändigt und von einer Kapitänsmütze bedeckt, die sie zum Abschied erhalten hatte. Ihr Blick war freudig entschlossen und ihre rechte Hand hielt ein Champagnerglas. »Mitten in der Wildnis werden wir eine Stadt für alle aufrechten Bürger errichten, mit einer Kirche, einer Bücherei und einer Schule!« Sie prostete den vielen Menschen im Hafen zu. »Ich trinke auf die City of Columbia, die uns nach Alaska bringen wird, und ich proste den tapferen Frauen zu, die mich auf dieser Reise begleiten! Ho for the Klondike!«

»Ho for the Klondike!«, jubelte die Menge.

Hannah S. Gould warf ihr leeres Glas gegen den Schiffsrumpf und ging in einem Konfettiregen an Bord. Eine Blaskapelle spielte, als der Dampfer aus dem Hafen fuhr. Die grünen Kleeblätter auf den Schornsteinen leuchteten in der Sonne. Ich blieb stehen, bis das Schiff nur noch als winziger Punkt in der Ferne zu sehen war, und stieg erst in das Automobil, als ein Polizist kam und meinen Chauffeur bat, den Hafen zu verlassen. Ich bewunderte Mrs Gould. Obwohl sie verwitwet und schon an die sechzig war, wie ich aus der Zeitung erfuhr, war sie in eine ungewisse Zukunft gefahren. Sie hatte ihre ganzen Ersparnisse in das Unternehmen gesteckt, ihre Verwandten und Freunde zurückgelassen und war fest entschlossen, ein neues Leben zu beginnen. »Diese Mrs Gould ist eine mutige Frau«, sagte ich.

»Sie ist verrückt«, erwiderte David amüsiert.

An diesem Abend kam mir unser Haus seltsam klein vor. Ich ließ mir Tee bringen und zog mich in mein Zimmer zurück, las in einem Buch von Jules Verne, das von fantastischen Abenteuern in fremden Welten erzählte. Die Erfindungsgabe des Autors faszinierte mich. Würden seine Visionen sich jemals erfüllen? Würde es jemals ein bemanntes Unterseeboot geben, das bis auf den Meeresgrund vorstoßen konnte? Würden die Menschen ein Flugobjekt bauen, das in den Weltraum fliegen konnte? Ich dachte an Hannah S. Gould und die fünfhundert Frauen, die mit der City of Columbia zum Klondike fuhren, und musste lachen. Für die meisten Menschen war diese abenteuerliche Reise genauso utopisch wie ein Flug zum Mond. Und das ferne Alaska war ihnen genauso fremd wie ein anderer Planet.