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Bernd Vowinkel

WISSEN STATT
GLAUBEN!

Das Weltbild des neuen Humanismus

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Ich widme dieses Buch allen, die im Kampf für Humanität, Aufklärung und Wissenschaft ihr Leben opferten. Einer dieser vielen wahren Helden war Giordano-Bruno, der im Jahre 1600 von der römischen Inquisition auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Er hatte die Idee, dass der Weltraum unendlich ist.

Copyright © Lola Books GbR, Berlin 2018

www.lolabooks.eu

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf in keinerlei Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlagbild: Abstract String Theory; Bild: flickr,

Bridget Coila | CC BY-SA 2.0

ISBN 978-3-944203-33-1

eISBN 978-3-944203-34-8

Erste Auflage 2018

INHALT

Vorwort

Danksagungen

IDer Humanismus

1.1Geschichte des Humanismus

1.2Der Naturalismus

1.3Der neue Humanismus: Weltanschauung oder Weltbild?

1.4Der Vorwurf der Wissenschaftsgläubigkeit

IIErkenntnis und ihre Grenzen

2.1Quellen der Erkenntnis

2.2Die Erkenntnismethoden der Theologie

2.3Der große Erfolg der Religionen

2.4Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis

2.5Auf der Suche nach der Weltformel

IIIDie Wirklichkeit

3.1Der Stoff der Wirklichkeit

3.2Ist die Welt real oder nur eine Simulation?

3.3Virtuelle Welten

3.4Anfang und Ende unserer Welt

3.5Das anthropische Prinzip

IVDas neue Menschenbild

4.1Die Evolution des Menschen

4.2Was ist Bewusstsein und was ist Identität?

4.3Ist der freie Wille eine Illusion?

4.4Emergenz und das Spiel des Lebens

4.5Ist der Mensch eine Maschine?

4.6Ist das Gehirn ein Quantencomputer?

4.7Wird der Mensch von Genen und Memen fremdbestimmt?

VEthik

5.1Herleitung von Werten

5.2Wohlfahrtsethiken

5.3Effektiver Altruismus und rationaler Egoismus

5.4Unter welchen Umständen ist Töten ethisch vertretbar?

5.5Der zweifelhafte Wert der „Menschenwürde“

5.6Die Vernunft setzt sich durch

VIGesellschaftspolitik

6.1Weltanschauliche Neutralität des Staates

6.2Freiheit von Forschung und Lehre

6.3Bioethik

6.4Nachhaltigkeit, Entwicklungshilfe und Bevölkerungspolitik

6.5Wirtschaft und die gerechte Verteilung von Arbeit und Einkommen

6.6Das Ziel der offenen Gesellschaft

VIIDie Zukunft

7.1Die Zukunft des Menschen: Transhumanismus

7.2Kommt die technologische Singularität?

7.3Auf dem Weg zum Posthumanismus: Superintelligenz

7.4Die ferne Zukunft unserer Zivilisation und der Kontakt zu Außerirdischen

7.5Der Tod und die ewige Wiederkehr

7.6Gibt es einen letzten, höheren Sinn unserer Existenz?

Anmerkungen

VORWORT

Unser Zugang zur Welt der physischen Wirklichkeit erfolgt ausschließlich über unsere Sinne. Mit den Sinneseindrücken und den damit verbundenen sinnlichen Erfahrungen versucht unser Gehirn ein konsistentes Bild der Wirklichkeit zu erstellen. Anhand des damit gewonnenen Weltbildes stellt sich unser Verstand einige grundlegende philosophische Fragen. Der Philosoph Immanuel Kant hat sie folgendermaßen zusammengefasst und versucht Antworten darauf zu finden: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Ein umfassendes Weltbild sollte zumindest hypothetische Antworten auf diese Fragen geben können. Unter der Prämisse, dass die Wirklichkeit unabhängig von unserer bewussten Wahrnehmung existiert, kann ein Weltbild mehr und mehr objektive Erkenntnisse in sich aufnehmen. Dies kann aber nur mit einer ergebnisoffenen, wissenschaftlichen Herangehensweise gelingen.

Unser Gehirn versucht, alles das, was in unserer Alltagswelt abläuft und sich mehr oder weniger ständig wiederholt, als normal einzustufen. Ereignisse oder Erfahrungen, die von dieser Normalität abweichen, werden als störend empfunden. In Extremfällen, wie z. B. Unfällen oder dem plötzlichen Tod eines nahestehenden Menschen, kann es sogar so weit kommen, dass das Gehirn in seiner Funktion zeitweise stark beeinträchtigt wird. Wir sprechen dann von einem Trauma bzw. von traumatischen Erlebnissen. Auf die fundamentalen philosophischen Fragen finden wir in unserer Alltagswelt keine zufriedenstellenden Antworten. Zur Herstellung von Normalität sucht unser Gehirn auch hier nach möglichst einfachen Antworten. Dies ist das Erfolgsgeheimnis aller Religionen. Sie geben mehr oder weniger einsichtige Erklärungen für die Fragen unserer Existenz. Ein allmächtiger Gott, der über jeden wacht, vermittelt Geborgenheit. Die Aussicht auf ein Leben nach dem Tod in größter Glückseligkeit lässt die irdischen Sorgen und Nöte klein erscheinen. Durch das Jüngste Gericht werden unsere irdischen Peiniger zur Rechenschaft gezogen werden. Das befriedigt unseren Gerechtigkeitssinn.

Evolutionstheoretiker können mittlerweile überzeugend erklären, warum sich das Phänomen Religion in fast allen Völkern so stark ausgebreitet hat. Offensichtlich gab es am Beginn der Menschheitsgeschichte evolutionäre Vorteile durch die Ausübung von Religionen und deren Riten, weil sie den Zusammenhalt innerhalb von kleineren Gruppen gestärkt hat und damit die Überlebenschancen verbessert hat. In unserer Zeit überwiegt jedoch der Nachteil, den Religionen auf die Gesellschaften ausüben bei Weitem. Während ihre Prediger Gewaltverzicht und sexuelle Moral predigen, bewirken sie in der Realität häufig genau das Gegenteil.

Die Philosophie konnte bisher zur Aufklärung der Wirklichkeit nicht allzu viel beitragen. Noch immer hängt ein großer Teil der Philosophen einem völlig überholten Menschbild nach, das von einem Geist-Körper- bzw. Leib-Seele-Dualismus ausgeht. Transzendenz und Metaphysik können aber bestenfalls Hypothesen über die Wirklichkeit aufstellen. Überprüfen, ob sie zutreffend sind, können nur die Naturwissenschaften. Wer heute noch glaubt, über Ontologie philosophieren zu können, ohne Grundkenntnisse der Quantenmechanik und der Quantenfeldtheorie zu besitzen, ist ein Ignorant.

Religion verschleiert oft wissenschaftliche Erkenntnis durch Offenbarung und den Bezug auf alte Schriften und führt damit zu einer Vernebelung der Wirklichkeit. Insbesondere die monotheistischen Religionen haben die Naturwissenschaften über Jahrhunderte hinweg extrem behindert. Mit ihrer zum Teil abstrusen Moral haben sie das Leid auf unserem Planeten nicht verringert, sondern erheblich vergrößert. Über Religionskritik sind gerade in den letzten Jahren eine Reihe von Büchern veröffentlicht worden. Im Mittelpunkt steht dabei das Buch Der Gotteswahn von Richard Dawkins. Er ist damit einer der Leitfiguren des sogenannten Neuen Atheismus. Viele Kritiker werfen den Anhängern des Neuen Atheismus vor, dass sie sich im Wesentlichen mit Religionskritik befassen, selbst aber kein vernünftiges Weltbild und vor allem keine vergleichbare Ethik zu bieten hätten. Manche sprechen gar von reinem Nihilismus. Die Hauptaufgabe dieses Buches soll sein, dies zu widerlegen. Das hier dargestellte Weltbild mit seiner pragmatischen Ethik ist letztlich den religiösen Weltbildern weit überlegen, weil es auf Vernunft, Verstand, Logik, Empirie und wissenschaftlichen Methoden aufgebaut ist, während jene auf subjektiven Offenbarungen, fragwürdigen überlieferten Schriften und reinem Wunschdenken basieren.

Zweifelsohne ist unser heutiges rationales Weltbild noch lückenhaft. Ob wir die noch vorhandenen Lücken jemals werden schließen können, ist durchaus fraglich. Aber solange wir mit wissenschaftlichen Methoden weiter große Fortschritte machen, besteht kein Grund zum Pessimismus. Wenn der Neue Atheismus und das damit verbundene Weltbild des neuen Humanismus als moderne Alternative zu den großen Weltreligionen gesehen werden soll, so dürfen seine Verfechter nicht den gleichen Denkfehlern verfallen. Sie sollten keine absoluten Wahrheitsansprüche stellen, offen sein für jede niveauvolle Kritik und sich jederzeit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen anpassen.

Während manche Religionen das Leid verherrlichen als Prüfung für ein Leben im Jenseits nach dem Tode, versucht der Humanismus das irdische Leid zu vermindern oder gar ganz zu beseitigen. Da wir hierbei auf die Grenzen unserer biologischen Körper stoßen, ist der Transhumanismus die konsequente zukünftige Ergänzung des Humanismus. Während im althergebrachten Humanismus der Mensch im Zentrum der Betrachtung steht, soll beim neuen Humanismus allgemeiner von leidensfähigen Wesen die Rede sein. Damit sind die höherentwickelten Tiere und alles das, was möglicherweise in der Zukunft neu hinzukommt, mit einbezogen.

Der Begriff des „neuen Humanismus“ wurde und wird bereits vielfältig verwendet. Wir wollen ihn hier als einen Humanismus verstehen, der sich im Wesentlichen auf den Naturalismus stützt. Man könnte ihn daher auch durchaus als naturalistischen Humanismus bezeichnen. Als solchen kann man ihn als Weiterentwicklung des von Julian Huxley begründeten evolutionären Humanismus verstehen. Die Weiterentwicklung betrifft vor allem die Berücksichtigung der neuesten wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung und des Transhumanismus. Ganz fundamentale Positionen des neuen Humanismus sind der Respekt vor der Wirklichkeit und die kritische Einstellung gegenüber Dogmen und Autoritäten.

Nichts zu tun hat der hier vertretene neue Humanismus mit dem sogenannten Neuhumanismus. Dieser Begriff wurde von dem Schulhistoriker Friedrich Paulsen geprägt und bezeichnet die Wiederentdeckung der literatur-humanistischen Bewegung ab ca. 1750 in Deutschland. Zuweilen wird auch der argentinische Schriftsteller Mario Rodriguez Cobos (1938–2010) als Begründer des neuen Humanismus bezeichnet. Seine Lehre enthält allerdings ideologische Positionen und basiert nicht ausschließlich auf dem Naturalismus. Auch diese Variante wird von dem hier beschriebenen neuen Humanismus abgelehnt.

Da der neue Humanismus die Vorstellung von der herausgehobenen Stellung des Menschen in der Natur kritisch sieht, gehen einige Philosophen so weit, die Bewegung des neuen Humanismus nicht mehr unbedingt als eine Variante des Humanismus zu sehen. Insbesondere in der Verbindung mit dem Transhumanismus sehen ihn einige konservative Humanisten gar als eine Perversion des Humanismus an. Diesen Leuten muss man allerdings einen überholten und ethisch verwerflichen Speziesismus vorwerfen. Ihre Position unterscheidet sich von religiösen Weltanschauungen im Wesentlichen nur dadurch, dass Gott durch den Menschen ersetzt wurde.

Die Beschreibung eines umfassenden Weltbildes ist eine große Herausforderung, da sie unterschiedlichste Wissensbereiche umfasst. Niemand ist heutzutage so universell gebildet, dass er alle Bereiche lückenlos und fehlerfrei beschreiben kann. Insofern bitte ich um Nachsicht, falls vielleicht einiges zu kurz gekommen ist. Einige Themen des vorliegenden Buches sind von mir schon früher in Aufsätzen und Büchern behandelt worden. Größere Abschnitte wurden aus meinem Buch Maschinen mit Bewusstsein übernommen. Sie wurden auf den neuesten Stand gebracht und in den Text eingebaut.

Bonn, 2017

DANKSAGUNGEN

Die Idee zu diesem Buch kam mir vor allem durch die vielen anregenden Diskussionen mit Vorstands- und Beiratsmitgliedern der Giordano-Bruno-Stiftung. An erster Stelle bin ich daher dem Gründer und Vorstandsmitglied Herbert Steffen sowie dem Vorstandsmitglied und Sprecher Dr. Michael Schmidt-Salomon zu großem Dank verpflichtet. Besonders zu nennen sind weiterhin die Stiftungsbeiräte: Wissenschaftstheoretiker Prof. Dr. Dr. Hans Albert, Politikerin und Juristin Ingrid Matthäus-Maier, Philosoph Prof. Dr. Thomas Metzinger, Physiker und Philosoph Prof. Dr. Bernulf Kanitscheider, Theologe und Verleger Dr. Heinz-Werner Kubitza, Wissenschaftsjournalist Rüdiger Vaas, Philosoph Prof. Dr. Gerhard Vollmer, Physiker und Astronaut Prof. Dr. Dr. Ulrich Walter, Philosophin Prof. Dr. Ulla Wessels und Philosoph Prof. Dr. Franz Josef Wetz.

Für die Durchsicht des Manuskripts und die sehr hilfreichen Verbesserungsvorschläge danke ich Prof. Dr. Uwe Lehnert, Dr. Michael Schmidt-Salomon, Helmut Fink und Susanne Kappeller. Dem Verlag Lola Books danke ich für die gute Zusammenarbeit.

I

DER HUMANISMUS

Alles, was Mensch ist, ist bestimmt, in eigener, denkender Weltanschauung wahrhaftige Persönlichkeit zu werden.

Albert Schweitzer, Humanist (1875–1965)

Der Humanismus ist eine Weltanschauung, die das Glück und das Wohlergehen des einzelnen Menschen und der Gesellschaft als den höchsten Wert ansieht und daraus seine ethischen Grundlagen ableitet. Da sich diese Werte auf das irdische Leben bzw. das Diesseits beziehen, lehnt der Humanismus religiöse Werte und Moralvorstellungen, die dem zuwiderlaufen, grundsätzlich ab. Zentrale Werte des Humanismus sind Freiheit, Toleranz, Gewaltfreiheit, Gewissensfreiheit und die Achtung der Würde des Menschen. Ein langfristiges Ziel des Humanismus ist die Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft zu mehr Lebensqualität und zur Förderung und Unterstützung benachteiligter und behinderter Menschen. Man kann folgende Grundüberzeugungen des Humanismus anführen:

Das Glück und Wohlergehen des einzelnen Menschen und der Gesellschaft bilden den höchsten Wert, an dem sich jedes Handeln orientieren soll.

Die Würde des Menschen, seine Persönlichkeit und sein Leben müssen respektiert werden.

Der Mensch hat die Fähigkeit, sich zu bilden und weiterzuentwickeln.

Die schöpferischen Kräfte des Menschen sollen sich entfalten können.

Die menschliche Gesellschaft soll in einer fortschreitenden Höherentwicklung die Würde und Freiheit des einzelnen Menschen gewährleisten.

Die Herleitung der ethischen Grundlagen des Humanismus erfolgt über die Vernunft des Menschen, sowie aus der empirischen Erfahrung über die Konsequenzen menschlichen Handelns (Konsequentialismus). Im althergebrachten Humanismus spielen allerdings auch metaphysische Ableitungen eine gewisse Rolle, wie z. B. bei der Definition der Menschenwürde.

1952 fand in den Niederlanden der erste World Humanist Congress statt. Die Generalversammlung der Internationalen Humanistischen und Ethischen Union (IHEU) beschloss dabei eine Deklaration der fundamentalen Prinzipien des modernen Humanismus. Diese wurde beim 15. World Humanist Congress noch einmal aktualisiert und als „Amsterdam-Deklaration 2002“ einstimmig verabschiedet. Ihr Inhalt lautet:

Humanismus ist ethisch. Er bekräftigt den Wert, die Würde und die Autonomie des Individuums und das Recht jedes Menschen auf größtmögliche Freiheit, die mit den Rechten anderer kompatibel ist. Humanisten haben eine Fürsorgepflicht gegenüber der gesamten Menschheit, einschließlich der zukünftigen Generationen. Humanisten glauben, dass Moral der menschlichen Natur innewohnt und auf dem Verständnis und der Sorge für andere basiert, ohne externe Sanktionen zu benötigen.

Humanismus ist rational. Er versucht, Wissenschaft kreativ und nicht destruktiv zu nutzen. Humanisten glauben, dass die Lösungen zu den Problemen der Welt im menschlichen Denken und Handeln liegen, statt in göttlicher Intervention. Humanisten befürworten die Anwendung wissenschaftlicher Methoden und freier Recherche auf die Probleme des menschlichen Wohlergehens. Humanisten glauben aber auch, dass die Anwendung von Wissenschaft und Technologie durch menschliche Werte gezügelt werden muss. Die Wissenschaft gibt uns die Mittel, aber menschliche Werte müssen die Ziele vorgeben.

Humanismus unterstützt Demokratie und Menschenrechte. Humanismus zielt auf die bestmögliche Entwicklung jedes Menschen. Er geht davon aus, dass Demokratie und menschliche Entwicklung eine Sache des Rechts sind. Die Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte können auf viele menschliche Beziehungen angewendet werden und sind nicht auf Methoden des Regierens beschränkt.

Humanismus besteht darauf, dass persönliche Freiheit mit sozialer Verantwortung kombiniert werden muss. Humanismus wagt es, eine Welt auf der Idee des gesellschaftlich verantwortlichen freien Menschen zu bauen, und erkennt unsere Abhängigkeit und Verantwortung gegenüber der natürlichen Welt an. Humanismus ist undogmatisch und erlegt seinen Anhängern kein Glaubensbekenntnis auf. Er ist daher der Bildung und Erziehung frei von Indoktrination verpflichtet.

Humanismus ist eine Antwort auf die verbreitete Nachfrage nach einer Alternative zu dogmatischer Religion. Die großen Weltreligionen behaupten, sie basierten auf Offenbarungen, die für die Ewigkeit feststünden, und viele trachten danach, der gesamten Menschheit ihre Weltsicht aufzuerlegen. Humanismus erkennt an, dass verlässliches Wissen über die Welt und uns selbst über einen fortgesetzten Prozess der Beobachtung, Evaluation und Überprüfung erwächst.

Humanismus befürwortet künstlerische Kreativität und Imagination und erkennt die transformative Macht der Kunst an. Humanismus bekräftigt die Wichtigkeit von Literatur, Musik sowie der visuellen und darstellenden Künste für die persönliche Entwicklung und Erfüllung.

Humanismus ist eine Lebenseinstellung, die auf die größtmögliche Erfüllung durch die Kultivierung eines ethischen und kreativen Lebens zielt und eine ethische und rationale Methode bietet, die Herausforderungen unserer Zeit anzugehen. Humanismus kann für jeden überall eine Lebensweise darstellen.

Was soll nun das Neue am neuen Humanismus sein? Der Humanismus erkennt grundlegende Menschenrechte an, die als kulturunabhängig, also universal gesehen werden. Beim neuen Humanismus wird zusätzlich gefordert, dass diese Rechte in Einklang mit dem aktuellen Stand der Wissenschaften sein müssen. Metaphysische und religiöse Herleitungen werden weitestgehend abgelehnt, dagegen wird anerkannt, dass mittlerweile zum Teil sogar Herleitungen von Werten über die Wissenschaften selbst erfolgen können. Die wissenschaftlichen Fortschritte der letzten Jahrzehnte haben zu einem erheblich verbesserten, naturwissenschaftlich fundierten Weltbild und Menschenbild geführt. Der neue Humanismus trägt dem Rechnung, indem er die Prämissen der Naturwissenschaften anerkennt und übernimmt. Es sind dies:

Realismus: Die Welt ist real vorhanden.

Rationalismus: Wir können die Welt mit unserem Verstand erfassen.

Naturalismus: Es geht in der Welt mit „rechten“ Dingen zu, d. h. es läuft alles im Rahmen der Naturgesetze ab. Es gibt keine Wunder, Götter oder Dämonen.

Insbesondere die Prämisse des Naturalismus steht in eklatantem Widerspruch zu den monotheistischen Religionen. Insofern kann es keine Versöhnung zwischen neuem Humanismus und diesen Religionen geben. Arthur Schopenhauer schreibt zu diesem Thema: „Der religiöse Glaubensakt ist eine Angewöhnung geistiger Grundsätze ohne gute Gründe. Denn gäbe es gute Gründe für die christliche Lehre, dann wüssten wir sie und brauchten sie nicht zu glauben.“ Der berühmte Physiker Albert Einstein formulierte es so: „Wer von der ursächlichen Gesetzmäßigkeit allen Geschehens überzeugt ist, für den ist die Idee eines Wesens, das in den Gang allen Weltgeschehens eingreift, eine Unmöglichkeit.“ Religionsvertreter werfen im Gegenzug den Vertretern des neuen Humanismus vor, dass auch ihre Position reine Glaubenssache sei und dass auch sie nicht ohne Dogmen auskommen. In der Tat könnte man die oben erwähnten Prämissen als Dogmen sehen. Genau genommen sind der Realismus und der Rationalismus die Prämissen des Naturalismus. Auf der anderen Seite wird zumindest die erste Prämisse auch von den Religionsvertretern weitgehend anerkannt. Man kann sich gar die Frage stellen, ob es überhaupt eine vernünftige Weltanschauung geben kann ohne diese Prämissen.

Die Erforschung der Materie hat allerdings in den letzten Jahrzehnten Zweifel an einem strengen Realismus aufkommen lassen. Zumindest der althergebrachte primitive Materialismus muss als überholt angesehen werden. Die Quantenphysik scheint zu zeigen, dass die Erfahrung der Wirklichkeit nicht ohne verändernde Eingriffe möglich ist. Hinter dem Schleier, auf den die Quantentheorie gestoßen ist, könnte völlige Unbestimmtheit oder aber eine höhere Ebene der Wirklichkeit liegen. Unsere erfahrbare Welt ist womöglich nur eine virtuelle Welt, die nicht wirklich aus Elementarteilchen zusammengesetzt ist, die so etwas wie letzte unzerlegbare Bausteine bilden. Materie, Raum und Zeit sind nicht länger als absoluter Stoff der Wirklichkeit anzusehen. Müssen wir deshalb den Realismus restlos aufgeben? Nun ist allerdings der Teil der erfahrbaren Wirklichkeit erfahrungsgemäß recht stabil und er ist mit den Mitteln einer objektiven Wissenschaft erforschbar. Wir sollten vielleicht den Realismus neu und präziser definieren. Darin sollten wir den Realitätsbegriff auch verstärkt an dem Begriff der Information festmachen und uns von der absoluten Existenz der Materie, des Raumes und der Zeit verabschieden.

1.1GESCHICHTE DES HUMANISMUS

Die Grundlagen des Humanismus lassen sich bis ins alte Griechenland zurückverfolgen.1 So vertraten bereits die Philosophen Heraklit (ca. 520–460 v. Chr.) und Protagoras (ca. 490–411 v. Chr.) den Lehrsatz: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“. Es gibt keine moralischen oder gesetzlichen Absolutheiten und der Mensch als schöpferisches Wesen ist die höchste Autorität im Universum. Platon (ca. 428–348 v. Chr.) war entgegengesetzter Meinung und vertrat die Position „Das Maß aller Dinge ist Gott“ und erst an diesem Maßstab werde der Mensch bescheiden und human. In der griechischen Antike wurde auch schon die Idee von der Gleichheit der Menschen diskutiert. Xenophanes (ca. 577–485 v. Chr.) kritisierte den Götterglauben und die Vermenschlichung der Götter. Erste philosophische Positionen in Richtung naturalistischer Materialismus gab es bei den Philosophen Heraklit und Demokrit (ca. 460–371 v. Chr.). Sie sahen die Entwicklung der Welt nicht als Ergebnis des Wirkens von Göttern, dennoch stellten sie die Existenz eines göttlichen Prinzips nicht in Frage. Sokrates (470–399 v. Chr.) betont die Autonomie des Individuums und dessen Selbstbestimmung und tritt für Geistesfreiheit ein.

Die Philosophie Epikurs (341–270 v. Chr.) befasste sich verstärkt mit dem Diesseits. Er war der Ansicht, dass die Religion mehr auf Furcht denn auf Einsicht beruht. Er erkannte das Theodizee-Problem, indem er angesichts des Elends auf der Welt keine Rechtfertigung für die Existenz von Göttern feststellen konnte. Entgegen dem Moraldenken der Religionen sah er den Sinn des Daseins in der Vergrößerung und Verstetigung der Lebensfreude. Im christlichen Abendland galt seine Philosophie als Symbol der Zügel- und Gottlosigkeit und wurde dementsprechend unterdrückt und diffamiert. Vor allem die Philosophen Jeremy Bentham (1748–1832) und John Stuart Mill (1806–1873) entwickelten später seine Ideen weiter zu der pragmatischen Ethiklehre des sogenannten Utilitarismus, der sich insbesondere in den angelsächsischen Ländern als Alternative zu religiösen Ethiklehren durchgesetzt hat.

Marcus Tullius Cicero hat den Begriff Humanitas geprägt, der erstmals 80 v. Chr. in einer Schrift erwähnt wurde. Er war der Meinung, dass die Humanität dem Menschen nicht angeboren ist, sondern dass die Jugend erst durch die Erziehung in den Künsten zur Humanitas gebildet wird. Die Anregung zum selbstständigen Denken, so wie sie in der griechischen Philosophie kultiviert wurde, hielten die frühen christlichen Kirchenväter für gefährlich. Unter dem römischen Kaiser Theodosius wurde 391 das Christentum zur Staatsreligion erklärt. Als Konsequenz daraus wurden Andersdenkende systematisch verfolgt und getötet. Die anerkannte Philosophin und Mathematikerin Hypatia (ca. 370–415) aus Alexandria wurde wegen ihrer Lehre von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen grausam in einer Kirche ermordet. Die Bibliothek von Alexandria wurde mit ihren 200.000 Schriftrollen verbrannt. Von da an lag das Erstellen und Kopieren von Schriften in der Hand des Klerus. Es kam damit zu einem weitgehenden Stillstand von Forschung und Wissenschaft, der etwa 1.000 Jahre anhielt. Man spricht hier auch vom dunklen Zeitalter.

Mit dem Beginn der Renaissance im 15. Jahrhundert etablierte sich der Humanismus als Gegenbewegung zur Scholastik. Man bezeichnet dies als Renaissance-Humanismus. Mit ihm ging ein kultureller und sozialer Wandel einher. Wichtige Vertreter bzw. Begründer und Ideenstifter waren Francesco Petrarca (1304–1374), Dante Alighieri (1265–1321), Giovanni Boccaccio (1313–1375), Leonardo Bruni (1369–1444) und Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494). Der Autoritätsglaube machte einer kritischen Forschung Platz. Den Naturwissenschaften gelangen bemerkenswerte Fortschritte. Nikolaus Kopernikus (1473–1543) erklärte, dass nicht die Erde, sondern die Sonne im Zentrum des Universums steht. Damit wurde eine essentielle Grundlage des christlichen Weltbildes in Frage gestellt. Die Erfindung des Buchdrucks durch Johann Gutenberg verhalf kritischen Schriften zur schnellen Verbreitung. Als Reaktion darauf entsteht 1557 der vatikanische Index, der die verbotenen Bücher auflistete. Er wurde erst 1965 wieder abgeschafft. Der berühmteste Vertreter des Renaissance-Humanismus ist Erasmus von Rotterdam (1469–1536). Sein Eintreten für religiöse Toleranz und seine Ablehnung jeglichen Dogmatismus machten ihn zum Gegner des Christentums. Soweit es in der Macht der katholischen Kirche stand, verfolgte und bestrafte sie ihre Gegner. Eines von vielen Opfern war der unabhängige Denker Giordano Bruno (1548–1600). Er versuchte Wissenschaft und Glaube in Einklang zu bringen. Er wurde dafür im Jahr 1600 verbrannt. Der Verfechter des kopernikanischen Weltbildes Galileo Galilei (1564–1642) widerrief 1633 unter dem Druck der Inquisition seine Lehre, wurde aber lebenslang unter Hausarrest gestellt. Erst 1992 wurde er von der katholischen Kirche rehabilitiert. Obwohl einige Grundsätze des Humanismus in Konflikt mit der christlichen Lehre stehen, gab es dennoch eine Zeit, in der die katholische Kirche den Humanismus gefördert hat. So gilt Papst Pius II. (1405–1464) selbst als bedeutender Humanist. Trotzdem hat der Vatikan den Humanismus nie als eine dem Glauben übergeordnete Idee akzeptiert.

René Descartes (1596–1650) begründete den modernen Rationalismus. Dabei wird rationales Denken beim Erwerb von Kenntnissen gegenüber Offenbarung und Überlieferung als vorrangig eingestuft. Daneben ist er Vertreter des sogenannten cartesianischen Dualismus, welcher zwischen Geist und Materie unterscheidet. Seine naturwissenschaftlichen Arbeiten sind allerdings schon früh widerlegt worden und auch sein Dualismus gilt heute als überholt.

Zur Erklärung der Welt und des Menschen gab es bis etwa gegen Ende des 17. Jahrhunderts zu den Religionen keine wirklich überzeugenden Alternativen. Die Naturwissenschaften hatten kaum brauchbare Erklärungen zur Hand. Selbst Naturerscheinungen wie Blitz und Donner wurden als mystisch empfunden. Weitere wissenschaftliche Fortschritte stellten nun aber zunehmend die christlichen Glaubensgrundsätze in Frage. So legte 1687 Isaac Newton (1642–1727) mit der Philosophiae Naturalis Principia Mathematica den Grundstein für die klassische Mechanik. Fast gleichzeitig entwickelte der deutsche Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) die Infinitesimalrechnung, die das mathematische Rüstzeug der klassischen Mechanik darstellt. Im Rahmen der klassischen Mechanik stellt sich die Welt als völlig deterministisch dar, was im Widerspruch zur Kirchenlehre stand. In der Zeit von 1861 bis 1864 gelang es dann James Clerk Maxwell, die Phänomene der Elektrodynamik in Form von Differentialgleichungen zu beschreiben. Diese Maxwellschen Gleichungen sind die Grundlage der Optik und der Elektrotechnik. Mit diesen zwei grundlegenden Theorien der klassischen Physik sah man sich zum ersten Mal in der Lage, einen großen Teil der Naturerscheinungen rational zu erklären. Die zugrundeliegenden mathematischen Gleichungen haben dabei einen deterministischen Charakter. Sind die Kräfte und die Ausgangsbedingungen bekannt, so lässt sich z. B. die Bewegung eines Masseteilchens bis in alle Ewigkeit vorausberechnen. Das Gleiche gilt für die Ausbreitung von elektromagnetischen Wellen. In diesem Weltbild, das auch die Himmelsmechanik einschloss, war ein lenkender Gott überflüssig geworden. Die Theologie kämpfte dagegen an, musste aber diesen Einbruch in ihren Deutungsbereich letztlich hinnehmen.

Im Bereich der Philosophie und der Politik war in dieser Zeit der englische Philosoph John Locke (1632–1704) besonders einflussreich. Zusammen mit Isaac Newton und David Hume war er einer der wichtigsten Vertreter des Empirismus und gilt als Vordenker der Aufklärung. Er forderte die Gewaltenteilung in der Monarchie, bürgerliche Freiheiten und die Trennung von Staat und Kirche. Seine philosophischen Grundeinstellungen beeinflussten die Verfassungen der Vereinigten Staaten und Frankreichs. Ein weiterer wichtiger Vordenker der Aufklärung war der französische Philosoph und Schriftsteller Voltaire (1694–1778). Er verfasste eine Vielzahl von Schriften und Büchern, die zu einem großen Teil auch in andere europäische Sprachen übersetzt wurden. Darin kritisierte er die Missstände des Absolutismus und der Feudalherrschaft. Damit war er geistiger Wegbereiter der Französischen Revolution.

Mit seinem Buch Der Gesellschaftsvertrag legte der französische Philosoph und Schriftsteller Jean Jacques Rousseau (1712–1778) die theoretischen Grundlagen für die Französische Revolution. Er stellte den christlichen Glauben infrage und forderte eine staatsbürgerliche Religion. Sie sollte bewirken, dass die Menschen moralische und staatsbürgerliche Pflichten zum Wohl der Allgemeinheit beachten. Weitere geistige Wegbereiter der Französischen Revolution waren die Philosophen und Schriftsteller im Umkreis von Paul Thiry d’Holbach (1723–1789) und Denis Diderot (1713–1784). Im Haus von d’Holbach in Paris traf man sich regelmäßig bei gutem Essen und Wein zum Gedankenaustausch.2 Dabei wurden das bestehende absolutistische Regime und die christliche Religion kritisiert. Ein gemeinsames Hauptwerk war die Erstellung einer umfangreichen Enzyklopädie in französischer Sprache, die insgesamt 72.000 Artikel enthielt, darunter auch zahlreiche naturwissenschaftliche und technische Artikel. In seinem unter Pseudonym veröffentlichten Werk System der Natur trat d’Holbach ausdrücklich für den Atheismus ein und sah die Natur als materialistisch und damit auch als deterministisch an. In seinen Spätwerken unterstützte Diderot ebenfalls diese Positionen.

In der Französischen Revolution fanden die Ideen der Aufklärer erstmals politische Wirksamkeit. Sie gipfelt in der Erklärung der Menschenrechte im August 1789 durch die französische Nationalversammlung. Darin werden unter anderem Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Gewaltenteilung und Demokratie festgeschrieben. Papst Pius VI. (1717–1799) lässt die Erklärung der Menschenrechte auf den Index der „gottlosen Schriften“ setzen. Diese Maßnahme wurde erst 1963 durch Johannes XXIII. revidiert.

In Deutschland verlief die Durchsetzung humanistischer Ideen weniger stürmisch. Gegen 1750 erfolgte eine Erneuerung der humanistischen Bewegung. Das Individuum wurde stärker in den Vordergrund gestellt. Friedrich Schiller (1759–1805) und Johann Gottfried Herder (1744–1803) verstanden unter Humanität die Menschlichkeit an sich. Für Herder war Humanität mit einem Fortschritt in der Geschichte verbunden. Kunst und Wissenschaft helfen dabei, das wahre Wesen des Menschen zu verwirklichen und zu vervollkommnen. Der menschliche Geist ist in der Lage, einen sinnvollen Zusammenhang der Dinge zu erkennen und mit dem Willen zu bejahen. Damit wurden erstmals auch die Ideen des Naturalismus mit dem Humanismus verbunden. Bildung und Erziehung wurden als wichtiges Mittel zur Durchsetzung des Humanismus angesehen. Immanuel Kant (1724–1804) meinte dazu: „Der Mensch soll lernen, gute Zwecke zu wählen. Gute Zwecke sind solche, die von jedermann gebilligt werden und gleichzeitig jedermanns Zwecke sein können.“ Er verband damit die Idee eines Fortschreitens der Menschheit zum Besseren. In Bezug auf die Religion stellte er in seiner Kritik der reinen Vernunft3 fest, dass man auf einen Gott nicht aus Gründen der Vernunft schließen kann. Dennoch definierte er einen Gott als das höchste moralische Gut. Er begründet eine Ethik auf der Basis der praktischen Vernunft.4 Das wichtigste Resultat ist der Kategorische Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Dieses Ergebnis entspricht weitgehend der sogenannten goldenen Regel, die in vielen Kulturen schon lange Zeit vorher zu Geltung kam: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“ Kant schreibt zur Humanität: „[…] den Sinn für das Gute in Gemeinschaft mit anderen überhaupt; einerseits das allgemeine Teilnehmungsgefühl, andererseits das Vermögen, sich innigst und allgemein mitteilen zu können, welche Eigenschaften zusammen verbunden die der Menschheit angemessene Geselligkeit ausmachen“.

Einige Jahrzehnte später formulierten Ludwig Feuerbach (1804–1872) und Karl Marx (1818–1883) ihre philosophischen Standpunkte aus einer atheistischen Grundhaltung heraus. Marx sah in dem von ihm begründeten Kommunismus die gesellschaftspolitische Verwirklichung des wahren naturalistischen Humanismus. Insgesamt führte die Popularisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse erstmals auch in Deutschland zu einer verstärkten öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Christentum. Eine besondere Rolle spielten dabei auch die Forschungsergebnisse von Charles Darwin (1809–1882), der 1859 sein Hauptwerk On the Origin of Species (Die Entstehung der Arten) veröffentlichte. Hier wurde zum ersten Mal eine Theorie über die Entstehung des Menschen diskutiert, die ohne einen Schöpfer auskam. Gerade im Christentum ist aber die Erschaffung des Menschen durch Gott ein wesentlicher Bestandteil der Heilslehre. Julian Huxley (1887–1975), der erste Generalsekretär der UNESCO, prägte die Idee des evolutionären Humanismus:

Der evolutionär denkende Mensch kann nicht mehr Schutz vor der Einsamkeit suchen, indem er sich in die Arme einer zum Gott erhobenen – von ihm selbst geschaffenen – Vatergestalt flüchtet; nichts entbindet ihn von der mühevollen Aufgabe, sich den Problemen der Gegenwart zu stellen. Wir müssen aufgeben, uns in intellektueller wie ethischer Hinsicht wie Strauße zu verhalten, wir dürfen unseren Kopf nicht mehr in gewollter Blindheit in den Sand stecken.

Er sprach sich damit erstmals für eine Weltanschauung aus, die mit der Wissenschaft kompatibel ist. Ethische Grundlage des evolutionären Humanismus ist das „Prinzip der gleichen Berücksichtigung gleichrangiger Interessen“. Daher sind diskriminierende Ideologien wie Rassismus, Sexismus, Ethnozentrismus oder Speziesismus sowie sozialdarwinistische oder eugenische Konzepte, die mitunter auch von Evolutionstheoretikern (eine Zeitlang sogar von Julian Huxley!) vertreten wurden, mit dem evolutionären Humanismus unvereinbar.

Neben dem evolutionären Humanismus legte Julian Huxley auch den Grundstein für den Transhumanismus. In seinem 1957 veröffentlichten Werk5 New Bottles for new Wine definiert er den Transhumanismus als „Mensch, der Mensch bleibt, aber sich selbst, durch Verwirklichung neuer Möglichkeiten von seiner und für seine menschliche Natur, überwindet.“ Allerdings hatte seine Vision stark ideologische Züge, was zu heftiger Kritik und in weiten Kreisen zu einer Aversion gegen den Transhumanismus geführt hat. Insbesondere in den angelsächsischen Ländern wird aber mittlerweile der Transhumanismus als medizinisch-technische Entwicklung gesehen, die ein großes Potential zur Verbesserung der Lebensqualität zur Verfügung stellt, wenn sie in richtige Bahnen gelenkt wird.

Der evolutionäre Humanismus ist unter Einschluss des Transhumanismus gewissermaßen der Vorläufer des neuen Humanismus und ist mit ihm weitgehend kompatibel. Er rückt die Evolutionstheorie in den Vordergrund und geht davon aus, dass der Mensch keineswegs die Krone der Schöpfung ist, sondern ein unbeabsichtigtes, zufälliges Produkt der natürlichen Evolution, das sich nur graduell und nicht prinzipiell von den Tieren unterscheidet. Evolutionär soll zusätzlich auch bedeuten, dass sich die Definition des evolutionären Humanismus jederzeit selbst an die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse anpassen muss. Im deutschsprachigen Raum wird der evolutionäre Humanismus von der Giordano-Bruno-Stiftung vertreten. Der Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon hat die Thesen des evolutionären Humanismus in einem Manifest6 zusammengefasst.

In den letzten Jahren kam der Begriff des „Neuen Atheismus“ auf. Als eine Zentralfigur dieser Bewegung kann man Richard Dawkins identifizieren, der mit seinem religionskritischen Buch Der Gotteswahn7 Aufsehen erregt hat. Seitdem verbindet man mit dem Neuen Atheismus auch eine gewisse Respektlosigkeit vor dem religiösen Glauben. Genau genommen müsste eigentlich von Agnostizismus die Rede sein, weil sich die Neuen Atheisten nicht im Besitz absoluter Wahrheiten wähnen. Da sie aber von „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ reden, haben sie mit der Bezeichnung „Neue Atheisten“ in der Regel keine Probleme.

Für sich genommen stellt der Atheismus noch keine vollständige Weltanschauung dar. Was hier hinzukommen muss, sind säkulare Werte und ein auf der Naturwissenschaft aufbauendes Verständnis der Welt. In dieser Kombination kommt er dem neuen Humanismus sehr nahe. Man könnte stattdessen auch von einem naturalistischen Humanismus sprechen. Meilensteine der Grundlegung dieser Variante des Humanismus waren das Buch8 Die Neuen Humanisten von John Brockman und die Tagung9 Der neue Humanismus, die 2008 in Nürnberg stattfand. Nachdem inzwischen auch in der Kosmologie und den grundlegenden physikalischen Theorien große Fortschritte erzielt wurden, könnte man den evolutionären Humanismus als zu einseitig auf das Menschenbild ausgerichtet betrachten. Der Mensch ist aber nur ein kleiner Teil der Natur. Ein allgemein naturalistischer Humanismus überwindet die Fokussierung auf die Evolution des Menschen. Insofern kann man den neuen Humanismus als Weiterentwicklung des evolutionären Humanismus ansehen.

1.2DER NATURALISMUS

Wenn es um die Beschreibung und Erklärung der Welt geht, sind die Naturwissenschaften das Maß aller Dinge.

Wilfried Sellars, US-amerikanischer Philosoph

Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein begann sein Hauptwerk Tractatus logico-philosophicus mit den Worten: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Das heißt mit anderen Worten, dass unsere natürliche Welt die Summe aller Tatsachen ist. Eine übernatürliche geistige Sphäre jenseits der natürlichen Welt, die in keiner kausalen Beziehung zu dieser steht, bleibt für immer eine unüberprüfbare Hypothese. Dagegen sind geistige Produkte des Menschen kausal mit den materiellen Zuständen der Informationsverarbeitung in unseren Gehirnen verbunden und daher Teil unserer Welt. Wenn nun Religionsvertreter behaupten, es gäbe eine übernatürliche Sphäre, die durchaus kausalen Einfluss auf unsere Welt hat, so müsste man diese Auswirkungen auch feststellen können. Würden z. B. häufig völlig unerklärliche Wunder geschehen, so wäre das ein Hinweis auf eine übernatürliche Verursachung. Dies konnte aber bisher nie zweifelsfrei festgestellt werden. Die in heiligen Schriften beschriebenen Wunder sind nicht überprüfbar. Der Glaube an solche Wunder erfordert ein hohes Maß an Naivität. Das legt die empirisch fundierte Vermutung nahe, dass es schlichtweg keine Wunder gibt.

Der Naturalismus behauptet nun aus diesen Gründen, dass es in der Welt ausschließlich natürliche Dinge und Eigenschaften gibt. Er steht damit im Widerspruch zum Theismus, Spiritualismus und Okkultismus. Nach den Philosophen Geert Keil und Herbert Schnädelbach machen folgende fünf Elemente den Naturalismus aus:

1. Der Mensch gehört vollständig in den Naturzusammenhang.

2. Naturwissenschaften haben ein Erklärungsprivileg.

3. Der Naturalismus strebt eine Einheit der Wissenschaften an oder behauptet eine solche Einheit.

4. Der naturalistische Erkenntnistheoretiker berücksichtigt empirisches Wissen.

5. Der Naturalismus vertritt eine Kontinuitätsthese von Common Sense und Wissenschaft.

Der empirischen Erkenntnismethode, so wie sie vor allem in der Naturwissenschaft zur Anwendung kommt, wird erste Priorität gegenüber anderen Zugängen wie Transzendenz und Metaphysik eingeräumt. Man kann allerdings in Frage stellen, ob der Naturalismus völlig ohne Metaphysik auskommt. Von den Kritikern wird insbesondere darauf hingewiesen, dass man zur Begründung des Naturalismus letztlich doch auf die Metaphysik zurückgreifen müsse. Nach dem Philosophen Gerhard Vollmer10 gilt für den Naturalisten jedenfalls: „So wenig Metaphysik wie möglich“.

Man kann das Problem des Rückgriffes auf die Metaphysik umgehen, indem man den Naturalismus ganz pragmatisch damit begründet, dass die großen Erfolge der Naturwissenschaften in den letzten Jahrhunderten gezeigt haben, dass die empirische Methode der Gewinnung von Erkenntnis über die reale Welt besonders erfolgreich ist. Dieses Argument wird noch besonders dadurch verstärkt, dass wir offensichtlich in der Lage sind, mit Hilfe der Erkenntnisse der Naturwissenschaften neue Apparate und Maschinen zu bauen, die dann tatsächlich in der Wirklichkeit funktionieren. Würde es sich bei den naturwissenschaftlichen Theorien nur um Mythen handeln, wäre das wohl kaum möglich.

Diese Tatsache verführt zu der Position, dass grundsätzlich alle Dinge der realen Welt mit den Methoden der Naturwissenschaft erforscht werden können. Auch der menschliche Geist ist schließlich ein Produkt natürlicher Vorgänge. An keiner Stelle der Menschwerdung sind mystische Vorgänge unabdingbar. Warum sollte man dann nicht auch den menschlichen Geist und seine besonderen Fähigkeiten im Rahmen der Naturwissenschaften ergründen können? Allerdings stoßen wir hierbei bis heute auf Dinge, die sich einer Naturalisierung zu widersetzen scheinen. So sind das Bewusstsein und die grundlegenden Gefühle und Sinneseindrücke (Qualia) weit davon entfernt, im Rahmen der Naturwissenschaft vollständig beschrieben und erklärt werden zu können. Das Gleiche gilt für einige Produkte des menschlichen Geistes z. B. in der Kunst. Der Naturalismus scheint hier an seine Grenzen zu kommen. Aber da niemand die Zukunft vorhersagen kann und uns die Erfolge der Naturwissenschaft immer wieder überrascht haben, können wir nicht von vorneherein ausschließen, dass das in Zukunft dennoch gelingen wird. So gibt es z. B. zur Erklärung künstlerischer Leistungen wissenschaftliche Ansätze in der evolutionären Psychologie.

Man kann je nach Radikalität verschieden starke Positionen des Naturalismus unterscheiden.11 Es sind dies der ontologische, der methodologische und der epistemische Naturalismus. Daneben gibt es noch weitere Sonderformen des Naturalismus. Ein Beispiel ist der biologische Naturalismus, dessen Hauptvertreter der amerikanische Philosoph John Searle ist. Nach Searle werden unser Bewusstsein und andere mentale Phänomene von einem biologischen System, nämlich unserem Gehirn verursacht. Das Gehirn ist eine Art Bio-Computer. Dabei weist er einerseits den Geist-Körper-Dualismus zurück. Andererseits lehnt er aber auch jede Art von Physikalismus ab. Seine Position konnte sich allerdings bisher kaum durchsetzen.

Die stärkste Form des Naturalismus ist der ontologische Naturalismus. Weitgehend unabhängig von den Erkenntnismethoden ist hier die typische Position: „Das gesamte Universum, so wie es heute von der Wissenschaft erforscht wird, ist alles, was es gibt und es ist in seiner Existenz und seinen Eigenschaften unabhängig von unserem Bewusstsein.“

Der Philosoph Peter Schulte12 definiert das noch präziser:

Der ontologische Naturalist lässt zwei Klassen von Entitäten zu: 1. Die fundamentalen natürlichen Entitäten, die von der idealen (vollständigen und korrekten) naturwissenschaftlichen Theorie unserer Welt postuliert werden – also vermutlich Einzeldinge wie Elektronen, DNA-Moleküle und Schnabeltiere, Eigenschaften wie Masse, pH-Wert und Gesamtfitness, usw., und 2. Die derivativen natürlichen Entitäten, die aus den fundamentalen Entitäten zusammengesetzt sind oder, vorsichtiger formuliert, in einer ontologischen Abhängigkeitsbeziehung zu diesen Entitäten stehen. Die Gegenstände der zweiten Kategorie sind selbst keine Postulate der Naturwissenschaften, gelten aber als „natürlich“, weil sie nicht unabhängig von den fundamentalen natürlichen Entitäten existieren können.

Zu dieser zweiten Kategorie zählen z. B. die Produkte der Kunst und die besonderen Fähigkeiten des Gehirns. Man kann innerhalb des ontologischen Naturalismus noch eine schwache und eine starke Form unterscheiden. Typisch für die schwache Form ist die Aussage des Philosophen Bernulf Kanitscheider (1939–2017):

Das materielle Substrat des Universums bringt letztlich aus seiner eigenen Gesetzmäßigkeit alle Gebilde hervor. Das Universum kann in seinem empirischen, aber auch theoretisch erfassbaren Bereich ohne Rekurs auf autonome spirituelle Entitäten, besondere Lebenskraft oder teleologische und transzendente Wirklichkeit erkannt werden.

Die starke Form des ontologischen Naturalismus schließt auch noch einen Transzendenzbereich völlig aus. Der Philosoph Franz Josef Wetz sagt dazu: „Der Mensch ist ein unbedeutender Agent in einem ziel- und sinnfreien, dem Spiel blinder Naturkräfte unterliegendem Universum. Diese sinnfreie Natur ist alles, was es gibt. Alle Vorgänge in der Wirklichkeit laufen nach Naturgesetzen ab. Es geht in der Natur mit rechten Dingen zu.“ Es werden also schon von vorneherein mystische Dinge oder Vorgänge in der Wirklichkeit völlig ausgeschlossen und zwar auch bei solchen Phänomenen, die wissenschaftlich noch ungeklärt sind. Dieser harten Position kann man vorwerfen, dass sie nicht wirklich ergebnisoffen ist und leicht dogmatische Züge hat. Geht man noch einen Schritt weiter und bestreitet auch noch die Existenz von emergenten Eigenschaften, so führt der ontologische Naturalismus zum physikalischen Naturalismus oder kürzer ausgedrückt zum reinen Physikalismus.

Beim methodologischen Naturalismus wird der ontologischen Naturalismushypothese kein axiomatischer Status zuerkannt, ihr wird lediglich höhere empirische Kohärenz und Plausibilität zugestanden. Als empirische Hypothese gilt sie jederzeit als revisionsfähig. Insofern verpflichtet er sich nicht auf einen Szientismus oder einen Physikalismus. An der Frage, in welchem Ausmaß der methodologische Naturalismus erkenntnistheoretische Fragen lösen kann, kann man auch hier stärkere und schwächere Formen unterscheiden. Die starke Position geht davon aus, dass alle erkenntnistheoretischen Fragen letztlich naturwissenschaftliche Fragen sind. Die Orientierung an den Erkenntnismethoden der Naturwissenschaft ist das entscheidende Merkmal des methodologischen Naturalismus. Es geht dabei nicht in erster Linie um die Klärung der Begriffe, sondern darum, die Phänomene selbst zu untersuchen und daraus Theorien zu entwickeln, die diese angemessen beschreiben. Bereits die berühmten Philosophen Hume, Hobbes, La Mettrie und Holbach waren der Ansicht, dass allein die Methoden der Naturwissenschaft den Königsweg der Wahrheit liefern.