Der neue Landdoktor – 65 – Versteckspiel

Der neue Landdoktor
– 65–

Versteckspiel

Manchmal richten Geheimnisse Unheil an

Tessa Hofreiter

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-679-3

Weitere Titel im Angebot:

»Grüß dich, Karolin, wie geht es deiner Großmutter?« Traudel kam aus der Bäckerei Höfner und sprach die junge Frau an, die mit einem Stoffballen unter dem Arm ihren Weg kreuzte. Sie trug rote Jeans und einen weißen Pullover, hatte blondes langes Haar und braune Augen.

»Hallo, Traudel«, entgegnete Karolin Birkner und blieb stehen. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht so genau, wie es ihr geht. Ich denke, es gefällt ihr nicht so recht in der Seniorenresidenz«, seufzte sie.

»Hast du Zeit für einen Kaffee? Dann können wir darüber reden«, schlug Traudel vor, die schon lange mit Ottilie, Karolins Großmutter, befreundet war.

»Das ist eine gute Idee, ich könnte einen guten Rat gebrauchen«, erklärte sich Karolin sofort einverstanden.

»Komm, da wird gerade ein Tisch frei.« Traudel steuerte einen der kleinen runden Tische an, die zum Café Höfner gehörten und unter dem ausladenden Laubdach der alten Kastanie standen. »Zwei Kaffee, Ursel!«, rief sie der älteren Frau zu, die in einem honigfarbenen Dirndl die Gäste im Café bediente.

»Kommt!«, antwortete Ursel, die mit einem Tablett voller benutzter Tassen ins Haus huschte.

»Mei, der ist aber schön«, stellte Traudel fest, als sie auf den Stoffballen schaute, den Karolin auf einen Stuhl legte. Der seidige Stoff schillerte in den Farben des Regenbogens, die an einigen Stellen ineinanderliefen, woraus sich andere leuchtende Farben ergaben.

»Ich war gerade im Rathaus bei Bürgermeister Talhuber. Der Gemeinderat hat beschlossen, die Stühle in den Büros und den Wartebereichen farbenfreudiger zu gestalten. Frau Talhuber hat es übernommen, den Stoff auszusuchen. Fröhlich, bunt, mit dem Gefühl echter Lebensfreude, das waren ihre Vorgaben. Ich denke, die habe ich erfüllt. Obwohl ich mich schon gewundert habe, dass die Gemeinde sich an eine Stoffdesignerin wendet, um sich ein eigenes Muster kreieren zu lassen.«

»Wir Bergmoosbacher legen halt Wert auf ein bissel eine Individualität«, entgegnete Traudel lächelnd. »Unser Bürgermeister und seine Frau sind außerdem immer offen für Neues und Schönes.«

»Die Talhubers sind schon etwas Besonderes. Ich finde es beeindruckend, dass sich zwei Menschen auch noch nach vierzig Ehejahren so gut verstehen.«

»Sie haben eben die richtige Wahl getroffen«, sagte Traudel und ließ ihren Blick über den Marktplatz mit seinem glänzenden Kopfsteinpflaster schweifen.

Die restaurierten Häuser mit den Geschäften in den Erdgeschossen, der alte Brunnen mit dem steinernen Bären, das imposante Rathaus mit seinem Turm, auf dem der vergoldete Wetterhahn sich im Wind drehte und das alles vor der Kulisse des Wettersteingebirges mit dem glitzernden Schneeplatt der Zugspitze.

»An was denkst du gerade?«, fragte Karolin, als Traudel in sich hineinlächelte.

»Ich freue mich einfach darüber, dass ich hier lebe, und dass wir in unserem kleinen Bergmoosbach alle so gut miteinander auskommen. Und ich hoffe, dass ich nie von hier fort muss. Und ehrlich gesagt habe ich mich schon gewundert, dass eine Frau wie die Ottilie, die keinerlei Einschränkungen hat, weder geistige noch körperliche, plötzlich beschließt, in eine Seniorenresidenz zu ziehen.«

»Sie hat immer diese Sorge, dass sie mir eines Tages zur Last fallen könnte.«

»Ja, ich weiß, das hat sie mir erzählt. Aber nicht jeder wird zu einer Last, sie hätte doch erst einmal noch ein paar Jahre warten können.«

»Sie hätte niemals ausziehen müssen. In unserem Haus ist genug Platz für uns beide. Ich verlege mein Atelier wieder in den Dachboden und sie zieht wieder in ihre Wohnung im Erdgeschoss. Und wenn sie jemals Hilfe braucht, dann kümmere ich mich um sie.«

»Sie will, dass du dein eigenes Leben lebst, Karolin.«

»Aber ich entwerfe meine Stoffe zu Hause. Ich könnte für sie da sein. So wie sie es war, nachdem ich meine Eltern bei diesem Autounfall ums Leben kamen.«

»Dein Großvater war kurz zuvor gestorben. Ihr habt euch beide gebraucht. Nur zusammen wart ihr stark genug, um euren Kummer zu bewältigen. Aber nun erzähl mir, was genau unserer Ottilie in ihrem neuen Zuhause nicht passt.«

»Das Appartement, das ihr anfänglich so gut gefiel, erscheint ihr inzwischen zu klein. Die festen Zeiten für das Essen, die Morgengymnastik, die sich natürlich nach den schwächsten Teilnehmern richtet, die schlechte Internetverbindung, alles ist ihr zu langsam, zu altbacken, zu langweilig.«

»Das klingt, als bedauerte sie ihren Umzug.«

»Ich denke, das tut sie. Ich werde mir wieder einiges anhören müssen, wenn ich gleich zu ihr fahre.«

»Warum zieht sie denn nicht wieder aus? Sie weiß doch sicher, dass sie bei dir wieder willkommen ist.«

»Ja, das weiß sie. Ich vermute, sie will wegen Baron Beerenwald dort bleiben.«

»Das könnte durchaus sein. Sie hat ihn mir neulich vorgestellt. Er ist sehr gebildet, charmant und besitzt ein elegantes Auftreten.«

»In der Residenz nennen sie ihn den verarmten Baron, weil er mit seinem Ersparten und seiner Rente gerade so über die Runden kommt.«

»Nicht alle Adligen besitzen große Landgüter.«

»Er mag es auch nicht, wenn man ihn mit Baron anspricht. Er zieht es vor, unauffällig zu sein, hat er mir erklärt. Er scheint mir selbstbewusst und weltgewandt zu sein.«

»Oma hat da ihre Zweifel. Ihr erscheint er ein wenig zu leichtgläubig. Sie meint, sie müsse auf ihn aufpassen.«

»Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie sich um ihn sorgen müsste«, entgegnete Traudel verwundert. »Ich denke, es sind eher ihre Gefühle für ihn, die sie in der Residenz festhalten.«

»Du hast es auch bemerkt? Ich meine, dass die beiden einiges füreinander übrige haben.«

»O ja, das habe ich bemerkt. Ich habe meine gute Ottilie auch darauf angesprochen. Sie hat es nicht geleugnet, aber auch nicht wirklich zugegeben. Sie braucht wohl noch ein bisschen Zeit, bis sich traut, es auszusprechen.«

»Du meinst, dass sie in ihn verliebt ist?«

»Genau das meine ich.«

»Ich glaube, sie denkt, sie sei zu alt für die Liebe.«

»Für die Liebe ist niemand zu alt.«

»Das kann ihr in diesem Fall aber nur Herr von Beerenwald klar machen.«

»Dann sollten wir ihm diese Aufgabe auch überlassen. Weißt du was, nimm Ottilie doch ein paar Stückl Torte von der Konditortheke im Café mit. Die Torten der Höfners sind ihre Lieblingstorten. Vor allem die mit Marzipan und Eierlikör.«

»Das mache ich, Traudel, danke. Ich werde für den Baron auch ein Stück mitnehmen.«

»Darüber wird sich Ottilie bestimmt freuen. Es gibt ihr die Gelegenheit, ihn zum Kaffee einzuladen.«

»Ich wünsche ihr von Herzen, dass sie noch einmal erlebt, was es heißt, sich zu verlieben.«

»Und was ist mit dir? Wie steht es bei dir mit der Liebe?«

»Ich habe viel zu tun, da bleibt keine Zeit für die Liebe.«

»Für die Liebe sollte immer Zeit sein, Kind. Ohne sie ist das Leben wie ein Kirschkuchen ohne Sahne. Der Kuchen macht zwar satt, aber erst die Sahne macht uns glücklich.«

»Ich werde daran denken, sollte ich mich mal wieder verlieben«, entgegnete Karolin lächelnd.

*

Die Seniorenresidenz Rosenbach lag am Ortseingang der Kreisstadt. Nur wenige Meter vom Eingang der Residenz entfernt war eine Bushaltestelle. Hinter dem Haus gab es eine kleine Gartenanlage, die an die Mauer einer Molkerei stieß. Im Hochglanzprospekt, mit dem die Eigentümer der Residenz um Bewohner warben, hieß es deshalb, dass ihr Haus inmitten der Natur lag und trotzdem eine gute Verkehrsanbindung vorweisen konnte.

Der Besucher betrat das Haus durch den Haupteingang und kam zunächst in eine großzügig gestaltete Lobby mit einem Lift und einer Treppe. An den zartrosa gestrichenen Wänden hingen gerahmte Gemälde, die alle das heimische Bergpanorama darstellten. Es gab einen Empfangstresen, hinter dem eine junge Frau stand, die alle Fragen der Bewohner und Besucher freundlich beantwortete. Die Lobby diente auch als Treffpunkt für die Bewohner des Hauses. Es gab Sitzgruppen mit Sofas und Sesseln und eine Ecke mit kleinen Tischen vor einer Kaffeebar, an der auch Kuchen ausgegeben wurde.

Ottilie erwartete ihre Enkelin wie immer in ihrem Appartement. Karolin ließ den Lift sonst links liegen und nahm die Treppe hinauf in den zweiten Stock. In Aufzügen überfiel sie jedes Mal diese diffuse Angst, er könnte plötzlich steckenbleiben. Aber wegen der Tortenschachtel in ihren Händen entschied sie sich ausnahmsweise für den Lift.

»Hallo, ich darf doch noch mit?«, fragte der Mann, der mit einem Paket auf den Armen gerade noch in den Aufzug sprang, bevor die Tür sich schloss.

»Selbst wenn ich Ihnen die Fahrt mit mir verweigern wollte, Sie sind ja bereits hier, und jetzt ist es ohnehin zu spät«, sagte sie, als der Aufzug sich in Bewegung setzte.

»Sieht so aus, als hätte ich Tatsachen geschaffen.«

»Stimmt.« Da sie sein Gesicht nicht sehen konnte, weil das Paket es verdeckte, schaute sie auf seine Kleidung. Er trug helle Jeans, einen schwarzen Pullover und halbhohe schwarze Schnürschuhe. Seine Stimme und das, was sie von ihm sehen konnte, gefiel ihr. Der Rest blieb ihrer Fantasie überlassen. »In welches Stockwerk möchten Sie? Ich drücke für Sie«, bot sie ihm an, damit er das Paket nicht absetzen musste.

»Zweiter Stock, bitte.«

»Da will ich auch hin. Nein, bitte nicht«, flüsterte sie erschrocken, als plötzlich ein Ruck durch den Lift ging und er gleich darauf abrupt anhielt. Da die Tür sich nicht öffnete, wurde ihr schnell klar, dass er irgendwo zwischen den Stockwerken stehen geblieben war. Hektisch drückte sie nacheinander alle Knöpfe der Stockwerksanzeige, aber der Lift bewegte sich nicht.

»Es geht sicher gleich weiter«, sagte der Mann und stellte das Paket behutsam auf den Boden.

»Hoffentlich, ich reagiere nämlich panisch, wenn ich mich eingesperrt fühle. Hier fühle ich mich eindeutig eingesperrt«, antwortete sie und drehte sich zu ihm um. Nein, dazu hätte meine Fantasie nicht ausgereicht, dachte sie, als er sie ansah.

Er hatte dunkelblondes welliges Haar, helle grüne Augen, und die Grübchen, die sich zeigten, als er lächelte, ließen sie ein merkwürdiges Kribbeln in der Magengegend spüren.

»Was kann ich tun, damit Sie nicht in Panik geraten?«, fragte er.

»Das Beste wäre, Sie würden den Lift wieder in Gang setzen.«

»Sie halten sich nicht mit Kleinigkeiten auf. Sie verlangen gleich das Maximum.«

»Tut mir leid, aber meine Panik ist zu groß, um mich mit Kleinigkeiten aufzuhalten. Hallo, hört mich jemand?! Wir stecken fest!«, rief sie in das Mikrophon neben dem Notrufknopf, während sie ihn gedrückt hielt und mit der anderen Hand die Torte balancierte.

»Bewahren Sie Ruhe. Der Strom ist unterbrochen. Der Wartungsdienst ist unterwegs«, antwortete eine krächzende Stimme.

»Beeilen Sie sich bitte«, sagte Karolin und ließ den Knopf los. »In Filmen klettern die Leute nach oben und verlassen den Lift. Das funktioniert meistens.« Sie schaute auf die Klappe in der Decke des Aufzuges.

»Diese Szenen übernehmen die Stuntleute. Dabei auch noch eine Tortenschachtel zu balancieren, erfordert großes Können.«

»O nein!«, rief Karolin entsetzt, als die Schachtel drohte, auf den Boden zu rutschen.

»Alles gut«, sagte der Fremde, der einen Satz nach vorn gemacht hatte, die Schachtel auffing und sie auf seinem Paket abstellte.

»Danke, das war echt gut. So schnell, wie Sie reagiert haben, könnte ich fast annehmen, dass Sie sich mit Stunts auskennen. Sind Sie Stuntmen?«

»Nein, Möbelrestaurator«, antwortete er schmunzelnd.

»Zu dumm.«

»Ehrlich gesagt, ich liebe meinen Beruf. Laurenz von Beerenwald«, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand.

»Karolin Birkner. Sie wollen sicher zu August von Beerenwald.«

»Richtig, und Sie zu Ottilie Birk­ner.«

»Stimmt.«

»Merkwürdig, dass wir uns noch nie begegnet sind.«

»Vermutlich kommen wir sonst nie zur selben Zeit, außerdem nehme ich sonst immer die Treppe und Sie vermutlich den Lift.«

»Meistens schon.«

»Es dauert länger, ich wusste es«, sagte Karolin und schaute ungeduldig auf die Stockwerksanzeige.

»Fünfzehn Minuten sind noch keine Ewigkeit.«

»Für mich schon.«

»Wir bitten Sie noch um Geduld. Die Reparatur gestaltet sich ein wenig schwierig«, tönte es in diesem Moment aus dem Lautsprecher neben dem Notrufknopf.

»Ruhig atmen.« Laurenz legte seine Hand auf Karolins Arm, als sie plötzlich ganz blass wurde.

»Ich fühle mich nicht gut.«

»Sie brauchen Ablenkung. Sie könnten mir helfen.«

»Was haben Sie vor?«, wunderte sich Karolin, als er ihr die Kuchenschachtel wieder in die Hand drückte und den Deckel des Pakets öffnete.

»Wir könnten mit dem Zusammenbau anfangen.«

»Was wollen Sie denn zusammenbauen?«

»Einen Tischkicker, den wollte mein Großvater unbedingt haben.«

»Und den wollen Sie hier zusammenbauen?«

»Mit Ihrer Hilfe.«

»Wegen der Ablenkung, nehme ich an.«

»Es könnte doch funktionieren.«

»Also gut, dann lassen Sie mal sehen.« Karolin stellte die Torte und ihre Handtasche in eine Ecke des Lifts und half Laurenz, die Holzplatte, die Beine für den Tisch und das in mehrere kleine Pakete verpackte Zubehör aus der Kiste zu nehmen. »Womit fangen wir an?«

»Zuerst schrauben wir die Beine an die Platte.«

»Stimmt, das ist logisch, darauf hätte ich auch selbst kommen können.«

»Ihre Gedanken drehen sich gerade um andere Dinge, aber wir bekommen das in den Griff«, versicherte ihr Laurenz, während er die beiden Teile des ersten Tischbeines miteinander verschraubte.