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ISBN 978-3-7026-5922-6

eISBN 978-3-7026-5923-3

1. Auflage 2018

Einbandgestaltung: b3k

© 2018 Verlag Jungbrunnen Wien

Alle Rechte vorbehalten – printed in Austria

Druck und Bindung: Christian Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Armin Kaster

Du denkst, die Welt zerfällt, und brichst nur selbst in Stücke

Eine Novelle für Jugendliche

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Armin Kaster

wurde 1969 in Wuppertal geboren. Als Junge las er Weltliteratur, die er nicht verstand, und wünschte sich dennoch, Schriftsteller zu werden. Nach exotischen Ausflügen in den Groß- und Außenhandel sowie die Wirtschaftswissenschaft, bog er ab zur Pädagogik und danach zur Kunst. Jetzt arbeitet er als freier Autor und Künstler und lebt mit seiner Familie in Düsseldorf. Seit Jahren führt er literarisch-künstlerische Projekte mit Kindern und Jugendlichen im In- und Ausland durch. Dabei begeistern ihn vor allem die originellen Lebenswelten junger Menschen, die er am liebsten in Geschichten verwandelt.

Bei Jungbrunnen sind folgende Titel von Armin Kaster lieferbar: Ferdi, Lutz und ich (2014), Ferdi, Lutz und ich auf Klassenfahrt (2016), Winterauge (2017).

Für Djamil

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 1

Es beginnt am Telefon.

Meine Mutter sagt: „Leo, ich hab so viel zu tun. Kannst du bis Montag bei deinem Vater bleiben? Geht das? Wäre das in Ordnung für dich?“

Ich stehe in der Küche meines Vaters. Es ist Freitag. Neben der Kaffeemaschine liegen zwei Zwanziger. Die hat mein Vater dagelassen, damit ich mir was zu essen kaufen kann. Mein Vater denkt dabei an den Sushiladen neben dem Frisör und ich an Gras von Bro.

Ich sage: „Kein Problem, Paps ist ja da.“

Doch mein Vater ist seit dem frühen Morgen weg. Für eine Woche in einem buddhistischen Kloster, wo er ab vier Uhr morgens mit einem Haufen Verrückter auf dem Boden hockt und meditiert.

„Ich kann hierbleiben“, sage ich.

„Gut, Leo …“ Meine Mutter lacht. „Am Montag kommst du aber zu mir, ja?“

Sie ist etwas atemlos, als wäre sie gelaufen. Doch vermutlich ist sie aufgeregt, weil sie mir gerade fürs Wochenende absagt. Was sie noch nie getan hat, aber immer schon mal wollte, wie ich in ihrem Tagebuch gelesen habe. Seit der Trennung trifft sie sich ständig mit irgendwelchen Typen, die ich nie sehe, weil ich dann nicht bei ihr bin. So wie jetzt.

„Ich hab dich lieb, Leo.“

„Ich mich auch“, sage ich und drücke sie weg.

Es ist still in der Wohnung. Ich stehe vor der Kaffeemaschine und starre auf die beiden Zwanziger. Am Montag soll ich also zu meiner Mutter. Bis dahin bin ich allein in der Wohnung meines Vaters, was noch nie passiert ist, da meine Eltern darauf achten, dass die Übergänge zwischen den Wochen stimmen. Damit ich nicht allein bin oder durcheinanderkomme, wenn gewechselt wird. Eine Woche bin ich bei meinem Vater, die nächste Woche bei meiner Mutter, zwei Straßen weiter. Das ist der Plan. Aber jetzt ja nicht, weil mein Vater schon in diesem Kloster ist, und meine Mutter ein freies Wochenende haben will, um zu arbeiten, wie sie sagt. Obwohl ich weiß, dass sie irgendeinen Typen bei sich hat, der verheiratet ist und heimlich zu ihr in die Wohnung kommt. Stand in ihrem Tagebuch, was mein Vater nicht weiß, und vermutlich auch nicht wissen will, da er nur um sich selbst kreist und in Gedanken immer weg ist, auch wenn wir zusammen sind, am Tisch sitzen oder miteinander sprechen.

Seit einem halben Jahr geht das so. Seit meine Eltern zu dem Schluss gekommen sind, dass unsere Familie vorbei ist, obwohl es eigentlich okay war, normal halt. Aber nicht für meine Eltern, die sich dringend trennen wollten und so taten, als wären sie weiterhin die besten Freunde. Ich frage mich, warum man sich trennt, wenn eigentlich alles gut ist. Um frei vögeln zu können oder in irgendwelche Klöster zu fahren?

Bis zum Sonntag bin ich also in der Wohnung meines Vaters, die auch meine Wohnung ist, was aber nur zur Hälfte stimmt, weil ich ja wochenweise pendeln muss, wie gesagt.

Sami und Luk sind da. Wir hängen ab, sehen Filme, und am Sonntagabend ist dann meine Mutter am Telefon und sagt: „Leo, ich bin im Stress wegen eines Termins. Ich … also …“

Kurze Pause.

„Ich soll noch länger bei Paps bleiben?“, frage ich.

„Ja, ausnahmsweise … Aber nur bis Samstag! Wenn das geht. Also von deinem Vater aus.“

Ich sage: „Klar geht das.“

„Könntest du deinen Vater trotzdem mal fragen? Oder soll ich?“

Ich rufe in die leere Wohnung: „Paps, kann ich auch die nächste Woche bei dir bleiben? Ma hat einen Termin oder so“, und lege meine Hand ums Telefon, damit meine Mutter nicht hört, dass mein Vater gar nichts sagt, weil er ja gar nicht da ist.

Dann sage ich: „Geht klar.“

„Wirklich, Leo?“

„Ja.“

„Und für dich? Ich meine, geht das auch für dich?“

„Alles gut.“

„Du bist so … entfernt.“

„Ich bin bei Paps.“

„Das mein ich nicht. Du bist so abwesend. Das meine ich.“

„Ich bin in meinem Zimmer.“

„Läuft es gut in der Schule?“

„Ja.“

„Hast du Bio zurück?“

„Bio ist nächste Woche.“

„Entschuldige. Das hatte ich vergessen.“

„Kein Ding, Ma.“

„Ist alles gut bei dir?“

„Was soll schlecht sein?“

„Bist du traurig?“

Was?“

„Bedrückt dich was? Ich meine, es sind dann zwei Wochen, die du bei Papa bist.“

„Drei.“

„Wieso drei?“

„Weil ich nach der nächsten Woche regulär bei Paps bin. Macht gesamt drei Wochen.“

„Ach ja, stimmt … “

Kurze Pause.

„Kannst du das verstehen, Leo? Ist das in Ordnung für dich? Ich meine, kannst du mich verstehen?“

„Du bist gut zu hören.“

„Leo!“

„Ja, Ma?“

„Für mich ist das auch nicht leicht.“

„Sicher.“

„Nein, wirklich. Du weißt, wie sehr ich dich …“

„Ma, hör auf. Alles ist gut.“

„Ich hab dich lieb, Leo!“

Ich weiß, dass sich meine Mutter schlecht fühlt. Nicht mein Ding. Sie hat irgendeinen Typen bei sich und will, dass ich sie verstehe. Wofür? Dass sie mich bei meinem Vater parkt, damit sie mit ihrem Typen im Bett bleiben kann?

Ich sage: „Tschüss, Ma“, und lege das Handy weg.

Es ist also Sonntag, Sami und Luk sind bei mir. Morgen beginnt die zweite Woche bei meinem Vater, aber ohne dass mein Vater da ist.

„Deine Mutter?“, fragt Sami und zeigt auf mein Handy.

Ich sage: „Ja.“

Sami sitzt auf meinem Bett, während Luk auf dem Boden hockt und auf den Bildschirm starrt. Luk knallt irgendwelche Terroristen ab.

Sami sieht mich an.

„Du wolltest doch zu deinem Nachbarn“, sagt er.

Sami hält mir ein leeres Tütchen hin.

Luk ruft: „Genau! Was ist mit dem Gras?“

Ich stehe auf, sage „Meinetwegen …“, gehe in die Küche, stecke die beiden Zwanziger ein und verlasse die Wohnung. Eine Etage tiefer wohnt Bro, mein Nachbar. Ich klopfe an seine Tür.

„Hey, Leo! Alles gut?“ Bro gibt mir die Hand.

Ich sage: „Ja.“

Bro lächelt, fragt: „Was geht?“, während ich ihm die Zwanziger zeige.

„Hast du was?“

„Ist gerade schlecht.“ Bro zeigt nach hinten in die Wohnung. Sein Sohn sitzt in der Küche und macht Hausaufgaben. Er ist genauso dünn wie Bro, nur um die Hälfte kleiner und irgendwie krumm, wie er da am Tisch sitzt und schreibt.

„Ich komm gleich mal rauf“, sagt Bro und zwinkert mir zu. Bro’s Frau ist letztes Jahr gestorben, Krebs oder so, trotzdem lächelt er die ganze Zeit. Als das passiert war, wohnten wir noch in unserem Haus. Da wusste ich noch nichts von Bro und dem Gras und der neuen Wohnung meines Vaters.

„Ein Altbau mit Holzböden und Stuck an der Decke“, hatte mein Vater gesagt. Und dann noch: „Ein Traum, Leo, ein echter Traum!“

Da hatte er die Wohnung gerade im Internet gesehen und wollte, dass sie mir gefällt.

Bro zwinkert mir zu.

„Bis gleich, ja?“

Ich nicke, und Bro verschwindet in der Wohnung, was mich an eine Katze denken lässt. Und dann denke ich an das erste Mal, als wir Dope gekauft haben. Am Bahnhof. Voll Schiss hatten wir. Aber Luk wollte es unbedingt, ist zur Trinkhalle gegangen, und wir haben hinter der Bücherei auf ihn gewartet. Als er nach einer halben Stunde nicht zurück war, sind wir auch zu der Trinkhalle, wo die Typen stehen, die was verkaufen. Aber Luk war weg. Wir sind dann weiter zum Bahnhof und an den Dönerbuden vorbei. Bis acht Uhr haben wir Luk gesucht, und dann saß er vorm Bahnhof und hatte voll rote Augen, kicherte die ganze Zeit, weil er mit den Typen was geraucht hatte, zum ersten Mal überhaupt, und Sami meinte, dass er das im Leben nicht gemacht hätte. Ich sagte: „Ich auch nicht“, was Luk dann voll zum Lachen brachte, die ganze Zeit. Über jeden Mist musste er lachen, und bekam einen Fressflash, zwei Döner in einer halben Stunde, was Sami und mich zum Lachen brachte, auch ohne Dope, einfach, weils so lustig war. Und jetzt lachen wir nicht mal mehr, wenn wir den ganzen Abend gekifft haben, weil wir uns daran gewöhnt haben, glaube ich. Luk fängt dauernd davon an, dass er mal was anderes probieren will, aber Sami sagt dann „Nein!“, und ich sowieso, weil ich in letzter Zeit so schlecht drauf komme von dem Zeug und mir echt nicht vorstellen kann, was anderes zu testen.

Fünf Minuten später klingelt es dann. Ich öffne. Bro steht da.

„Dein Vater hier?“

Ich sage: „Nein.“

Bro sieht mich fragend an.

„Wie lange bist du jetzt allein?“

Ich sage: „Keine Ahnung …“

Obwohl ich es weiß. Die nächste Woche.

Bro stößt einen Pfiff aus, sagt: „Cool, Alter!“

Ich sage: „Geht so …“, und Bro kommt herein, schließt die Tür und hält mir ein Tütchen hin.

„Das reicht für heute“, sagt er lachend.

Und ich sage: „Ja, wird wohl.“

Bro grinst, öffnet die Tür und ist wieder weg.

Sami ruft: „Hast du was?“

Ich werfe ihm das Tütchen zu, obwohl ich keine Lust mehr habe zu kiffen, weil ich plötzlich runter bin.

Am Ende der Woche ist dann mein Vater am Handy. Es rauscht und knistert. Ich halte das Handy vom Ohr weg. Er schreit: „Kannst du mich hören, Leo? Kannst du mich hören? Ich bins, Papa. Ich bin im Wald.“

„Ja, Paps.“

„Pass auf, am Samstag ist ja der Wechsel, nicht wahr? Aber ich muss noch ein paar Tage hierbleiben. Das ist total wichtig für mich. Hast du gehört?“

Kurze Pause.

„Hast du mich gehört, Leo?“

„Ja, Paps. Du bleibst länger weg.“

Wieder Rauschen.

„Es ist … Ich weiß auch nicht … Es ist irgendwie wichtig für mich. Verstehst du?“

„Ja, Paps.“

„Was hast du gesagt?“

„Ich habe ‚Ja, Paps‘ gesagt.“

Rauschen.

Dann: „Klärst du das mit deiner Mutter? Ich übernehme die nächste Woche, verstehst du? Wir verschieben das einfach mal. Wird nicht so schlimm sein, oder?“

Ich sage: „Nein, Paps.“

„Hat denn deine Mutter Zeit für dich?“

„Willst du sie mal sprechen?“

„Nein, nein …“

Mein Vater lacht.

„Also, Leo, das geht, ja? Ich muss hier was klären, also mit mir, ja?“

„Ja, sicher …“

„Also dann … machs gut, mein Lieber.“

„Ja, Paps.“

„Bis nächsten Samstag.“

Damit ist er wieder weg.

Es ist Freitag, und ich werde nach dem Wochenende eine weitere Woche in der Wohnung meines Vaters sein. Die dritte dann, wovon mein Vater nichts weiß, meine Mutter aber schon. Allerdings denkt sie, mein Vater wäre da. Und ich weiß nicht mehr genau, ob es besser ist, allein zu sein oder jede Woche von einer Wohnung in die nächste zu wechseln. Ich hasse das, weil ich immer meine Tasche packe und in eine andere Wohnung trage, dort wieder auspacke und ewig brauche, bis ich mich an das andere Zimmer gewöhnt habe. Denn das Zimmer bei meinem Vater ist immer kalt, und die Küche bei meiner Mutter total versifft, und der Kühlschrank bei meinem Vater immer leer, und das Bad bei meiner Mutter voller Wäsche, und das Internet bei meinem Vater viel zu langsam.

Am Wochenende bin ich, wie immer eigentlich, mit Sami und Luk zusammen. Und am Montag verschlafe ich, weil mich niemand weckt. Am Dienstag verschlafe ich auch und bleibe zu Hause. So vergeht die dritte Woche. Und als ich am Donnerstag aus der Schule komme und die leere Wohnung meines Vaters betrete, ruft meine Mutter an. Sie sagt: „Ich dachte, ich melde mich mal bei dir.“

Ich bin sofort genervt, keine Ahnung warum, und frage: „Bei dir so?“

„Du meinst, ob ich den Termin geschafft habe?“

„Mmh …“

„Diesmal wars knapp.“

Ich schweige eine Weile. Dann sagt meine Mutter: „Wann kommst du am Samstag?“

„Keine Ahnung … mittags?“

„Ja, das ist gut. Ich bin dann zwar noch unterwegs, aber … wir können am Abend was kochen. Was hältst du davon? Als Start ins Wochenende.“

„Meinetwegen …“

Ich denke an die Freitage, wenn wir am Tisch saßen, mit Brötchen, Aufschnitt und Cola, die was Besonderes war, weil es sonst nur Wasser gab, manchmal auch Saft. Aber freitags gab es Cola, was mir in den ersten Wochen in den zwei Wohnungen am meisten fehlte, die Freitage am Esstisch, der Start ins Wochenende, den meine Mutter jetzt auf den Samstag verschoben hat.

„Magst du was Bestimmtes?“, fragt meine Mutter.

Ich sage: „Nein“, obwohl ich an Cola denke. Aber Cola geht ja jetzt immer, ist überhaupt nicht mehr besonders. Wenig später drücke ich sie weg und lege mich aufs Bett, denke, dass ich noch nie in meinem Leben zwei Wochen allein gewesen bin, also ohne meine Eltern, und muss grinsen, weil es so einfach ist, seine Eltern zu verarschen. Früher haben sie mich wegen jedem Scheiß angerufen, waren immer zu Hause und so, voll die Kontrolle. Jetzt merken sie nicht einmal, dass ich vierzehn Tage allein bin und kiffe und Gott weiß was anstellen könnte, zum Beispiel abhauen oder so.

Zwei Tage später bin ich dann bei meiner Mutter. Ich stehe in der Küche und durchsuche den Kühlschrank, finde aber nur verschimmeltes Zeug und frage mich, womit wir ins Wochenende starten sollen, ist ja nichts da, nicht mal Wasser. Da ruft mein Vater an.

Er fragt: „Bist du bei deiner Mutter?“

Ich sage: „Ja, klar.“

„Aber du wolltest doch zu mir.“

„Wollte ich?“

„Das hatten wir so besprochen.“

„Du hast gesagt, dass du eine Woche länger weg bist, weil da irgendwas wichtig ist oder so.“

„Ja, und ich habe dich gefragt, ob wir die Wochen wechseln können, damit du im Anschluss zu mir kommst.“

„Das ist aber Ma’s Woche.“

„Sicher … Aber ich dachte, dass wir das wechseln, Leo. Hast du das vergessen?“

„Warum sollen wir das wechseln?“

„Na hör mal! Vielleicht will ich dich sehen?“

Ich schweige.

Mein Vater dann: „O.k. Leo, du bleibst also bei deiner Mutter?“

Ich sage: „Ja.“

„Und in der Woche drauf kommst du zu mir?“

„Sicher. So wie immer.“

„Und das ist dann definitiv? Also, ich meine, das macht dir nichts aus?“

Ich sage: „Nein.“