Dr. med. Karim El Souessi
Die Angst vor dem Tod überwinden

Dr. med. Karim El Souessi

DIE ANGST VOR DEM TOD ÜBERWINDEN

Sterbemeditation und Sterbebegleitung

Für meine Frau Verena und meine Kinder Elia und Susanna

UNA EX HIS TUA ERIT.

„Eine dieser Stunden wird deine sein.“

Abb. 1: Astronomische Uhr in Prag aus dem Jahr 1410

„Nur das Grab wartet auf uns.”

ZEN-MEISTER KÔDÔ SAWAKI

SELBSTBETRACHTUNG

Die Zeit ist ein Fluss,

ein ungestümer Strom,

der alles fortreißt, jegliches Ding,

nachdem es zum Vorschein gekommen,

ist auch schon wieder fortgerissen,

ein anderes wird herbeigetragen,

aber auch das

wird bald wieder verschwinden.

MARC AUREL: SELBSTBETRACHTUNGEN 43, 4. BUCH

HERBSTGEDICHT

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,

als welkten in den Himmeln ferne Gärten;

sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde

aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.

Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen

unendlich sanft in seinen Händen hält.

RAINER MARIA RILKE: HERBST

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. „Kein Selbst, keine Probleme“

2. Sterben als physischer Prozess

3. Sterben als transpersonaler Prozess

4. Andere werden älter – ich nicht

5. Altern beginnt früher, als man denkt

6. Sich sterblich erfahren und neu leben lernen

7. Wie sollten wir leben, um nichts versäumt zu haben?

8. Der Umgang mit der eigenen Sterblichkeit

9. Im Jetzt leben, was heißt das?

10. Was ist wichtig im Leben?

11. Yoga Nidra

Übung: Yoga-Nidra-Visualisierung

12. Sterbemeditation, Sterbeprozess und die Angst vor dem Tod

Übung: Sich Vergänglichkeit bewusstmachen

13. Jenseitskontakte, Erscheinungen, Nahtod und Wiedergeburt

14. Sterben und Sterbebegleitung aus tibetisch-buddhistischer Sicht

15. Visualisierung der eigenen Sterblichkeit – Vier Übungen

1. Übung: Loslassen und Vergebung

2. Übung: Begegnung mit dem Tod

3. Übung: Reinigung – Distanzierung: „Aufstieg“

4. Übung: Begegnung mit dem eigenen Sterben

16. Wer bin ich?

17. Hilfen für Sterbende und Trauernde, Umgang mit Sterbenden und Trauernden

18. Rituale und Abschiednehmen am Sterbebett und danach

19. Auch der Helfer braucht Hilfe

20. Vom Trauerfall zur Beerdigung

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Bildnachweise

Literaturempfehlungen zum Umgang mit dem Sterben

Adressen zur Sterbebegleitung

Weitere Veröffentlichungen des Autors

 

Vorwort

„Da gibt es welche, die sich über das Sterben Sorgen machen. Ich sage: ‚Keine Angst – du stirbst schon!’“1

In Platons „Phaidon“ sagt Sokrates: „Wahre Philosophen machen Tod und Sterben zu ihrem Beruf.“ Sokrates meinte damit, dass wir mit jedem Atemzug und in jedem Augenblick das Sterben üben sollten.2 Aus diesem Grund tragen tibetische Mönche unter ihrer Kutte eine ‚Weste der Vergänglichkeit’ mit zwei spitz zulaufenden Streifen, die sich bei den Achselhöhlen kreuzen. Die Streifen stellen die Fänge des ‚Herrn des Todes’ dar, die Mitte der Weste ist sein Mund. Jeden Tag soll der Mönch sich beim Ankleiden bewusstmachen, dass er in jedem Augenblick dem Tod ausgesetzt ist.3 Ähnlich äußert sich die psychisch kranke italienische Dichterin Alda Merini (1931-2009): „La preparazione alla morte dura una vita intera“ – Die Vorbereitung auf den Tod dauert ein ganzes Leben.4

Als Autor dieses Buchs bitte ich meine Leser und Leserinnen um eine gewisse Offenheit dafür, den Sterbeprozess nicht nur als materiellen Vorgang zu begreifen, sondern die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es ein Bewusstsein gibt, das nicht an körperliche Grenzen gebunden ist, das über die personenbezogene Bewusstheit, ausgedrückt in Gedanken, Erinnerungen, Bildern, Gefühlen, Körperempfindungen und Verhaltensweisen, hinausreicht. Sowohl der Philosoph G.F.W. Hegel als auch der zeitgenössische Ganzheitsphilosoph Ken Wilber bezeichnen dieses allumfassende Bewusstsein als Geist. Im Sanskrit gibt es dafür den Begriff Dharmakaya, die ursprüngliche erleuchtete Natur des Geistes selbst. Seine Natur ist ungeboren und todlos, offen und weit, ohne Zentrum und ohne Begrenzung. Der Buddhismus verwendet dafür den Begriff ‚Leerheit’, die überall ist und jede vergängliche Form durchdringt, aus der durch kosmische bzw. energetische ‚Verdichtung’ Formen entstehen. Aber auch der Begriff der Leerheit ist komplex, problematisch und kann irreführend sein.5 Auch Bezeichnungen wie Gott, Jahwe (jüdisch für ‚unaussprechlicher Name’), Wakan Tanka, Tao, Allah sind nur weitere Begrifflichkeiten, die alle auf etwas Nicht-Begriffliches, Unbegreifbares hinweisen.

Sterbemeditation soll die Kunst des Sterbens, die ars moriendi, wieder mehr ins Bewusstsein bringen, wie dies in den letzten Jahren mit der Hospizbewegung mehr und mehr geschehen ist. Auch in der Psychotherapie sind Richtungen wie die Psychoonkologie entstanden, die das Sterben bewusst mit einbeziehen. Der bekannte Psychotherapeut Irvin D. Yalom ist einer von vielen, die die Vergänglichkeit zum Gegenstand des therapeutischen Prozesses machen. „Lebe immer mit dem Tod auf der linken Schulter“ ist beispielsweise eine seiner Hinweise, um der Vergänglichkeit in der Arbeit mit seinen Patienten mehr Raum zu geben.6 Etwas ironisch behauptet der Autor Tizio Terzani7, der einen Bericht über seinen Weg hin zum Sterben verfasst hat, dass die eigentliche Krankheit – hinter den mehr als 40.000 beschreibbaren Krankheiten – die Sterblichkeit ist. Statt zu hoffen, dass im Sterbeprozess der Tod möglichst rasch kommt und alles schnell vorbei ist, wollen wir mit diesem Buch alte Wege neu beschreiten. Den Tod könnte man auch als Höhepunkt des Lebens begreifen, als kunstvolle Wende oder Übergang, als Heraustreten aus dem Irdischen oder, wie der französisch-indische Mystiker Henri Le Saux (bekannt als Abhishiktananda, 1910-1973) meinte, als eine Befreiung von irdischen Ketten. Sterbemeditation ermöglicht uns eine bessere Vorbereitung und eine positivere Haltung zum Sterben. Statt den Tod auszuklammern und zu verdrängen, beziehen wir ihn in unser Leben ein. Sind wir nicht bereits mit der Geburt Sterbende?

Das Buch beinhaltet nicht nur Reflexionen über den Tod und das Sterben, sondern auch praktische Hilfestellung im Umgang mit Sterbenden für ihre Angehörigen und Freunde. Sich in die Rolle eines Sterbenden zu versetzen und zu überlegen, wie man selbst behandelt werden möchte, kann helfen, eine bessere Sterbebegleitung anzubieten.

Wann steht es für uns an, im Einklang mit dem Sein den Übergang, den Wandel, den ‚Heimgang’ zu erkennen, dem es zu folgen gilt? Geht es um das Sterben der Persönlichkeit, dann gehört zum Sterbeprozess, sich von den Anhaftungen an dieses Ich zu lösen und ich-bezogene, personale, vielleicht auch konfessionelle Grenzen zu überschreiten.

Die Frage, die sich stellt, ist: Wer stirbt in Wirklichkeit? Die kleinsten, elektromagnetischen Teilchen, aus denen die Welt besteht, verschwinden ebenso wieder im Raum, wie sie daraus entstehen, verdichten sich zu Formen und lösen sich wieder auf. Sind nicht alle Erscheinungen, wie es Rudolph Steiner ausdrückte, nichts anderes als geronnenes Licht; unausdenkbares Licht, wie es Torei Zenji in seinem Bodhisattva-Gelübde bezeichnet? Gibt es daher Sterben überhaupt? Gibt es einen Seelenkörper, der sich im Verlauf unzähliger Kreisläufe des Werdens und Vergehens letztendlich im Ozean des Seins auflöst?

Was ist Leben? Was ist Schöpfung? Mit welcher Vorstellung kann ich mich ihr nähern? Welche Bedeutung hat die Glaubensvorstellung? Behindern Religionen und Glaubensvorstellungen den Blick auf die wahre Schöpfung? Verdecken die Formen das Ungeformte, das Ungeborene?8 Gibt es etwas Unwandelbares, was trotz aller Vergänglichkeit bleibt?

Ein Zen-Meister sagte einst sinngemäß: „Religionen sind wie Finger an der Hand. Sie können nur zum Mond zeigen.“ Die islamische Mystikerin und als Heilige verehrte Rabi’a al Adawiyya (717-801) soll ausgerufen haben: „Gebt mir einen Eimer Wasser, um die Feuer der Hölle zu löschen, und Feuer, um den Himmel zu verbrennen, damit die Verblendungen der Menschen verschwinden.“9 Der Sufi-Meister und Baumwollkämmer Husain ibn Mansur al-Hallâj (Halladsch, 857-922), der kühnste Vertreter der frühen islamischen Mystik, wurde hingerichtet für seine Aussage: „Ich bin der, den ich liebe, und der, den ich liebe, ist.“10 Wäre das auch heute noch Blasphemie?

Dazu zwei Verse aus dem 16. Jahrhundert von Johann Gottfried Scheffler, genannt Angelus Silesius, Arzt, Priester und zuletzt Mystiker:

Im Eins ist alles eins;

kehrt Zwei zurück hinein,

so ist es wesentlich

mit ihm ein einges Ein. (V, 6)

Wer hätte das vermeint!

Aus Finsternis kommt Licht,

das Leben aus dem Tod,

das Etwas aus dem Nicht. (IV, 140)11

Dieses Buch versteht sich als Fragment im Sinne des Arztes und Philosophen Julien Offray de la Mettrie: „Wie es keine fertigen Wahrheiten gibt, gibt es auch keine abgeschlossenen Texte. So dürfen noch die falschesten Hypothesen als glückliche Irrtümer gelten.“12

Mein Dank gilt den vielen Lehrern auf meinem Weg, darunter den Zen-Meistern und Lehrern, Pater AMA Samy, Pater Lassalle, Pater Victor, Pater Lutze, der Sanbo-Zen-Schule mit Yamada Ryoun Roshi und Kubota Roshi, den Lehrern der koreanischen Zen-Tradition und den tibetischen Lehrern für die jahrelange Schulung.13

Für die kritische Hilfe und Unterstützung bei der Durchsicht und Fertigstellung des Manuskripts möchte ich mich herzlich bedanken bei: Helga Braun (Lektorat), Holmer Becker, Klemens Jackisch, Ralf-Peter Lösche (Lektorat/Gestaltung).

1

„Kein Selbst, keine Probleme“

Mit diesem etwas provokanten Ausspruch will der buddhistische Wald-Mönch Ajahn Chah deutlich machen, dass ein Ich ohne Ich-Verhaftung keine Probleme mehr hat. Aber dagegen könnte man auch wie der demenzkranke Vater in Arno Geigers Roman „Der alte König in seinem Exil“14 einwenden: „Das Leben wäre ohne Probleme auch nicht leichter.“

Nach zen-buddhistischen Vorstellungen werden wir als ein Niemand geboren, werden zu einem Jemand, um am Ende des Lebens wieder zu einem Niemand zu werden. Ein Dōka-Gedicht des japanischen Zen-Meisters Ikkyū Sōjun (1394-1481) drückt es so aus:

Wir essen, verdauen, schlafen und stehen auf;

Das ist unsere Welt.

Alles, was uns danach zu tun noch übrig bleibt,

Ist zu sterben.15

Nichts Besonderes also – selbst wenn wir zu Jemand geworden sind, sind wir aufgerufen, diesem Jemand keine übermäßige Bedeutung beizumessen, damit wir am Ende unseres Lebens erkennen, wie es der japanische Zen-Meister Dogen (1200-1253) ausdrückte, „dass die Augen waagrecht, die Nase senkrecht sitzen“. Dogen schreibt weiter: „Von niemandem in die Irre geführt, kam ich mit leeren Händen zurück. Ich kam ohne eine Spur des Buddha-Gesetzes zurück und lasse der Zeit ihren Lauf.“16

Ich möchte diesem Jemand, der ich selbst bin, nicht allzu viel Bedeutung beimessen. Da es aber um sehr persönliche Themen wie Tod und Sterben geht, möchte ich Ihnen doch einige Erlebnisse aus meinem Leben erzählen, die mich geformt haben und die Grundlage meiner Weltsicht bilden.

Mein Vater war eingebürgerter US-Amerikaner ägyptischer Abstammung, meine Mutter Deutsche. Ich wurde 1961 geboren und wuchs überwiegend in Deutschland auf. Meine Erziehung war von engen muslimischen und christlichen Wertvorstellungen geprägt, auch wenn das Religionsverständnis meiner Eltern eher ein oberflächliches war. Diskussionen gab es über Schweinefleisch, Jesus als einzigen Sohn Gottes, die Jungfräulichkeit Marias, die Heilige Dreifaltigkeit, den Ramadan und vieles mehr. Meine außerhäusliche Erziehung verlief überwiegend katholisch, ich war auch lange als Messdiener tätig, verließ die Kirche aber mit 23 Jahren, weil buddhistische und mystische Texte mich stärker anzogen. Auch der frühe Tod meiner Eltern und der Unfalltod meiner Schwester mit 20 Jahren haben mich geprägt: Beide Ereignisse konfrontierten mich drastisch mit der Vergänglichkeit und der Frage, welchen Sinn das Leben hat. Bei meinem Vater musste ich selbständig entscheiden, die künstliche Beatmung abzustellen. Nach ägyptischem Brauch wusch ich den Leichnam, wickelte ihn in Leinentücher ein und richtete im Grab Kopf und Körper nach Mekka aus. Das half mir, Abschied von ihm zu nehmen.

Meditation sowie ein Nahtod-Erlebnis mit 33 Jahren führten mich dazu, den Sterbeprozess anders zu begreifen. Drei Lichtgestalten begleiteten mich durch eine Art Tunnel in ein gleißend helles Licht, bis eine Stimme rief: „Es ist noch nicht Zeit!“ Da ließen sie mich los, so dass der Seelenkörper wieder in den physischen Leib eintrat.

Wie die buddhistische Madhyamaka-Tradition (Schule des Mittleren Weges) halte ich es für möglich, dass es eine gewöhnliche Wirklichkeit, im Sanskrit Nirmana-kaya (Körper der Verwandlung, irdischer Körper) und eine ultimative oder absolute Wirklichkeit (Dharma-kaya, Körper der großen Ordnung) gibt. Aus feinstofflichen Bereichen könnte es durchaus eine Wiedergeburt in den irdischen Körper geben.

Im Kontext meiner Suche erlernte ich T’ai Chi, Qi Gong und Akupunktur in Deutschland und China und interessierte mich für Parapsychologie, Auraarbeit und andere esoterische Wege. Ich besuchte unter anderem eine Sufi-Gruppe sowie andere religiöse Gruppierungen (Bahai, Oomoto, Krishnamurti, Yesudian/Haich, Transzendentale Meditation, Osho, Sai Baba, u.a.) – alles, was mit Spiritualität zu tun hatte, zog mich an. Mit der Zen-Meditation begann ich 1978 und nahm früh an Zen-Meditationskursen teil, reiste viel in Europa, Mexiko, den USA, Japan, Korea, Thailand sowie in Indien. Im Laufe der Jahre erhielt ich Unterricht von asiatischen, indischen und christlichen Zen-Lehrern, die in Asien Meditation erlernt hatten, unter anderem von Pater Enomya Lasalle, P. Victor Löw, Paul Shepherd, P. Willigis Jäger, Sr. Ludwigis, den japanischen Äbten Ekai San, Meister Deshimaru, Kubota Roshi und Yamada Ryoun Roshi. Ebenso konnte ich bei den koreanischen Zen-Meistern Su Bong Se Nim und De Seung Se Nim Meditationskurse besuchen, sah Meister Shen Yeng in Taiwan, übte bei dem Vipassana-Mönch Tiradhamo und dem indischen Jesuitenpater und Zen-Meister P. Arul Arokiasamy (AMA Samy), dessen Schüler ich seit 1990 bin. Bei all den Reisen war mir die Weltsprache Esperanto ein großer Helfer, ich erhielt durch Esperantisten auf der ganzen Welt viel Unterstützung bei der Suche nach spirituellen Lehrern.

Das Medizinstudium zwang mich zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit. Es gab berührende Momente während der Nachtdienste auf den Stationen mit alten, schwerstkranken Patienten. Hier musste ich mich ständig mit dem Tod beschäftigen, es gab keine Möglichkeit mehr, das Sterben auszublenden, wie es sonst in unserer Kultur üblich ist. Wie im Buch der Zen-Priesterin und Anthropologin Joan Halifax „Being with Dying“17 beschrieben, hörte die ‚Glocke des Todes’ in diesen Nächten nie auf zu schlagen. Zerstreuung und Ablenkung waren nicht möglich, weil es kaum noch Apparate zu betreuen oder Medikamente zu verabreichen gab.

Dieses Buch entstand aus dem Wunsch, diese Erfahrungen und Lehren weiterzugeben und andere Menschen dabei zu unterstützen, leichter, gelassener und friedlicher mit dem leidvollen und oft tabuisierten Thema ‚Sterben’ umzugehen.

Sich den Sterbeprozess, auch den eigenen, immer vor Augen zu halten, ist kein Plädoyer für Nachlässigkeit gegenüber der eigenen Gesundheit oder gar Suizidbeihilfe, wie dies derzeit vielfach diskutiert wird. Selbst der Entwurf eines neuen § 1921 a im Bürgerlichen Gesetzbuch, der vorsieht, dass volljährige und einwilligungsfähige Personen, die an einer unmittelbar zum Tode führenden Erkrankung leiden, ihren Arzt um Suizidbeihilfe bitten können, ist umstritten, da heute fast alle Schmerzen und selbst extreme Luftnot in den Griff zu bekommen seien, wie der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Prof. Dr. med. Lukas Radbruch, betont.18

Für den in Deutschland wohl berühmtesten Geist-Heiler Bruno Gröning (1906-1959) war es eine spirituelle Pflicht, Menschen statt beim Sterben bei der Selbstheilung bis zum Lebensende zu unterstützen. Körperliche Ordnung war für ihn gleichbedeutend mit göttlicher Ordnung, deshalb sollte auch das einzelne Lebewesen – ganz gleich, ob die Heilungsversuche zum Weiterleben führten oder nicht – vor seinem Heimgang einen körperlich-seelisch geordneten Zustand anstreben. Da jeder lebende Organismus bemüht ist, einen ungeordneten bzw. kranken körperlichen Zustand bis in den Sterbevorgang hinein zu ‚reparieren’ und man oft nicht genau sagen kann, wie lange ein Mensch noch lebt oder ob er gar wieder gesund werden wird, hielt er es für richtig, dass jeder einzelne dieses Bemühen unterstützt.19 Ich halte es als Arzt für wichtig, sich auf allen Ebenen um das körperlich-seelische Wohl eines Todkranken zu bemühen, ihn nicht aufzugeben, für jeden Ausgang offen zu sein und ihn zum gegebenen Zeitpunkt zu unterstützen, den Sterbeprozess gut anzunehmen.20

Da Krankheit mitunter auch psychische Auslöser haben kann, sollte man sich auch fragen, ob die organische Störung aufgrund dysfunktionaler oder destruktiver Denk- und Verhaltensweisen entstanden ist. Heilung und Ordnung beziehen sich stets auf den ganzen Menschen mit seiner Körperlichkeit, seiner Psyche und seiner spirituellen Verfassung. Daraus können sich für das eigene Leben neue Wege entwickeln, um zur Gesundung in einem ganzheitlichen Sinn zu kommen. Es ist durchaus möglich, dass eine Erkrankung, die psychisch mitbedingt ist, zwar auf der emotionalen und mentalen Ebene ‚aufgelöst‘ wird, körperlich aber trotzdem weiter fortschreitet, weil der somatische Prozess nicht mehr aufhaltbar ist. Selbst Buddha soll sinngemäß einem Mönch, der gesehen hatte, wie ein Junge einen Stein nach ihm warf, und sich darüber gewundert hatte, weil er glaubte, Buddha habe sein schlechtes Karma ganz aufgelöst, geantwortet haben, dass die Materie aufgrund ihrer Trägheit stets hinterherhinke.

Umgekehrt klagten etliche Heiler, wie zum Beispiel Jiddu Krishnamurti, darüber, dass sich körperlich geheilte Menschen in ihrem Gefühls- und Seelenleben oft überhaupt nicht wandelten. Krishnamurti hörte als Konsequenz daraus schließlich sogar ganz auf zu heilen.21

Krankheit hat aber auch eine andere Seite. Schon Plinius der Jüngere schreibt seinem Freund Maximus, dass wir „… (1) die besten Menschen sind, wenn wir krank sind. Denn wen quälen, wenn er krank ist, Habgier oder Leidenschaft? (2) Der Kranke ist nicht Sklave der Liebe, er strebt nicht nach Ehren, kümmert sich nicht um Reichtum und er ist zufrieden, wie wenig er auch besitzt, da er es ja doch zurücklassen muss. Jetzt erinnert er sich daran, dass es Götter gibt, dass er ein Mensch ist. Er beneidet niemanden, niemanden bewundert er, niemanden verachtet er, und nicht einmal böses Geschwätz erweckt seine Aufmerksamkeit oder erheitert ihn: er träumt nur von Bädern und Heilquellen. (3) Das ist seine größte Sorge, sein größter Wunsch, und er nimmt sich vor, wenn es ihm gelingen sollte, davonzukommen, in Zukunft ein angenehmes und ruhiges, das heißt ein ungefährdetes und glückliches Leben zu führen. (4) Ich kann also […] zusammenfassen, dass wir fortfahren sollen, in gesunden Tagen so zu sein, wie wir während einer Krankheit versprechen, uns in Zukunft zu verhalten. Lebe wohl!“22

Wenn wir durch Krankheit aus dem alltäglichen Getriebe, aus unserer gewohnten Ordnung herausgerissen werden, ändert sich unser Verhältnis zur Zeit. Ohne große Erwartungen und Pläne erfahren wir die Stunden nun anders. Das Jetzt, die Gegenwart, dehnt sich aus und unsere Wünsche und Bedürfnisse reduzieren sich auf das Notwendigste. Man wird mitunter stiller und rückt näher an den Zustand der Formlosigkeit heran, erlebt sich möglicherweise als dünnhäutiger oder feiner und transparenter. Das Bewusstsein für die Anbindung an etwas Größeres, Unfassbares und zugleich Vertrautes rückt stärker in den Vordergrund.

Für den Mystiker Henri le Saux wurde der Herzinfarkt zu einer spirituellen Erfahrung und zu einer Befreiung aus den irdischen Ketten. In einem Brief schrieb er: „Wirklich, eine Tür öffnete sich im Himmel, als ich am Straßenrand lag. Aber ein Himmel, der nicht das Gegenteil der Erde ist, etwas, was weder Leben noch Tod ist, sondern einfach Sein, Erwachen … jenseits aller Mythen und Symbole.“23

2

Sterben als physischer Prozess

Jeder Mensch stirbt auf seine eigene Art und Weise. Der eine stirbt langsam, der andere schnell, der eine muss einen mühevollen Todeskampf führen, der andere entschläft sanft. Bestimmte Vorgänge treten jedoch immer wieder auf und auch der biologisch-körperliche Sterbeprozess durchläuft beschreibbare Phasen.

Jahrhundertelang galt der Stillstand des Herzens als Zeichen des physischen Todes. Erst 1966 legte die französische Akademie der Medizin als eine der ersten medizinischen Einrichtungen den Ausfall der Hirnaktivität als ausschlaggebenden Todeszeitpunkt fest und definierte dafür Kriterien. 1997 wurde diese Definition im deutschen Transplantationsgesetz eingeführt. Sie ist in den meisten westlichen Ländern gültig, trotz zahlreicher kritischer Stimmen, die sich darauf beziehen, dass der Status des Hirntodes schwer zu klassifizieren ist, vor allem dann, wenn andere Organe noch funktionsfähig sind.24

In unserem Organismus sterben unaufhörlich in den verschiedenen Organen Zellen ab und werden bis zum Lebensende wieder erneuert. Bis heute kann man nicht wirklich mit absoluter Sicherheit sagen, wann und wodurch der physische Tod eintritt. Selbst medizinische Bezeichnungen wie z. B. Herz-Kreislauf-Versagen, Leberversagen oder Nierenversagen bleiben ungenau. Oft sterben Menschen auf Palliativstationen trotz multiplen Organversagens erst Tage oder Wochen später, ohne dass es dafür eine medizinische Erklärung gibt.

Die physischen Anzeichen für den Tod sind nicht eindeutig. Sie treten nicht immer in einer bestimmten Reihenfolge auf und geben keine Auskunft über den exakten Todeszeitpunkt. Viele derartiger Anzeichen können isoliert auch bei schwerer Krankheit auftreten. In seltenen Fällen können Sterbeprozesse sogar reversibel sein. So schildert Gian Domenico Borasio in seinem Buch „Über das Sterben“25 etliche Fälle, die medizinisch unerklärlich bleiben. Solche Dinge sind kein seltenes Phänomen.

Vor nicht allzu langer Zeit begleitete ich eine alte Dame, die bereits die typische Cheyne-Stoke-Atmung mit immer größer werdenden Zeitabständen hatte, bis ihre Atmung ganz aussetzte. Nach minutenlanger Pause atmete sie plötzlich tief ein, erhob sich im Bett, reichte mir die Hand und stellte sich förmlich und in völliger Klarheit mit ihrem Namen vor.

Aus medizinischer Sicht durchläuft der physische Tod die folgenden drei Phasen:

• Präterminale Phase: In dieser Phase treten deutlich sichtbare Symptome der fortgeschrittenen Erkrankung auf. Schmerzen können in dieser Phase in der Regel beherrscht, die allgemeinen Symptome gelindert werden; eine aktive Teilnahme am Leben ist aber nicht mehr möglich. Diese Phase kann mehrere Wochen bis Monate andauern.

• Terminalphase: Der Schwerkranke nähert sich dem Tod. Er ist die meiste Zeit oder dauernd bettlägerig. Prognostisch ist sein Leben auf wenige Tage bis zu einer Woche begrenzt.

• Finalphase (Sterbephase): Der Kranke liegt im Sterben. Der Eintritt des Todes ist in einigen Stunden zu erwarten.

Man unterscheidet fünf physiologische Haupttodesursachen, wobei die Todesursache meist in der Kombination des Versagens mehrerer Organe besteht:

1. Herz-Kreislaufversagen: als Folge einer Herzinsuffizienz, meist infolge chronischer Erkrankungen wie Diabetes, Rauchen, o.ä., oder Erkrankungen des Herzens selbst.

2. Lungentod: durch plötzliche oder chronische Atemnot; bei chronischer Atemnot meist friedlicher Tod, bedingt durch CO2-Selbstvergiftung (CO2-Narkose)

3. Lebertod: hervorgerufen durch Störung der Entgiftungsfunktion, meist mit Gelbfärbung. Anfallende Abfallstoffe (v.a. Ammoniak) bewirken mitunter Verwirrtheit und Unruhe, in der Regel aber schlafen Leberkranke im Leberkoma friedlich ein, wenn es nicht durch den Blutrückstau zu einer Varizenblutung (platzende venöse Gefäße, meist in der Speiseröhre) kommt und der Tod rasch eintritt.

4. Nierentod: Nierenversagen kann durch Störung des Elektrolythaushalts im Körper zu Verwirrtheit, Herzrhythmusstörungen und Krampfanfällen führen; meist ist der Sterbeverlauf aber ähnlich wie beim Leberkoma.

5. Gehirntod: durch Blutung, Gewebeschwellung, Tumor oder Schlaganfall; verläuft – abgesehen vom Schlaganfall – meist schnell mit rascher Bewusstlosigkeit, allerdings können Schmerzen und Krampfanfälle auftreten.26

Die folgenden Tabellen über die biologische Uhr des Menschen zeigen, dass die meisten Menschen dann sterben, wenn die Körpertemperatur am niedrigsten und der Kreislauf am labilsten ist:27

Abb. 2: Die meisten Menschen sterben, wenn die Körpertemperatur am niedrigsten ist.

Abb. 3: Die meisten Menschen sterben in den frühen Morgenstunden, wenn der Kreislauf am labilsten ist.

Abb. 4: Sterbehäufigkeit im Tagesverlauf

Ferner lassen sich bei einem bevorstehenden Sterbeprozess bestimmte medizinische Veränderungen feststellen.

Diese unmittelbaren Anzeichen sind:

• Wochen bis Tage vor dem Tod verweigern die Menschen feste und auch flüssige Nahrung. Mitbedingt durch Flüssigkeitsmangel kann es dabei zu Verwirrtheit und Panik kommen.

• Die Haut des Sterbenden wird blass, bedingt durch den veränderten Pulsschlag und abfallenden Blutdruck. Die Haut an Füßen, Händen, Fingerspitzen auf der Liegeseite verfärbt sich.

• Der Körper friert und zittert, bedingt durch den Temperaturabfall.

• Der Sterbende erkennt Menschen, auch nahestehende, nicht mehr.

• Die Augen blicken offen oder halb offen in die Ferne, ohne etwas anzusehen. Die Pupillen zeigen keine Lichtreaktion.

• Reaktionen auf die Umwelt kommen zum Erliegen; trotzdem kann der Sterbende noch wahrnehmen und hören, denn der Hörsinn stirbt ganz zuletzt.

• Der „Todeskampf” beginnt durch die Unterversorgung mit Sauerstoff, mitunter begleitet von Hektik und Muskelkrämpfen.

• Der Atemrhythmus flacht ab und verändert sich, der Atem wird laut, ggf. mit Schleimabsonderungen, es setzt eine keuchende Atmung bis zur Schnappatmung ein.

• Der Sterbende fällt in einen langen Schlaf oder in eine Ohnmacht, die kaum vom Schlaf zu unterscheiden ist, und ist nur noch schwer erweckbar. Es kann sich ein sanftes Entschlafen einstellen.

• Es ist auch möglich, dass der Sterbende plötzlich aufwacht und sich in völliger Geistesgegenwärtigkeit aufrichtet.

• Kurz vor dem Sterben können Sterbende mit Blick ins Jenseits ausrufen: ‚Ich komme!’.

Sichere Todeszeichen: frühe Veränderungen

• Zum Zeitpunkt des Todes kann ein krampfartiges Erbrechen auftreten.

• Nach dem Tod erschlafft infolge des Sauerstoffmangels die Muskulatur; Darm und Blase entleeren sich.

• Der Körper erkaltet pro Stunde um ein Grad, nach zwei Stunden setzt die Toten- oder Leichenstarre ein. Sie beginnt mit der Kaumuskulatur und breitet sich dann zu den unteren Gliedmaßen hin aus.

• Etwa 20 bis 60 Minuten nach Eintritt des Todes bilden sich Totenflecke (Livores).

• ‚Leichengift’ gibt es übrigens nicht, nur beim Tod durch Krankheitserreger sollte man vorsichtig sein.

• Sichere Todeszeichen sind außerdem sogenannte ‚mit dem Leben nicht zu vereinbarende Verletzungen’, die den Körper unwiderruflich zerstören, wie z. B. nach schweren Unfällen, tödlicher Waffengewalt, Verkohlung usw.

Sichere Todeszeichen: späte Veränderungen

• Meist zersetzt sich der Leichnam durch chemische Verwesung, bakterielle Fäulnis und Autolyse durch körpereigene Enzyme.

• Im Freien kann er auch von Fliegen und Käfermaden besiedelt bzw. von Ameisen oder Ratten, Füchsen oder Fischen als Nahrung genutzt werden, bis zur Skelettierung.

• Unter Luftabschluss kann sich eine Leichen- oder Fettwachsbildung entwickeln.

• Wassermangel in trockener Umgebung kann den Körper oder einzelne Glieder mumifizieren.

Abb. 5: Herbst im Park in Leipzig

3

Sterben als transpersonaler Prozess

Der islamische Sufi-Mystiker Jelaladdin Rumi (1207-1273) schrieb: „Der Tod ist in Wirklichkeit eine spirituelle Geburt. Dabei wird der Geist aus dem Gefängnis der Sinne in die Freiheit Gottes entlassen, genau wie man bei der leiblichen Geburt aus dem Gefängnis des Schoßes in die Freiheit der Welt hinaus gelangt. … Die meisten Menschen haben Angst vor dem Tod, aber die echten Sufis lachen nur angesichts seiner. Nichts vermag ihre Herzen zu erschüttern. Was die Austernschale zertrümmert, kann die Perle nicht einmal ankratzen.“28

In der Arbeit mit Menschen, die sich schwerkrank in Richtung Tod bewegen, aber auch mit körperlich Gesunden, die unter hypochondrischen Ängsten vor Krankheit und Tod leiden, hat sich gezeigt, dass ein transpersonaler Ansatz – neben klassischen psychotherapeutischen Behandlungsverfahren – den Umgang mit der eigenen Sterblichkeit erleichtern kann.

Sterben könnte man auch als Wandlungsprozess, als Verwandlung oder Metamorphose verstehen: Etwas vergeht, etwas anderes entsteht und das alles findet innerhalb desselben Seins statt. Das Mysterium des Seins enthüllt sich, offenbart seine Schönheit in der (körperlich verdichteten) Form und wandelt sich wieder zu etwas Unsichtbarem. Ist der Hauptsinn menschlicher Geburt, wie Goethe es ausdrückt, dass wir „zum Sehen geboren, zum Schauen [des Unwandelbaren] bestellt“ sind?

„Transpersonal“ bezieht sich auf einen Bereich jenseits der engen Grenzen des persönlichen Ich-Erlebens. Diese Perspektive ist besonders hilfreich beim Umgang mit der Vergänglichkeit. Dabei geht es nicht allein um ein ‚Erspüren’ eines unvergänglichen Seins, sondern um die Überschreitung unserer begrenzten Vorstellungen von Vergänglichkeit, indem wir uns als Teil eines Ganzen wahrnehmen.

„Wenn keine Wolke über dem Berge hängt, durchdringt das Mondlicht die Wellen des Sees“, heißt es in einem Zen-Dialog.29 Als der Mönch diese Wahrheit nicht nur mit dem Verstand begriff, sondern sie ihn im Herzen berührte, erfuhr er Erleuchtung. Das große Suchen und Zweifeln kam zum Ende.

Die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit ist ein wichtiger Bestandteil aller Kulturen. Im indischen Kulturraum finden sich Unterweisungen zur Vergänglichkeit bereits in den Upanishaden (entstanden vermutlich zwischen 2000 und 100 v. u. Z.) wie in der Katha Upanishad, die einen Dialog zwischen dem jungen Naciketas und dem Tod beschreibt, den er zu seinem Guru (Lehrer) wählt.

An diese alte Tradition knüpfte Buddha an, der stets betonte, dass die Vergänglichkeit ein wichtiger Lehrmeister sei. Auf Anweisungen Buddhas bezieht sich daher eine buddhistische Form der Sterbemeditation, die der indische Meister Atisha um das Jahr 1000 u. Z. in Tibet einführte.30

Für die vorbuddhistische Praxis des Yoga Nidra besteht bereits das Grundproblem der Angst vor Vergänglichkeit in unserer Identifizierung mit unserer materiell-körperlichen Form, mit ihren Empfindungen, Gefühlen, Gedanken sowie in der Vorstellung, ein eigenständiges Ich zu besitzen. Die Übung des Yoga Nidra zielt deshalb darauf ab, allmählich einen Perspektivenwechsel zwischen Ich-Erleben und Ich-Beobachtung zu erreichen, indem man durch zahlreiche Wiederholungen lernt, sein eigenes Erleben gleichsam ‚von außen’ zu betrachten und dann als Teil des energetischen Schöpfungskörpers. Die gewonnene Distanz und Einbettung in die Energie des Ganzen soll helfen, die Verhaftung an den vergänglichen Organismus zu verringern. Zu diesem Zweck – als Hilfe zur Desidentifikation mit dem Ich und zur Vorbereitung auf den eigenen Tod – findet sich in diesem Buch eine Yoga-Nidra-Anleitung (Kap. 11) und die buddhistische Sterbemeditation (Kap. 12 und 15).

Ähnlich wie auch andere meditative Praktiken ermöglicht die Yoga-Nidra-Übung eine nicht wertende Grundhaltung gegenüber Körperempfindungen, Gefühlen, Gedanken und der Ich-Vorstellung. Loslösung und Ent-Identifikation leiten einen transpersonalen Prozess ein, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Verlust der körperlich-geistigen Integrität hat, wie sie der Tod von uns fordert. Denn dabei geht es letztlich um die Lösung von Dingen, die uns ohnehin nur dem Namen nach gehören, wie es der thailändische Theravada-Buddhist Ajahn Chah (1918-1992) treffend ausdrückte. Entdeckt man Vergänglichkeit um sich herum, kann sich ein innerer Frieden ausbreiten. Wenn ein welkes Blatt vom Baum fällt oder ein Insekt seine letzten Zuckungen vollzieht, kann ein Augenblick mystischer, transpersonaler Stille entstehen, ein Zur-Ruhe-Kommen im Sein. Wenn wir die alltäglichen Zeichen von Vergänglichkeit an uns selbst und um uns herum klarer beobachten, eröffnen sich uns neue Dimensionen, die über unsere Ich-Grenzen hinausführen. Der persische Mystiker Bayasid Bistami (803-875) formulierte es poetisch:

Unter meinem Gewand ist nichts als Gott;

ich streifte mein Ich ab wie eine Schlange,

die ihre Haut abstreift.

Dann sah ich mein Wesen an

und es zeigte sich, dass ich Er war.31

Daher fordert der islamische Mystiker Jelaladdin Rumi dazu auf, beim Dahinscheiden nicht zu trauern, sondern eher froh zu sein:

„An meiner Grabstätte schreit nicht: ‚Weh, du bist fort!’, denn für mich ist das die Zeit froher Begegnung. Wenn ich ins Grab gesenkt werde, ruft mir keine Abschiedsworte nach. Ich habe dann den Vorhang zur ewigen Gnade durchschritten.“32

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Andere werden älter – ich nicht

Selbstironisch schreibt ein alternder Mann im Internet33: „Die Menschen meiner Altersgruppe haben sich verändert. Sie sehen alle viel älter aus als ich. Kürzlich traf ich einen Schulkameraden, der so gealtert war, dass er mich nicht mehr erkennen konnte. Vieles ist heute anders als früher. Es ist zweimal so weit zum Park und nun ist auch noch ein Berg dazwischen. Es kommt mir so vor, als würde man die Treppen heute steiler machen.

Und ich habe längst aufgegeben, zum Bus zu rennen, der fährt jetzt schneller weg als früher. Zeitung lesen fällt jetzt auch schwerer, weil sie die Schrift verkleinert haben. Es hat auch keinen Sinn, jemand zu bitten, mir etwas vorzulesen, denn sie sprechen alle so leise, dass ich sie kaum verstehe. Auch die Klamotten sind neuerdings so eng geschneidert, besonders um die Hüften herum. Es fällt mir immer schwerer, mich zu bücken, um meine Schuhe zu binden.

Die Wartezimmer beim Arzt sind mir fast so vertraut wie mein Wohnzimmer. Vor wenigen Wochen hat ein Arzt zu meinem Nachbarn, der nur zwei Jahre älter ist als ich, gesagt, in seinem Alter lohne sich die Operation nicht mehr. Aber eines freut mich und zeigt mir, dass ich doch noch nicht so alt bin: Ich bin unverändert kontaktfreudig und lerne jeden Tag neue Menschen kennen. Einige von denen sagen allerdings, sie würden mich schon lange kennen!“

Ist der Mensch erst einmal erwachsen, wiegt er sich gern in dem Glauben, dass es ewig so weitergeht. Das liegt unter anderem daran, dass die Entwicklung der Persönlichkeit bis etwa zum 35. Lebensjahr weitgehend abgeschlossen ist. Im Gehirn ist diese Ich-Funktion vor allem in den Regionen hinter den inneren Augenbrauen lokalisiert. Diese neuronalen Netzwerke machen das Erleben einer eigenständigen Person möglich. Der Mensch erfährt sich als mehr oder weniger stabile Einheit, die sich durch Lebenserfahrung weiter ausformt. Das Gehirn ist, so der Neurowissenschaftler Gerhard Hütter34, eine zeitlebens offene Struktur, die sich im Laufe des Lebens ändert, weiterentwickelt, aber wie andere Körperstrukturen auch dem Alterungsprozess unterworfen ist und Leistungseinbußen erfährt. Anders als bei genetisch determinierten Lebensformen, wie z. B. Insekten, biologisch determinierten, wie Vögel und Säugetiere, die nur in bestimmten Lebensabschnitten lernen, kann das Gehirn eines Menschen bis zum Lebensende lernen, selbst wenn es degenerative Veränderungen bis hin zur Demenz aufweist und dadurch die normale Kommunikation beeinträchtigt. Selbst ein dementer Mensch kann die Frage nach der Freude am Leben noch bejahen. Je trainierter allerdings das Gehirn, so der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer, desto länger bleibe die Denkleistung und das Bewusstsein, ein Ich zu besitzen, erhalten.35 Stabile Ich-Funktionen stellen in gewisser Weise ein Dilemma dar: Einerseits sind sie essenziell für die geistige Entwicklung und das Funktionieren in der Gesellschaft, andererseits aber können sie auch die Verhaftung an ein Ich oder Ego verstärken und das Loslassen im Sterbeprozess erschweren.

Der Mensch erlebt den Alterungsprozess durch das Schwinden der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit, der Beweglichkeit und der Kondition. Besonders im Vergleich mit anderen kann er erkennen, dass seine körperlichen und geistigen Kräfte nachlassen und sich seine Ansichten über das Leben verändern. Dem Meditationslehrer Larry Rosenberg wurde sein Alter – er war etwas über 60 Jahre alt – erstmals bewusst, als jemand ihm einen Sitz in der U-Bahn anbot, wo doch sonst immer er derjenige war, der anderen seinen Platz angeboten hatte.

Wie ist es bei Ihnen? Wann ist Ihnen zum ersten Mal wirklich aufgefallen, dass Sie zu den Älteren gehören?

Das Nachlassen unserer Energien und – langfristig betrachtet – das Sterben ist mitten unter uns, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Die Anti-Aging-Industrie will uns mit zahllosen Angeboten glauben machen, dass dem nicht so sei. In der Geschichte der Kosmetika und Medikamente wurden schon immer ‚böse’ Stoffe gefunden, die angeblich zum Altern beitragen, und neue Substanzen und ‚Therapien‘ entwickelt, die davor schützen sollten. Abgesehen von Substanzen, die nachweislich gesundheitliches Leid verringern, und solchen, die erwiesenermaßen die Gesundheit schädigen (Rauchen, Alkohol, Drogen) – wäre es nicht besser, das Altern einfach Altern sein zu lassen?

„Gäbe es den Tod nicht – man müsste ihn erfinden! Ein ewiges Leben wäre zum Sterben langweilig: Ohne irgendein Ende gäbe es keinen Anfang und keine Mitte, gäbe es keinen Rhythmus, keine Melodie, kein Motiv, weder Durchführung noch Finale. Ohne Tod wird der Sensenmann zahnlos. Dabei brauchen wir den Zahn der Zeit, der an uns nagt, mal fies an den Gelenken, aber wenn wir hinhören, auch mal liebevoll am Ohrläppchen. … Anstatt sich um lebensverlängernde Zusatzstoffe zu kümmern, ist das Radikalste, was wir tun können, es nicht in der Apotheke zu finden. Wir finden es in der Freude am Leben selbst.“36 Vom Radikalenfänger-Fresser zum bewussten Genießer zu werden, wie Eckard von Hirschhausen vorschlägt, wäre heute wirklich radikal.

Aber der Tod ist allgegenwärtig. Fast 80 Millionen Menschen sterben jährlich auf der Welt. 75 Prozent der Bevölkerung atmen ihren letzten Atemzug in einem Pflegeheim oder Krankenhaus. Alle 45 Minuten bringt sich in Deutschland ein Mensch um.37

Joan Halifax forderte in ihren Hospizkursen die Teilnehmer auf, sich zu überlegen, was das schlimmste Szenario ihres Todes wäre. Vielleicht nehmen Sie sich einmal die Zeit, sich ein solches Szenario im Detail vorzustellen, aufzuschreiben und mit anderen zu besprechen? Wenn Sie damit fertig sind, fragen Sie sich, wie Sie sich jetzt fühlen, wie sich Ihr Körper anfühlt. Was sagt Ihnen Ihr Körper bei einer solchen Vorstellung?

Und dann nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit dafür, sich zu fragen, wie Sie sterben wollen, und spüren nach, wie sich dabei Ihr Körper anfühlt. Vielleicht finden andere Menschen Ihre persönlichen Vorstellungen gar nicht so schrecklich wie Sie selbst, vielleicht haben andere ganz unterschiedliche Wünsche und Vorstellungen? Vielleicht haben sich aber auch Ihre eigenen Vorstellungen nach der Lektüre dieses Buchs verändert?38