Cover

IN DIESER AUSGABE

Editorial

Geistesblitze

u. a. mit diesen Themen: Abschiedsfotos erleichtern das Ausmisten / Betrunkene Zeugen / Träumende Mäuse / Amnesie per Genschalter / Unterdrückte Erinnerung

Lernen

Wie wir besser lernen

Bewährte Techniken, goldene Faustregeln: Wie Sie im Alltag erfolgreich neues Wissen erwerben.

Von Steve Ayan

Schnelles Wissen

Was bringt Hirnjogging? Nutzen wir nur einen Bruchteil unserer Hirnkapazität? Können wir im Schlaf lernen? Populäre Irrtümer über Lernen und Gedächtnis.

Von Steve Ayan

Ein Billie für alle Fälle

Virtuelle Agenten wie »Billie« sollen gemäß den Erkenntnissen der Lernforschung das Vokabelpauken erleichtern – mit Gesten.

Von Manuela Macedonia

Gute Frage
Merken wir uns von Hand notierte Dinge besser als getippte?

Ist es für das Erinnern hilfreich, in der Vorlesung mitzuschreiben? Und wenn ja, lieber per Hand oder mit dem Laptop? Der Psychologe Florian Schmidt-Borcherding gibt Antwort.

Kopf schlägt Körper

Johannes Mallow leidet an unheilbarem Muskelschwund. Heute gilt er als einer der besten Gedächtnissportler der Welt.

Von Nele Langosch (Text) und Claudio Verbano (Fotos)

Interview
Vokabellernen mit Rosenduft

Der Neurowissenschaftler Jan Born von der Universität Tübingen untersucht, wie Schlaf das Gedächtnis unterstützt.

Blickfang

Zoom in die Biochemie des Erinnerns

Der Stoff, aus dem Erinnerungen sind

Manche Erlebnisse brennen sich geradezu in unser Gedächtnis ein. Was passiert dabei im Gehirn?

Von Martin Korte

Erinnern

Die neuronale Zeitmaschine

Dank neuer Methoden haben Hirnforscher die physiologischen Grundlagen unserer Erinnerungen entschlüsselt.

Von Bernhard Staresina und Stefan Köhler

Infografik
Der lange Weg zur Erinnerung

Jeden Tag strömt eine gigantische Vielfalt von Reizen auf uns ein – doch nur ein Bruchteil davon hinterlässt langfristig Spuren im Gehirn.

Von Christof Kuhbandner (Text) und Martin Müller (Grafik)

Dem Gedächtnisschwindel auf der Spur

Erinnerungen sind oft trügerisch, weiß Elizabeth Loft s. Die berühmte Psychologin prüft die Glaubwürdigkeit von Zeugen vor Gericht.

Von Moheb Costandi

Erzähl dein Leben

Was formt die Identität eines Menschen? Psychologen ergründen, wie das autobiografische Gedächtnis entsteht.

Von Christin Köber und Tilmann Habermas

Gute Frage
Was ist das kollektive Gedächtnis?

Was eine individuelle Erinnerung von der einer ganzen Gruppe unterscheidet, erklärt Astrid Erll von der Goethe­Universität in Frankfurt am Main.

Ein erstaunliches Talent

Manche Menschen erinnern sich detailliert an fast jeden Tag ihres Lebens. Ein Blick in ihr Gehirn soll klären, wie die außergewöhnliche Leistung zu Stande kommt.

Von James L. McGaugh und Aurora LePort

Ein Gedächtnis für die Zukunft

Menschen vergessen häufig, etwas zu erledigen, was sie sich eigentlich fest vorgenommen hatten. Schuld ist das fehleranfällige prospektive Gedächtnis.

Von Matthias Kliegel und Nicola Ballhausen

Vergessen

Der Wort-Restaurator

Nach operativer Entfernung von Teilen seines Hippocampus konnte sich Henry Molaison nichts Neues mehr merken. Doch weshalb schwand auch sein Wortschatz rapide?

Von Donald MacKay

Warum vergessen wir die ersten Lebensjahre?

An die ersten Jahre des Lebens können wir uns nicht erinnern. Wissenschaftler diskutieren die verschiedenen Ursachen der Kindheitsamnesie.

Von Nele Langosch

Gute Frage
Wieso löst zu viel Alkohol einen Blackout aus?

Auf der Suche nach der Antwort macht der Neurobiologe Charles F. Zorumski Nagetiere betrunken.

Der mysteriöse Fall Agatha Christie

Im Winter 1926 verschwindet Agatha Christie elf Tage lang spurlos. Litt sie unter Gedächtnisverlust – oder hat sie den Vorfall inszeniert? Eine psychologische Kriminalgeschichte.

Von Stefania de Vito und Sergio Della Sala

Blickfang

Herzstück gegen das Vergessen

Newsletter

Lassen Sie sich jeden Monat über Themen und Autoren der neuesten Ausgabe von »Gehirn&Geist« informieren! Wir halten Sie gern per E-Mail auf dem Laufenden – natürlich kostenlos. Registrierung unter:

EDITORIAL

Wir sind, an was wir uns erinnern

frn_fig_002

Liesa Klotzbücher
Redakteurin
klotzbuecher@spektrum.de

Vor Kurzem habe ich mal wieder meine Freundin Hanna besucht. Ich kenne sie schon ewig – eigentlich solange ich zurückdenken kann. Während des gemeinsam verbrachten Wochenendes fielen uns nach und nach viele alte Geschichten wieder ein: holprige Fahrversuche mit dem Motorroller, Konzertbesuche unserer damaligen Lieblingsband und der erste Urlaub ohne die Eltern.

Es ist nicht nur schön, derart in Erinnerungen zu schwelgen. Unser Gedächtnis – das zeigt die Wissenschaft – macht uns zu dem, der wir sind (S. 60). Bittet man Erwachsene, von Ereignissen in ihrem Leben zu erzählen, die sie geprägt haben, berichten sie für gewöhnlich von solchen zwischen ihrem 15. und 30. Lebensjahr. Psychologen nennen diesen Effekt Erinnerungshügel. Die Erklärung: Neues und Einmaliges merken wir uns besser als Alltägliches. Und Jugendliche und junge Erwachsene machen eben besonders viele neue Erfahrungen.

Doch wie wird aus einem Erlebnis eine Erinnerung? Das verstehen Neurowissenschaftler inzwischen immer besser. An dieser Meisterleistung des Gehirns ist eine Vielzahl von Hirnarealen beteiligt (S. 40, S. 48 und S. 54). Dabei bildet unser Gedächtnis die Vergangenheit keineswegs originalgetreu ab; stattdessen ist es fehleranfällig und formbar. Diese Erkenntnis haben wir insbesondere Elizabeth Loftus und ihrer Forschung zu Zeugenaussagen zu verdanken (S. 56).

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre, bei der Sie hoffentlich noch viel Neues lernen können. Wie das dann am besten hängen bleibt, verrät Ihnen gleich der erste Artikel (S. 10). Oder Sie wenden die klassische Loci­Methode an, die dem Gedächtniskünstler Johannes Mallow, den wir Ihnen ab S. 28 vorstellen, den Weltmeistertitel bescherte. Eines kann ich Ihnen schon mal verraten: Neues Wissen und neue Fähigkeiten erwerben wir dann am besten, wenn wir Spaß dabei haben!

Daher viel Freude mit diesem Heft wünscht

frn_fig_003

GEISTESBLITZE

Ausmisten

Erinnerungsstützen erleichtern das Loslassen

Auf vielen Dachböden stapeln sich Kisten mit allerlei Kram: altes Spielzeug, Bücher, Relikte aus der Kindheit. Nichts davon wird man jemals wieder brauchen, und doch fällt es vielen schwer, sich von den Sachen zu trennen. Drei US-Ökonominnen haben nun ein Hilfsmittel gefunden, das den Abschied erleichtert. Sie forderten ihre Versuchspersonen auf, die fraglichen Gegenstände zu fotografieren. Studierende in Wohnheimen, die man zu dieser Gedächtnisstütze ermutigt hatte, spendeten in einem Feldexperiment 613 Besitztümer an Nonprofitorganisationen, die Kontrollgruppe hingegen nur 533.

»Man möchte die damit verbundenen Erinnerungen nicht aufgeben«, sagt Koautorin Rebecca Reczek, Marketingprofessorin an der Ohio State University. Dabei gehe es aber nicht allein um die Erinnerung als solche, sondern auch darum, was sie für die Identität eines Menschen bedeute, stellten die Wirtschaftswissenschaftlerinnen in einem weiteren Feldexperiment fest. Sie händigten Besuchern, die alte Sachen in einen Secondhand-Laden abgaben, mit Hilfe einer Sofortbildkamera eine Erinnerung auf Papier aus. Die betreffenden Spender hatten daraufhin weniger das Gefühl, einen Teil ihrer selbst weggegeben zu haben, als andere Spender, die kein Foto erhalten hatten.

»Die mit dem Besitz verbundenen Erinnerungen vermitteln Identität, und es widerstrebt uns, diesen Teil davon aufzugeben«, erläutert Reczek. Das gelte jedoch nur für Eigentum, das einen gewissen sentimentalen Wert für uns hat – aber keinen zu hohen materiellen, wie zum Beispiel ein Brautkleid.

Dass Menschen bisweilen dazu neigen, zu den banalsten Dingen eine emotionale Beziehung aufzubauen, konnten bereits frühere Studien zeigen. Etwa wenn wir Dreiecke auf einem Bildschirm beobachten: Hat uns jemand zuvor gesagt, ein Dreieck sei »unseres«, so verfolgen wir das Geschehen gleich mit anderen Augen.

J. Mark. 81, S. 104–120, 2017

Spracherwerb

Ein Bild ist besser als zwei

Eltern und Großeltern greifen gerne zu Büchern mit vielen Illustrationen, wenn sie Kindern etwas vorlesen möchten. Doch weniger ist manchmal mehr, sagen nun Zoe M. Flack und Jessica S. Horst von der University of Sussex in Brighton (England). Zumindest wenn es darum geht, den Spracherwerb bei Vorschulkindern zu fördern: Diese lernen mehr neue Wörter, wenn sie beim Zuhören nur ein einziges Bild sehen.

Die britischen Psychologinnen lasen ihren dreieinhalb Jahre alten Versuchsteilnehmern Geschichten aus einem Kinderbuch vor, in dem sich entweder nur auf der rechten Seite eine Illustration befand oder aber auf beiden Seiten. Die Kinder lernten im Schnitt doppelt so viele neue Wörter, wenn sie pro Doppelseite ein einziges Bild vor sich hatten.

Flack und Horst gehen davon aus, dass ihre kleinen Probanden einen Teil der Aufmerksamkeit dafür benötigten, die passende Illustration zu identifizieren. So sei ihnen weniger Kapazität dafür geblieben, die Wörter zu verarbeiten. Tatsächlich verschwand der Unterschied, wenn die Erwachsenen beim Vorlesen auf das richtige Bild deuteten, wie Flack und Horst schildern. Auch andere Experimente hätten zuvor schon nahegelegt, dass Kinder leichter lernen, wenn beim Zuhören nicht zu viele Reize zugleich auf sie einströmen.

Infant Child Dev. 10.1002/icd.2047, 2017

Vergessen

Unterdrückte Erinnerung

Was würden Sie tun, wenn eine Unterhaltung mit einem Freund plötzlich eine unangenehme Erinnerung hervorruft? Sie würden wahrscheinlich versuchen, sich von dem finsteren Gedanken abzulenken und das Gespräch einfach guter Dinge fortzusetzen. Laut einer aktuellen Studie des Kognitionspsychologen Justin Hulbert vom Bard College im US-Bundesstaat New York könnte das allerdings dazu führen, dass Sie Details aus der Unterhaltung auch schneller wieder vergessen.

Hulbert und sein Team baten ihre Versuchsteilnehmer zunächst, sich Wortpaare zu merken. Anschließend zeigten sie ihnen jeweils ein Wort, und die Probanden sollten sich daraufhin das andere Wort entweder ins Gedächtnis rufen oder aber die Erinnerung daran gezielt unterdrücken. Zwischen den einzelnen Gedächtnisaufgaben bekamen sie – vorgeblich zur Erholung – Bilder von ungewöhnlichen Szenarien zu sehen, etwa von einem Pfau, der in einer Parklücke steht.

Zu einem späteren Zeitpunkt überraschten die Forscher ihre Teilnehmer dann mit einem weiteren Gedächtnistest: Nun bekamen sie jeweils nur einen Teil der skurrilen Bilder gezeigt und sollten das fehlende Objekt (also zum Beispiel den Pfau) ergänzen. Dies gelang den Probanden um 42 Prozent schlechter, wenn ihnen das Bild zwischen zwei Wortpaaren gezeigt worden war, bei denen sie ihre Erinnerung unterdrücken sollten.

In einem anderen Experiment beobachtete das Team um Hulbert mit Hilfe funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT), was im Gehirn der Testpersonen vor sich ging, wenn sie versuchten, Erinnerungen abzurufen oder zu unterdrücken. In letzterem Fall nahm dabei die Aktivität des Hippocampus ab, der sowohl für das Speichern neuer als auch für den Abruf alter Erinnerungen zuständig ist.

»Der Hippocampus hat keinen An- oder Aus-schalter, den man beliebig schnell umlegen kann«, erklärt Studienautor Hulbert. »Er braucht seine Zeit, um hoch- und runterzufahren. Während das passiert, gehen dann möglicherweise auch andere Informationen verloren, an die man sich später eigentlich erinnern möchte.«

Der Psychologe Jesse Rissman von der University of California in Los Angeles, der nicht an der Untersuchung beteiligt war, findet die Ergebnisse ebenfalls faszinierend. Er gibt allerdings zu bedenken, dass ihre praktische Bedeutung für den Alltag schwer zu ermitteln sei. Vielleicht könnten die Resultate erklären, warum manche Menschen nach traumatischen Ereignissen Schwierigkeiten beim Lernen haben – wenn sie zu häufig versuchen, negative Erinnerungen zu unterdrücken, behindern sie damit möglicherweise die Fähigkeit des Gehirns, neue zu bilden.

Nat. Comm. 7, 11003, 2016

Träumen

Nager spielen schlimme Erlebnisse im Schlaf durch

Wenn Ratten tagsüber in ihrem Käfig schlechte Erfahrungen machen – weil sie etwa an einer Stelle immer einen unangenehmen Luftstoß abbekommen –, scheint ihr Gehirn diese Erlebnisse im Schlaf erneut zu durchleben. Forscher um György Buzsáki von der New York University zeichneten durch implantierte Elektroden die elektrischen Signale von Nervenzellen in zwei wichtigen Hirnarealen auf: in der Amygdala, wo Emotionen wie Angst verarbeitet werden, und im Hippocampus, der zentralen Schaltstelle für die Gedächtnisbildung, in der sich auch das »neuronale Navigationssystem« befindet. Hirnzellen repräsentieren dabei einzelne Stellen im Raum – ganz ähnlich wie bei einer Landkarte. Lernt eine Ratte, dass sie an einem bestimmten Ort einen Luftstoß erhält, schlägt sich dies offenbar in einer Verknüpfung der entsprechenden Zellen des Hippocampus mit Zellen der Amygdala nieder.

Das zeigte sich, als sich die Versuchstiere der Wissenschaftler zur Ruhe begaben. Bekannt ist, dass Ratten im Schlaf die so genannten Ortszellen des Hippocampus in der gleichen Reihenfolge aktivieren, wie wenn sie tagsüber durch ihren Käfig rennen. Es wirkt darum so, als liefen die Tiere die Strecken im Traum erneut ab. Vor allem aber stellten Buzsáki und seine Kollegen fest, dass die Neurone in der Amygdala immer dann wieder aktiv wurden, wenn die Nervenzellen feuerten, welche die »gefährliche« Stelle im Käfig repräsentierten.

Auf diese Weise aktivierte das Gehirn der Ratten immer wieder die Verknüpfung zwischen den beiden Regionen und sorgte damit wohl dafür, dass sie sich dauerhaft abgespeichert werden kann.

Wie es sich für die Ratten anfühlt, wenn im Schlaf der Hippocampus dergestalt aktiv wird, lässt sich freilich nicht sagen. Vielleicht geht das Feuern der Ortszellen, das sich auch beim Menschen beobachten lässt, gar nicht mit entsprechenden Erlebnissen einher. Gut möglich wäre es allerdings auch, dass eine solche Aktivierung von Amygdalaneuronen als ähnlich unangenehm empfunden wird wie das entsprechende Erlebnis im Wachzustand. Die Notwendigkeit, Erinnerungen für die Langfristspeicherung wieder und wieder zu aktivieren, könnte uns vielleicht den einen oder anderen Albtraum bescheren.

Nat. Neurosci. 10.1038/nn.4637, 2017

Zeugenaussagen

Besser sofort betrunken als später nüchtern

Augenzeugen von Verbrechen oder Unfällen sind nicht selten betrunken. Der Alkohol beeinflusst das Einprägen ebenso wie die Erinnerungen an das Erlebte – nur wie genau, ist noch nicht im Detail geklärt. Polizisten stehen deshalb vor einem Problem: Sollen sie sofort mit der Vernehmung beginnen oder warten, bis die Zeugen ausgenüchtert sind?

Diese Frage untersuchten Forscher um die deutsche Rechtspsychologin Nadja Schreiber Compo von der Florida International University in Miami. Sie teilten rund 250 Probanden zufällig verschiedenen Gruppen zu, die unter Einfluss von Alkohol oder einem Placebopräparat ein Scheinverbrechen beobachteten und darüber entweder kurz darauf oder eine Woche später Auskunft geben mussten.

Direkt nach dem Geschehen machten die betrunkenen Probanden dabei genauere Angaben als eine Woche später in nüchternem Zustand. Es half auch nichts, die Probanden dann erneut in einen alkoholisierten Zustand zu versetzen. Allerdings waren die Probanden lediglich mäßig betrunken; für Menschen im Vollrausch gelten die Befunde demnach womöglich nicht. Moderat betrunkene Zeugen hingegen, so empfehlen Schreiber Compo und Kollegen, sollte man besser sofort vernehmen.

Law Hum. Behav. 41, S. 202–215, 2017

Beurteilen

Das Gute liegt in der Ferne

Woanders is auch scheiße«, sagt man im Ruhrpott lakonisch. Das stimmt aber nicht ganz, wenn es um Restaurantbewertungen geht. Eine Arbeitsgruppe um Ni Huang an der Temple University in Philadelphia kommt zu dem Ergebnis, dass wir unsere Erfahrungen umso positiver beschreiben, je weiter entfernt sie liegen – und zwar sowohl räumlich als auch zeitlich.

Die Wirtschaftswissenschaftlerin untersuchte über 150 000 Restaurantbewertungen im Internet und fand einen unerwarteten Zusammenhang: Die Reviews auf Bewertungsplattformen fallen besser aus, wenn ihre Autoren zum Lokal von weit her anreisten oder vorm Verfassen der Kritik einige Zeit verstreichen ließen.

Weiter entfernte Ereignisse bewerten wir anhand von allgemeineren Kriterien, das wissen Forscher schon länger. Ob das zu einem positiveren Urteil führt, war bislang umstritten. Die Ergebnisse von Huang und ihrer Arbeitsgruppe legen nun nahe, dass nicht nur jeweils die räumliche und zeitliche Entfernung zu einem Ereignis unsere Erinnerungen in rosarotes Licht tauchen, sondern dass sich die beiden Effekte offenbar gegenseitig verstärken. Findige Wirte könnten sich mithin einen Vorteil verschaffen, indem sie gezielt Gäste von weit her um Bewertungen bitten, und das am besten erst mehrere Monate nach dem Besuch.

J. Consum. Psychol. 26, S. 474–482, 2016

Plastizität

Amnesie per Genschalter

Wissenschaftlern um Dirk Montag vom Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg ist es gelungen, bei Mäusen durch das Ausschalten eines speziellen Gens eine retrograde Amnesie herbeizuführen. Bei dieser Form der Gedächtnisstörung verlieren menschliche Patienten üblicherweise alle Erinnerungen, die vor einem bestimmten traumatischen Ereignis gebildet wurden.

Um diesen Prozess auch im Tiermodell näher untersuchen zu können, trainierten die Forscher ihre Tiere zunächst darauf, in einer Kiste die Seite zu wechseln, wenn ein Lampe aufleuchtete. Anschließend deaktivierten sie bei den Nagern ein Gen, das für das Protein Neuroplastin kodiert. Dieses ist für die Plastizität des Gehirns wichtig und wurde bereits mit Intelligenz, aber auch mit einem erhöhten Schizophrenierisiko in Verbindung gebracht.

Schalteten die Forscher das Gen aus, hatten die Mäuse das zuvor angeeignete Verhalten vergessen – und konnten es auch nicht erneut lernen. Montag und sein Team schließen daraus, dass die Inaktivierung des Neuroplastin-Gens das so genannte assoziative Lernen beeinträchtigt, das auch beim Menschen eine wichtige Rolle spielt. Dabei werden üblicherweise zwei Ereignisse miteinander verknüpft, etwa: stehen bleiben, wenn die Ampel rot ist. Andere Gedächtnisaufgaben, die zum Beispiel mit Navigation oder räumlichem Erinnern zu tun hatten, konnten die Mäuse dagegen weiterhin bewältigen.

Biol. Psychiatry 81, S. 124–135, 2016

Tierintelligenz Auch Hummeln schauen sich Tricks bei der Futtersuche von Artgenossen ab. Sie imitieren sie nicht nur, sondern lernen das Prinzip dahinter, Science 355, S. 833–836, 2017

LERNEN

Wie wir besser lernen

TECHNIKEN Mehr als 100 Jahre Lernforschung, tausende Experimente, diverse Methoden – und was hat es gebracht? Wir lernen zwar nicht unbedingt besser als früher, müssen uns aber viel mehr Wissen aneignen. Eine Reihe nützlicher Faustregeln hilft.

VON STEVE AYAN

Auf einen Blick: Gut gemerkt ist halb gewonnen

1 Am Lernen sind je nach Gegenstand und Situation verschiedene Gedächtnissysteme beteiligt, die sich grob in bewusste und unbewusste unterteilen lassen. Für die beide Formen sind unterschiedliche Hirnareale entscheidend.

2 Selbsttests, portionsweises Lernen und Warum-Fragen zählen laut Forschern zu den effektivsten Lernformen. Als weniger hilfreich erweisen sich wiederholtes Lesen und das Markieren von Textstellen – zwei besonders verbreitete Methoden.

3 Wird der Wissenserwerb von positiven Gefühlen begleitet und übt man den Abruf in verschiedenen Situationen, so steigt die Chance weiter, dass viel hängen bleibt.

Merhaba, Steve bey. Nasılsiniz?« Äh, Moment – gleich hab ich’s. »Merhaba! Çok iyiyim. Te ... teşe ... teşeküler!«* Die Lehrerin strahlt, als hätte ich eines der großen Welträtsel gelöst. »Çok iyi!«  – »Sehr gut«, lobt sie. Dabei mache ich nur meine ersten, holperigen Gehversuche im Türkischen.

Okay, jeder hat klein angefangen. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass mir das Fremdsprachenlernen einmal leichter fiel. Damals, als ich noch jünger war und wendiger im Kopf. Oder bilde ich mir das nur ein, weil ich ja weiß, dass ich keine 20 mehr bin, und das alternde Gehirn bekanntlich an Flexibilität einbüßt?

Solche Überzeugungen hinsichtlich der eigenen mentalen Ausstattung – Metakognitionen genannt (von griechisch: »meta« = über, lateinisch: »cogitare« = denken) – prägen nicht nur, wie wir uns selbst einschätzen und unsere Leistungen bewerten. Sie können auf subtile Weise auch den tatsächlichen Lernerfolg schmälern.

Das zeigten etwa Untersuchungen des Psychologen Thomas Hess von der North Carolina State University in Raleigh (USA). Präsentiert man älteren Menschen eine Reihe von negativen, auf das Alter bezogenen Wörter wie »senil«, schneiden sie im anschließenden Gedächtnistest schlechter ab, als wenn sie zuvor positive Begriffe wie »weise« lasen. Kurz: Wo kein Zutrauen ist, bleibt auch weniger hängen.

Was meine Fortschritte im Türkischen betrifft, so kann ich das verschmerzen, denn ich lerne die Sprache nur zum Zeitvertreib. Doch in meinem wie sicher auch in Ihrem Alltag gibt es noch weit mehr Gelegenheit, neue Fakten und Fertigkeiten zu erwerben. Gelegenheit? Ach was: Notwendigkeit!

In der modernen Wissensgesellschaft prasseln laufend Informationen auf uns ein; wir müssen uns dem technischen Fortschritt, veränderten Arbeitsabläufen und Kommunikationsformen anpassen, uns fortbilden und Kompetenzen schulen, um auf dem aktuellen Stand zu bleiben. Kam einst nach Ende der Schul- und Ausbildungszeit kaum grundlegend Neues hinzu, so macht heute das Schlagwort vom lebenslangen Lernen die Runde. Und anders als frühere Pennäler, die nach festen Vorgaben büffelten, bleibt es heute vielfach uns selbst überlassen, wie wir all die Anforderungen meistern.

Wir müssen das Lernen mehr denn je aktiv gestalten, und dabei sind metakognitive Fähigkeiten gefragt. Richtig lernen will gelernt sein!

Vielleicht denken Sie jetzt: Was denn noch alles? Genügt es nicht, dass man sich mit andauernden Software-Updates und den neuesten Finessen des Steuerrechts herumschlägt – muss man jetzt auch noch das Lernen lernen? Die Wahrheit ist: Sie tun es sowieso. Jeder bildet automatisch Vorstellungen davon, wie er welche Inhalte am besten behält, verfolgt bestimmte Lernstrategien und legt sich Methoden zurecht, die seinen mutmaßlichen Talenten entsprechen. Das passiert oft, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Und hier lauert eine Gefahr, denn so mancher sitzt dabei Irrtümern auf, die das Lernen eher behindern als erleichtern.

Psychologen um Robert Bjork von der University of California in Los Angeles sichteten in einer 2013 erschienenen Überblicksarbeit die unter US-College-studenten beliebtesten Lerntechniken. Nach Auswertung umfangreicher Befragungen identifizierten die Forscher vier besonders häufige Fallen.

Fehler Nummer eins: Je mehr, desto besser

Oft versuchen Lernende möglichst viel auf einmal abzuarbeiten und stopfen jede Lektion randvoll mit Informationen. Besser verteiltes, gestaffeltes Lernen bringt den Wissenschaftlern zufolge dagegen mehr. Statt also 50 Vokabeln an einem Tag »durchzupauken«, lernt man lieber nur 10 pro Abend – und erfreut sich am Wochenende des Gelernten.

Fehler Nummer zwei: Schema F

Ob aus Gewohnheit oder weil es vermeintlich dem eigenen Typ entspricht, lernen viele auf stets gleiche Weise, etwa indem sie ihnen wichtig erscheinende Abschnitte im Lehrbuch markieren und immer wieder durchgehen. Dabei hilft gerade Abwechslung, Wissen im Gehirn zu verankern. Den Beispieldialog aus dem Sprachkurs ständig zu wiederholen, ist folglich weniger angebracht, als zu lesen, zu hören, sich selbst vorzusagen sowie die betreffenden Wendungen praktisch einzusetzen. Möglichst vielfältig eben.

Fehler Nummer drei: Abhaken

Passives Aufnehmen von Fakten, die man sich nicht selbst erschlossen oder gedanklich durchdrungen hat, ist vielfach Zeitverschwendung – Wissen in eigenen Worten wiederzugeben, es anzuwenden und auf andere Beispiele zu übertragen dagegen die bessere Strategie. Eine Grammatikregel, deren Sinn man begriffen hat, ist allemal besser als eine stur auswendig gelernte.

Und Fehler Nummer vier: Angst vor Patzern

Um nicht »dumm dazustehen«, meidet so mancher das selbstständige Reproduzieren – etwa, in einer Fremdsprache zu radebrechen, in der man noch nicht sattelfest ist. Die Scheu ist jedoch kontraproduktiv, denn aktive Wiedergabe von Gelerntem, egal wie rudimentär, ist eine effektive Methode (siehe »Die Top 5 der Lernmethoden«). Warum nicht beim Türken mal auf Türkisch bestellen? Schlimmstenfalls erntet man eben fragende Blicke.

Doch lassen sich so allgemein gültige Regeln überhaupt aufstellen? Schließlich gleicht kaum ein Lernvorgang dem anderen: Sportarten wie Tennis oder Bogenschießen zu trainieren, ist grundverschieden vom Büffeln fürs Physikum, und schlagfertig mit Kritik umzugehen kaum vergleichbar mit Programmieren lernen.

Eine der wichtigsten Lehren aus mehr als 100 Jahren Lernpsychologie lautet, dass es mehrere, unabhängig voneinander funktionierende Gedächtnissysteme gibt (siehe »Bewusst versus unbewusst«). Und für jedes gelten teils eigene Maximen.