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Letztlich kommt jeder irgendwo an.

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Gustav Feichtinger

© 2017 Gustav Feichtinger

Autor: Gustav Feichtinger

Umschlaggestaltung, Illustration: Gustav Feichtinger

Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel GmbH

ISBN: 978-3-99057-897-1 (Paperback)

ISBN: 978-3-99057-898-8 (Hardcover)

ISBN: 978-3-99057-899-5 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

Der Auswanderer

Bomben auf Dutch Harbor

Das traurige Paradies

Der Schwanz des Himmels

Die trüben Tage im Mai

Más a Tierra

Prolog

Ankunft

Calderón erzählt

Zum Mirador del Selkirk

Selkirk und seine Insel

San Juan de Bautista und Puerto Ingles

Puerto Francés

Der Untergang der Dresden

Nan Madol

Aranui

Tahiti

Nuku Hiva

Christiane und Paul

Hiva Oa

Fatu Hiva

Abschied von den Marquesas

Die Englein, die singen so scheen …

Auf der Nikolai

Maximicha

Turka

Die zehn Plagen Kamtschatkas

Petropavlovsk-Kamtschtski

Teil 1: Nach Norden

Auf der ‚Autobahn‘

Zum höchsten Vulkan Eurasiens

Im Regen

Teil 2: Die Expedition in den Süden

Ein Abenteuer mit Grizzly-Bären

Der Einsiedler von Banaja

Vasilievs Erzählung

Mein zweiter Geburtstag

Zwei weitere Plagen Kamtschatkas

Die Überquerung der Karymtschina

Zum Vulkan Goreli

Wieder in Petropavlovsk

Gespinste im Wind

„ … and lingered until … “

Damals

Mond über Stockholm

Schluss

Am Wibbelsberg

Warum weinst Du, holde Gärtnersfrau?

VORWORT

In Hermann Hesses feinfühligem Gedicht ‚Stufen‘ offenbart sich das menschliche Leben als Abfolge von Aufbrüchen und Ankünften.

Die folgenden Geschichten habe ich selbst erlebt – mit einer Ausnahme. Aber auch die dort geschilderten Geschehnisse haben – wenn auch unter geänderten Vorzeichen – stattgefunden.

Die erste und die letzte Erzählung stecken das Umfeld ab, aus dem ich stamme. Fünf der Episoden handeln in der Südsee. Sie rücken das Klischee vom Paradies auf Erden ins rechte Licht. Das Titelbild des Buches stammt von einer Wanderung quer über die beeindruckende Juan Fernández-Insel. Drei der Geschichten spielen in wilden Regionen des östlichen Russlands sowie in Alaska, vier in mehr zivilisierten Gegenden Europas.

Ich widme dieses Buch meinen Reisegefährten und all den Personen, die ich auf meinen Fahrten und Wanderungen getroffen habe. Viele habe ich aus den Augen verloren; manche sind nicht mehr am Leben. Aber das ist der Lauf der Dinge, auf den wir nur unerheblichen Einfluss nehmen können.

----------- Wiener Neustadt, im Herbst 2015 -----------

DANKSAGUNG

Beim Korrekturlesen und beim Umbruch haben mich Bernie Rengs und Maria Toda tatkräftig unterstützt. Die Zusammenarbeit mit Lisa Wapp vom myMorawa-Verlag war stets ersprießlich. Allen drei Personen sei dafür an dieser Stelle herzlich gedankt.

----------- Wien, im November 2017 -----------

DER AUSWANDERER

Der Sohn kam zu seinem Vater.

Nur einen Tag vor seinem Tod war der Mann noch von seinem Sohn im Pflegeheim besucht worden. Er war gekommen, um sich beim diensthabenden Arzt nach dem Zustand seines Vaters zu erkundigen. „Nicht gut, der Patient will nichts essen und – was schlimmer ist – auch nichts trinken”, erklärte der Doktor. „Wir müssen die Dehydrierung in den Griff bekommen, sonst wird die Situation kritisch. Bestehen sie darauf, dass er seinen Tee trinkt.”

Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es dem Sohn, seinem Vater ein paar Schlucke lauwarmen Tees einzuflößen. Das Unternehmen, den Mann mit Müsli zu füttern, scheiterte, da dieser den Mund nicht öffnete. Erst als er seinem Vater einige Fragen stellte und dieser daraufhin den Mund zur Antwort öffnete, gelang es ihm, einige Löffel in seinem Mund unterzubringen. Bevor der Mann den Brei wieder ausspuckte, schmierte ihm sein Sohn mit dem Fingern die Masse auf den Gaumen, sodass der Vater gezwungen war, das Müsli zu schlucken.

Mit Ausnahme zweier Weisheitszähne besaß der Vater trotz seiner vierundneunzig Jahre ein vollständiges, gut erhaltenes Gebiss. Die Schwester hatte es ihm zur Nachtruhe herausnehmen wollen und war verblüfft, dass die Zähne alle echt waren.

Als der Mann die Fütterung für beendet erklärte, hatte der Sohn Zeit ihn genauer zu betrachten. Sein Vater, der immer kräftig war, später sogar korpulent geworden war, hatte in den letzten Monaten stark abgenommen. Was dem Sohn mehr Sorgen bereitete, war dessen gehetzter Blick. Diesen ängstlichen Ausdruck hatte er damals bei seinem Großvater mütterlicherseits gesehen, der dann kurz danach an Lungenkrebs gestorben war. Aber sein Vater hatte keinen Krebs, er litt ‚nur‘ an Divertikeln im Darm und an allgemeiner Schwäche.

*

Als der Sohn das am Stadtrand liegende Heim verließ, flirrte die Hitze über der Ebene. Die Sonne brannte gnadenlos auf die bereits abgeernteten Getreidefelder. Auf der Rückfahrt in die Hauptstadt dachte er an das lange Leben des Vaters zurück, welches in zwei ungewöhnlich verschiedenen Hälften verlief.

Der Vater wurde kurz vor der Jahrhundertwende im südöstlichen Niederösterreich geboren, und hatte nach Besuch der Bürgerschule eine Tischlerlehre begonnen. Die Gärtnerei hatte ihn schon damals mehr interessiert, aber der Großvater entschied anders.

Mit siebzehn Jahren meldete er sich freiwillig zum Militär und lernte zunächst die Ostfront in Galizien kennen. Im Stellungskrieg in den Karnischen Alpen erlitt er dann einen Lungensteckschuss. Er erzählte oft, dass er erst nach zwei Wochen in einem Hospital in der Nähe von Prag wieder das Bewusstsein erlangt hatte. Das Projektil konnte nicht entfernt werden und blieb bis an sein Lebensende am Röntgenschirm sichtbar. Zwar erholte er sich allmählich von der schweren Verwundung, aber er verlor drastisch an Gewicht und wurde lungenkrank. Der Arzt im Bezirkskrankenhaus gab dem Patienten nur noch ein paar Monate und schlug einen Ortswechsel als einzigen Ausweg vor. Ihm seien weltweit nur zwei Regionen bekannt, in denen sich eine derart angegriffene Lunge erholen könne. Es bedurfte eines trockenen Wüstenklimas in Kombination mit salziger Luft, am besten in etwa eintausend Metern Seehöhe. Die eine Gegend sei die algerisch/tunesische Wüste mit ihren Salzseen. Die andere befände sich im Nordwesten von Argentinien, in den Salinas der Provinzen Salta und Jujuy.

So entschloss sich der Vater auszuwandern. Neben dem medizinischen Zwang spielte dabei wohl auch ein gerütteltes Maß an Abenteuerlust eine Rolle. Dies schien ihm im Blut zu liegen, und wurde durch die Lektüre einschlägiger Literatur noch gefördert. Buffalo-Bill, Karl May, Jules Verne, Friedrich Gerstäcker – all das hatte Vater schon als Kind und dann als Jugendlicher verschlungen. Und wenn es schon in die Fremde gehen sollte, dann gleich nach Amerika.

Bevor wir uns auf die Spuren des Auswanderers nach Südamerika heften, seien zwei Ereignisse erwähnt, über die der Vater häufig erzählt hatte.

Als er nämlich aus dem Krieg mit einer Tapferkeitsmedaille zurückgekehrt war, hängte er diese dem Dackel um. Er, der freiwillig eingerückt war, hatte mehr als genug vom Kampf und Blutvergießen. Als der Großvater – nach wie vor den Habsburgern in Treue verbunden – dies bemerkte, habe er diesen das einzige Mal weinen sehen, so enttäuscht war er von seinem Sohn.

Und dann war noch die Sache mit der Gendarmerie. Aufgrund seines Lungendefekts war eine Rückkehr in den Tischlerberuf ausgeschlossen. Der Staub, den die damals aufkommenden Maschinen verursachten, wäre tödlich für ihn gewesen. So meldete er sich zur Gendarmerie. Als aber im Zusammenhang mit der Angliederung west-ungarischer Gebiete an Österreich Unruhen ausbrachen und er mit dem Maschinengewehr Freischärler bekämpfen sollte, schoss er über deren Köpfe hinweg. Da dem Offizier dies nicht verborgen blieb, war er bereits am nächsten Tag entlassen.

*

Trotz der Unterstützung durch seinen Vater und jene des Bezirksarztes dauerte es einige Zeit, bis alle Papiere beisammen waren, die zur Auswanderung benötigt wurden. Im Herbst des Jahres 1920 reiste er zuerst mit der Bahn nach Bremen und schiffte sich dort auf der ≪Guyaba≫ ein.

Brasilien hatte sich im ersten Weltkrieg relativ spät auf die Seite der Entente geschlagen und danach das Schiff ≪Kronprinzessin Cecilie≫ als Reparationsleistung seitens Deutschlands erhalten. Umgetauft in Guyaba diente sie als erstes Auswandererschiff. Die brasilianische Regierung hatte Auswanderungswillige freie Passagen angeboten, um sie in ihr Land zu locken.

Die Verhältnisse auf dem Schiff müssen entsetzlich gewesen sein. Schlafsäle mit hunderten Betten auf engem Raum, katastrophale sanitäre Verhältnisse, sowie unzureichende Nahrung machten die Fahrt zum Höllentrip. Jeden Tag gab es eine dünne Suppe mit eingepökeltem Hering, schimmeliges Brot, aber keinerlei Gemüse. So war es kein Wunder, dass nahezu jeden Tag Passagiere starben, die ersten schon während der Fahrt durch den Kanal zwischen England und Frankreich.

Hätte der Vater in Madeira nicht einen großen Vorrat an Orangen und Bananen erworben – er hätte die Reise wohl nicht überlebt.

Andererseits war die Fahrt interessant und keineswegs langweilig. Schon im wegen seines Wetters berüchtigten Golf von Biscaya erwischte sie der erste Sturm. Der Auswanderer sah alte Seeleute kotzen – er selbst erwies sich hingegen als seefest. Als die Berge Madeiras auftauchten, später dann die Kapverden, da verdichteten sich all diese Eindrücke zu einem besonderen Erlebnis.

Die gesamte Reise dauerte mehr als zwei Monate! Der Dampfer hatte noch in Holland und Frankreich eine Reihe von Häfen abgeklappert, wo das Zusteigen neuer Auswanderer Zeit beanspruchte. Im offenen Atlantik wurde Maschinenschaden gemeldet, sodass die Guyaba mehrere Tage ohne Fahrt zu machen herumschaukelte. Zum Glück war da das Wetter ruhig; Manövrierunfähigkeit bei hohem Seegang hätte auch schlecht ausgehen können.

Nach gezählten neunundsechzig Tagen (und Nächten im Elendsquartier) tauchte schließlich die wundersame Silhouette von Rio de Janeiro auf: Zuckerhut, Corcovado, Copacabana und dann die Guanabara-Bucht, groß genug, um allen Schiffen der Welt Platz zu bieten. Bei ihrer Entdeckung durch die Portugiesen Anfang des 16. Jahrhunderts, hatte man die Bay für eine Flussmündung gehalten – deshalb der Name, Fluss des Jänners.

Die Kontrollen der brasilianischen Einwanderungsbehörden erwiesen sich als streng und penibel. Passagiere, die nicht den Gesundheitsvorschriften entsprachen, wurden gleich wieder mit der Guyaba zurückgeschickt, die bald zur Abholung des nächsten Emigrantenschubes aufbrach. Dem Auswanderer aus Niederösterreich, der durch die mangelhafte Ernährung stark abgemagert war, wurde Lungenkrankheit attestiert. Er wurde auf die Quarantänestation der ‚Ilha dos Flores1‘, inmitten der Guanabara Bay geschickt, wo er ein paar Wochen bleiben sollte, ständig bedroht vom Damoklesschwert der Ausweisung.

Doch auf der Blumeninsel wendete sich dann das Schicksal endlich zum Besseren. Eine lange Phase ‚saturnischer Hemmung‘ und ‚uranidischen Unglücks‘ machte einer günstigeren Bestrahlung Platz. So hatte es Aurelia, die ältere Schwester des Auswanderers formuliert, die in ihrem Beruf als Hebamme auf Horoskope spezialisiert war.

Der Auswanderer war immer schon ein ausgezeichneter Schwimmer gewesen. Da er auf der Quarantänestation nichts zu tun hatte – außer Portugiesisch zu büffeln – schwamm er ans Festland. Dort lernte er einen Portugiesen kennen, der ihm Arbeit verschaffte. Bei der Vorbereitung der Weltausstellung in Rio wurden tüchtige Handwerker gesucht, auch Zimmerleute. Und als die Arbeitserlaubnis vorlag, wurde auch die Quarantäne aufgehoben. Wieviel er dafür geschmiert hatte, entzieht sich der Überlieferung.

Nun hatte der Auswanderer einen gut bezahlten Job, bei dem er auch dazulernte. Moderne Maschinen der Holzverarbeitung, aus den USA kommend und in Europa damals noch unbekannt, interessierten ihn sehr.

Nach der Weltausstellung heuerte er als Einkäufer bei einer großen Firma für Edelhölzer an. Auf diese Weise bekam er Teile des Landesinneren zu Sehen. In besonderer Erinnerung sind dem Sohn die Erzählungen über dessen Amazonasfahrten mit Caboclos2 geblieben. Mit letzteren musste er üble Erfahrungen gemacht haben, denn er bezeichnete sie als größtes Gesindel auf Gottes Erdboden.

Auf einer der Reisen, es mag zwischen Manaos und Iquitos gewesen sein, erkrankte er und bekam hohes Fieber. Nach einem schweren Anfall wachte er in einem Hospital auf, das einem Frauenkloster angeschlossen war. Von der Pflege, die ihm von den dortigen Nonnen zuteilwurde, hat er später immer wieder in höchsten Tönen geschwärmt.

In Rio stellte sich dann heraus, dass der Auswanderer jene schwere Form von Malaria erwischt hatte, deren Keime man nie wieder loswird.

Danach verließ er die tropischen Regionen in Richtung Argentinien. Das Land erlebte damals einen Wirtschafts- und Bauboom. In Buenos Aires arbeitete er als Bautischler. Seine Aufgabe bestand in der Anfertigung von Rundschalungen für Fabrikschornsteine. In siebzig Meter Höhe auf schmalen Ziegelmauern zu balancieren, ist nicht jedermanns Sache. Aber dem Auswanderer kamen seine Schwindelfreiheit und seine Erfahrung als Kletterer zugute. Auf der Hohen Wand und am Schneeberg, später dann im Gesäuse hatte er sich in dieser Sportart talentiert gezeigt und dies nun beruflich umgesetzt.

Lange blieb er nicht Porteño3. Bei einer Demonstration wurde er von berittenen Polizisten zusammengeschlagen. Darüber sowie über seine Bekanntschaften mit Frauen in der argentinischen Hauptstadt, hat er kaum je etwas erzählt.

Über Cordoba kam er in die Provinz Salta. Endlich war er in jenen Wüstenregionen mit Salzseen angelangt, die seiner lädierten Lunge gut tun sollten. Mittlerweile war der Auswanderer aber wieder gesund und munter. Da er nun einmal dort war, begann er die Gegend zu erforschen. Gemeinsam mit seinem Bruder Anton, der mittlerweile nachgekommen war, unternahm er weite Ritte in die Berge, von deren Schönheit er später oft schwärmte.

Bei einem dieser Ausritte wurde er von einer Klapperschlange in den Unterarm gebissen. Obwohl er die Wunde mit einem Kreuzschnitt sofort aufschnitt und ausbluten ließ, schwoll der Arm ballonartig an, wurde blauschwarz, und er bekam hohes Fieber. Wäre ihm nicht vom Besitzer eines nahegelegenen Hotels ein Serum injiziert worden, hätte er wohl schon damals das Zeitliche gesegnet.

Ein anderes Abenteuer ging für einen seiner Freunde aus Bayern schlecht aus. Dieser hatte betrunken in einer Bar in die Luft geschossen, worauf ihm ein Mestize mit der Machete die Hand abhieb. Der Deutsche starb an Blutvergiftung, und dem Auswanderer blieb die unangenehme Aufgabe, der Familie des Freundes die Nachricht samt dessen Nachlass zu überbringen. Er tat es anlässlich einer der insgesamt drei Heimreisen nach Europa.

*

In der Heimat wurde er begeistert empfangen. Der ‚Americano‘ hatte Geld und gab es auch aus. Er wurde als etwas Besonderes herumgereicht und da er noch Junggeselle war, galt er allgemein als gute Partie. Im Jahre 1929 überwiesen die beiden Brüder einen namhaften Betrag an ihren Vater, sodass dieser ein mehrere tausend Quadratmeter großes Grundstück für ihn und Bruder Toni kaufen konnte.

Ende der Zwanzigerjahre, als die Vorboten der Wirtschaftskrise auch Lateinamerika erreichten, verdingte sich der Auswanderer als Schiffszimmermann. Dreimal hatte er die Magellan-Straße befahren, Feuerland und Kap Horn gesehen. Von einem Segelschiff, der ≪Beagle Stock≫, ist er in Punta Arenas abgehauen, unter Zurücklassung seiner ‚Fleppen4 ‘. Die Behandlung durch die norwegischen Vorgesetzten, deren homosexuelle Anwandlungen und das schlechte Essen wären dafür ausschlaggebend gewesen.

Während die meisten dieser Fahrten entlang der südamerikanischen Küsten führte – er kam auch nach Valdivia, Valparaíso, Callao und Guayaquil – brachte ihn eine einmal auch über Kapstadt die afrikanische Ostküste und den Suezkanal nach Europa. Er scheint ein geschickter Zimmermann gewesen zu sein, der sich in der Freizeit auch mit Modelltischlern beschäftigt hat.

Es gäbe noch einiges zu berichten über den mehr als zehnjährigen Aufenthalt des Auswanderers in Südamerika. Etwa von der Zugentgleisung in den argentinischen Anden, die er in einem Lastzug mitgemacht hatte. In den 20iger Jahren hatte es in Chile ein großes Erdbeben gegeben, bei dem Teile von Valdivia im Meer versunken waren. Der Auswanderer hatte sich damals als Erntearbeiter verdingt und reiste in einem mit Mais gefüllten Waggon. Obwohl sich das Epizentrum mehrere hundert Kilometer weit entfernt und auf der anderen Seite der Kordilleren befunden hatte, sprang der fahrende Zug aus den Schienen. Der Mais federte den Aufprall ab, und der Auswanderer stieg unverletzt aus dem entgleisten Waggon.

*

Im Jahr 1931 fuhren die Brüder zurück nach Europa. Ihre Mutter war an Leberzirrhose gestorben, obwohl sie nie einen Schluck Alkohol getrunken hatte.

Der Auswanderer versäumte ihr Begräbnis nur um einen Tag. Er war an seiner Mutter sehr gehangen.

Zunächst wollte er nur für einige Wochen in der alten Heimat bleiben. Das Riesengrundstück, dass der Vater mit dem Geld der Brüder ein paar Jahre zuvor erworben hatte, wurde parzelliert, und auch sonst fielen in diesem Zusammenhang eine Menge Arbeiten an. Aus den Wochen wurden Monate. Der zurückgekehrte Auswanderer legte einen Garten an und errichtete in der einen Ecke des Grundstücks eine Hütte aus Holz.

Als in der Familie Streitereien ausbrachen – wie so oft ging es ums liebe Geld – zog er in die Hütte. Mittlerweile hatte die Weltwirtschaftskrise sowohl Amerika als auch Europa erreicht. Die Freunde aus Argentinien schrieben, dass es auch dort auf dem Arbeitsmarkt traurig aussah. Aber auch in der Heimat war er schwer, etwas Passendes zu finden.

Der zum Rückwanderer Gewordene musste nehmen was sich gerade bot. Voll Bitternis erzählte er von Spott und Hohn, mit denen er überschüttet wurde, als ihn Bekannte beim Kabelgraben gesehen hatten. Der Americano ist zurückgekehrt um in der Grube mit Krampen und Schaufel zu schuften – so meinten seine ehemaligen Freunde.

*

Und dann, es war am 17. Dezember 1931 – dieses Datum war in der Familienchronik rot angemerkt – schaute ein zwanzigjähriges Mädchen, das nahe beim Garten des Auswanderers wohnte, aus dem Fenster im ersten Stock. „Der ‚Petrus‘ kommt“, verkündete deren jüngere Schwester. Die Haare des Auswanderers waren schütter geworden, und da er auf seinem Fahrrad einen Schlüsselbund mit sich führte, nannten sie ihn einfach nach dem Chefapostel. Als Petrus die Fahrt unterbrach und eine einladende Geste machte, eilte das junge Mädchen freudig hinunter. Neun Jahre (nicht Monate!) später kam der Sohn zur Welt. Sie gaben ihm denselben Namen, den der Vater trug.

Ein Jahr zuvor war der große Krieg ausgebrochen. Der Auswanderer war Werkmeister in den Flugzeugwerken, die am Rande der Stadt lagen, geworden. Nie zuvor und danach war es ihm beruflich so gut gegangen. Er hatte mehrere hundert Leute unter sich. Das deutsche Organisationstalent imponierte ihm, und dass nun – im Gegensatz zu den vergangenen Jahren – Vollbeschäftigung herrschte, auch. Dass die Räder für den Krieg liefen war zunächst zweitrangig.

Erst Anfang 1943 wurde er skeptisch. Er wurde mit Leuten seiner Gruppe zum Bahnhof abkommandiert, wo ein Lastzug aus Ungarn eingetroffen war. Als sie die vereisten Türen aufbekamen, erwies sich der Viehwaggon voll mit Leichen. Man hatte den Transport von Juden ins Vernichtungslager in der grimmigen Kälte tagelang stehen lassen. Und nun mussten die Wehrmachtsangehörigen die angefrorenen Toten von den Türen herunterhämmern. In ihrer Verzweiflung hatten die Unglücklichen versucht, die Schiebetüren zu öffnen.

Ab da und dem Desaster in Stalingrad hörte der Auswanderer den englischen Feindsender BBC und war überzeugt, dass der Krieg verloren war.

*

Ein halbes Jahr später, nach der Landung der Alliierten Truppen in Süditalien, gelangte die Stadt in den Aktionsradius alliierter Bomber. Das Luftkreuz Südost, von dem aus die Heeresgruppe Süd versorgt wurde, stellte ein wichtiges strategisches Ziel englischer und amerikanischer Flugzeuge dar. Verbände von nahezu tausend Bombern legten die Stadt in mehreren Angriffen in Schutt und Asche.

Nach dem Krieg fand der Auswanderer eine Stelle als Tischlermeister im Bauhof der Stadtgemeinde. Arbeit beim Aufbau der zerstörten Stadt gab es genug, aber die ersten Jahre nach 1945 waren schwer. Um die Familie zu versorgen, bepflanzte der Auswanderer seinen großen Garten nahezu vollständig mit Kartoffeln und Mais. Die Gewächse, die seinerzeit von Lateinamerika nach Europa gebracht wurden, sicherten nun das Überleben. Jedenfalls erinnerte sich der Sohn später, dass er in der Nachkriegszeit nie Hunger gelitten hatte.

Ob der Vater damals glücklich war? Eher nicht, sinnierte der Sohn. In den Jahren nach dem Krieg warb Brasilien wieder um Einwanderer. Einige seiner Bekannten brachen ihre Zelte in der Heimat ab und wanderten aus. Automechaniker, Bauarbeiter, Maschinenbauer und manch andere wurden im Nachkriegsboom mit offenen Armen aufgenommen. Der Sohn erinnerte sich an lange Diskussionen der Auswanderer mit Vater und Mutter. Allzu gerne wäre der Vater, der damals um die fünfzig war, mitgezogen – doch die Mutter wollte nicht. Als der Vater seinem Freund Obradovics schließlich seinen Schiffskoffer überließ, war klar, dass er seine Überseepläne endgültig begraben hatte.

Und dann war da die Karriere des Vaters, die eigentlich keine war. Er hatte 1945 als Meister begonnen und war neunzehn Jahre später aus dieser Position in den Ruhestand getreten. Ein Aufstieg zum Leiter des Bauhofes blieb ihm verwehrt, obwohl er sich darum bemühte, auch in parteipolitischer Hinsicht.

Die Ehe litt darunter. Der Sohn erinnerte sich an nächtliches lautes Zanken. Und dass ihm seine Mutter gesagt hatte, sie würde sich am liebsten zusammenpacken, ihn mitnehmen und fortgehen.

Noch vor dem Krieg hatte der Vater einen Keller ausgehoben und ein kleines Haus mit zwei Räumen gebaut, Küche und Schlafzimmer. Nach und nach, immer, wenn er genügend Geld für Baumaterial gespart hatte, baute der Vater einen Raum dazu. Da er aber nie genug hatte, wurden die Räume immer kleiner. Der Sohn erinnerte sich mit Unbehagen an die Bautätigkeit, bei der er schon ab seiner Kindheit mithelfen musste. Nicht, dass er das ungern getan hätte. Im Gegenteil: das Mischen von Sand, Zement und Wasser, das zu seinen Obliegenheiten gehörte, bereitete ihm sogar gewisses Vergnügen. Schlimm war nur die Hektik, mit der alles zu geschehen hatte.

Der Vater war ein aufbrausender Typ. Wenn ihm was gegen den Strich ging, konnte er rasch böse werden. Der Sohn erinnerte sich an einen Samstag, als er sich beim Fußballspielen den Arm gebrochen hatte. Als er heimkam, schimpfte der Vater nur mit ihm, anstatt ihn wegen des Unfalls zu trösten. So etwas vergisst man nicht.

Er vergaß aber auch nicht, dass der Vater immer für ihn dagewesen war. Trotz der vielen Arbeit – und er musste damals hart arbeiten – nahm sich der Vater immer Zeit, die Fragen seines Sohnes zu beantworten. Er erklärte ihm alles, was ein Kind interessiert und auch vieles, das ihn weniger interessierte. Geschichte, Politik, Geographie, Astronomie – über all das hatte sich der Vater ein breites Wissen angeeignet, das er bereitwillig an den Sohn weitergab. Leider so ganz anders, als er selbst bei seinen Töchtern verfahren war, überlegte der Sohn schuldbewusst.

Er erinnerte sich an beschauliche Winterabende, bei denen Vater, Mutter und Sohn in der Küche beisammensaßen und Bücher aus der Stadtbücherei lasen. Geschichten von Ernst Löhndorff, Jack London, Karl May, Hans Dominik und vielen anderen wurden sozusagen verschlungen – ein gemeinsames Hobby, bei dem sich die Drei trafen. Die Holzscheite, die im Herdfeuer knackten, brachte der Vater jeden Tag jahrein-jahraus aus der Tischlerei mit.

Was hatte ihm der Vater als Kind nicht alles vorgelesen: von Lederstrumpf zu Old Surehand, vom Buschgespenst bis zum Waldläufer – vor allem zu Weihnachten war Vorlesen angesagt.

Nur dass er den ‚Cowboy‘, ‚Kansas Kidd‘, ‚Bob Barring‘ oder dergleichen las, wollte der Vater nicht. Einmal hatte er ihm sogar acht Buffalo-Bill Hefte in der Mitte zerrissen, weil das Schmutz und Schund sei. Dabei stammten die Hefte noch vom Vater; dieser hatte sie vor vierzig Jahren selbst begeistert gelesen.

*

Auch als der Sohn an die Universität kam, konnte er mit seinem Vater über alles reden, über das Studium, Tagespolitik, historische Ereignisse – und natürlich über Südamerika, dessen Lieblingsthema. Als sich der Vater mit seinem Bruder wieder versöhnte – sie hatten nach dem Tod der Mutter mehr als drei Jahrzehnte keinen Kontakt gehabt – waren Argentinien und Brasilien vorherrschende Gesprächsthemen.

Mit zunehmendem Alter unterhielt der Vater immer weniger Freundschaften. Er ging nicht ins Wirtshaus, selten zum Gebirgsverein, den er bis zu seinem Tod angehörte, kaum zu Versammlungen der politischen Partei, deren Mitglied er war (aus dieser war er aber wegen beachtlicher Differenzen in den Siebzigerjahren ausgetreten). Abgesehen von gelegentlichen Besuchen einiger Nachbarn brach allmählich auch der Kontakt zu seinen Freunden ab. Nach seiner Pensionierung verließ er Haus und Garten nur gelegentlich, etwa zu Ausflügen, Bergwanderungen oder zum Schwammerlsuchen.

Aus dem Garten machte er ein Schmuckkästchen. Er pflanzte seltene Sträucher, Bäume und Blumen, die er aus verschiedenen botanischen Gärten bezog. Seine Kunst, Obstbäume zu veredeln war legendär. Auf ein und denselben Apfelbaum hatte er an die zwanzig verschiedene Sorten okuliert, sodass eine Reihe ganz verschiedener Früchte am selben Ast wuchsen.

Ein weiteres Hobby, dem der Vater frönte, war die Malerei. Schon in früher Jugend hatte er sein Zeichentalent unter Beweis gestellt. Jetzt hatte er Zeit und Muße, Aquarelle zu malen, vor allem Landschaften mit großer Detailgenauigkeit.

Im Garten wuchsen viele Obstsorten, darunter auch Zwetschkenbäume. Im November begann sich ein lieblicher Duft im Viertel zu verbreiten, wenn der Vater Schnaps brannte. Dem Sohn war verboten, auch zu seinen besten Freunden darüber zu sprechen. Sonst ‚kriege ich einen Anstand‘, warnte der Vater. Und obwohl der Sohn nicht wusste, was damit gemeint war – vielleicht so etwas wie ein Jagdstand? – verriet er das Schwarzbrennen nicht. Erst viel später erfuhr er von den Freunden, dass auch deren Väter die Zwetschken zu Maische verarbeiteten und dann destillierten. Auch ihnen war strenge Schweigepflicht auferlegt, an die sie sich ebenfalls hielten.

Der doppelt gebrannte ‚Zwetschkene‘ übte eine seltsam besänftigende Wirkung auf den Vater aus, den der Sohn übrigens nie betrunken erlebt hatte. Eine Flasche davon, liebevoll als ‚Ginkas‘ bezeichnet, stand stets im Nachtkastl.

*

Nach Vollendung des neunten Jahrzehnts begann der Vater abzubauen, erst körperlich, später wohl auch geistig. Die Mutter pflegte ihn in den letzten Jahren mit großer Hingabe – keine leichte Aufgabe. Der Vater verwechselte sie mit seiner verstorbenen Schwester. Er nannte sie Aurelia, obwohl seine Frau Anna hieß.

Sein Begräbnis fand an einem der heißesten Tage des Jahres statt. Die Trauergemeinde, die sich in der Friedhofskapelle versammelt hatte, bestand nur aus wenigen Personen. Der Auswanderer hatte fast alle seine Freunde und Bekannten überlebt. In den letzten Jahrzehnten hatte er kaum Kontakte mit der Außenwelt gesucht; es war einsam um ihn geworden.

Der Sohn hatte einen Strauß verschiedenfärbiger Dahlien mitgebracht. Letzte Grüße aus dem Garten, den der Vater geliebt hatte. An seiner Stelle würde nun er jeden Herbst die Blumenknollen aus der Erde nehmen und im Frühjahr wieder eingraben müssen. Er würde dies schon Anfang April tun, während der Vater dafür stets die Eismänner im Mai abgewartet hatte.

Als der Trauerzug die Aufbahrungshalle verließ, empfing ihn brütende, trockene Hitze. So mochte das Klima in Salta gewesen sein, dachte der Sohn. Die Luft war klar, ungewöhnlich für Anfang August. Die Berge im Westen schienen weit näher gerückt als sie tatsächlich entfernt waren. Der Trauerzug bewegte sich in die entgegengesetzte Richtung zum frisch ausgehobenen Grab.

Jenseits der Friedhofsmauer konnte man die Ebene des Steinfeldes ahnen. Bei uns trifft Europa auf Asien, hatte der Auswanderer oft gesagt; Westeuropa ende hier in der Pannonischen Tiefebene.

Die Ansprache des Pfarrers war kurz aber treffend. Der Einzusegnende war zwar Taufschein-Katholik, war aber seit Jahrzehnten nicht mehr zur Kirche gegangen. Der Sohn hatte dem Geistlichen auf dessen Ersuchen einige Stichworte geliefert. So enthielt die Grabrede Hinweise auf die Auswanderung nach Südamerika, seine Tätigkeit als Schiffszimmermann und endete mit dem geliebten Garten. Der Sohn war gerührt. Er sah seinen Vater immer noch zwischen hohen Blumenstauden und Obstbäumen herum kauern.

Dann ließen die Bestatter den Sarg ins Grab hinunter.

Der Sohn erinnerte sich an den Geruch von frisch geschnittenem Holz in der Tischlerwerkstätte, die er geliebt hatte. Er dachte zurück an die ausrangierte Gondel der Seilbahn auf den Zuckerhut, die er anlässlich eines Besuches in Rio auf der Bergstation entdeckt hatte. Darin mochte schon vor mehr als einem halben Jahrhundert sein Vater gesessen sein.

Mutig war er gewesen, sein Vater. Als er in der Besatzungszeit einmal die Nachbarsfrau gegenüber einem russischen Soldaten in Schutz genommen hatte und ihm dieser ins Gesicht gespuckt hatte, hatte der Vater ihm die Gartenschere nachgeschleudert und ihn getroffen. „Warte, ich hole schwarzes Kamerad“, hatte der Russe geschrien. Zum Glück blieb es bei der Drohung.

Nie wieder würde er in das Gesicht seines Vaters schauen. Nie wieder über die blaue Tätowierung an seinem Unterarm streichen, die einen kaum mehr sichtbaren Totenkopf darstellte. Als er zur See fuhr, hatte er sie machen lassen und später versucht, sie wieder zu entfernen, letztlich vergeblich. Niemals wieder würde er die kräftigen, von der vielen Arbeit schwielig gewordenen Hände drücken. Der eine Daumen war etwas verkrüppelt, ein Unfall mit einer Maschine in seiner Tischlerlehre. Der Sohn wusste nicht mehr, ob es der linke oder rechte Daumen gewesen war.

Der Sohn erinnerte sich an die vielen Stunden, in denen ihm sein Vater die Welt erklärt hatte. An das rote Buch, das sich zu einer Landkarte von ganz Südamerika entfalten ließ. Es war etwas Besonderes, wenn ihm der Vater Kap Horn, den Rio de la Plata, Más a Tierra, und Más a Fuera erklärte. Gemeinsam waren sie im Geiste den Marañon, den Solimões und später den Amazonas hinuntergefahren. Er erinnerte sich, als der Vater von der Blumeninsel in der Guanabara-Bucht und von Rio de Janeiro berichtet hatte, wo er 1921 in Quarantäne gelegen war. Mit offenem Mund und roten Ohren hatte er Vaters Erzählungen gelauscht, und nicht nur er, sondern auch Helmut, Walter, Horst und die anderen Freunde aus Kindheitstagen. Alle Freunde hatten seinen Vater gemocht.

Der Pfarrer schüttelte M I R die Hand. Er entschuldigte sich, dass er nicht zum Leichenschmaus mitkommen könne. Die nächste Beerdigung warte schon auf ihn.

„Er hat viel mitgemacht, ihr Herr Vater. Ein erfülltes, langes Leben, und kein schwerer Tod“, sprach er mir Trost zu. Er verwendete noch die alte, heute nur noch auf dem Land gebräuchliche Bezeichnung, Herr Vater!

Der Auswanderer war angekommen.

* * *

BOMBEN AUF DUTCH HARBOR

Ich kam nach Kodiak, einer Insel im Golf von Alaska.

Von Seattle aus war ich mit der Inlandsfähre über Juneau nach Skagway gedampft und war dann weiter über Whitehorse den mächtigen Yukon hinab gefahren. Nach einem Besuch des Mount McKinley Nationalparks ging es daraufhin via Anchorage und Homer mit einem weiteren Fährschiff nach Kodiak Island.

Im Alaska-Golf herrschte – zumindest in meinen Augen eines Binnenländers – raue See. Durchaus nichts Ungewöhnliches, wie man mir auf der Kommandobrücke versicherte. Auf dem riesigen Schiff befanden sich nur wenige Passagiere; die Fahrt erfolgte bei Nacht und ich ergriff die Gelegenheit, an kompetenter Stelle auf der Brücke Erkundigungen einzuholen. Der diensthabende Offizier schien froh zu sein, die Monotonie der Fahrt mit einem interessierten Gesprächspartner zu unterbrechen. Für die Sommerzeit konnte eine Wellenhöhe von vier Metern noch als normal gelten, erklärte er. Aber im Winter seien acht bis zehn Meter hohe Wogen häufig. Ob seine Aussage, in seiner Jugend habe er als Mitglied der US Coast Guard in der Beringsee gegen fünfzig Fuß hohe Wellenberge angekämpft, auf Wahrheit beruhte oder doch dem Seemannsgarn zuzurechnen sei - das wage ich als Landratte nicht zu beurteilen.

Kodiak, die Hauptstadt der gleichnamigen Insel, entpuppte sich als nettes, kleines Städtchen mit typischem Far-West-Flair mit Alaska-Prägung. Der Hafen war voll mit Fischerbooten und Jachten verschiedenster Dimensionen. Fishermen in ihren charakteristischen groß-karierten, bunten Flanellhemden und in gelben Regenjacken verluden ihr Zeug auf die Boote und tuckerten los. Touren ins Inselinnere zur Beobachtung der berühmten Kodiak-Braunbären starteten. Es wird berichtet, dass auf der Kodiak-Insel die gewaltigsten Grizzlies der Erde leben.

Um dem Gewirr von Tankstellen, Motels, Minimärkten und Coffee-Shops zu entwischen, schnappte ich mir einen Leihwagen und absolvierte eine Inselrundfahrt. Am Abend bezog ich ein Zimmer in einem Blockhaus am Stadtrand, welches der Besitzer auf bed-and-breakfast-Basis vermietete. Ich hoffte, auf diese Weise etwas vom Lokalkolorit der Insel mitzubekommen. Dies erwies sich jedoch als Fehlanzeige. Der Hauseigner war übers Wochenende auf der Jagd, und die mittelalterliche Housekeeping Lady erwies sich zwar als trinkfest – aber über die Besonderheiten der Insel erfuhr ich nichts Neues. Die Dame, ein Indianer Mischling, war zweifelsohne Alkoholikerin und schien auch sonstigen Genüssen nicht abgeneigt zu sein. Nachdem sie mich zum Konsum einer ganzen Batterie von Budweiser Bierdosen animiert hatte, schmiss ich das Handtuch und zog es vor, mich in Morpheus’ Arme zu begeben. Am nächsten Morgen hatte ich Schädelbrummen von den vielen ‚Buds’; ‚yellow piss‘ hatte mir einmal ein deutscher Braumeister versichert – und er musste es wissen, verdiente er seine Brötchen doch bei Anheuser-Busch Brauerei, die das Zeug herstellt. Wie wohltuend süffig war dagegen das tschechische Original – aber man kann eben nicht alles haben, wie schon der weise Konfuzius bemerkt hat.

Die einzige brauchbare Information, die ich von meiner Trink-Kumpanin erhielt, waren Ort und Zeit des Gottesdienstes am heutigen Sonntag.

*

Die russisch-orthodoxe Kirche von Kodiak war einen Besuch wert. Aus Holz errichtet, leuchteten mir ihre blauen Kuppeln schon von weitem entgegen. Alaska war bekanntlich bis Mitte des 19. Jahrhunderts Teil des Russischen Zarenreiches. Erst 1867 kauften die Vereinigten Staaten von Amerika Alaska von den Russen um den lächerlichen Betrag von 7 Millionen Dollar – wohl der beste Deal in der US-Geschichte. Neben der strategischen Bedeutung des Nordwest-Teiles des Kontinents sind es die unermesslichen Bodenschätze Alaskas, allen voran die später entdeckten Erdölvorkommen, welche den Handel mit Russland so vorteilhaft für die USA machte.

Weniger bekannt sein dürfte die Tatsache, dass Alaska schon mehr als einhundert Jahre zuvor von russischen Seefahrern und Pelzhändlern ‚entdeckt‘ wurde. Von Kamtschatka aus kommend war der Däne Vitus Bering bis an die Küsten Nordamerikas gelangt. Bald danach zog der enorme Pelzreichtum der Region Jäger und Kaufleute immer weiter nach Osten.

Der russische Expansionstrieb im 18. und 19. Jahrhundert, im direkten Anschluss an die ‘Eroberung’ Sibiriens war bemerkenswert. Russische Kaufleute drangen entlang der Westküste Nordamerikas bis weit nach Süden vor, noch über San Francisco hinaus. Sogar auf Kauai, einer der Hawaii-Inseln, wurde im Jahr 1815 ein zaristischer Stützpunkt errichtet. Nach der Gemahlin des Napoleon-Bezwingers, Zar Alexander, wurde er ‚Fort Elisabeth‘ genannt. Auf Druck der Vereinigten Staaten wurde das Fort allerdings schon wenige Jahre nach seiner Gründung wieder aufgegeben. Die Erdwälle des Stützpunktes sind heute noch an der Südküste Kauais deutlich sichtbar. Ich habe die Touristenattraktion abgeschritten und so auf den Spuren der russischen Kolonisatoren und Händler gewandelt.

All diese Gedanken gingen mir auf dem Weg zur Kirche durch den Kopf.

In Alaska hat sich seit der Zeit der russischen Kolonisierung die orthodoxe Kirche gehalten. In einer Reihe von Ansiedlungen gibt es noch heute Gotteshäuser dieser Konfession. Die Kirche in Kodiak war nicht besonders groß, aber gut instandgehalten.

Das Bemerkenswerte an der Messe, der ich dann am späten Sonntagvormittag beiwohnte, war die Tatsache, wie multi-kulturell sie war. Ein Inuit-Mischling hielt in breitem amerikanischem Dialekt den Gottesdienst gemäß der russisch-orthodoxen Liturgie. Die Gesänge klangen durchaus so, wie ich sie in Russland und anderen slawischen Ländern vernommen hatte; all die Heiligen der orthodoxen Kirche wurden in den Litaneien angerufen, aber die Predigt des Popen klang in meinen Ohren irgendwie nach texanischem Slang.

Bei meinen Aufenthalten in Sibirien hatte ich schon Messen mitgemacht, welche an die drei Stunden dauerten. Der Gottesdienst in Kodiak war schon nach knapp zwei Stunden zu Ende. Im Anschluss bat der Pope seine Schäfchen zu einem ‚Get-together‘. Es fand im Gemeindezentrum statt, das sich unmittelbar an die Kirche anschloss. Obwohl ich mich als katholisch deklarierte und natürlich auch kein Mitglied der Pfarrgemeinde war, lud mich der Pope mit ein.

Auffällig war, dass nahezu ausschließlich alte bis uralte Leute an dem Treffen teilnahmen. Die Jüngeren, die durchaus auch in der Messe vertreten waren, stürmten nach deren Schluss aus der Kirche. Ich, obwohl damals jünger als fast alle anwesenden Gemeindemitglieder, mischte mich unter diese, in der Hoffnung etwas über Land und Leute zu erfahren. Das war schließlich der Hauptgrund meines Hierseins.

Den Teilnehmern der Nachsitzung wurden Kaffee und Donuts serviert. Der Kaffee war amerikanisch, wenn man versteht, was ich damit sagen will. Im Saal herrschte eine angenehm entspannte Atmosphäre. Nachdem mich der Pope begrüßt und ausgefragt hatte, woher ich käme und was ich vom orthodoxen Glauben hielte, wurde ich in der Gesellschaft herumgereicht. Offensichtlich kam es nicht häufig vor, dass sich Fremde in die Gemeinde verirrten. In guter Erinnerung ist mir die zurückhaltende Freundlichkeit der alten Leute geblieben, mit der man mir gegenübertrat. Niemand störte, dass ich nicht vom orthodoxen Glauben war. Wir seien doch alle Christen, meinte der Pope, welcher Art von Christ, das sei nicht so wichtig.

*

Schon während der Messe war mir ein alter Inuit aufgefallen. Obwohl – ganz im Gegensatz zu den orthodoxen Gotteshäusern der alten Welt – die Kirche in Kodiak ausreichend Sitzplätze enthielt, war der Mann während der gesamten fast zwei Stunden aufrecht gestanden (und gekniet, wenn es die Liturgie vorschrieb). Sein hageres Gesicht war von unzähligen Runzeln übersät. Seine kleinen, schwarzen Augen, mit denen er mich aufmerksam musterte, deuteten auf geistige Wachheit hin. Der Inuit war höchstens mittelgroß, spindeldürr und wirkte körperlich keineswegs gebrechlich.

Da er mich interessierte, sprach ich ihn an. Ein Wort ergab das andere, und es dauerte nicht lange, bis er mir seine Geschichte erzählte.

Der Inuit wurde kurz vor dem ersten Weltkrieg geboren. Das genaue Jahr war ihm unbekannt. Geburtsurkunde gab es damals auf der Aleuten-Insel Attu nicht. Dort hatte er das Licht der Welt erblickt und war auch aufgewachsen. Mütterlicherseits war er reinrassiger Inuit, während sein Großvater väterlicherseits Harpunier auf einem norwegischen Walfangschiff war.

Mitte der Dreißigerjahre, während der Wirtschaftskrise, zog seine Familie nach Dutch Harbor. Diese, auf der Aleuten-Insel Unalska gelegene Hafenstadt war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von russischen Pelzhändlern zur Verschiffung ihrer Jagdbeute gegründet worden.

Der Grund für den Ortswechsel war ein doppelter. Zum einen bot seine Geburtsinsel der Familie keine Arbeitsplätze mehr. Das traditionelle Leben der Inuit mit Fisch- und Robbenfang wollte er nicht führen.

Zum anderen beabsichtigte er sich weiterzubilden. In der Missionsschule in Attu hatten ihm seine Lehrer überdurchschnittliche Intelligenz bescheinigt.

In Dutch Harbor fand er einen nicht schlecht bezahlten Job in einer der Fabriken, die sich mit der Fischverarbeitung befassten. Obwohl damals noch ein zehnstündiger Arbeitstag herrschte, besuchte der Inuit eifrig Abendkurse zur Weiterbildung. Auch die Wochenenden gingen mit dem Lernen drauf.

Dann lernte er ein junges Mädchen kennen, das im Kontor der Fabrik für die Buchhaltung zuständig war. Omaha – so war ihr Name – war halb weiß, halb Inuit.

Der Inuit wusste vom ersten Augenblick an, dass dies die Richtige für ihn sei. Schon nach kurzer Zeit verlobten sie sich. Seine Augen wurden feucht, als er mir davon erzählte.

Der Inuit griff in die Innentasche seiner Jacke und brachte ein vergilbtes, abgegriffenes Foto zum Vorschein. Ein ernstes Mädchengesicht blickte mir entgegen. Trotz des Alters des Bildes konnte man erkennen, wie hübsch sie war. Ihre mandelförmigen Augen und die leicht gewölbten Backenknochen vermittelten ihr ein exotisches Aussehen.

„Sie war bildschön und meine große Liebe“, stellte der Inuit leidenschaftslos fest. „Und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke!“ Er wischte sich eine Träne von der Wange.

Ich war beeindruckt, wie gewählt er sich ausdrückte. Er – ein ‚gewöhnlicher‘ Fischerei-Arbeiter. Trotz seines Alters wirkte er geistig voll präsent.

„Ich nehme an, eure Ehe war dann glücklich“, sagte ich. Und um meine etwas platte Äußerung auszumerzen, fügte ich hinzu: „Habt ihr Kinder? Und wo ist Omaha jetzt?“

„Weshalb wäre ich dann seit Jahren im Altersheim?“ entgegnete der Inuit traurig. „Natürlich würde ich im Haus meiner Kinder und Enkel wohnen, so wie es bei unserem Volk der Brauch ist.“ Sein mageres Gesicht fiel noch mehr ein. Mir war peinlich, dass ich offenbar einen wunden Punkt getroffen hatte. Bevor ich jedoch das Gespräch in eine andere Richtung lenken konnte, fasste er meine Hand und sah mir unverwandt in die Augen.

„Ich werde dir die Geschichte erzählen, Fremder. Sie beginnt mit Pearl Harbor. Am 7. Dezember 41, es war ein Sonntagmorgen, bombardierten japanische Flugzeuge unsere Flotte in Hawaii. Da das Gerücht ging, dass alle wehrfähigen jungen Männer zum Militär eingezogen werden sollten, beschlossen Omaha und ich, möglichst schnell zu heiraten. Längst waren wir uns einig, dass wir dies früher oder später tun würden - jetzt war es eben früher. Der Hochzeitstermin wurde angesetzt und meine Familie reiste mit dem Fährschiff aus Attu an. Natürlich würden auch Omahas Eltern und Geschwister an der Vermählung teilnehmen. Alles war vorbereitet, und ich war schon sehr aufgeregt, aber glücklich …“

In seinen Zügen, die zuvor eher regungslos schienen, spiegelte sich die Erinnerung an damals wider.

„Der Pope von Dutch Harbor hat dann die Trauung vollzogen. Die Kirche dort ist nicht groß, sie konnte kaum alle fassen, die gekommen waren: Angehörige, Freunde, Arbeitskollegen. Ich erinnere mich noch gut an Omahas liebes, ernstes Gesicht, das ich während der Zeremonie von der Seite sah. Erst als uns der Priester schon getraut hatte und ich die Braut küssen durfte, schenkte sie mir ihr Lächeln. Heute noch, nach so vielen Jahren, erinnere ich mich daran, als ob es gestern gewesen wäre. ‚Ich werde dir eine gute Frau sein, mein lieber Mann, in guten sowie in schlechten Zeiten …‘, das waren ihre Worte, die ich nie vergessen habe - ihre letzten.“

Der Inuit hatte in seiner Erzählung innegehalten. Die Erinnerung an die Hochzeit hatte ihn übermannt, sodass er eine Zeit lang nicht weitersprechen konnte. Ich schwieg gleichfalls und drückte seine mageren Hände.

Nach Minuten des Schweigens hatte er sich wieder gesammelt und setzte fort. „Und dann kam das Desaster, direkt aus dem Nichts (‚directly from the blue sky‘, wie er sich ausdrückte), unvorhergesehen und völlig überraschend. Die Japaner hatten schon Tage zuvor meine Heimatinsel Attu bombardiert. Ihre Flugzeugträger erlaubten ihren Bombern, dieses exponierte, im äußersten Nordwesten unseres Landes liegende Staatsgebiet zu erreichen. Für Dutch Harbor gab es jedoch keinerlei Warnung - es schien außerhalb der Reichweite japanischer Flugzeuge zu liegen.“

„Aber als wir die Kirche verließen und uns auf dem Weg zum Hochzeitsdinner befanden, ertönte plötzlich – buchstäblich aus heiterem Himmel ein surrendes Heulen. Zuerst dachten wir nichts Böses. ‚Würde wohl wieder eine Luftübung der Air Force sein, muss das gerade jetzt sein‘, meinte einer der Hochzeitsgäste – da krachte es schon, und Staubfontänen spritzten in die Höhe. Drei, vier größere Flugzeuge waren wie aus dem Nichts aufgetaucht; der Einschlag von Granaten und das Rattern der Bordkanonen zerriss die Stille. Auf der Straße brach Chaos aus. Die Hochzeitsgesellschaft zerstob in alle Richtungen.“

„Ich war so perplex, dass ich wie erstarrt mitten auf der Straße verharrte. Wie betäubt spürte ich mit allen Fasern meines Körpers einige Bombeneinschläge. Vermutlich dauerte meine Unfähigkeit zu Handeln nur ein paar Sekunden, aber das war ein Moment zu viel. Gerade als ich Omaha ergreifen wollte, um mit ihr den Schutz der Häuser am Straßenrand aufzusuchen, blendete mich der Blitz einer Explosion. Eine riesige Fontäne aus Erde und Staub verhüllte die Sicht. Steine und andere Trümmer flogen durch die Luft. Menschen schrien. Die Druckwelle schleuderte mich zu Boden. Durch den Aufprall muss ich wohl das Bewusstsein verloren haben, wenn auch nur für kurze Zeit.“

„Als ich wieder zu mir kam, sah ich eben einige Flugzeuge über den Bergen hinter der Stadt verschwinden. Es herrschte gespenstische Stille. Der Spuk war vorbei. Als sich die Staubwolke senkte, sah man einen Bombenkrater und einige herumliegende Mauertrümmer. In einem Geschäft hinter mir gloste ein Feuer. Sonst schienen sich, zumindest in dieser Gegend, die Schäden in Grenzen zu halten. Von Ferne konnte man das Feuer der Fliegerabwehrkanonen vernehmen, die auf den Hügeln hinter der Stadt postiert waren. Jetzt ertönten auch die Signalhörner der Feuerwehrautos und Ambulanzwagen.“

Tempo und Lautstärke der Erzählung des Inuit hatte sich gesteigert. Die Erinnerung an den Bombenangriff wühlte ihn sichtlich auf. Erschöpft hielt er nun inne.

„Und Omaha – was geschah mit ihrer Braut?“ fragte ich ihn gespannt.

„Well, all das was ich eben berichtet habe, nahm ich mehr oder minder unbewusst wahr. Ich hatte zwar keine gröbere Verletzung erlitten, war aber wohl auf den Kopf gefallen. Ich wischte mir den Staub und Schmutz aus dem Gesicht, und da lag sie, meine Omaha. Neben mir und regungslos. Am ersten Blick konnte ich keinerlei Verletzung an ihrem Kopf und Körper entdecken.“