Kinderärztin Dr. Martens – 10 – Ihr Ein und Alles

Kinderärztin Dr. Martens
– 10–

Ihr Ein und Alles

Ein ergreifender Roman um Mutter und Kind

Britta Frey

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-555-0

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Hanjo Maile saß auf dem Schoß von Ruth Rist und zappelte heftig. Im Bus ging es laut zu, mit Hanjo befanden sich einunddreißig Kinder im Bus. Es waren Kinder aus einem Tagesheim aus Lüneburg, die einen Ausflug machten. Alle waren zwischen acht und zwölf Jahre alt, nur Hanjo bildete eine Ausnahme, er war noch keine sechs Jahre und eigentlich hätte er zu Hause bleiben müssen, aber seine Mutter war berufstätig, und es war ihr nicht möglich, diesen Tag freizunehmen.

»Laß mich los! Ich will bei Antje sitzen. Ich bin schon groß!« Der Kleine versuchte sich aus den Armen der Erzieherin zu befreien.

Antje, eines der älteren Mädchen, sie hatte den kleinen Hanjo schon lange in ihr Herz geschlossen, hatte seine Worte gehört. Sofort bat sie: »Frau Rist, lassen Sie ihn doch zu uns nach hinten kommen. Ich passe schon auf ihn auf.«

Ruth Rist lockerte etwas ihren Griff. Das genügte Hanjo, um zwischen ihren Händen durchzurutschen. Er wollte gleich nach hinten laufen, aber dann überlegte er es sich anders. Bittend sah er zu der Erzieherin hoch. »Ich werde ganz brav bei Antje sitzen, wenn ich nach hinten darf.«

Der Busfahrer mußte bremsen, und Hanjo verlor das Gleichgewicht, er fiel gegen Ruths Knie. Sofort griff diese zu und hob ihn wieder auf ihren Schoß. »Siehst du!« Sie strich ihm liebevoll übers Haar. »In einem fahrenden Bus herumzulaufen ist gefährlich.«

Hanjo warf sich in ihrem Arm herum, so daß er nach hinten sehen konnte. »Da, da!« rief er aufgeregt. »Knut sitzt auch nicht.«

»Du sollst doch nicht petzen!« mahnte die Erzieherin lächelnd.

Hanjo beeindruckte der Tadel wenig. »Da!« Er stieß Ruth Rist an. »Du mußt den Kopf wenden, dann siehst du es.«

»Ich sitze schon wieder«, rief Knut. Er wartete nicht, bis Frau Rist sich umgedreht hatte, plumpsend ließ er sich neben Antje fallen.

»Bald halten wir an und machen einen Spaziergang«, meinte Ruth Rist.

»Bevor es soweit ist, singen wir noch einmal ein Lied«, mischte sich die zweite Erzieherin ein. »Seid ihr einverstanden?«

»Ja!« schallte es im Chor zurück. Vorschläge wurden gemacht.

»Ich… ich weiß, was wir singen«, rief Hanjo laut. Er versuchte, die anderen Kinder zu übertönen.

»Gut, dann sage es, aber nicht zu laut!« Ruth verzog das Gesicht. Hanjo hatte ihr direkt ins Ohr gebrüllt.

»Du darfst mich nicht so fest halten, ich kann sonst nicht singen.«

»Was willst du denn singen?« fragte Ruth und ließ ihn los.

»Das sage ich Antje.« Blitzschnell rutschte Hanjo von ihren Knien und raste durch den Mittelgang nach hinten. Er stolperte über eine Tasche. Die zweite Erzieherin, die ihn kommen sah, konnte ihn gerade noch auffangen, sonst wäre er gegen Antjes Sitz gefallen.

»Nicht so schnell, kleiner Mann!« Doris Lund hob ihn hoch. Auch sie mochte Hanjo, der für sein Alter sehr zugänglich war.

»Ich bin nicht klein!« Hanjo zappelte. »Meine Mami sagt, daß ich schon groß bin.« Er legte sein Köpfchen schief und strahlte Doris an. »Ich bin doch groß, nicht? Deswegen durfte ich auch mit auf den Ausflug.«

Das stimmte zwar nicht ganz, aber Doris nickte lächelnd.

»Dann kannst du mich auch loslassen«, forderte Hanjo. »Ich will bei Antje sitzen. Weißt du, wenn ich ganz groß bin, dann werde ich Antje heiraten.«

Die Kinder, die seine Worte gehört hatte, brachen in schallendes Gelächter aus. Hanjo verzog das Gesicht. »Ich werde ganz sicher groß. So groß… so groß…« Im ersten Augenblick fiel ihm kein passender Vergleich ein, dann streckte er die Hand aus, zeigte nach vorne und rief triumphierend: »So groß wie der Fahrer!«

Wieder lachten alle. Antje lachte zuerst auch, dann sah sie jedoch, wie Hanjo beleidigt sein Näschen rümpfte, da bekam sie Mitleid mit ihm. »Bitte, Frau Lund, lassen Sie Hanjo zu mir kommen. Ich passe schon auf, daß er sitzen bleibt.«

»Bitte, bitte«, bettelte Hanjo sofort.

Doris Lund zögerte. Der Ausflug war nur für die größeren Kinder des Tagesheims, und daher hatte man Hanjo zuerst auch nicht mitnehmen wollen. Man hatte sich im Heim lange und ausführlich darüber unterhalten. Normalerweise hatten die kleineren Kinder an diesem Tag zu Hause bleiben müssen, bei Hanjo jedoch war dies nicht möglich, denn seine Mutter war Chefsekretärin und hatte gerade heute ihren Chef zu einer Tagung nach Hamburg begleiten müssen.

»Schnell, du mußt schnell ja sagen«, drängte Hanjo. »Tante Ruth hat doch gesagt, daß wir bald da sind.«

»Es ist auch nicht mehr weit. Wir machen einen Spaziergang durch die Heide, gehen auf einen Spielplatz…«

»Und zuerst darf ich noch bei Antje sitzen«, fiel Hanjo ihr ins Wort.

Da erhob Antje sich und ging die zwei Reihen nach vorne. »Lassen Sie ihn doch mitkommen, er kann auf meinem Schoß sitzen, und dann singen wir. Hanjo singt doch so gern.«

Doris Lund ließ den Kleinen los. »Es ist aber besser, wenn er zwischen dir und Knut sitzt«, sagte sie und dann mußte sie lächeln, denn Hanjo strahlte nun über das ganze Gesicht. Sie drehte sich um und sah zu, wie der Kleine sich brav zwischen Antje und Knut setzte. Stolz streckte er sich, um größer zu wirken.

»Ich werde auch hier ganz brav sein«, hörte sie ihn sagen. »Ich bin ja schon so groß, daß ich mit auf den Ausflug darf.«

Als die Kinder dann sangen, erhob sich Doris und ging nach vorn zu ihrer Kollegin. »Es war schon richtig, daß wir Hanjo mitgenommen haben«, meinte sie und setzte sich an ihre Seite. »Er ist für sein Alter schon sehr vernünftig. Die anderen Kleinen könnten wir bei diesem Ausflug wirklich nicht brauchen. Sie würden im Bus herumtoben, und wir hätten keine Sekunde Ruhe.«

»Nicht nur im Bus.« Kurz wandte Ruth, sie war die jüngere der beiden Erzieherinnen, den Kopf. »Ich bin froh, daß Hanjo sich wohlfühlt. Vorige Woche war er sehr verstört, als er erfuhr, daß seine Mutter an diesem Tag keine Zeit für ihn haben würde.«

»Kein Wunder! Die Mütter aller anderen Kinder konnten sich freinehmen. Dieser jährliche Ausflug für die größeren Kinder steht schon seit Wochen fest. Hanjo hatte mitbekommen, daß seine Altersgenossen an diesem Tag etwas mit ihren Müttern unternehmen. Nur seine Mutter hatte keine Zeit.«

»Du weißt doch, daß sie die rechte Hand vom Firmenchef der Sitterwerke ist. Sie mußte Dr. Sitter nach Hamburg begleiten«, verteidigte Doris Hanjos Mutter.

»Ich weiß, aber ich verstehe es nicht«, sagte die Jüngere bestimmt. »Sie hat nun einmal einen Sohn, und einmal im Jahr könnte sie sich wirklich Zeit für ihn nehmen.«

Doris Lund zuckte die Achseln, dann meinte sie: »Frau Maile hat es sicher nicht leicht. Sie zieht Hanjo allein groß.«

»Ich weiß!« Ruth senkte den Blick. »Ich finde das nicht gut. Ich gebe zu, sie bemüht sich sehr, aber ist das genug?«

Doris runzelte die Stirn. »Was willst du damit sagen?«

Ruth seufzte. Sie hob den Blick, sah die Kollegin fragend an. »Ist dir nicht aufgefallen, daß Hanjo in letzter Zeit verstört war?«

»Das war nur wegen des Ausflugs.«

»Nein«, widersprach Ruth. »Irgend etwas stimmt mit dem Kleinen nicht. Er ist munter, springt vergnügt herum und plötzlich sitzt er still in einer Ecke. Vorhin sahen wir aus dem Fenster. Ich habe ihn auf etwas aufmerksam gemacht, doch da hatte ich das Gefühl, er nahm es gar nicht wahr.«

»Jetzt ist er doch ganz munter. Hör nur, er singt feste mit.« Doris wandte den Kopf. Hanjo hatte die Hände erhoben und schien zu dirigieren. Seine helle Stimme hob sich von den andern ab. »Sie sind alle guter Dinge, es wird sicher ein schöner Tag.«

Kaum hatte Doris die Worte ausgesprochen, wurde sie nach vorn geschleudert. Unerwartet hatte der Fahrer des Busses das Steuer herumgerissen und gleichzeitig gebremst. Schreie ertönten. Die beiden Erzieherinnen klammerten sich an der Lehne des Vordersitzes fest, sie konnten nichts anderes tun. Es ging alles so schnell. Sie spürten es mehr, als daß sie es sahen, daß der Bus in den Straßengraben rutschte.

*

Die Arbeiter an der Baustelle fuhren erschrocken hoch, als Bremsen quietschten. Das Geräusch berstenden Metalls folgte. Lennart Matthiesen konnte von seinem Standort aus nicht genau sehen, was vorgefallen war. Er lief einige Schritte, dann sah er das Baustellenfahrzeug, es stand quer in der Straße. Erst Minuten später sah er den Bus. Er war nicht umgekippt, hing aber so stark in den Graben, daß er sich selbst aus dieser Lage kaum befreien konnte.

Gab es Verletzte? Er sah, daß der Fahrer des Baustellenfahrzeuges aus dem Führerhaus kletterte und auf den in den Graben gerutschten Bus zueilte. Lennart Matthiesen drehte den Kopf und rief seinem Vorarbeiter zu: »Kommen Sie, wir wollen uns beeilen, vielleicht können wir helfen.« Er eilte weiter. Als er die Straße erreicht hatte, kletterten die ersten Kinder aus dem Bus. Einige davon weinten.

Lennart Matthiesen, ein gebürtiger Kieler, der seit drei Wochen wieder einmal in der Nähe von Ögela arbeitete, begann zu laufen. Als Doris Lund den Bus verließ, hatte er die Unglücksstelle erreicht.

»Ist jemand verletzt? Kann ich helfen?«

»Ich weiß es nicht! Ich glaube nicht!« Etwas hilflos drehte Doris sich um die eigene Achse. Sie versuchte sich einen Überblick zu verschaffen.

»Mein Arm!« jammerte ein Kind.

»Ich habe mir den Kopf angestoßen«, sagte ein anderes weinend.

»Laß sehen!« Lennart griff nach dem Jungen und schob ihm die Haare aus dem Gesicht. »Du wirst eine Beule bekommen«, sagte er. Er hob den Kopf. »Wir wollen hoffen, daß nichts Schlimmeres geschehen ist. Wie viele Kinder haben Sie dabei?«

»Einunddreißig«, sagte Doris automatisch. Auch sie stand noch unter Schock, doch sie riß sich zusammen, klatschte in die Hände. »Hört einmal alle her! Ich glaube, wir haben Glück gehabt. Es ist nichts passiert. Vielleicht bekommt der eine oder andere von euch blaue Flecken, aber ihr könnt doch alle laufen.« Doris schluckte, dann erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht. »Seht nur, es ist ein sehr schöner Tag. Wir holen uns unsere Rucksäcke und dann marschieren wir gleich von hier aus los.«

Als sie schwieg, schwirrten Fragen durcheinander. Es schien wirklich niemand verletzt zu sein. Die Kinder begannen, den Unfall als Abenteuer zu sehen. Sie liefen um den Bus herum, und die Älteren begannen, Ratschläge zu geben.

»Das ist ja noch einmal gut gegangen«, sagte Lennart. Er wandte sich an Doris, stellte sich vor. »Ich arbeite an der Baustelle dort. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich meinen Männern den Auftrag geben, dafür zu sorgen, daß der Bus auf die Straße zurückkommt. Kümmern Sie sich nur um die Kinder.«

»Das ist sehr nett! Wir kommen aus Lüneburg…« Sie wollte noch etwas sagen, aber da erschien ihre Kollegin in der Tür. Sie war sehr bleich.

»Hanjo ist ohnmächtig. Ich glaube, wir sollten einen Arzt rufen. Nicht, daß…« Sie sprach nicht weiter, aber die Angst flackerte in ihren Augen.

»Mein Gott!« entfuhr es Doris. Sie stürzte zum Bus, drängte sich an Ruth vorbei ins Innere. Lennart folgte ihr langsamer. Durch seinen Beruf, er war Bauingenieur, hatte er schon verschiedene Erste-Hilfe-Kurse absolviert.

Hanjo lag auf der hinteren Rückbank im Bus. Seine Augenlider zitterten leicht, und Lennart, der sich zusammen mit der Erzieherin über ihn beugte, stellte fest: »Er wird gleich zu sich kommen.«

»Wie ist das möglich? Hat er sich den Kopf angeschlagen?« Doris spürte, wie sie zu zittern begann. »Ist… ist er verletzt?«

»Das kann ich nicht sagen. Das muß ein Arzt entscheiden. Innere Verletzungen sind nicht auszuschließen. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, wie es hier im Businneren dazu hätte kommen sollen.« Lennart überlegte. »Ganz in der Nähe befindet sich die Kinderklinik Birkenhain. Ich werde einen Arzt rufen lassen.« Ehe Doris etwas sagen konnte, öffnete Lennart ein Fenster und rief seinem Vorarbeiter, der sich inzwischen ebenfalls an der Unfallstelle eingefunden hatte, zu, daß man Dr. Martens Bescheid sagen solle.

Inzwischen hatte Hanjo die Augen aufgeschlagen. Er wollte sich aufsetzen, doch Doris war schneller. Sie hatte ihr Entsetzen, so gut es ging, überwunden. Liebevoll beugte sie sich über ihn und strich ihm über die Wange. »Du mußt liegenbleiben.«

»Aber ich will singen!« Er wäre sicher aufgefahren, hätte Doris ihn nicht an den Schultern niedergedrückt. »Bitte, Hanjo, sei lieb! Du mußt liegenbleiben. Du hast dir den Kopf angeschlagen.«

»Nein!« Hanjo schüttelte heftig den Kopf.

»Du mußt stilliegen«, bat Doris erneut. »Tut dir etwas weh?«

»Nein! Wo ist Antje? Ich will nachsehen, wo Antje ist. Ich will zu ihr.«

»Gleich!« Doris streichelte seine Wange. »Kannst du dich nicht erinnern? Der Bus hat gebremst.«

»Ich bin vom Sitz gefallen.« Plötzlich wurden Hanjos Augen groß, mit offenem Mund starrte er die Erzieherin an. Seine linke Hand kam in die Höhe, blieb in der Luft hängen.

»Was ist?« fragte Doris erschrocken. »Du mußt sagen, wenn dir etwas weh tut.«

»Meine Hand«, kam es kläglich von Hanjos Lippen. »Ich kann meine Hand nicht bewegen. Sie tut nicht das, was ich will.«

Doris verstand nicht. Sie griff nach seiner linken Hand, drückte sie. Hanjo entzog sie ihr. Er griff damit nach seinem rechten Arm. »Da… da… es geht nicht!«

Erschrocken drehte Doris den Kopf und sah den Bauingenieur an, der wieder hinter sie getreten war.

»Vielleicht hat er sich den Arm gebrochen«, meinte Lennart. Er ging neben der Bank in die Knie. »Tut dir der Arm sehr weh?« fragte er. Er versuchte dabei aufmunternd zu lächeln.

»Er tut nicht weh! Ich spüre ihn nicht!«

Lennart lächelte weiter, obwohl seine Besorgnis zunahm. Er begann, den Arm zu untersuchen. Schließlich drückte er fester zu, von Hanjo kam keine Reaktion.

»Ist er gebrochen?« fragte Doris, die jede seiner Bewegungen beobachtet hatte.

»Ich kann es nicht sagen. So wie es scheint, schwillt nichts an.« Lennart war ratlos. Er nahm Hanjos Hand in die seine. »Bewege deine Finger«, bat er.

Doris und er starrten auf die kleine Hand. Nichts geschah.

»Hanjo, hast du nicht verstanden?« Doris’ Stimme zitterte leicht.

»Es geht nicht«, sagte Hanjo kläglich. Da ihn niemand mehr niederdrückte, hob er den Kopf. Verständnislos sah er auf seine Hand. Dann füllten sich seine Augen mit Tränen. »Meine Hand ist kaputt!« schluchzte er. »Ich kann nicht zugreifen, Tante, ich will doch mit den Kindern Ball spielen. Sie haben gesagt, ich darf mitspielen, weil ich groß bin.« Er schluchzte noch heftiger.