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Für Julius

Copyright © 2018 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © mauritius images/incamerastock/Alamy

ISBN 978-3-7117-1084-0

eISBN 978-3-7117-5362-5

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter www.picus.at

Stefanie Bisping schreibt als Reisejournalistin für Tageszeitungen und Magazine und hat dabei die Welt von Spitzbergen bis nach Tasmanien vermessen. Ihr besonderes Interesse gilt Küsten und Inseln, ihre besondere Liebe gehört England. Im Picus Verlag erschienen ihre Lesereisen Estland, Malediven, Norman-die, Bretagne, Emilia Romagna und Apulien.

www.stefanie-bisping.de

Stefanie Bisping

Lesereise England

Besenflug im Schlossgarten

Picus Verlag Wien

Inhalt

Stillstand im Schnee

Von den Vorzügen und Eigenarten einer wunderbaren Insel

Zeitreise im Rosengarten

Im Südosten der Insel steht ein historisches Haus neben dem anderen. Ihre Interieurs stecken voller Geschichten

Bei starkem Wind schweigen die Schafe

Steilküste und Ritterburgen, Fledermäuse und Fasane: Die South Downs sind ein schier unendlicher Abenteuerspielplatz

Heuschrecken in Hampton Court

Speisearchäologen ergründen vor Publikum, wie Heinrich VIII. und sein Hofstaat in seinem Lieblingsschloss tafelten

Champagner für den Retter Englands

Zwei Häuser, ein Staatsmann: Blenheim Palace und Chartwell waren die wichtigsten Wohnsitze Winston Churchills

Iss nie deine Schnecken in einem Bus

In einem Tal in East Sussex versteckte sich Rudyard Kipling mit seiner Familie und dem Rolls Royce vor der Welt

Vom Glück in Gummistiefeln

Wie man Dornröschen wachküsst: Unterwegs in den Gärten von Heligan und Eden in Cornwall

Vier Damen und ein Cottage

Unverheiratet bleibt der Frau ohne Vermögen nur das Schreiben: Zu Besuch bei Jane Austen in Chawton

Der Geist in der Kapelle

Romantik, Extravaganzen und Tradition bestimmen das Studentenleben in Oxford

Tee mit Hamlet und König Lear

In Stratford-upon-Avon können Shakespeare-Enthusiasten sich fortbilden

Gleis 9 ¾ ist das Tor zum Himmel

Die Tour durch die Kulissen der acht Harry-Potter-Filme in den Studios bei London führt ins Herz von Hogwarts

Ein Hase schenkte ihr die Freiheit

Ihre Geschichten von Peter Rabbit brachten Beatrix Potter Unabhängigkeit. Ihre Wahlheimat fand sie im Lake District

Für Papisten ist im Schrank noch Platz

In Yorkshires Schlössern ist Geschichte lebendig – dank umtriebiger Schlossherren, die das Haus ihrer Ahnen erhalten

Der Tierarzt und die heile Welt

In Alf Wights Haus in Thirsk ist das Universum vom »Doktor und dem lieben Vieh« lebendig geblieben

Graf Dracula war Engländer

Whitby war nicht nur nautische Heimat des Seefahrers James Cook, sondern auch Geburtsort des berühmtesten Vampirs der Welt

Sturmböen am Mersey

Noch in den achtziger Jahren bot Liverpool ein Bild der Tristesse. Dann nahm die Heimatstadt der Beatles ihr Schicksal selbst in die Hand

Mit dem Besen über die Burgmauer

Besenreiten in Alnwick Castle, Stammsitz der Herzöge von Northumberland und Hogwarts der ersten beiden Harry-Potter-Filme

Wenn die Krone Ausgang hat

Die Sammlung der Kronjuwelen im Londoner Tower erzählt von tausend Jahren Monarchie

Stillstand im Schnee

Von den Vorzügen und Eigenarten einer wunderbaren Insel

Es war eine der seltenen Gelegenheiten, in denen man sich all die Segnungen, mit denen das Vereinigte Königreich die Welt so reich beschenkt hat, deutlich ins Gedächtnis rufen muss: Shakespeare, die Beatles, Cheddarkäse, die Prinzen William und Harry; nicht zuletzt die erste auf Freiheit und Gleichheit der Menschen basierende Verfassung.

Denn an diesem Abend war es schwer, die Insel mit jener Innigkeit zu lieben, die den Reisenden sonst durchdringt, sobald er einen Fuß auf englischen Boden setzt. Dieser Boden nämlich war von untypischem Weiß. Der Großraum London lag unter einer Schneeschicht von annähernd vier Millimetern Höhe begraben. Was in der Stadt kaum zu sehen war, bedeutete für die Flughäfen der Metropole Chaos, gestrichene Flüge und Tausende Verzagte, die sich in Heathrow nächtens in Schlangen einreihten, um in den Besitz von Hotelgutscheinen zu gelangen.

Gefasst standen die Gestrandeten an. In ihren Gesichtern war Resignation zu lesen – einmal mehr zeigte hier die Natur dem Menschen, wo der Hammer hängt –, aber auch Entkräftung. Mancher fragte sich, wie eine Nation, die sich einstmals die halbe Welt untertan gemacht hatte, nun daran scheitern konnte, ein paar Tragflächen zu enteisen. Einzig ein Grüppchen von Skandinaviern lachte fröhlich. Zu drollig, dieses Inselvolk, da war doch kaum etwas Raureif zu sehen!

Ein paar junge, dynamische Menschen hingegen waren nicht bereit, sich ins Unvermeidliche zu fügen. Zielstrebig zogen sie an den langen Schlangen vorbei, die mittlerweile einen guten Teil des Terminals füllten: Reisende, auf deren Armen Kleinkinder schliefen, und Erschöpfte, die bereits Langstreckenflüge hinter sich gebracht hatten, als das Londoner – nun ja – »Schneechaos« ihre Weiterreise unterbrach. Zügig arbeitete sich das Grüppchen bis zum Tresen vor.

Einer der Gestrandeten, den es bei dem Manöver hinter sich ließ, ein Mann mit müden Augen, schüttelte den Kopf. »Some people simply have no respect«, so sprach er zu sich. Manche Leute haben einfach keinen Respekt. Beflügelt vom Gefühl, ein Anrecht auf schnellere Bedienung zu haben als alle anderen, umgingen sie auch so festgefügte, unantastbare Strukturen wie die britische Warteschlange. Mit leisem Schaudern betrachteten die Überholten die selbstgewisse Geschmeidigkeit, mit der sich diese mit Koffern bewehrten Dampfwalzen womöglich auch bei anderen Gelegenheiten einen Vorteil zulasten anderer zu verschaffen suchten.

Niemand hielt sie auf. Die Gedanken der Anstehenden schienen sie nicht zu spüren. Doch in diesem Moment einte die Wartenden das beruhigende Wissen, dem Wetter wenigstens nur eine Nacht zu opfern – und nicht auch Fairness und Umgangsformen. Und noch etwas wussten sie: Engländer waren diese Leute nicht.

Zeitreise im Rosengarten

Im Südosten der Insel steht ein historisches Haus neben dem anderen. Ihre Interieurs stecken voller Geschichten

Zwei Hofdamen tuscheln in einer Ecke, neben ihnen steht ein elegant gekleideter Höfling. Doch die Gestalten aus der Tudor-Zeit geben ihre Geheimnisse nicht preis: Ihre üppigen Gewänder sind auf Puppen gespannt. Die Krypta unter der zweitältesten Großen Halle Englands, wo einst Vorräte gelagert und Schätze vor Feuer und Feind verborgen wurden, ist heute Aufbewahrungsort für Requisiten und Kostüme – Erinnerungen an zahlreiche Dreharbeiten in Penshurst Place.

Der Film »Die Schwester der Königin« mit Scarlett Johansson als Mary Boleyn entstand zu Teilen hier; bald danach tauchte die BBC-Verfilmung des Bestsellers »Wölfe« den Bau aus dem 14. Jahrhundert neuerlich in Scheinwerferlicht. Die Romanautorin Hilary Mantel erzählt darin die Geschichte des Gattinnenverschleißers Heinrich VIII. aus dem Blickwinkel seines Beraters Thomas Cromwell. Penshurst Place war auch bei dieser Produktion eines von mehreren historischen Häusern, die die Anwesen Heinrichs und seiner Getreuen darstellten.

Denn das Haus, seit dem 16. Jahrhundert im Besitz der Familie Sidney, hat die Zeit recht ungerührt überstanden. Auch die von Hecken eingefassten Rosen- und Magnoliengärten, der Obsthain und der grauweiße Garten haben sich kaum verändert, seit Heinrichs Tochter Elizabeth I. hier einen Besuch machte. Nur ein paar Ergänzungen wie das große Beet, dessen Blüten einen Union Jack bilden, ein aus Buchs geformter Bär und die Skulptur des Stachelschweins, das auch das Familienwappen der Sidneys ziert, kannte sie noch nicht.

Heute spielen und flanieren hier die Besucher. Im Frühling fotografieren sie ihre Kinder zwischen Fluten blühender Narzissen, bis in den Herbst liegen sie, von keinem Verbotsschild gehindert, auf Rasenflächen und nutzen einen der ältesten erhaltenen Gärten Englands, als wäre es ihr eigener.

Sir John de Pulteney, ein reicher Händler aus London, ließ Penshurst Place 1341 erbauen. Er beauftragte die besten Handwerker seiner Zeit, um die von zwei Flügeln eingefasste Große Halle mit hohen Fenstern und einer aufwändig aus Kastanienholz geschnitzten Decke zum Schmuck- und Renommierstück zu machen. Weil Pulteney seinem König Edward III. viel Geld geliehen hatte, durfte er sich frei unter dessen Baumeistern bedienen. Doch er sollte sich nur acht Jahre lang an seinem Landhaus erfreuen; von einem Tag zum nächsten raffte ihn die Pest dahin.

Nachdem das Anwesen an die Herzöge von Buckingham gefallen war, war es dem dritten Herzog beschieden, wesentliche Eigenschaften des noch nicht dreißigjährigen Königs Heinrich VIII. kennenzulernen: Misstrauen, gepaart mit tödlicher Konsequenz. Anlässlich eines Besuchs seines Königs im Jahr 1519 investierte Buckingham ein Vermögen in dessen Bewirtung. Doch solcher Reichtum, dazu ein hoher Titel, das mochte bedeuten, dass Buckingham sich Hoffnungen auf Heinrichs Thron machte. Vorsichtshalber ließ der König ihn köpfen, Penshurst Place fiel an die Krone.

Heinrich nutzte das Haus fortan als Jagdsitz und überließ es später seiner vierten Gattin, der ungeliebten Anna von Kleve. Heinrichs einziger Sohn Edward schenkte es seinem Tutor Sir William Sidney. Dessen Familie brachte unter anderem den 1554 geborenen Dichter Sir Philip Sidney hervor und gab das Anwesen trotz einiger Erbfolgekrisen – der zweite Earl of Leicester hatte fünfzehn Kinder, von denen drei nacheinander Titel und Anwesen erbten, doch keiner hinterließ einen legitimen Nachkommen – nie mehr her. So ging der Titel des Earls verloren, doch blieb das Haus über eine Nichte in der Familie. Bis heute.

Historische Bausubstanz, Gärten in der Größe mehrerer Fußballfelder und Weide- und Ackerland der herrschaftlichen Anwesen bringen zwar noch immer einiges ein, erfordern zugleich aber auch nahezu unbegrenzte Mittel zu ihrer Erhaltung. Daher sind viele Herrensitze anders als Penshurst Place nicht mehr in Privatbesitz, sondern gehören dem National Trust, einer gemeinnützigen Organisation, die das historische Erbe für die Nation bewahrt. Mancher Aristokrat bewohnt so noch einen Teil des Anwesens seiner Väter, ohne bei jeder Handwerkerrechnung den Bankrott fürchten zu müssen. Zugleich macht der National Trust Schlösser, Adelssitze und Dichterklausen der Öffentlichkeit zugänglich und beschert dem Volk überdies Geschenkboutiquen, in denen von der Orangenmarmelade über Vogelnistkästen bis zu Gartenhandschuhen und praktischen Weinglashaltern für Rasenflächen alles zu kaufen ist, was das Landleben schöner macht – stets zum Wohl der rund fünfhundert historischen Häuser, Gärten, Parks, Monumente und Naturschutzgebiete, in deren Erhalt aller Gewinn fließt.

Besonders viele finden sich im Süden Englands, wo einflussreiche Persönlichkeiten immer schon die Nähe zur Hauptstadt schätzten und eine milde Landschaft aus Hügeln, Wiesen und gepflegten Dörfern Augen und Gemüt beruhigt. Dass dieses Bild sich im Lauf der Zeit nicht dramatisch verändert hat, bedeutet heute auch, dass sich die Blechlawinen des 21. Jahrhunderts über uralte Routen durch die Herzen kleiner Marktstädte pflügen und sich zu Stoßzeiten vor Kreisverkehren kilometerweit zurückstauen. Doch der Lohn solcher Mühen ist reich. Pendler kehren in ein Idyll blühender Gärten und historischer Schänken zurück. Reisende haben es nie weit zum nächsten sehenswerten Herrenhaus.

Ein besonders schmales Sträßchen führt nach Standen, dem bei East Grinstead gelegenen einstigen Landhaus von James Beale und seiner Frau Margaret. Der Vater von sieben Kindern hatte sein Vermögen als Anwalt der Eisenbahngesellschaft Midland Railways gemacht. Mit fünfzig Jahren wünschte Beale sich ein Traumhaus. Es sollte Symbol seines Erfolgs, behaglicher Wochenendsitz und Rückzugsort fern von Lärm und Enge der Metropole sein. Er beauftragte Philip Webb und William Morris mit dem Bau: den führenden Architekten der Zeit und einen der kreativsten Köpfe des 19. Jahrhunderts. Auf Gelände und Gebäuden der Farmen Great Hollybush und Standen entstand ab 1891 über einem Tal mit Blick über das Sussex Weald und die Hügel der South Downs ein Haus, das vor allem aufgrund des Wirkens des vielseitig begabten Morris seinen Reiz bis heute bewahrt hat.

Der 1834 geborene William Morris war Architekt und Sozialist, arbeitete als Übersetzer und Verleger, kam als Maler, Dichter und Begründer des Arts and Crafts Movement zu Ruhm und wird bis heute für seine filigranen Muster und Ornamente geliebt. Er ersetzte Schwere und Dunkelheit viktorianischer Interieurs durch Licht, Leichtigkeit und zarte Farben und legte zugleich größten Wert auf Solidität von Material, Form und Handwerk. Auch Webbs Stil war neu, sogar visionär. Er schonte den Baumbestand, zerstörte keines der alten Gebäude, platzierte das Haus in geschützter Lage über die Aussicht und bediente sich bei den Baumaterialien in nächster Nachbarschaft. Der Steinbruch neben dem Haus wurde später zum Felsengarten.

Bis auf einige Zimmer der Bediensteten sind alle Räume Standens fürs Publikum geöffnet. Die Besucher bewundern das Lesezimmer mit Kamin, gemusterten Teppichen, kleinen Tischen und Sesseln; das Billardzimmer mit dem riesigen Tisch darin und dem in einen Alkoven eingelassenen Sofa für Zuschauer, die eingebauten Bücherschränke und die hellen Schlafzimmer im ersten Stock. Wer Schubladen auszieht, findet Muster von Morris’ mit Blüten und Ornamenten geschmückten Stoffen und Tapeten, die sich bis heute gut verkaufen. Und auch über schönes Wohnen ist hier einiges zu lernen. »Habt nichts in euren Häusern, von dem ihr nicht sicher wisst, dass es nützlich oder von dem ihr nicht glaubt, dass es schön ist«, so lautete Morris’ Doktrin, die die Zeit so mühelos überdauert hat wie seine Designs.

In Terrassen senkt sich der Garten, bis hinter Wiesen und Weiden der Weirwood-See das Tal beschließt. Besucher können auf den Rasenflächen picknicken, die von den Beales 1907 von einer Japanreise mitgebrachten Ahornbäume bewundern, auf Spielplätzen toben und in die Landschaft hinauswandern. Die Gatter an den Weiden sollen nur Kühe aufhalten. Zweibeiner dürfen hinüberklettern.