Griechische Götter
und ihre Macken

Anthologie

Griechische Götter und ihre Macken

Begeben Sie sich mit uns in die Welt der Götter und Halbgötter, allen voran Hera und Zeus, und erleben Sie deren Eskapaden und Geschehnisse im Olymp!
Erleben Sie, wie die Götter ihre Langeweile bekämpfen, Streit forcieren oder ihre Umgebung ins Chaos stürzen!

Wir wünschen allen Lesern einige unterhaltsame Stunden!

Ihr net-Verlag-Team

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Saskia V. Burmeister - Eine göttliche Wette

Dörte Müller - Tod eines Gottes

Heike Zöller - Von Datteln und Kriegen

Andreas Thiel - Die Früchte aus dem Garten der Götter

Valentina-Elisabeth Langer - Hila

Alisha Pilenko - Kirkes Tierparadies

Anna-Maria Weigelt - Wein, Weib und Wahnsinn

Peter Suska-Zerbes - Als es den Göttern dämmerte

Nicole Schnetzke - Der Springbrunnen des Poseidon

Regine Tewes - Hotel Olymp

Harry Straach - Die Triade

Helmut Glatz - Säuberung in Elis Ein mythologisches Kurzdrama

Carmen Matthes - Schrecklich gelangweilte Inselgötter

Bianca Schläger - Der Zauber zweier Herzen

Christina Holzinger - Narziss & Echo

Barbara Avato - Über die Bedeutung der Stubenfliege im alten Griechenland

Miriam Rademacher - Die Arme

Yasemin Sezgin - Gespräch unter Göttern

Antje Steffen - Zeus, der Schwerenöter

Regina Müller - Kallisto

Kerstin Rueß - Die Liebe und der Tod

Josef Herzog - Nächtlicher Besuch

TwinXX - Pan

Mano Anandason - Torheit und Aphrodisiaka

Claudia Romes - Ein göttlicher Gast

July Georges - Daphne

Jana Engels - Verdorbene

David Seifert - Feierabend

Shanna Liebl - Wunschlos un’glücklich

Henning Brunke - ORPHEUS & EURYDIKE quasi kurz im Lendenschurz

Alea-Louise Mai - Nachthimmels Seelen

Katharina Seifert - Die Götter müssen verrückt sein

Hermann Moser - Apollo und Hyazinth

Björn Sünder Der Wettlauf

Simone Wertenbroch - Götter-Witz

Autorenbiografien

Illustratorenbiografien

Buchempfehlungen

Saskia V. Burmeister

Eine göttliche Wette

Donner grollte, und Blitze zuckten im Sekundentakt über das Firmament. Im göttlichen Palast von Zeus und seiner Angetrauten Hera hing wieder einmal der Haussegen schief. Grund dafür waren aber keine Gelage, Affären, Schäferstündchen mit Nymphen oder gut gebauten Knaben – denn solch triftiger Gründe bedurften die Götter nicht, um sich derart heftig zu zanken, dass die Säulen der Welt fast aus den Fugen gerieten. Es reichte allein, dass sie am Frühstückstisch mit Nektar und Ambrosia ganz nebenbei diskutierten.

»Helden erheben sich lediglich aus edlem Stand heraus!«, beharrte Zeus auf seinem Standpunkt und schleuderte gleich ein ganzes Bündel von Blitzen zum Fenster hinaus.

Der himmlische Schmied Hephaistos kam gar nicht so schnell dazu, neue Blitze zu produzieren, wie der Alte sie verschleuderte.

Hera nahm den Wutausbruch des Gatten gelassen hin und hielt dagegen an: »Ich hingegen denke, selbst ein Landstreicher kann unter der richtigen Anleitung zu einem Helden werden, dem man auch noch in Jahrhunderten gedenkt.«

»Unsinn!«, wetterte der Oberste aller griechischen Götter, und sein wallender Bart sträubte sich vor Wut. »Nur die Götter bringen wahre Helden hervor! Herakles, wenn auch nur zur Hälfte Gott, war ein solcher!«

»Hört, hört!«, belächelte Hera dies.

Währenddessen schwadronierte Zeus weiter: »Allenfalls können noch menschliche Könige Heroen hervorbringen – aber niemand sonst!«

»So wie Achill, Sohn einer Nymphe und eines Königs? Unverwundbar durch ein Bad im Fluss der Unterwelt und doch geschlagen durch eine kleine Verletzung an der Ferse?«

Nun warf der göttliche Gemahl vor Zorn gleich zwei Bündel von Blitzen auf die Erde hinab. »Schweig, Weib! Anstatt zu sticheln, nenne mir den Namen eines wahrhaft kühnen und großen Helden, der aus dem einfachen Volk entstammt! Du musst deine Behauptung auch belegen können!«

Auf diese Reaktion hatte Hera freilich nur gewartet. Grazil schlug sie die Beine übereinander und lächelte süffisant: »Ich weiß etwas Besseres, mein Gemahl. Anstatt die Vergangenheit zu bemühen, werde ich dir im Hier und Jetzt einen solchen Helden zeigen. Er soll sich beweisen in der größten Schlacht, welche die Menschen zu schlagen haben: der Liebe!«

Das gefiel dem alten Zausel nun sehr, und er willigte in die Wette ein, nur eine Bedingung hatte er noch: »Schaff alle Voraussetzungen, die nötig sind für deine Prüfung, Frau! Aber misch dich hernach nicht mehr in das Geschehen ein!«

So sollte es geschehen.

Doch wenn Götter wetten, haben in jedem Fall Sterbliche etwas zu verlieren. So kam es, dass von einem der vielen Höfe auf dem Erdball eine junge Königstochter über Nacht spurlos verschwand. Die Kunde ging um, ein bösartiges Monster hätte die wunderschöne Dirne in die Ferne der Einöde verschleppt. Passenderweise trug das Mädchen den Namen Olympia, was sie zu einem ausgesucht passenden Objekt im großen Spiel der Götter machte.

Viele tapfere Heroen zogen in den folgenden Tagen aus, um die Schöne zu befreien. Doch alle kehrten mit leeren Händen zurück. Das Ungeheuer hatte es ohne Mühe geschafft, sie alle in die Flucht zu schlagen. Tapfer hatten sie es mit Schwert, Lanze oder Pfeilen bekämpft und sich damit seinen Zorn zugezogen. Viele von ihnen kamen schwer verwundet oder gar als Invaliden zurück. Manche tauchten gar nicht mehr auf.

Der Toten ungeachtet zogen immer neue, tapfere Männer aus. Viele von ihnen hatte Zeus persönlich für diese Heldentat aus den besten Familien erwählt, aber keiner kam mit der Königstochter wieder.

Das Volk war verzweifelt sowie auch die Eltern von Olympia. Sie beteten zu Zeus, der langsam sehr verärgert darüber wurde, dass keiner seiner ausgesuchten Krieger Erfolg hatte. Doch bisher konnte er seiner Gemahlin keinen Betrug nachweisen. Das Scheitern der Recken lag einzig und allein in der Macht und Kraft des Ungeheuers begründet, welches das Mädchen verschleppt hatte. Dies erzürnte den großen Gott umso heftiger, und er fragte sich, welchen Helden er noch aussenden konnte. Während er noch grübelte, hatte Hera unterdessen den Richtigen aufgespürt, den sie auszusenden gedachte.

Kühne Helden aus gutem Hause wurden bald rar. Bisweilen waren unter den Aufbrechenden daher auch nicht ganz so hochrangige Herrschaften.

Einer jedoch zog nicht los. Der Name des jungen Mannes war Hero. Er trug nur ein schmutziges, zerlumptes Gewand und war auf die Brotkrumen angewiesen, die ihm die Leute schenkten. Hero zog als Bettler durch das Land. Sein braunes Haupthaar war ganz zerzaust. Er hätte es nie gewagt, in die Schlacht zu ziehen, um die edle, wunderschöne Königstochter zu retten. Wie wäre er auch dazu gekommen? Schließlich war er kein Held und entstammte keinem guten Haus.

Stattdessen verdiente er sein Geld damit, die Leute mit Faxen zum Lachen zu bringen. Am häufigsten lachten sie jedoch über seine Segelohren, die ihm wahrhaft kein kühnes Erscheinungsbild verliehen. Hero selbst hielt sich für einen Narren und Nichtsnutz.

Traurig sah er zu jenen, die ohne die holde Maid zurückkehrten. Viele waren dabei nur ein Schatten ihrer selbst. Jede Hoffnung auf Rettung schien schon bald verloren. Mehr als zwei Wochen waren vergangen seit dem Verschwinden der Königstochter, und kaum jemand glaubte daran, dass Olympia noch lebte. Ganz sicher hatte das Ungeheuer sie bereits verzehrt.

Seufzend sah Hero zu einem der letzten Helden, welcher ausgezogen war, das Mädchen zu retten. Mehr tot als lebendig hing dieser im Sattel seines Gaules, welcher den Weg an diesen Ort zurückgefunden hatte. Ein alarmierter Heiler kam schnell herbei, konnte aber nur noch den Tod des Recken attestieren.

Im Stillen betete Hero für das Mädchen. Das Bild ihres schönen Gesichtes sah er vor seinem inneren Auge aufflackern und vor allem ihre mysteriös schimmernden, wasserblauen Augen. Sie hatte ihm persönlich mehr als einmal etwas gespendet, auf die Idee, sie selbst zu retten, wäre er aber nie gekommen.

Doch gerade er war es, den in der folgenden Nacht ein Traum ereilte. Er sah die Königstochter vor sich. Sie war am Leben und wartete in einer Höhle, vor dessen Eingang ein fürchterlicher Drache Wache hielt.

»Rette sie!«, flüsterte die Stimme einer Frau in seinem Traum. »Du bist ihre letzte Hoffnung! Eile dich, Hero!«

Als Hero gleich darauf erwachte, musste er lange nachdenken. Was nur hatte der Traum zu bedeuten? Völlig verstört sah er hinauf zu dem Tempel, an dessen Treppe er die Nacht verbracht hatte. Jener Schrein war Hera geweiht.

Will mich die mächtige Ehefrau des Zeus persönlich prüfen?, gingen ihm ganz abwegige Gedanken durch den Kopf. Doch ich bin schwach und arm.

Er versuchte vergeblich, das Ganze zu vergessen, denn sein schlechtes Gewissen regte sich. Schließlich hatte er nichts zu verlieren, da ihm an seinem armseligen Leben nichts lag. Zudem hatte wohlmöglich eine Gottheit zu ihm gesprochen, und er wäre der Letzte gewesen, der sich einem göttlichen Willen widersetzte.

Also fasste Hero einen Entschluss. Er packte zusammen, was ihm die Leute gespendet hatten, und machte sich auf den beschwerlichen Weg.

Kopfschüttelnd sahen die Menschen dem jungen Bettler nach. Dem Gaukler war das Gerede auf den Straßen über Mut und Heldentum wohl zu Kopf gestiegen. Den mutigsten Recken des Landes war es nicht gelungen, die Königstochter heimzubringen. Für sie stand fest, sie würden den Unglückseligen nie wieder zu Gesicht bekommen.

Hero ließ sie reden, für ihn war es zu spät, um noch umzukehren. Er war schon mittendrin im Abenteuer seines Lebens.

So betrat er mutig das Ödland, in dessen Weiten die Drachenhöhle zu finden war. Er marschierte zunächst über eine Ebene, später zwischen aufragenden Gesteinsformationen hindurch. Schreie der Wildtiere waren zu hören. Hero klapperten die Zähne, doch wie von einer himmlischen Macht beflügelt ging er weiter, Schritt für Schritt.

Dann bog er um eine Felsspitze herum, und eine schwarze Schlange kreuzte seinen Weg. Sie zischte warnend. Auch von ihr ließ er sich nicht in die Flucht schlagen. Er war schon so weit gekommen, er wollte jetzt nicht kehrtmachen. Die Königstochter war immer sehr gütig gewesen und hatte den Armen und Bedürftigen Geld gespendet.

Also packte er einen Knüppel, und als sich das Reptil drohend aufrichtete, schwang er den Ast und traf auch. Ein wenig wankte die Schlange, und Hero rannte so schnell, wie er konnte.

So sah er nicht, wie sich hinter ihm das Tier in einen Göttervater mit wildem Bart verwandelte. Leise Flüche ausstoßend rieb sich Zeus die getroffene Stirn. Zu seinem Glück hatten Unsterbliche nie lange unter Kopfweh zu leiden.

Hero atmete erst auf, als er die Felsen hinter sich gelassen hatte. Unter einem kahlen Baum hielt er kurz inne. Über ihm im Astwerk hockte eine schwarze Katze. Ihre Augen funkelten gespenstisch. Für einen Moment glaubte Hero, sie wolle ihn zur Rückkehr auffordern. Dann aber bemerkte er, dass in ihrem Blick doch eher etwas Anspornendes lag.

So zog er weiter, sich selbst einredend, dass er an seiner Aufgabe wuchs. Sein Selbstbewusstsein war bereits gestärkt. Was Hera, im Katzenpelz, mit großer Freude erkannte.

Es liegt auf der Hand, dass Zeus wiederum diese Entwicklung nur sehr widerwillig beobachtete. Bisher hatte er nur sterbliche Recken in die Schlacht geschickt. Nun aber wurde es Zeit, härtere Kaliber auszusenden, und so ließ er einem seiner vielen unehelichen Söhne eine Botschaft zukommen. Apollon hieß seine Wahl der Stunde.

Doch der Lichtgott, der berühmt war für seine Schönheit, seinen Gesang und sein Leierspiel, war trotz des ihm nachgesagten Gerechtigkeitsempfindens in Wahrheit ein ganz eitler Pfau.

Da traf es sich gut, dass die Eltern des entführten Mädchens zur selben Zeit verkündeten, sie würden dem Recken die Hand ihrer Tochter vermachen und das Königreich, der in der Lage wäre, Olympia lebend zurückzubringen.

Dies allein hätte den Gott mit den vielen Liebhaberinnen sicher nicht gereizt. Dennoch bequemte er sich zu einer Audienz mit den Sterblichen. Die Eltern fielen ihm der Länge nach zu Füßen, und als sie ihm versprachen, ihm zu Ehren einen Tempel zu errichten – größer noch als der Schrein des Zeus in der Landschaft Elis – da war Apollon endlich überzeugt.

»Sie haben richtig getan, werte Eltern! Apollon hat noch nie einen Kampf gegen ein Ungeheuer verloren!«, protzte der Held.

Und Olympias Eltern vertrauten ihm. Schließlich ging die Legende um, er hätte einst ein schreckliches Ungeheuer namens Python erschlagen.

Apollon machte sich sogleich mit seinem schneeweißen Hengst auf den Weg zu der Höhle des Untiers. Unterwegs hätte sein Gaul fast Hero umgerannt.

Nach kurzer Vorstellung gab sich der Göttersohn überaus großzügig und ließ den Sterblichen als seinen Knappen mit ihm kommen. Jener konnte sein Glück gar nicht fassen und ertrug es mit Würde, dass der Gott tagein, tagaus nur ein Thema besprach: sich selbst und seine Heldentaten. Er prahlte von einem erfolgreichen Wettkampf im Bogenschießen und davon, der Schnellste aller Läufer zu sein. Auch um den Kampf mit einer Riesenschlange Python drehte sich so manche Anekdote. Ebenso um Heldentaten an der Seite des legendären Herakles.

Doch bei all seinen Geschichten kam Apollon stets irgendwann auf eines zu sprechen: »Habe ich dieses Mädchen befreit, so werde ich endlich einen eigenen Tempel erhalten, in dem die Menschen einzig und allein zu mir beten, dem schönsten aller Götter!« Nach solch einem Ausruf gefiel es ihm jedes Mal, sich selbst zu besingen und auf der Leier zu spielen.

Hero nickte stets nur stumm und ergriffen. Sein Selbstvertrauen schwand wieder ein wenig, und er wollte alles dem Gott überlassen. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich die Grotte des Untieres erreichten. Apollon hatte unterwegs so viel über sich erzählt, dass Hero der Kopf dröhnte.

Dort angekommen stieg der Heroe ab, putzte sich einen Fleck vom goldenen Brustpanzer, strich seinen Umhang glatt, zückte sein Schwert und trat auf den Eingang zu. »Mir nach, Knappe!«

Hero nickte nur ergeben und folgte ihm.

Gemeinsam betraten sie das Halbdunkel der Höhle. Apollon entzündete mit magischen Feuersteinen zwei Fackeln. Eine überreichte er Hero, der deutlich hörbar mit den Zähnen klapperte.

»Reiße er sich gefälligst zusammen!«, verlangte Apollon und stoppte.

Der Tunnel, in dem sie sich befanden, mündete in eine Gabelung, und just in diesem Moment war ein tiefes Grollen zu hören. Jetzt schlotterten Hero auch noch die Knie, und er sah sich nicht imstande, noch einen Schritt weiterzugehen.

»Ich gehe hier entlang, um die Königstochter aufzuspüren«, wandte sich der Held an seinen Knappen und trat in den abzweigenden Tunnel ein, aus dem das Grollen definitiv nicht gekommen war. »Und du hältst das Untier in Schach!«

Ehe Hero noch protestieren konnte, war Apollon auch schon entschwunden. Dafür ertönte aus dem anderen Gang erneut ein Knurren, und schon erschien ein ungeheuerlicher Drache von den Ausmaßen eines Elefanten.

Ganz dicht an Hero heran kam das Biest mit den drei Köpfen, die auf langen Hälsen saßen. Sechs Reptilienaugen nahmen Hero ins Visier, und Rauch stieg aus den Nüstern auf. Drohend breitete das Untier seine winzigen Flügel aus. Spitze Zähne blitzten in seinen Schnauzen, und auch die Hörner des Reptils waren sehr beeindruckend.

Hero war noch immer starr vor Schreck. Schlechter Atem schlug ihm aus den Mäulern der Bestie entgegen, und endlich gehorchten ihm seine Beine. Rückwärts stolperte er aus der Höhle wieder hinaus, doch Hydra folgte ihm.

Draußen angekommen richtete sich das mächtige, vierbeinige Tier zu seiner vollen Größe auf. Aggressiv peitschte es mit dem Schwanz umher. Hero stand vor ihm, nur bewaffnet mit einem Stock, und glaubte, sein letztes Stündlein habe geschlagen. Er zitterte vor Angst, als er unweit der Höhle Stimmen vernahm.

»Sieh an!«, raunte es, und eine schwarze Katze erschien. »So gewinnt dein Sohn also seine Schlachten – indem er andere für sich in die Schlacht ziehen lässt.«

Ein giftiges Zischen war neben dem Katzentier zu hören, wo eine mächtige Schlange das Haupt aus dem trockenen Gras reckte. »Pah!«, schnauzte Zeus. »Einen Helden kann man dieses zitternde Häufchen voll Elend auch nicht nennen! Wie soll dieses halbe Hemd das Ungeheuer besiegen? Immerhin wird es, wenn es sich an dem Bettler satt gefressen hat, träge werden, und dann wird es für Apollon ein Leichtes, die Hydra zu erschlagen – womit ich meine Wette gewonnen habe!«

»Nicht so voreilig, mein Gemahl!« List blitzte in den Augen der schwarzen Katze. »Noch ist nichts entschieden! Hero! Sieh ganz genau hin!«

Der junge Bettler hörte die Aufforderung mit halbem Ohr, und obwohl ihm der Hintern auf Grundeis ging, fasste er sich ein Herz und starrte der Bestie ins Angesicht.

Viele Spuren hatten die tapferen Kämpfer an der Hydra hinterlassen. Narben durchsetzten ihre Schuppenhaut. Ein Pfeil steckte in ihrer rechten Achselhöhle und ein abgebrochener Speer in ihrem Rücken. Geifer triefte aus ihren Mäulern, als sie langsam den Kopf senkte, bereit zuzuschlagen, machte der Winzling vor ihr auch nur eine falsche Bewegung.

Hero sah wohl, dass er diesem Widersacher im Leben nicht gewachsen war, und so ließ er die Keule fallen. Als wäre sie darüber sehr erstaunt, zog die Hydra daraufhin alle Köpfe zurück und zuckte gar merklich zusammen, als Hero einen Schritt vortrat und vor ihr auf die Knie fiel.

»Höre, mächtige Hydra!«, flehte der junge Bettler und senkte sein Haupt demütig, »verschone die Königstochter dem Volk zuliebe! Wenn sie nicht zurückkehrt, werden die Menschen ihre Hoffnung und Inspiration verlieren. Sie brauchen eine gütige Herrscherin, die ihnen Mut macht. Lass sie gehen und friss mich an ihrer Stelle!«

Die Hydra reckte ihre ohnehin schon langen Hälse, legte die Köpfe leicht schief. Vor Staunen standen ihr die Mäuler offen.

»Das ist wahrer Heldenmut!«, erklang wieder die Stimme von Hera, die der Bettler schon im Traum vernommen hatte. »Nun schließ deine Augen und sieh dann noch einmal genau hin!«

Hero gehorchte und blickte dem Ungeheuer tief in die wasserblauen Augen. Das Biest gebärdete sich nicht länger aggressiv, sondern ließ sich auf dem Bauch nieder.

In dieser Sekunde ereilte Hero die Erleuchtung, und er fuhr zusammen: »Ihr seid die Königstochter!« Seine Stimme bebte.

Der Drache stieß ein Seufzen der Erleichterung aus, denn es entsprach der Wahrheit.

»Verflucht!«, grollte Zeus im Hintergrund, noch immer getarnt als Schlange. »Das darf nicht wahr sein!«

Seine Frau lächelte nur, während sich schwarze Wolken am Himmel zusammenballten als Resultat des Zorns ihres Gatten. »Der kleine Bettler ist tapferer als deine adligen Heroen! Keiner hätte sein Leben für die Königstochter gegeben. Ihnen ging es nur um Ruhm und Prestige! Sie alle waren zu dumm, die Wahrheit zu erkennen.«

»Du hast ihm geholfen und somit betrogen!«, wetterte Zeus dagegen.

»Und du wolltest ihn als Schlange aus dem Weg schaffen!«, beschwerte sich Hera und brach just einen neuen Ehestreit vom Zaun.

Schon fegten heftige Windböen über das Land, Donner grollte, Blitze zuckten, und es begann, in Strömen zu regnen.

Von all dem ließ Hero sich jedoch nicht ablenken, denn vor seinen Augen ereignete sich etwas noch viel Unglaublicheres: Gerade verwandelte sich die Hydra in die wunderschöne Königstochter. Sie war unverletzt und klimperte kokett mit den Wimpern. Der Bettler gefiel ihr, trotz seines abgerissenen Äußeren und der Segelohren.

»Ich bin erlöst!«, rief Olympia aus. »Wie viele Recken wollten mich töten, und wie viele habe ich in Notwehr geschlagen! Doch nun hat der Fluch ein Ende gefunden, oh, ich danke dir, Knabe!«

Hero, der sein Glück noch gar nicht fassen konnte, stand nur da und kratzte sich vor lauter Verlegenheit am Hinterkopf. »Nicht der Rede wert, Hoheit. Ihr wart gut zu mir …, es wurde Zeit, sich zu revanchieren.«

Seine Bescheidenheit gefiel ihr umso mehr, und sie reichte ihm ihre Hand: »Kehre mit mir zurück an den Hof meines Vaters! Von nun an wirst du nie wieder arm sein.«

Unbeachtet von den beiden fuhr soeben Zeus als Blitz in den Himmel hinauf, um auf seinen Olymp zurückzukehren. Den Disput mit Hera wollte er dort fortsetzen. Doch seine Frau hatte ganz andere Pläne.

»Was ist hier los?« Apollon erschien aus der Dunkelheit der Höhle. »Wo ist die Königstochter?«

Genau in dieser Sekunde erblickte er Olympia, die vor Dankbarkeit Hero hingebungsvoll küsste. Das trieb dem Schönling die Zornesröte ins Gesicht.

»Ich bin der Heroe! Mir gebührt die Königtochter, und auf meinen Tempel werde ich nicht verzichten!«, drohte er.

Er zückte sein Schwert und richtete es auf den entsetzten Hero. Olympia begann, in Hysterie zu schreien, als der Lichtgott die Waffe schwang und den Bettler nur um ein Haar mit der Klinge verfehlte.

»Nur die Götter können uns noch helfen!«, kreischte Olympia und erstarrte.

Ganz in der Nähe stand wie aus dem Boden gewachsen eine wunderschöne Frau. Die Königstochter erkannte sie wieder als jene, die sie in eine furchtbare Hydra verwandelt hatte. Fast blieb ihr das Herz stehen.

Auch Apollon wandte nun den Blick zur verführerischen Hera, die splitterfasernackt in der Ebene stand und ihn zu sich heranwinkte. Diesem unzweifelhaften Angebot konnte sich Apollon nicht entziehen. Wie trunken folgte er der sich langsam entfernenden Hera. Bald schon waren beide außer Sicht.

Nur kurz blickten Hero und Olympia den entschwindenden Göttern nach. Dann einigten sie sich im Stillen, dass es auch für sie Zeit wurde aufzubrechen, bevor den illustren Göttern ein neues Spiel einfiel. So hob Hero die Königstochter auf den Rücken des Schimmels, und sie ritten davon in Richtung das nördlichen Horizontes.

Während die beiden Sterblichen alsbald Hochzeit feierten, blieb das Wetter katastrophal schlecht, denn Zeus' Laune war auf dem Tiefpunkt.

Jedoch war der Grund dafür nicht die verlorene Wette, sondern vielmehr seine rasende Eifersucht, war es doch diesmal Hera, die sich mit Genuss einem Seitensprung hingab.

Dörte Müller

Tod eines Gottes

Es war letzte Woche, am Donnerstag. Ich hatte gerade vier Stunden Englisch unterrichtet hinter mir und steuerte erschöpft auf das Lehrerzimmer zu. Endlich. Zweite, große Pause, Zeit für meinen Apfel. Gerade wollte ich hineinbeißen, da tippte mir meine Kollegin Eva auf die Schulter.

»Du, vor der Tür, da ist jemand für dich!«

»Soll warten!«, nuschelte ich. »Ich habe Pause!«

»Es ist kein Schüler!«, sagte Eva geheimnisvoll. »Es ist ein unglaublich gut aussehender Mann!«

Jetzt war ich neugierig geworden. Ich erhob mich von meinem Platz und ging gespannt vor die Tür.

Da stand er. Ein griechischer Gott. Ich hatte noch nie so einen schönen Mann gesehen. Eva hatte recht gehabt. Sehr groß, sehr gut gebaut und wellige, widerspenstige Locken. Er lächelte und reichte mir die Hand. Seine stahlblauen Augen sahen mich intensiv an. Wow, wow und noch mal wow!, dachte ich nur und war froh, dass der Mann kein Gedankenleser war.

»Sind Sie Frau Neumann? Ich bin Herr Grahlke, der Therapeut von Ringo Schmitz.«

»Stimmt, ich sollte mich bei Ihnen melden, aber Sie wissen ja, wie das so ist … «, stotterte ich verlegen. Ich hatte das Gespräch mit dem Therapeuten nun schon zwei Monate vor mir hergeschoben, das war wirklich unverzeihlich. Jetzt konnte ich mich dafür selber ohrfeigen. Doch ich hatte auch gute Gründe: Die Nachmittage waren ohnehin sehr kurz, weil ich ständig mit Frau Blohme und Frau Schmitz telefonieren musste. Außerdem waren da noch die vielen Tests und Klassenarbeiten, das Kompetenzteam und der Yogakurs. Ein bisschen leben wollte ich eigentlich auch. Jetzt hatte ich aber doch ein schlechtes Gewissen.

»Sie brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben!«, sagte Herr Grahlke, als könnte er Gedanken lesen.

Wahnsinn, was griechische Götter alles konnten!

»Darum bin ich ja jetzt zu Ihnen gekommen. Alle Lehrer, die sich bei mir nicht freiwillig melden, suche ich früher oder später selber auf.«

Er hatte eine angenehme, tiefe, ein bisschen heisere Stimme. Das mochte ich. Ich lachte verlegen und wickelte mir eine Haarsträhne um den Zeigefinger.

»Ich habe zwar jetzt gleich Unterricht, aber ich werde der Klasse eine Aufgabe geben, und wir können uns ungestört ins Elternsprechzimmer setzen«, sagte ich schnell. Manchmal war ich erstaunt, wie geistesgegenwärtig ich in Stresssituationen reagieren konnte. Innerlich sprach ich mir ein dickes Lob aus und klopfte mir auf die Schulter. Ich freute mich über meinen genialen Plan, obwohl mir eigentlich klar war, dass die 9 a niemals alleine ohne Lehrer die Aufgabe machen würde und dass ich froh sein konnte, wenn keiner aus dem Fenster sprang und die Tafel hinterher noch an der Wand hing. Aber egal.

Es gongte, ich marschierte in die laute Klasse und schrieb schwungvoll an die Tafel: Englishbook, page 46, number 10 a, b, c. Count your words! Good Luck!

»Ist das ein Test?«, fragte mich noch jemand, als ich fast schon wieder aus der Klasse verschwunden war.

»Ja!«, nickte ich ernst. »Das wird eingesammelt!« Ich weiß nicht, ob diese Ansage etwas Ruhe in den Laden brachte, es war mir auch egal. Hauptsache, ich war wieder draußen. Hauptsache, ich war in der Nähe dieses griechischen Gottes.

Ein Traum wurde wahr: Wenige Minuten später ging ich mit dem schönen Mann ins Sprechzimmer und sprach über den durchgeknallten Ringo Schmitz. Ich spürte Evas neidischen Blick im Rücken, und auch Frau Bauer fiel bei Grahlkes Anblick die Kinnlade herunter. Aber er gehörte mir! Nur mir!

Ich legte Herrn Grahlke das Klassenbuch vor und zeigte die zahlreichen Einträge, die sich Ringo schon eingefangen hatte.

Herr Grahlke nickte und sagte: »Das passt ins Bild. Er rebelliert auf jede erdenkliche Art.«

War das eine herrliche Stunde! Herr Grahlke erzählte und erzählte. Ich brauchte nur ab und zu zu nicken, mehr wollte er gar nicht. Nach einer gewissen Zeit ertappte ich mich dabei, dass ich nur noch dem tiefen Klang seiner etwas heiseren, aber melodischen Stimme lauschte und die Worte überhaupt nicht mehr wahrnahm.

Schließlich sagte er: »Der Ringo hat jetzt eine Bringschuld.«

Ich nickte wieder und wunderte mich, warum der Therapeut nicht weitersprach. Darum wiederholte ich mechanisch: »Eine Bringschuld.« Was für ein merkwürdiges Wort. War das Therapeutendeutsch?

Herr Grahlke fuhr sich mit seiner linken Hand durch die wüsten, widerspenstigen Locken, die ihm ungezähmt vor seinen Augen herumtanzten. Wie gerne hätte ich ihm in diesem Moment die Haare gewaschen und meine Hände in seiner griechischen Lockenpracht vergraben.

»Ringo bekommt einen Laufzettel und wird nach jeder Stunde zu Ihnen oder zu Ihren Kollegen kommen. Sie malen dann entweder ein trauriges Gesicht, wenn Ringo gegen Regeln verstoßen hat. Oder Sie geben ihm ein Smiley, wenn er sich gut verhalten hat. Wenn er sich mittelmäßig verhalten hat, bekommt er ein Gesicht mit einem neutralen Gesichtsausdruck. So weiß Ringo, wie Sie ihn eingeschätzt haben. Das ist enorm wichtig«, fuhr Herr Grahlke fort.

Ich nickte zustimmend, auch wenn mir dieses ganze Gelaber zum Hals heraushing. Smiley hin oder her, Ringo würde sowieso nie einen bekommen, das wusste ich jetzt schon.

»Wichtig ist auch, dass wir uns regelmäßig treffen und Rückmeldung geben. Das Konzept basiert auf Feedback. Feedback für die Mutter, Feedback für Ringo und Feedback für uns. Ringo muss spüren, dass wir alle zusammenarbeiten. Elternhaus, Schule und Therapeuten. Wir sitzen alle in einem Boot und wollen nur, dass Ringo wieder ein glücklicher und guter Schüler wird. Wann können wir uns wieder treffen?«, fragte mich Herr Grahlke und drückte meine Hand zum Abschied ganz fest.

Es war, als würde die Zeit für einige Sekunden stillstehen. Ein magischer Moment. Es knisterte in der Luft.

»Ich habe eigentlich immer Zeit!«, sagte ich schließlich. »Keine Familie, keinen Hund … Ich lebe quasi nur für die Schule!«

Herr Grahlke sah mich mitleidig an. Er hielt erstaunlicherweise immer noch meine Hand. Ich fand das ungewöhnlich lange.

Doch dann ließ er sie los, lachte wieder sein herrliches Therapeutenlachen und sagte im Scherz: »Dann brauchen Sie vielleicht auch mal eine Therapie!«

»Oder einen Mann!«, platzte es aus mir heraus, und ich wurde augenblicklich knallrot. War das peinlich! Ich fühlte mich hundeelend.

Herr Grahlke stimmte mir zu und sagte: »Eine Frau wie Sie braucht auf jeden Fall einen Mann!«

Wir schwiegen einige Minuten verlegen.

»Im Ernst – wann haben Sie Zeit?«, fragte er schließlich.

Ich blätterte hektisch in meinem Lehrerkalender und fühlte mich wieder etwas besser. Wir einigten uns auf den kommenden Donnerstag nach der sechsten Stunde. Ich war so glücklich wie schon lange nicht mehr und hatte echte Schwierigkeiten, mich in der folgenden Woche auf den Unterricht zu konzentrieren.

Endlich war es soweit. Der schicksalhafte Donnerstag war herangerückt, und der Gong nach der sechsten Stunde erlöste Schüler und Lehrer.

Da stand er auch schon. Lässig an die Wand vor dem Lehrerzimmer gelehnt. Herr Grahlke. Mein Herz machte einen Freudenhüpfer, aber ich spielte die coole Eisfrau.

»Oh, Herr Grahlke! Stimmt ja, wir waren ja für heute verabredet! Das hätte ich fast ganz vergessen.«

Herr Grahlke lächelte mich verunsichert an. »Ich bin doch richtig, oder? Unser Treffen war doch heute?«, stotterte er aufgeregt.

Er war so nervös, das war sicher ein Zeichen von Verliebtheit! »Ja, es war heute!«, sagte ich schnell, um ihn nicht noch mehr zu verunsichern. »Haben Sie schon etwas gegessen? Wir könnten doch unser Treffen in eine Gastwirtschaft oder Kneipe unten im Dorf verlagern und dabei über Ringo reden!«, schlug ich mutig vor.

»In Ordnung!«, nickte er. »Gehen wir zum Griechen!«

Logisch!, dachte ich im Stillen. Wohin auch sonst?

Ich stieg in seinen roten Suzuki Swift ein und fühlte mich wie eine Prinzessin, die von ihrem Märchenprinzen abgeholt wird, um ein rauschendes Hochzeitsfest auf seinem Schloss zu feiern. Ein Märchen wurde wahr.

»Kennen Sie sich hier ein bisschen aus?«, fragte er mit seiner heiseren Stimme, die noch heiserer klang, als ich sie in Erinnerung hatte.

»Nein, überhaupt nicht. Ich wohne in Niedersachsen, in Bad Pyrmont«, lachte ich. Ich war so gut drauf!

»Da beginnt schon Niedersachsen?«, fragte er überrascht, so als hätte er sich noch nie Gedanken darüber gemacht.

Kein Wunder, sein schöner Kopf war vermutlich voller Gedanken über Ringo und tausend andere auffällige Kinder.

Ich sah ihn von der Seite an. Er sah so perfekt aus. Sein Profil war einfach unglaublich. Am liebsten hätte ich einen Schattenriss von ihm gemalt und mir ins Wohnzimmer gehängt.

»Warum sehen Sie mich so an? Ist irgendetwas?«, fragte er verunsichert.

Ich wurde dunkelrot und sagte: »Nein, nein. Sie erinnern mich nur an irgendwen, und ich komme nicht drauf an wen«, sagte ich und war insgeheim froh, dass mir diese Ausrede noch eingefallen war. Es stimmte ja auch irgendwie. Ich konnte aber nicht sagen: Sie erinnern mich an Zeus oder einen anderen griechischen Gott. Das wäre für uns beide zu peinlich gewesen.

Durch Zufall hatten wir dann direkt an der Hauptstraße neben der Kirche ein griechisches Restaurant gefunden. Es trug den vielversprechenden Namen Akropolis, und ich hoffte, dass es von innen ein wenig gemütlicher aussehen würde als von außen.

Bereits beim Eintreten in das Restaurant schwirrten uns typische griechische Klänge um die Ohren, und ich vergaß augenblicklich, dass ich in Bad Pyrmont wohnte, dass ich Lehrerin war, dass es November war und dass ich in drei Wochen meinen dreißigsten Geburtstag in einer scheußlich möblierten Wohnung mit mir alleine feiern würde. Jetzt genoss ich diesen unbeschreiblichen Augenblick des Glücks. Ich war mit einem gut aussehenden Mann in einem griechischen Restaurant und hatte tausend Schmetterlinge im Bauch.

Ein Kellner brachte uns zu einem der vielen versteckten Plätze in der Nische eines Mauergewölbes und servierte uns einen Begrüßungsouzo.

»Zum Wohl!«, sagte Herr Grahlke, prostete mir zu und sah mir dabei tief in die Augen.

Ich schmolz dahin und bekam ganz weiche Beine. Herrlich.

»Da wir jetzt sehr lange zusammenarbeiten werden, können wir uns doch eigentlich auch duzen!«, schlug er plötzlich vor.

Ich strahlte. Genauso hatte ich mir alles erhofft. Griechisches Lokal, ein bisschen Alkohol und dann das Duzen.

»Ich bin übrigens der Günther!«, sagte er und blickte mich freundlich an.

Ich zuckte zusammen, sodass mein Ouzo im hohen Bogen aus dem Schnapsglas schwappte. Günther? Hatte er eben Günther gesagt? Das konnte nicht wahr sein! Das durfte nicht wahr sein. Griechische Götter hießen doch niemals Günther!

Der ganze Zauber war plötzlich irgendwie verpufft. Ich konnte es mir selber nicht erklären. Ich sah Günther entsetzt an und war einfach nur sprachlos. Auf einmal fand ich ihn auch überhaupt nicht mehr so attraktiv: seine hässliche, übergroße, krumme Nase, diese fettigen Locken …

Hektisch wischte ich den übergeschwappten Ouzo mit einer Serviette auf und versuchte, mich wieder zu beruhigen. Günther holte seine Unterlagen heraus und fing an, über Ringo Schmitz zu reden. Doch ich hörte kaum noch zu. In meinem Kopf klang es wie ein Echo: Günther! Günther! Günther! Ich fühlte eine entsetzliche Leere in mir.

Der griechische Gott war gestorben.

Heike Zöller

Von Datteln und Kriegen

Hamestos schnaufte. Er trug einen Sack Mehl auf dem Rücken. Der Sack rieb schmerzhaft an seinem Sonnenbrand. Der Mann keuchte, blinzelte, denn die Morgensonne am Ende des Horizonts strahlte ihm entgegen.

Als er eine Hand über seine Augen hob, um Schutz vor den frühen Strahlen zu gewinnen, fiel ihm der Sack durch die andere, schwitzige Hand auf den Boden. Dort puffte das Mehl aus der Öffnung heraus, und Hamestos verschwand in einer weißen Wolke.

»Bei den Göttern!«, keuchte er halb hustend. Nun war seine Stimmung endgültig im Keller. Seit einigen Stunden war er schon unterwegs und schleppte Mehlsäcke durch die Gegend. »Ich hätte Philosoph werden sollen!«

Was war stattdessen aus ihm geworden? Ein Bäcker! Ein einfacher Landsmann, der nicht einmal anständige Helfer finden konnte. Wo waren die Burschen heute schon wieder geblieben, dass er die Last in seinem Alter noch alleine zum Lager schleppen musste? Sicher hatten sie wieder einen Ouzo zu viel getrunken und schliefen sich auf den Schößen angeblicher Jungfrauen aus.

Sollte er nicht derjenige sein, der ausschlafen durfte? Der sich auf seinen müden, alten Knochen ausruhen konnte? Nein! Nein, er arbeitete hart, tagein, tagaus!

Hamestos setzte den Sack auf und streckte sich in den Himmel. »Bei den Göttern! Verflucht sei dieses Leben doch!«

Und es kam plötzlich, kurz nach seinen Worten, dass sich Wolken am hellblauen Himmel zuzogen und ein Blitz auf die Erde einschlug. Es krachte und donnerte, der Blitz vermehrte sich. Von einem Moment auf den nächsten waren es Hunderte, die sich nun zu einem riesigen Energieball zusammentaten. Und die Wolken wölbten sich auf, wurden eins und verschmolzen mit dem hellen Knoten der Blitze. Ein Gewölbe aus Donner und Licht entstand vor den Augen Hamestos'.

Das Gewölbe begann, Form anzunehmen. Menschliche Form! Ehrfürchtig starrte der alte Mann in die riesige Wolke. Es hatte ihm die Sprache verschlagen. Er sah die sich bildende Figur, die sich langsam aus der Materie zusammenzog. Da waren Beine, Arme, Hände. Die Form wurde weicher und kurviger. Bevor sich die Haut bilden konnte, wand sich ein seidener Stoff um sie, der zu einem violetten Kleid wurde. Ein weiblicher Körper hatte sich entwickelt.

Die Frau schwebte noch im Himmel, während sich die Wolken langsam wieder verzogen. Als sie Hamestos sah, ließ sie sich würdevoll zu ihm herab. Ihr langes, schwarzes Haar wehte dabei im seichten Sommerwind.

»Was, wie, wo, w … « Hamestos sah erschrocken, voller Ehrfrucht auf die Erscheinung dieser Frau. Sie war von atemberaubender Schönheit. Ihre Gesichtszüge waren fein, und ihre dunklen Augen waren so durchdringend, dass sie ihn vollständig in Besitz nahmen. Er wollte seinen Blick nicht von ihr abwenden trotz seiner Angst um die Macht, die eindeutig von ihr ausging.

»So starr mich nicht an, als wäre ich eine Hydra! Ich bin eine Göttin, also los: Ehre mich, bete mich an!« Ihre Stimme klang bestimmend. Sie schien nicht lange um den heißen Brei reden zu wollen.

Hamestos war verwirrt. Doch bevor sie wütend werden konnte, fiel er, einem unerwarteten Überlebensinstinkt folgend, auf die Knie und ließ sein Haupt zu Boden sinken. »Oh ehrwürdige Göttin, verzeiht meine plumpen Blicke! Ich hätte Euch gleich die Ehrerbietung zeigen sollen, die Ihr verdient!«

»Ja, das hast du aber versäumt. Mach es wieder gut!« Erwartungsvoll sah die mysteriöse Frau auf ihn herab.

»Was?«

Hamestos war verwirrt ob der schnellen Reaktion, die von ihm verlangt wurde, doch auf einen mahnenden Blick der Göttin hin ließ er sich etwas einfallen.

»Bei Eurer traumhaften Schönheit könntet Ihr glatt die Göttin der Liebe sein!« Komplimente wirkten bei Frauen angeblich immer positiv und waren ein besonderes Zeichen der Anerkennung. Wie sehr er sich in diesem Fall doch irren sollte, wurde ihm klar, als er die wütende Reaktion der Göttin vernahm.

»Wie kannst du es wagen, mich mit diesem Luder in Verbindung zu bringen? Aphrodite kommt noch lange nicht an den Glanz meines Antlitzes heran!«

Von den Wolken her war ein Grollen zu vernehmen. Ein missgünstiges Grollen.

»Ja, du hast ganz recht gehört, Aphrodattel! Das nächste Mal gewinne ich! Ich! Hast du gehört?« Die Göttin stampfte auf den Boden, als sie dies in den Himmel schrie.

Sie stampfte so heftig, dass der Boden anfing zu beben und sich tiefe Risse in alle Richtungen öffneten. Nur knapp entrann Hamestos den sich aufbrechenden Schlünden. Die Erde war trocken und bröckelig, sodass er aufpassen musste, nicht in die Tiefe hinabzustürzen.

Aber dann passierte es. Erschöpft wollte er gerade einen Hechtsprung machen, um sich an einem knochigen Baum festzuhalten, da fing sein Rücken an zu schmerzen. Seine schwachen Arme fanden keinen Halt mehr, und Hamestos stürzte in die Tiefe.

»Was machst du denn für Sachen? Willst du Selbstmord begehen, bevor ich mit dir fertig bin?« Wütend schnaubte die Göttin, als sie den Mann auf den Boden ablegte.

»V-v-verehrte … v-ver … « Hamestos starrte verdattert in die Leere.

In den letzten Momenten war Unglaubliches passiert. Zuerst war ihm eine Göttin erschienen, einfach mal so, mitten am Tag. Dann war er in einen der Schlünde gestürzt, die sie durch ein einfaches Stampfen hatte entstehen lassen. Und nun hatte sie ihn gerettet, indem sie zu ihm hinabgeflogen war und ihn kurz vor dem Aufprall an den Ohren wieder hochgezogen hatte.

»Ver-v-verehrte … «, stammelte er immer wieder vor sich hin. Verständlicherweise stand er nun ziemlich unter Schock. Sein ganzer Körper war bis zu den Eingeweiden starr geworden, und ihm drohte, das Herz stillzustehen.

»Jetzt halt den Mund und lass mich reden! Und hör mir genau zu! Hey, schau mich an! Hey!« Die Göttin stutzte und besah ihn dann eine Zeit lang wie ein diagnostizierender Arzt. Nach eingehendem Abhorchen und Messen verschiedener Frequenzen über nur eine Berührung gab sie ihm einen göttlichen Klaps auf die Wange.

Hamestos gelangte nun langsam wieder zu vollem Bewusstsein. Er regte sich ein wenig auf dem Boden und sah die Göttin an.

»So«, begann sie, »fangen wir mal von vorne an: Mein Name ist Hekate. Ich behüte und fördere die Zauberkunst, Nekromantie und den Spuk. Und nein, nur weil ich den Spuk zu meiner Sparte zähle, heißt das nicht, dass ich gruselig aussehen muss, ganz im Gegenteil! Wie du siehst, bin ich wunderschön. Ach, und ich bin auch die Göttin der Wegkreuzungen, nur so nebenbei. Wenn du ein wahrhaftig gottesfürchtiger Mensch bist, wirst du wissen, dass ich auch noch die Schwellen beherberge: die zum Leben und die zum Tod. Aber du ungebildeter Kleinhändler wirst nicht so detailliert über mich informiert sein. Wie dem auch sei, du verstehst trotzdem, dass ich mächtig bin, oder?«

»Oh, Hekate!« Hamestos wusste immer noch nicht ganz, wie ihm geschah, und verfiel wieder in seine unterwürfige Haltung. Er durfte jetzt bloß nichts Falsches sagen. Dass sie mächtig war, konnte er sehr gut verstehen. »Ich versinke in äußerst großer Dankbarkeit dafür, dass ihr gerade mein armes Leben gerettet habt.«

»Schon gut, kleiner Mann!« Hekate wirkte etwas genervt. Diese Menschen konnten wirklich nichts anderes, als zu preisen oder um Vergebung zu bitten. Dummer, alter Mann. Warum hatte sie nicht irgendeinen Philosophen erwischen können? Wie auch immer, so langsam musste sie zum Punkt kommen. »Heute ist dein Glückstag. Ich habe dein Leben nicht nur gerettet, ich werde ihm auch einen Sinn verleihen. Ganz in der Nähe ist eine Stadt, richtig?«

»Ehm … Ja, oh Herrlichkeit!«, versicherte ihr der Alte.

»Führe mich hin!«, wies ihn die Göttin an und winkte ihn voran.

Auf dem Weg zur Stadt warf Hamestos immer wieder erstaunte Blicke auf die Göttin. Es war jetzt schon zwei Generationen her, dass das letzte Mal eine Gottheit auf der Erde erschienen war.

Und es gab auch Gründe, warum sich die Götter von den Menschen nur aus der Ferne anbeten ließen, aber selten den Weg zu ihnen hinunterstiegen. Ab und an, so alle zweihundert Jahre, zeigten sich die Götter den Menschen, um ihren Glauben zu bestärken. Aber nur kurz. Vielleicht für eine zeremonielle Gabe. Dann gingen sie wieder. Niemand blieb wirklich lange.

Um Gottes willen! Warum auch? Was sollte man hier machen? Das Getreide bestellten die Menschen schon selbst, Frauen schafften die Geburt auch ohne die Hilfe der Götter, und Kriege konnten sie schon lange ohne ihr Zutun führen. Nur in Notfällen mussten sie mal eingreifen. Ansonsten gab es hier nichts zu tun. Die meisten Probleme konnte man mittlerweile auch per Ferndiagnose lösen.

Wozu also der lange Weg? Müsste ein Gott so einen ganzen Tag hier unten verbringen, würde er sich schlichtweg langweilen. Und doch war dieses Schicksal heute für Hekate auserkoren. Warum war sie nur dieses Spiel mit Aphrodite eingegangen? Sie hätte sich selbst dafür verfluchen können.

Kurze Zeit später saß die Göttin schon auf einem goldenen Thron in einer Akropolis.

Hamestos hatte sie nach Halieis gebracht, einer Polis südlich von Athen. Sie war nicht sonderlich groß und mächtig, aber ein wichtiges Handelszentrum und daher recht wohlhabend.

Die Göttin hatte sich satt gegessen, und trotzdem schienen die Speisen nicht auszugehen. Vor ihr lagen zehn goldene Schalen mit frischem Obst und Gemüse, sechs Körbe mit feinstem Gebäck und gegartes Fleisch serviert auf silbernen Tabletts.

Viele Weine aus ferneren Gebieten wurden geöffnet und in die prunkvollen Krüge geschüttet, die mit kleinen Einprägungen und wertvollem Gestein verziert waren.

Immer mehr Menschen kamen in die Akropolis, mit Krügen und Körben und Flaschen. Hekate aß ein paar Konfitüren und sah ihnen eine ganze Weile lang zu, wie sie rein- und rausgingen. Die Göttin hatte es sich auf dem Thron bequem gemacht. Ja, so ließ es sich fürs Erste leben.