Cover

Sophienlust
– Staffel 7 –

E-Book 61-70

Diverse Autoren

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-676-2

Weitere Titel im Angebot:

Cover

Heimweh nach der Omi

Roman von Judith Parker

Draußen stürmte und schneite es, aber im Herrenhaus von Sophienlust war es gemütlich warm. Die Schneeflocken wirbelten an den Fenstern der großen Halle vorbei, wo die Kinder vor dem prasselnden Kaminfeuer saßen und sich lebhaft unterhielten.

Das Winterwetter gefiel den Kindern. Sie warteten ungeduldig auf das Nachlassen des Schneegestöbers, damit sie die Skier, die sie zu Weihnachten bekommen hatten, endlich einweihen konnten. Denn der Schnee hatte in diesem Winter sehr lange auf sich warten lassen.

Pünktchen stand versonnen an einem Fenster und blickte in das Schneetreiben hinaus. »Ich hatte mal eine Glaskugel, die voller Schnee war. Wenn man sie ganz toll schüttelte, wirbelten die Flocken genauso durcheinander wie draußen vor dem Fenster«, erzählte sie lächelnd.

»Ja, solche Kugeln kenne ich. Ich hatte auch einmal eine. Darin war ein Haus mit einem roten Dach und zwei grüne Bäume. Und wenn ich die Kugel schüttelte, sah es aus, als ob jemand die Betten ausschüttelte.« Vicky sah Pünktchen triumphierend an.

»Du denkst bestimmt an das Märchen von Frau Holle«, meinte Angelika, Vickys Schwester.

»Vielleicht!« Vicky strich ihrem Meerschweinchen Micky, das sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte, zärtlich über das Köpfchen.

»Eigentlich könnte es wirklich zu schneien aufhören«, seufzte Pünktchen auf. »Ich möchte so gern endlich Ski fahren.«

»Ich auch«, erklärte Isabel und klappte das Buch zu, in dem sie gelesen hatte. »Ich habe vorhin den Wetterbericht gehört. Demnach muss es morgen schön sein.«

»Ach, der Wetterbericht«, ließ sich der vierzehnjährige Martin Hofer vernehmen, der seit zwei Wochen in Sophienlust weilte, weil seine Eltern für längere Zeit verreist waren. Er stammte aus Bayern und hatte erzählt, dass er bereits mit vier Jahren auf Skiern gestanden hatte. »Außerdem gibt es hier auch keine richtigen Abfahrten.«

»Doch, es gibt welche!« Jetzt mischte sich Dominik ein, weil er es nicht leiden konnte, wenn jemand abfällig über Sophienlust sprach. »Der Hasenberg ist zum Beispiel sehr hoch.«

»Ach ja, der Hasenberg«, entgegnete Martin friedfertig, denn ihm lag viel an Dominiks Freundschaft.

Im stillen bewunderte er den Erben von Sophienlust restlos.

»Schaut doch nur, es hört tatsächlich zu schneien auf!«, rief Malu. Sie erhob sich und trat ans Fenster. »Da wird sich Benny aber freuen. Er hat Schnee sehr gern. Benny, komm her!«, rief sie ihrem Wolfsspitz zu, der es sich auf einem Sessel bequem gemacht hatte und nicht daran dachte, seinen gemütlichen Platz aufzugeben.

Carola Rennert rief die Kinder zur Nachmittagsschokolade. Wenig später saßen sie an dem langen Tisch und sprachen mit gutem Appetit dem noch warmen Apfelkuchen zu.

*

Am nächsten Tag, einem Samstag, schien die Sonne. Der Himmel wölbte sich tiefblau über der verschneiten Landschaft.

Gleich nach dem Frühstück schnallten die Kinder und Wolfgang Rennert, der ein ausgezeichneter Skifahrer war, die Skier an, um zum Hasenberg zu fahren.

Nach einer guten halben Stunde erreichten sie den Fuß des Hügels. Martin Hofer stieg bereits auf und juchzte laut, als er oben war. Dann stieß er sich mit den Stöcken ab und brauste los.

Dominik unterdrückte einen Seufzer. Ob er auch einmal so gut Ski fahren würde? fragte er sich. Doch nach einer Stunde stellte er bei sich fest, dass das Reiten entschieden leichter war als dieser Sport.

Wolfgang Rennert, der in Nicks Gesicht wie in einem offenen Buch lesen konnte, sagte lachend: »Nick, es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Es wird sicher nicht mehr lange dauern, bis du ganz sicher auf den Skiern stehst.«

»Wirklich?«, fragte der Junge skeptisch.

»Schauen Sie, Herr Rennert!«, rief Pünktchen. »Ich kann schon fahren.« Als sie nach ein paar Metern in den Schnee purzelte, lachte sie silberhell auf.

Malu stellte sich am geschicktesten an, aber auch Isabel machte ihre Sache recht gut.

Fabian übte verbissen. Seit er zu der großen Familie von Sophienlust gehörte, wollte er alles so schnell wie möglich erlernen, um Tante Isi und Tante Ma Freude zu bereiten. Er wollte damit seinen Dank dafür abstatten, dass hier alle so gut zu ihm waren.

Alles in allem wurde es für die Kinder und ihren Lehrer ein amüsanter und vergnügter Vormittag.

»Aber jetzt müssen wir auf dem schnellsten Weg heim!«, rief Wolfgang Rennert nach einem Blick auf seine Armbanduhr. »Wir werden auf der anderen Seite abfahren. Aber ihr müsst langsam fahren, weil es dort mehr Bäume gibt.«

Die Kinder nickten und prüften nach, ob ihre Skier auch richtig saßen. Dominik jedoch blickte angestrengt auf die Autostraße, die ungefähr einen halben Kilometer entfernt vorbeilief und Bachenau mit Sophienlust verband. Der chromblitzende weiße Wagen, der dort fuhr, interessierte ihn brennend. Als er nun die Abzweigung nach Sophienlust einbog, rief Nick: »Schaut doch! Wir bekommen Besuch!«

»Wieso?« Pünktchen sah ihn erstaunt an.

»Siehst du denn nicht den tollen Schlitten dort unten? Mensch, das ist ein Straßenkreuzer, wie man ihn nicht oft zu Gesicht bekommt.«

»O ja, jetzt sehe ich das Auto«, rief Pünktchen.

»Dann nichts wie heim!«, meinte Dominik. Er brannte bereits vor Neugier. Rasch stieß er sich ab und fuhr los. Anfangs verlief seine Abfahrt auch so phantastisch, dass er glaubte, den Dreh jetzt herauszuhaben. Aber dann rutschten die Skier einfach unter ihm fort, sodass er ziemlich unsanft auf seine vier Buchstaben fiel. Pünktchen, die dicht hinter ihm gewesen war, fuhr direkt auf ihn zu und schlug einen Purzelbaum.

»Uff!«, stieß sie hervor, als sie sich wieder aufgerichtet hatte. »Ski fahren ist ziemlich schwer. Aber wir werden’s schon lernen, Nick.«

Er brummte irgendetwas vor sich hin und fuhr langsam weiter. Später, als sie auf ihren Brettern die Waldschneise entlangrutschten, fühlte er sich um vieles behaglicher.

Frau Rennert stand auf der Freitreppe und wartete auf die Kinder, die sie sofort umringten und lebhaft auf sie einsprachen. Denn sie wollten wissen, wer zu Besuch gekommen war.

»Nicht so stürmisch, Kinder!«, rief Frau Rennert lachend. »Erst einmal erzählt mir, wie es war.«

»Prima! Phantastisch. Ganz toll!«, bekam sie zur Antwort.

Dominik hatte sich unterdessen den tollen Wagen, der im Gutshof stand, von allen Seiten angeschaut und festgestellt, dass er eine amerikanische Nummer hatte. »Tante Ma!«, rief er aufgeregt. »Erzähl doch schon wer da ist!«

»Ein Herr und ein kleines Mädchen. Sie sind im Augenblick bei deiner Mutter im Biedermeierzimmer.«

»Dann bekommen wir gewiss ein neues Kind. Nicht wahr, Tante Ma?« Fragend sah Pünktchen die Heimleiterin an.

»Möglich wäre es.«

»Dann ist das Kind also Amerikanerin«, stellte Dominik fest.

»Und stinkreich muss der Vater sein«, meinte Vicky burschikos.

»Vicky, drück dich bitte etwas gewählter aus«, ermahnte Frau Rennert die Kleine.

»Aber Nick sagt doch auch immer so etwas und …«

»Tante Ma, wie heißt denn der Amerikaner?«, wollte Dominik wissen.

»Ich habe mir den Namen nicht merken können. Er klang so fremd …«

»Na ja, ist ja auch egal. Wir werden es noch früh genug erfahren.« Nick gab sich im Moment zufrieden.

»In einer Viertelstunde wird gegessen«, sagte Frau Rennert. »Zieht euch die Skischuhe aus.«

In Windeseile entledigten sich die Kinder ihrer Anoraks und der Skischuhe. Dann zogen sie sich in den Wintergarten zurück. Die Tür zur Halle ließen sie jedoch offen, damit sie beobachten konnten, ob Tante Isi und ihr Besuch das Biedermeierzimmer verließen.

Habakuk war höchst erfreut über die Anwesenheit der Kinder. Er ließ vor Begeisterung einen ganzen Wortschwall los. Dabei turnte er vergnügt auf seiner Stange herum.

Als der Gong zum Mittagessen ertönte, brummte Dominik: schade, nun können wir den Amerikaner und das kleine Mädchen nicht mehr sehen.«

»Horch!« Malu legte den Zeigefinger an die Lippen. »Da kommen sie. Ich höre ganz deutlich Tante Isis Stimme und nun die eines Mannes.«

Die Kinder drängten sich an der Tür und lugten in die Halle. Aber viel konnten sie nicht sehen, denn die drei gingen sehr schnell vorbei.

»Kommt her!«, rief Malu. »Von diesem Fenster aus können wir den Hof gut überblicken.«

Von ihrem Späherposten aus sahen die Kinder jetzt einen auffallend großen Herrn in einern eleganten pelzgefütterten Ledermantel. Die dazu passende Kappe trug er in der Hand. Nun neigte er sich über Tante Isis Hand und küsste sie. Aber das interessierte die Kinder nur wenig. Interessant war für sie nur das kleine Mädchen in dem weißen Pelzmäntelchen, das neben Tante Isi stand. Rotblonde Korkenzieherlocken quollen unter der weißen Pelzkappe hervor und fielen dem Kind weit über den Rücken und die Schultern.

Malu, die nach wie vor kleine Kinder über alles liebte, war ganz hingerissen von dem reizenden Kind. »Wie süß!«, rief sie. »Ob sie bei uns bleibt?«

»Ich glaube schon«, bemerkte Isabel. »Tante Isi hält die Kleine doch an der Hand. Der Herr geht jetzt auch allein zu dem Wagen und steigt ein.«

»Seht doch nur, die Kleine wendet sich ab und verbirgt ihr Gesicht in Muttis Rock!«, rief Dominik. »Allem Anschein nach will sie nichts von ihrem Vater wissen.«

»Vielleicht ist er gar nicht ihr Vater. Vielleicht hat er sie nur hergebracht«, überlegte Pünktchen.

»Ja, so scheint es zu sein«, meinte auch Malu, die es kaum erwarten konnte, das kleine Mädchen näher kennenzulernen. Sie wollte Tante Isi bitten, das Kind ihrer Obhut zu überlassen. Sie hatte doch schon oft Kleinkinder versorgt.

»So, nun werden wir endlich erfahren, was es für eine Bewandtnis mit dem kleinen Mädchen hat.« Nick atmete auf, als das Auto losfuhr und Denise mit dem Kind wieder die Freitreppe hinaufstieg. »Eines steht jedenfalls für mich fest«, fügte er hinzu. »Das Kind bleibt bei uns. Vielleicht für immer.« Er stürmte aus dem Wintergarten. Die anderen folgten ihm.

Als Denise die Kinder erblickte, huschte ein amüsiertes Lächeln über ihr bildhübsches Gesicht. Sie beugte sich zu dem kleinen Mädchen hinunter und sagte zärtlich: »Aline, schau, da kommen die anderen Kinder.«

»Ja, Tante Isi.« Sie sah Denise ernst an und wandte sich dann den Kindern zu, die langsam näher kamen.

»Mutti, ein neues Kind, nicht wahr?« Dominik blickte auf die Kleine nieder.

»Ja, Nick. Das ist Aline Bonaventura. Sie bleibt für unbestimmte Zeit bei uns.«

»Was für ein seltener Name«, raunte Pünktchen Angelika zu.

»Ich habe den Namen schon mal irgendwo gelesen«, entgegnete diese.

»Malu, ich kenne dich doch und weiß, dass es dir Freude bereitet, dich um Aline zu kümmern«, sagte Denise freundlich. »Darum habe ich Alines Koffer auf dein Zimmer bringen lassen. Ulla wird nachher ein Kinderbett in deinem Zimmer aufstellen. Nicht wahr, du bist doch damit einverstanden?«

»Ja, Tante Isi, ich bin sogar sehr glücklich darüber.« Malus Wangen glühten vor Freude. »Aline, ich heiße Malu«, wandte sie sich nun an das Kind.

»Nicht wahr, du schläfst gern mit mir in einem Zimmer?«, fragte sie mit einem aufmunternden Lächeln.

Die Kleine nickte, dann lächelte sie plötzlich. »Malu«, wiederholte sie und löste sich von Denises Hand. Nach kurzem Zögern streckte sie ihr Händchen Malu entgegen.

»Ja, Aline, ich bin Malu«, sagte diese leise. Dabei hob ein glücklicher Seufzer ihre Brust. Alle kleinen Kinder fühlten sich zu ihr hingezogen. Das erfüllte sie mit Stolz.

»Ich mag dich«, erklärte Aline ernst. »Ich will auch nicht mehr traurig sein, weil meine Omi so krank geworden ist.«

Dominik spitzte die Ohren. Auch die anderen Kinder warteten darauf, mehr zu erfahren. Aber Aline dachte im Augenblick nicht daran, mehr zu erzählen.

Denise verabschiedete sich, um nach Schoeneich zu fahren.

»Mutti, ich fahre heute mal mit dir mit«, sagte Dominik zu ihrer Überraschung. »Ich war schon lange nicht mehr daheim. Morgen ist ja Sonntag, da bleibe ich mal in Schoeneich.«

»Das ist nett von dir.« Denise kannte ihren Sohn gut und wusste, dass er nur deshalb mitfuhr, weil er mehr über Alines Herkunft erfahren wollte. Doch sie würde seine Neugierde nicht befriedigen können, denn sie wusste selbst nur wenig über Alines Familienverhältnisse.

»Also, das ist alles, was du weißt«, stellte Nick auf der Fahrt nach Schoen­eich prompt enttäuscht fest. »Das ist eigentlich nichts Besonderes.«

»Nein, Nick. Wie gesagt, Aline stammt aus der ersten Ehe von Herrn Bonaventura. Er ist zum zweitenmal verheiratet, und seine Frau erwartet ihr erstes Baby.«

»Und er lebt in New Orleans, nicht wahr?«, vergewisserte er sich noch einmal.

»So ist es, mein Junge. Er hat irgendetwas mit Ölbohrungen zu tun. So genau hat er sich nicht ausgedrückt.«

»Ach so. Und mehr hat er dir wirklich nicht erzählt?« Maßlose Enttäuschung war in Nicks Gesicht zu lesen. »Dabei habe ich geglaubt, dass ihn und Aline irgendein Geheimnis umgibt.«

»Zerbrich dir nicht den Kopf über die Bonaventuras, mein Junge. Du wirst schon noch erfahren, was mit ihnen los ist. Obwohl meiner Meinung nach alles in bester Ordnung ist. Sobald seine Frau das Baby bekommen hat, wird Herr Bonaventura seine Tochter gewiss wieder abholen. Solche Fälle hatten wir doch schon öfters. So, da wären wir. Ein Glück, dass es endlich zu schneien aufgehört hat. Wenn noch mehr Schnee gefallen wäre, hätten wir unsere Häuser nicht mehr verlassen können.«

»Das wäre eine Wucht gewesen, Mutti. Dann hätten wir nicht in die Schule zu gehen brauchen und …«

»Mutti! Mutti!« Der jüngste Schoen­ecker, Henrik, lief auf Denise zu. »Endlich bist du da! Warum hast du mich heute früh nicht mitgenommen? Warum …«

»Ich bin von Tante Ma angerufen worden, dass Besuch auf mich wartet, mein Junge«, erklärte sie und küsste ihn. »Ich musste ganz schnell abfahren. Heute Nachmittag oder morgen darfst du aber nach Sophienlust mitfahren. Wo steckt denn Vati?«

»Er sitzt im Kaminzimmer und liest Zeitung. Er hat mich gebeten, nach dir Ausschau zu halten, weil es doch schon so spät ist und wir alle Hunger haben«, teilte ihr Henrik eifrig mit. »Du, Nick, bist du heute Ski gefahren?«, wandte er sich an seinen Bruder.

»Ja, Henrik …«

Denise achtete nicht mehr auf die Unterhaltung ihrer Söhne, sondern eilte ins Haus, wo sie von ihrem Mann sehnsüchtig erwartet wurde.

»Endlich bist du da, mein Liebes«, begrüßte er sie liebevoll und zog sie für einen Moment an sich. »Ich habe schon befürchtet, du wärst mit dem Auto im Schnee steckengeblieben.«

»Ach wo«, lachte sie und ließ sich dann von ihm aus dem Pelzmantel helfen. »Mister Bonaventura hat mich so lange aufgehalten. Er hat seine kleine Tochter bei uns gelassen. Viel konnte ich von ihm nicht erfahren. Er war ziemlich wortkarg. Dafür ist die kleine Aline ein bezauberndes Geschöpf. Sie ist drei Jahre alt und sehr gescheit. Zuerst wollte ich sie gar nicht aufnehmen, weil er so seltsam war. Doch dann konnte ich dem Kinderblick nicht widerstehen. Er gab mir einen Scheck mit einem viel zu hohen Betrag. Als ich ihn ablehnte, meinte er nur, er wisse nicht genau, wie lange Aline bei uns bleiben müsse. Später könnten wir ja dann abrechnen. Malu ist natürlich vor Freude darüber, dass wieder ein Kleinkind bei uns ist, ganz aus dem Häuschen. Bei ihr ist die Kleine auch am besten aufgehoben. Ja, und unser kluger Nick vermutet wieder einmal, dass die Ankunft des Kindes mit einem Geheimnis verbunden ist. Dass irgendetwas nicht so ist, wie es sein sollte, vermute ich ja auch. Doch ich werde mich hüten, Nick darauf aufmerksam zu machen, sonst fühlt er sich verpflichtet, Sherlock Holmes zu spielen«, fügte sie lachend hinzu.

Alexander stimmte in ihr Lachen ein.

Dann erklärte er: »Denise, ich habe einen Mordshunger. Martha war schon zweimal bei mir und hat mir ihr Leid geklagt.«

»Das kann ich mir denken. Arme Martha. Dass es sich die Leute nicht abgewöhnen können, immer so kurz vor dem Essen nach Sophienlust zu kommen. Ich mache mich nur ein wenig frisch, Alexander. Bin gleich wieder unten.« Denise eilte die Treppe hinauf.

Nach dem Essen, das trotz Marthas Sorge ausgezeichnet gewesen war, erlaubte Denise ihren Söhnen, wieder nach Sophienlust zu fahren. Denn Henrik wollte unbedingt die kleine Aline kennenlernen.

Der Chauffeur Hans brachte die beiden Jungen dorthin. Da er sich seit kurzem für das neue Hausmädchen Ulla Häußler interessierte, war er jedesmal froh, wenn man ihn nach Sophienlust schickte.

Dominik und Henrik fanden die anderen Kinder im Wintergarten. Aline war nicht von Habakuks Käfig fortzubekommen. Beim Anblick des bunten Vogels hatte sie ihren heimlichen Kummer schnell vergessen. Obwohl sie nichts von ihren wahren Gefühlen zeigte, litt sie doch sehr unter der plötzlichen Trennung von ihrer lieben Omi und von Stephan. Sie liebte ihren großen Bruder innig. Alles, was er sagte, war für sie heilig. Deshalb wollte sie auch ihren Vati nicht liebhaben.

Bei dem Gedanken an den großen ernsten Mann, den sie vor ein paar Tagen zum erstenmal gesehen hatte und der ihr Vati sein sollte, schossen heiße Tränen in ihre Augen. Wenn Stephan ihr nicht verboten hätte, lieb zu ihm zu sein, hätte sie ihn sogar sehr liebgehabt. Aber Stephan hatte ihr erzählt, dass er ein sehr böser Mann sei, der schuld am Tod ihrer Mutti sei. Natürlich verstand sie das alles nicht so genau. Aber wenn Stephan ihr das sagte, stimmte es auch.

Verstohlen fuhr Aline sich mit dem Handrücken über die Augen und blickte dann wieder zu Habakuk hin, der plötzlich rief: »Lena! Einen runden Po!« Erheitert lachte die Kleine auf.

»Hallo!«, rief Dominik von der Tür her. »Aline, komm doch mal zu mir. Das ist mein kleiner Bruder Henrik. Er war sehr neugierig auf dich. »

Aline drehte sich um und kam näher. Dabei verschränkte sie ihre Hände auf den Rücken. Nachdenklich musterte sie Henrik, der verlegen grinste. »Ich mag dich«, erklärte sie schließlich und streckte dem Jungen freundschaftlich ihre Rechte entgegen. »Zeigst du mir die elektrische Eisenbahn?«

»Das werde ich tun«, mischte sich Dominik ein. »Henrik ist noch zu klein, um die Schaltung bedienen zu können.«

»Das ist nicht wahr!«, empörte sich der Jüngere. »Ich kenne mich genau in allem aus. Soll ich es dir beweisen? Oder glaubst du mir nicht?« Herausfordernd sah er Nick an.

»Ist schon gut, mein Kleiner.« Dominik hatte keine Lust, sich mit ihm zu streiten.

»Aber wir wollten doch heute Nachmittag Tischtennis spielen«, erinnerte Pünktchen ihn an sein Versprechen.

»Später, Pünktchen. Erst einmal soll Aline alles in Sophienlust kennenlernen. Morgen Vormittag zeigen wir ihr dann die Ponys und die Pferde.«

»Habt ihr auch Lämmchen?«, fragte sie sogleich interessiert.

»Ja, Aline, aber nicht viele. Dafür gibt es eine Menge Kühe, sogar einen Stier. Aber er ist sehr böse.«

»Wirklich?« Die Kleine steckte vor Staunen den Finger in den Mund. »Gehen wir jetzt zur Eisenbahn?«, bat sie.

Also gingen die Kinder ins Eisenbahnzimmer.

»Weißt du, was ich merkwürdig finde?«, raunte Dominik Malu zu. »Dass Aline so gut Deutsch spricht. Dabei kommen die Bonaventuras doch aus Amerika.«

»Ich glaube aber«, entgegnete Malu, »dass sie noch niemals in Amerika war. Ihre Mutter scheint tot zu sein. Vermutlich hat Aline noch einen Bruder.«

»Glaubst du? Wie kommst du denn darauf? Du wirst sehen, hinter der ganzen Sache verbirgt sich ein Geheimnis.«

»Ein Geheimnis? Nein, das glaube ich kaum.«

»Du wirst schon noch erleben, dass ich wieder einmal Recht behalte. Komisch, dass sich ein so kleines Mädchen für eine elektrische Eisenbahn interessiert.«

»Sie hat bestimmt einen großen Bruder, der auch eine elektrische Eisenbahn besitzt.«

»Das werden wir gleich feststellen«, meinte Dominik zuversichtlich und öffnete die Tür zum Eisenbahnzimmer.

Aline strahlte übers ganze Gesicht.

Zum Erstaunen aller kannte sie sich genau in allem aus.

»Das finde ich aber Klasse!«, rief Dominik. »Ja, nicht wahr, dein Bruder hat auch eine Eisenbahn?« Gespannt beobachtete er die Kleine.

»Ja, Stephan hat auch eine solche Eisenbahn«, bekannte sie leise. »Lass doch die Lokomotive noch schneller fahren. Dort ist der Hebel!«

»Das weiß ich ja«, brummte Nick. »Habt ihr auch ein Eisenbahnzimmer?«

»Unsere Eisenbahn ist im Herrenzimmer aufgebaut. Auf dem Boden. Omi hat zwar erst ein bisschen geschimpft, aber Marga, das ist unser Faktotum, hat gesagt, es mache ihr nichts aus, wenn die Eisenbahn dort steht. Habt ihr auch einen Speisewagen?«

»Ja, Aline. Henrik, hole doch bitte die Schachtel mit den anderen Wagen aus dem Eckschrank«, bat Dominik seinen kleinen Bruder.

Alines Sehnsucht nach Stephan und ihrer Omi wurde plötzlich so heftig in ihr, dass ihr die Tränen übers Gesicht rannen. Sie lief zur Tür und wollte sie öffnen.

Malu hielt die Kleine sanft zurück. »Aline, sei lieb …«

»Ich will nach Hause«, schluchzte das Kind auf.

»Später wirst du wieder nach Hause fahren dürfen, Aline.«

»Da, Aline, das ist der Speisewagen.« Henrik, der viel von Nick gelernt hatte und genauso wie dieser ein erstaunliches Einfühlungsvermögen besaß, versuchte die Kleine von ihrem Heimweh abzulenken. »Schau doch mal genau hin. Hinter den Fenstern sitzen Menschen.«

»Oh!«, rief Aline. »Wir haben keine Menschen im Speisewagen.«

An diesem Nachmittag war die Kleine so abgelenkt, dass sie keine Zeit mehr hatte, unglücklich zu sein. Auch beim Abendessen war sie recht fröhlich.

Malu brachte sie nach dem Essen zu Bett. Ihr Wolfsspitz Benny lief hinter ihnen her, als sie zum Obergeschloss hinaufgingen, wo sich die Schlafzimmer in einem Seitenflügel befanden.

»Benny schläft bei uns im Zimmer«, berichtete Malu. »Er hat ein Körbchen und ist immer sehr brav.«

»Beißt er auch nicht, Malu?«

»Nein, Aline, er hat Kinder sehr gern, besonders kleine Mädchen.«

»Dann darf ich ihn auch mal liebhaben?«

»Ja, Aline, sooft du willst. So, da wären wir.«

Pünktchen und Angelika hatten eine Puppe auf Alines Bett gelegt, weil sie hofften, dass sie dann weniger Heimweh haben würde. Es war eine wunderschöne Puppe mit schwarzen Haaren und dunkelblauen Augen.

»Oh, das ist ja Schneewittchen!«, rief die Kleine entzückt. »Wem gehört die Puppe denn?«

»Ich glaube, dir.«

»Kennst du das Märchen vom Schneewittchen, Malu?«

»Aber ja, Aline.«

»Erzählst du es mir nachher? Omi hat mir auch immer Märchen erzählt. Meinst du, dass Omi sterben muss?« Sie drückte die Puppe zärtlich an ihre Brust. »Stephan hat gesagt, wenn der liebe Gott sie abholt, werden wir beide ganz allein sein.«

»Aline, zieh dich bitte aus«, lenkte Malu rasch ab. »Oder soll ich dir helfen?«

»Nein, nein, ich kann das schon allein.« Vorsichtig legte die Kleine die große Puppe auf ihr Bett.

Benny lag schon in seinem Körbchen. Aus seinen klugen Augen beobachtete er sein Frauchen und das neue kleine Mädchen.

*

Während Aline sich allmählich in Sophienlust heimisch fühlte, kümmerte sich ihr elfjähriger Bruder Stephan rührend um seine kranke Großmutter, an der er mit der ganzen Kraft seines Herzens hing. Das war verständlich, denn er lebte seit Jahren bei ihr. Auch Eva Rüdiger hing sehr an ihrem Enkel. Er und ihre kleine Enkelin waren für sie ein Ersatz für ihre einzige Tochter Vivian, die auf so tragische Weise ums Leben gekommen war.

Die alte Dame war seit einigen Wochen bettlägerig. Sie wusste, dass ihre Tage gezählt waren. Das war ein erschreckender Gedanke. Was würde dann aus Stephan und Aline werden? Für Aline würde ihr Tod weniger schmerzlich sein, weil sie ja noch so klein war. Sie würde sich eines Tages bei ihrem Vater und dessen zweiter Frau glücklich fühlen. Stephan aber hasste durch ihre Schuld seinen Vater. Ja, es war ganz allein ihre Schuld, dachte die alte Frau unglücklich.

Auch an diesem dämmerigen Winternachmittag dachte sie mit Verzweiflung an die Zukunft des Jungen. Nicht zum erstenmal plagten sie Gewissensbisse, packte sie die Reue. Hatte sie recht daran getan, das Herz ihres Enkels so sehr zu vergiften, dass er nur mit großer Feindseligkeit an seinen Vater dachte? Hatte sie das Recht gehabt, Magnus die Schuld am Tod seiner Frau zu geben? Was wusste sie denn über das Unglück in Paris? Nichts! Sie hatte auch nichts wissen wollen. Doch damals, als sie die Nachricht vom Tod ihrer Tochter erhielt, hatte sie nur denken können, dass Magnus schuld am Tod von Vivian sei. Heute zweifelte sie jedoch daran. Sie kannte doch Vivian. Ihre Tochter war das echte Kind ihres Mannes gewesen, der sich als Trapezkünstler einen Namen in der Welt gemacht hatte. Vivian hatte von klein auf den Wunsch gehabt, den Artistenberuf zu ergreifen. Natürlich hatte ihr Vater sie unterstützt und ihr Unterricht gegeben. Durch ihn hatte sie auch Magnus Bonaventura und dessen beide Brüder kennengelernt. »Die fliegenden Bonaventuras« hatte man sie in aller Welt genannt. Ihre waghalsigen Kunststücke am Trapez waren einfach sensationell gewesen. Vivian hatte schon bald zu ihnen gehört. Sie hatte Magnus geheiratet, der sie vergöttert hatte.

Eva Rüdiger seufzte leise auf, sodass Stephan mit großen ängstlichen Augen fragte: »Omi, wie geht es dir? Nicht wahr, die neue Medizin hilft dir?«

»Ja, Stephan, sie hilft mir.«

»Dann wirst du wieder ganz gesund. Nicht wahr, Omi?« Flehend sah er sie an.

»Ja, mein Herzchen, ich werde wieder gesund.« Besorgt blickte sie in sein Gesicht. Wie blass das Kind war! Auch schien er magerer geworden zu sein.

»Omi, wenn du wieder gesund bist, holen wir Aline heim. Sicherlich wird es ihr im Kinderheim nicht gefallen. Sie hat bestimmt großes Heimweh. Ja, sie ist ganz gewiss schrecklich unglücklich.«

»Das glaube ich kaum, Stephan. Sophienlust soll ein sehr schönes Kinderheim sein.«

»Ein Kinderheim kann nicht schön sein, Omi. Wenn ich dorthin müsste, hätte ich das Gefühl, in ein Gefängnis eingesperrt zu werden. Bevor ich freiwillig in ein Kinderheim ginge, würde ich lieber sterben«, erklärte er leidenschaftlich.

»Aber, mein Junge, wie kannst du so etwas sagen!«

»Weil es wahr ist. Omi, ich sage Marga Bescheid, dass sie dir deine Suppe bringen soll. Es ist bald sechs.«

»Ich habe keinen Hunger, Stephan.«

»Aber du musst essen, Omi. Du brauchst doch Kraft, um gesund zu werden.«

»Gut, gut, ich esse meine Suppe, mein kleiner energischer Enkel.«

Stephan nickte zufrieden und verließ das Zimmer, um Marga Bescheid zu sagen.

Eva Rüdiger war wieder allein. Ihre Gedanken wanderten sogleich wieder in die Vergangenheit zurück. Sie sah sich als blutjunge Frau an der Seite ihres geliebten Mannes. Ja, Fred und sie waren unendlich glücklich gewesen. Seit seinem Tod kam sie sich wie ein halber Mensch vor. Von Anfang an hatten sie in diesem Haus gelebt, das am Stadtrand von Köln stand. Hier war auch Vivian geboren worden, hier war sie aufgewachsen.

Fred hatte seine Tochter leidenschaftlich geliebt. Er hatte sie nach Strich und Faden verwöhnt und ihr alle Wünsche erfüllt. Auch Vivian hatte mit abgöttischer Liebe an ihrem Vater gehangen. War es da verwunderlich gewesen, dass sie ihm in allem nachgeeifert hatte?

Doch wäre Vivian nicht so versessen darauf gewesen, Artistin zu werden, würde sie heute noch leben. Dann wäre sie jetzt bei ihr und würde ihr das Sterben leichter machen. Dann wäre auch Aline hier, ihre kleine Enkelin, die ihrer Mutter so sehr glich, dass sie oft glaubte, Vivian sei zu ihr zurückgekommen. Ja, dann wäre alles ganz anders gekommen, dann …

»Nein, nein, man soll nicht an solche Dinge denken«, flüsterte die Kranke und presste beide Hände auf ihre Brust, in der das Herz hart und schmerzhaft hämmerte.

»Omi, da ist deine Suppe!«, rief Stephan und hielt Marga die Tür auf. Das alte Hausfaktotum warf einen mitleidigen Blick auf die eingefallenen Züge ihrer Herrin. Es kostete sie große Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. Aber sie durfte Stephans wegen nicht weinen. Er durfte nicht wissen, dass seine Großmutter bald nicht mehr bei ihm sein würde.

»Frau Rüdiger, die Suppe müssen Sie aufessen«, sagte Marga mit gespielter Strenge und rollte den fahrbaren Tisch dicht ans Bett.

»Stephan, du musst aber auch essen«, erwiderte die alte Dame.

»Später, Omi. Ich esse dann mit Marga zusammen. Erst musst du essen.« Stephan nahm seinen Platz am Bett wieder ein. »Ich bleibe so lange bei dir, bis der Teller leer ist.«

Stephan wollte seiner Großmutter nicht erzählen, dass er seit Tagen kaum einen Bissen herunterbekam. Seit dem Tag, da er seinen Vater nach so langer Zeit wiedergesehen hatte, war ihm der Magen wie zugeschnürt. Bevor das Entsetzliche mit seiner Mutter geschehen war, hatte er ihn geliebt und bewundert. Ja, er hatte sich gewünscht, einmal genauso zu werden wie er.

Doch dann war alles anders geworden. Er hatte seinen Vater gehasst, weil seine Mutter durch seine Schuld verunglückt war. Bei der Beerdigung seiner geliebten Mutti hatte er seinen Vater nicht angeschaut und war weggelaufen, als dieser mit ihm hatte sprechen wollen. Er hatte sich auf dem Speicher versteckt und war erst wieder hervorgekommen, als der Vater fort gewesen war.

Vor ein paar Tagen war der Vater nun zu ihnen gekommen, um Aline abzuholen. Denn Omi hatte ihm geschrieben, dass sie krank sei. Dieses Wiedersehen mit seinem Vater hatte Stephan völlig durcheinandergebracht und ihn in seelische Konflikte gestürzt, mit denen er immer noch nicht fertig geworden war. Denn er war überrascht gewesen, wie nett sein Vater aussah. Im Laufe der letzten Jahre hatte er ihn als Scheusal gesehen, als einen rohen rücksichtslosen Mann mit derben Gesichtszügen. Aber sein Vater hatte in Wirklichkeit so freundlich ausgesehen, dass sein Herz ihm zugeflogen war. Es war ihm schwergefallen, sich weiterhin feindlich zu verhalten. Um nicht weich zu werden, hatte er sich immer wieder vor Augen gehalten, was sein Vater seiner Mutter angetan hatte. Omi hatte ihm doch erzählt, dass nur der Ehrgeiz seines Vaters seine Mutter in den Tod getrieben habe.

Eva Rüdiger löffelte ihre Suppe. Jeder Schluck war für sie eine Qual, denn sie dachte an das, was sie in ihrem Leben falsch gemacht hatte. Ja, sie hatte Stephans Herz vergiftet, seinen Hass auf seinen Vater noch geschürt. Was würde nun aus Stephan werden, wenn sie nicht mehr da war?

Verzweifelt beobachtete sie den Jungen. Wie unglücklich er aussah! Warum hatte Vivian nur sterben müssen? Warum?

Die alte Dame schob den leeren Teller etwas zurück und sank erleichtert in die Kissen zurück. Eine wohltuende Müdigkeit nahm von ihr Besitz. Ihre Lider wurden immer schwerer. Doch sie schlief noch nicht.

»Omi schläft«, hörte sie Stephan der alten Bediensteten zuraunen.

»Gott sei Dank, Jungchen. Nun komm aber und iß endlich dein Abendbrot.«

»Ja, Marga. In einer halben Stunde kommt ja die Nachtschwester.«

Leise wurde die Tür ins Schloss gezogen. Die alte Dame war jetzt allein. Soeben hatte sie noch geglaubt, einschlafen zu können, doch nun ließen ihr ihre Gedanken wieder keine Ruhe.

Neue Erinnerungen überfielen sie. Sie sah jetzt Vivian vor sich, als sie mit Magnus zu Besuch gekommen war. »Wir bleiben jetzt lange bei euch«, hatte sie erklärt. »Denn ich bekomme ein Baby. Magnus und seine Brüder machen eine vierteljährige Pause.«

Wie glücklich waren Fred und sie über die Anwesenheit ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes gewesen. Damals hatte sie selbst Magnus noch geliebt und sich großartig mit ihm verstanden. Sie hörte noch ganz deutlich seine frohe, klangvolle Stimme, als sein Sohn geboren worden war. »Mamachen«, hatte er gerufen und sie umarmt. »Mamachen, ich bin der glücklichste Mensch unter dem Himmel!«

Vivian hatte sich schnell erholt und bald wieder mit ihrem Mann und ihren Schwägern gearbeitet. Der kleine Stephan aber war bei seinen Großeltern geblieben, die glücklich waren, wieder etwas zum Verwöhnen zu haben. Auch der kleine Junge hatte seine Omi und seinen Opa vergöttert. Aber wenn Vivian und Magnus gekommen waren, hatte er stets nur noch seine Eltern gesehen.

Nach vielen Jahren hatte sich dann die kleine Aline angemeldet. Diesmal war es Vivian sehr schlechtgegangen. Der Arzt hatte ihr nicht erlaubt, weiterzuarbeiten. Magnus hatte aber gerade in dieser Zeit nicht von seinen Verträgen zurücktreten können. Ihm und seinen Brüdern war nichts anderes übriggeblieben, als sich nach einer neuen Partnerin umzusehen. Sie hatten Jennifer Rochus engagiert, eine Deutsch-Amerikanerin, die eine Zeitlang mit einer weniger berühmten Gruppe am Trapez gearbeitet hatte. Jennifer war den Brüdern durch eine Pariser Agentur vermittelt worden. Sie war nicht nur bildhübsch, sondern auch begabt. Schnell hatte sie sich eingearbeitet.

Vivian aber hatte Höllenqualen gelitten. Zum erstenmal hatte sie die Eifersucht kennengelernt. Magnus ist auch nur ein Mann, hatte sie sich gesagt. Würde er ihr treu bleiben? Das Kind, das in ihr wuchs, war für sie zur Last geworden.

Magnus hatte Vivian zu ihren Eltern gebracht und war dann nach Paris zurückgekehrt. Von dort war die Truppe durch ganz Europa gereist.

Vivian hatte daheim voller Ungeduld auf ihr Kind gewartet und war immer nervöser geworden. Stephan aber war sehr glücklich darüber gewesen, dass seine Mutti diesmal so lange bei ihm blieb. Er war ihr wie ein Hündchen nachgelaufen.

Ganz plötzlich war dann ihr Mann, Fred, gestorben. Vivian und auch sie selbst waren tiefunglücklich über seinen Tod gewesen. Auch Stephan hatte bitterlich geweint, denn er hatte seinen Opa sehr liebgehabt.

Magnus war zur Beerdigung seines Schwiegervaters gekommen und bis zur Geburt seiner Tochter dageblieben. Vivians Leben hatte an einem seidenen Faden gehangen, als das Kind zur Welt gekommen war. Später hatte der Arzt ihr strikt verboten, ihren Beruf weiter auszuüben.

Anfangs hatte Vivian das auch eingesehen. Doch dann war Magnus nach Paris abgereist, wo die Bonaventuras ein Engagement an einem bekannten Variete angenommen hatten.

Vivian hatte es ohne ihren Mann nicht ausgehalten. Die ständige Trennung von ihm hatte an ihren Nerven gezerrt. Deshalb hatte sie eines Tages erklärt, sie fahre zu ihm. Sie war plötzlich überzeugt gewesen, dass er sie nicht mehr liebe, dass er den Reizen der jungen und schönen Jennifer nicht habe widerstehen können. Wie in Trance hatte sie alles für ihre Abreise vorbereitet.

Stephan und sie selbst hatten Vivian schließlich zum Flugplatz gebracht. Niemals würde sie den Abschied von ihrer Tochter vergessen. Auch nicht, wie bezaubernd sie in ihrem Nerzmantel und der dazu passenden Kappe ausgesehen hatte. Die Männer hatten sich nach ihr umgedreht, aber Vivian hatte auf niemanden geachtet. Ihre Augen hatten wie im Fieber geglänzt. Ja, sie war schön gewesen …

Stephan hatte geweint und seine Mutter angefleht, bei ihm zu bleiben. Hatte er damals schon geahnt, dass es ein Abschied für immer war?

Eva Rüdiger seufzte. Sie hatte Vivian danach nur noch als Tote wiedergesehen. Magnus hatte den Sarg von London nach Köln überführen lassen. Damals war sie nicht fähig gewesen, auch nur ein einziges Wort mit ihrem Schwiegersohn zu wechseln. Sie hatte ihn gehasst und ihm die Schuld am Tod ihrer geliebten Tochter gegeben. In Stephans Gegenwart hatte sie ihm böse Worte gesagt. Doch was in London wirklich geschehen war, hatte sie niemals erfahren, und sie würde es wohl auch niemals erfahren.

Die alte Frau bäumte sich auf und rang nach Luft. Es war ihr, als laste ein Zentnergewicht auf ihrer Brust. Die Krankenschwester erschien und rettete sie im letzten Moment vor dem Erstickungstod. Rasch gab sie ihr eine Spritze, die sofort wirkte.

Stephan stand mit vor Entsetzen geweiteten Augen an der Tür und beobachtete mit zitterndem Herzen seine Omi. Als ihre Wangen sich wieder röteten und ein erleichterter Atemzug ihre Brust hob, atmete er tief auf. Trotzdem wusste er plötzlich, dass seine Omi bald sterben würde. Leise schluchzte er auf.

Die Nachtschwester blickte den Jungen voller Mitleid an. »Stephan, du darfst nicht den Mut verlieren«, sagte sie etwas später zu ihm, als die Kranke eingeschlummert war.

»Nicht wahr, sie wird sterben?«, erwiderte er mit tränenüberströmtem Gesicht.

»Solange noch Leben in einem Menschen ist, darf man die Hoffnung nie aufgeben, mein Junge.«

Auf Zehenspitzen verließ Stephan das Krankenzimmer. Er suchte nach Marga und fand sie in ihrem Zimmer. »Darf ich ein bisschen bei dir bleiben?«, bat er.

»Aber ja, Jungchen, ich freue mich sehr über deine Gesellschaft.« Sie deutete auf den Sessel und setzte sich selbst auf das Sofa.

»Marga, ich habe schreckliche Angst um Omi. Wenn sie stirbt, bin ich ganz allein. Dann habe ich niemanden mehr.«

»Jungchen, das stimmt doch nicht. Du hast noch deine Schwester und auch deinen Vater.« Marga zog den Korb mit dem Strickzeug zu sich heran.

»Ich habe keinen Vater mehr. Und Aline ist noch so klein, dass man sich mit ihr noch nicht richtig unterhalten kann. Außerdem wird Vater sie mir wegnehmen. Ich habe doch bemerkt, wie verzückt sie ihn angestarrt hat. Sicherlich ist sie schon mit fliegenden Fahnen zu ihm übergelaufen. Oh, ich hasse ihn so sehr, dass es mir nichts ausmachte, wenn er tot wäre.«

»Versündige dich nicht, mein Jungchen.« Marga sah ihn über ihre Brille hinweg kopfschüttelnd an. »Er ist dein Vater. Warum hasst du ihn nur so sehr? Ich kenne ihn doch gut und weiß, dass er ein herzensguter Mensch ist.«

»Er hat Mutti getötet«, stieß der Junge verbittert hervor. »Omi hat mir erzählt, dass er sie nicht daran gehindert hat, wieder am Trapez zu arbeiten.«

»Stephan, deine Mutter war sehr lieb, aber furchtbar eigensinnig. Wir alle haben ihr abgeraten, nach Paris zu fahren, um wieder als Artistin zu arbeiten. Aber es hat nichts genützt. Dein Vater hat sie sehr lieb gehabt und war unendlich traurig über ihren Tod. Er hat mir sehr leid getan.«

»Aber Omi erzählt doch, dass er die andere Partnerin verehrt hat, dass Mutti deshalb nach Paris gefahren ist. Vielleicht war er sogar froh, dass sie gestorben ist.«

»Stephan, so etwas darfst du nicht einmal denken, geschweige denn sagen«, empörte sich Marga.

»Ich glaube, was Omi sagt«, erklärte er eigensinnig.

Marga schwieg darauf. Sosehr sie auch Frau Rüdiger verehrte und ihr treu ergeben war, so unverständlich fand sie es, dass sie Stephan gegen seinen Vater aufhetzte.

»Bitte, Marga, erzähle mir doch etwas von Mutti«, bat der Junge bedrückt. »Ach, ich wünschte, sie würde jetzt bei mir sein. Warum kommen Tote nicht wieder?« Tränen rollten ihm über die Wangen.

Marga nahm einige heruntergefallene Maschen auf und begann zu erzählen: »Deine Mutter sah mit drei Jahren genauso aus wie deine Schwester Aline. Ich habe an dem Tag, als sie ihren dritten Geburtstag feierte, meine Stelle bei deinen Großeltern angetreten. Von der ersten Stunde an liebte ich die kleine Vivian oder Vivi, wie man sie nannte, innig. Auch sie konnte mich gut leiden. Ja, sie war das niedlichste Mädchen weit und breit. Und …«

Stephan lauschte den Worten der alten Frau mit glänzenden Augen. Wenn sie von früher erzählte, von der Zeit, als sie alle noch glücklich gewesen waren, vergaß er für ein Weilchen seinen großen Kummer und seine innere Einsamkeit.

*

Jennifer Bonaventura lag auf dem breiten Doppelbett in dem komfortablen Hotelzimmer und wartete ungeduldig auf die Rückkehr ihres Mannes. Magnus befand sich auf Wohnungssuche, denn sie hatten beschlossen, sich während ihres Aufenthaltes hier in München ein Appartement zu mieten. Jahrelang hatten sie in Hotels leben müssen, deshalb hatten sie dieses Leben nun satt. Auch konnte Jennifer sich in eigenen vier Wänden besser entspannen. Die Schwangerschaft machte ihr doch zu schaffen. Oft fühlte sie sich entsetzlich elend. Aber sie freute sich sehr auf das Kind und hoffte von ganzem Herzen, dass es ihr helfen würde, Magnus’ Liebe zu erringen.

Jennifer setzte sich auf und schlang die Arme um ihre Beine. Versonnen blickte sie zum Fenster hinaus. Es hatte zu schneien begonnen. Die Schneeflocken tanzten an den Scheiben vorbei.

Auch damals in Paris hatte es geschneit. Damals, als sie die Bonaventuras kennengelernt hatte. Voller Aufregung war sie zu dem Hotel gefahren, in dem »Die fliegenden Bonaventuras« abgestiegen waren. Niemals würde sie den Augenblick vergessen, als sie Magnus und dessen Frau zum erstenmal gesehen hatte. Die beiden hatten sie in dem Salon, der zu ihrer Zimmerflucht gehörte, empfangen. Vivian hatte ein lichtblaues Negligé getragen und zauberhaft ausgesehen. Magnus aber hatte sie von der ersten Minute an stark beeindruckt. Ihr Herz hatte stürmisch geschlagen, als sie in seine Augen geblickt hatte. Doch Vivian war ihr feindlich gesinnt gewesen. Das hatte sie sogleich gespürt. Darum war sie auch froh gewesen, als Magnus seine Frau nach Köln gebracht hatte.