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Inhalt

Prolog

Kapitel 1 – Das Dorf Shadyside …

Kapitel 2 – Das Dorf Shadyside …

Kapitel 3 – „Wann?“, rief Nora gellend. …

Kapitel 4 – In der Tür stand …

Kapitel 5 – „Bitte!“, heulte Nora auf …

Kapitel 6 – Nora spürte die …

Kapitel 7 – Zitternd rollte Nora …

Kapitel 8 – Schwere Schritte kamen …

Kapitel 9 – Das Schiff sackte …

Kapitel 10 – Nora packte das …

Kapitel 11 – Nora spürte einen …

Kapitel 12 – Shadow Cove, 1919 …

Kapitel 13 – Wieder und wieder …

Kapitel 14 – „Wer sind Sie?“, fragte …

Kapitel 15 – „Eine Fahrkarte nach …

Kapitel 16 – Die Kleinstadt Shadyside 1919 …

Kapitel 17 – Nicholas sah das …

Kapitel 18 – Nicholas Fear. Er …

Kapitel 19 – Nicholas ballte die …

Kapitel 20 – Ein heftiger Schmerz …

Kapitel 21 – Nicholas sog scharf …

Kapitel 22 – Nicholas kniete sich neben …

Kapitel 23 – Mit zwei Schritten …

Kapitel 24 – Nicholas’ Herzschlag hämmerte …

Kapitel 25 – Einige Stunden später …

Kapitel 26 – Nicholas machte sich …

Kapitel 27 – Ruth? Was machte …

Kapitel 28 – „Wie lautet deine …

Kapitel 29 – Ruth lächelte und …

Kapitel 30 – Nicholas trat hastig …

Kapitel 31 – „Auf Nicholas und …

Kapitel 32 – Ruth griff nach …

Epilog

Alle Einzelbände der Reihe „Fear Street“ als eBook:

Über den Autor

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Impressum

Prolog

Niemand weiß, woher er kam. Niemand kennt mehr seinen Namen. Und doch – das, was ein junger Mann vor vielen Jahrhunderten in einer Vollmondnacht heraufbeschwor, hinterließ seine Spuren. Spuren, die bis heute eine ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzen.

Der junge Mann war der Urahn der Familie Fear. Und er hatte einen Todfeind. Diese Feindschaft trieb ihn zu einer Tat, die er bitter bereuen sollte. Denn um seinen Rivalen zu besiegen, rief er dunkle Mächte zu Hilfe.

Er entfachte in einer Höhle ein Feuer. Dann murmelte er die magischen Worte, die heute keiner mehr kennt. Erwartungsvoll blickte er in die Flammen, doch nichts geschah. Er wartete.

Als die Flammen plötzlich hoch aufloderten und sich rasend schnell über die Feuerstelle hinaus verbreiteten, schrak er zusammen und wich einen Schritt zurück. Doch das Feuer war schneller und erfasste ihn binnen Sekunden.

„Ich werde verbrennen“, dachte der junge Mann ­ent­setzt. „Gleich bekomme ich keine Luft mehr, und dann  …“ Noch während er das dachte, merkte er, dass das Feuer einen Kreis um ihn gebildet hatte, sodass er von einer hohen Flammenwand umgeben war. Er schloss die Augen. Was hatte er da getan? Was für Mächte hatte er heraufbeschworen? Plötzlich ertönte aus den Flammen ein Zischeln, das sich langsam zu Worten formte.

„Du hast mich gerufen“, wisperte es.

Er sah sich gehetzt um, doch da war niemand – nur das Feuer.

„Du willst Macht, und ich gebe sie dir“, zischte es wieder. „Dafür gehörst du nun mir. Und alles Blut von dir. Ihr werdet mir Opfer bringen.“

Die Stimme schwieg, doch nur für einen kurzen Moment. „Dominatio per malum“, wisperte sie. „Dominatio per malum.“

Der junge Mann schluckte. „Was  … was  … heißt das?“, stammelte er heiser.

„Macht“, kam die Antwort aus den Flammen. „Macht durch das Böse!“

Die Flammen schlossen sich enger um ihn, und er fühlte, wie ihn die Macht durchfuhr – eine heiße Woge. Er hatte es geschafft, er hatte die Macht heraufbeschworen, er fühlte sie mit jeder Faser seines Körpers. Doch er erschauerte, als er spürte, wie stark diese Kraft war. So ungeahnt stark, dass er sich beklommen fragte, ob er es nun war, der diese Macht kontrollierte, oder ob sie ihn beherrschte. Aber nun war es zu spät …

Die Flammen loderten noch einmal hoch auf, dann wurden sie kleiner und zogen sich wieder auf die Feuerstelle zurück.

Der junge Mann fühlte sich wie betäubt. Er fiel auf die Knie und starrte lange ins Feuer. War das alles eben wirklich geschehen, fragte er sich. Hatte sich tatsächlich eine Flammenwand um ihn geschlossen? Das konnte nicht sein.

Doch da fiel sein Blick auf etwas Glänzendes, das zwischen den Steinen vor dem Feuer lag. Er beugte sich vor, um es besser erkennen zu können. Es war ein silbernes Amulett, besetzt mit leuchtend roten Steinen, die im Kreis um einen kleinen Totenkopf angeordnet waren. Als er das Amulett aufhob, stellte er erstaunt fest, wie schwer es in der Hand lag. Vorsichtig drehte er es hin und her und betrachtete es genauer. Auf der Rückseite waren die Worte Dominatio per malum eingraviert. Macht durch das Böse.

„Du gehörst nun mir – und alles Blut von dir“, wiederholte er leise die Worte der Stimme aus dem Feuer. Was hatte sie damit gemeint? Alles Blut von dir … Ein Gedanke durchzuckte ihn – ein schrecklicher Gedanke. „Das war ein Fluch! Ich und alle meine Nachkommen sind verflucht“, wurde ihm klar. „Und das Amulett ist nicht nur das Zeichen meiner Macht, sondern auch das Zeichen des Fluchs.“ Während er das dachte, glomm das Amulett heiß in seiner Hand auf. Noch einmal drang ein Zischeln durch die Höhle, dann hörte das Amulett auf zu glühen und fühlte sich wieder kühl an.

Nachdenklich betrachtete er den kleinen silbernen Totenkopf. Was geschehen war, konnte er nicht mehr rückgängig machen. Es war sinnlos, sich zu fragen, ob es das wert gewesen war. Der Preis für die gewonnenen Kräfte war hoch – das hatte er erst jetzt erkannt. Zu hoch.

Mithilfe seiner neu erlangten Macht gelang es ihm, ­seinen Feind zu besiegen. Doch die Familie Fear war fortan verflucht. Es war ein mächtiger Fluch, der die Jahrhunderte überdauerte und nichts von seiner Grau­samkeit einbüßte. Manchmal schwieg das Böse für eine Weile, doch nur, um schließlich mit neuer Kraft zu erwachen und Tod und Verderben zu säen. Dann brach es unerwartet über die nächste Generation ­herein und riss die Familie ins Unglück. Und selbst als die Fears ausgelöscht waren, bestand das Böse fort. An einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Stadt …

Kapitel 1

Das Dorf Shadyside, 1900

Nora Goode senkte den Kopf. Sie war müde, so müde. Fast die ganze Nacht hatte sie in diesem kalten Raum gesessen und Fragen beantwortet. Hatte alles berichtet, was sie im Herrenhaus der Fears mit angesehen hatte.

Nicht einmal.

Nicht zweimal.

Nein, nun schon zum dritten Mal.

Und immer noch hielt man sie hier fest. In diesem Raum ohne Fenster, in dem es mehr Finsternis gab als Licht.

Nur die Flamme einer einzigen Kerze flackerte in der Dunkelheit. Schatten tanzten über die Wände.

Nora hob den Blick und sah den Mann an, der ihr gegenüber hinter dem Pult saß. Er allein würde über ihr Schicksal entscheiden. Er hatte die Macht, sie freizulassen oder sie einzusperren.

Der Mann seufzte tief, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und breitete einige Blätter vor sich aus. Blätter, auf denen seine Fragen und ihre Antworten standen.

Nora wischte sich die Tränen aus den Augen und setzte sich aufrecht hin. Sie versuchte zu schlucken, aber ihre Kehle war wie ausgetrocknet. Ihr Rücken schmerzte. Sie war hungrig und müde. Am liebsten wäre sie vom Stuhl gerutscht, hätte sich auf dem Boden zusammengerollt und geschlafen.

Sie wollte von Daniel träumen, ihrem Mann, mit dem sie nur einen Tag verheiratet gewesen war. Und von den glücklichen Zeiten, die sie zusammen erlebt hatten, bevor der Fluch seiner Familie Tod und Zerstörung über sie gebracht hatte.

„Nun gut, Nora“, sagte der Mann mit strenger Stimme. „Erzähl mir noch einmal, was geschehen ist.“

Noch einmal? Noras Schultern sackten nach vorn. „Wenn ich jetzt noch nicht verrückt bin, werde ich es bald“, dachte sie erschöpft. „Woher soll ich die Kraft nehmen, ihm diese entsetzliche Geschichte immer und immer wieder zu erzählen? Ich möchte das alles vergessen, einfach nur vergessen, aber er lässt mich nicht.“

Der Mann klopfte ungeduldig mit den Fingerknöcheln auf das Pult. „Sag mir die Wahrheit über die Geschehnisse im Herrenhaus der Fears. Sag mir die Wahrheit, und ich lasse dich gehen.“

„Ich muss stark sein“, dachte Nora. „Für unser Baby. Für Daniels und mein Kind.“

Sie wusste, dass sie das Kind von Daniel Fear unter dem Herzen trug. Das sagte ihr ihr Gefühl. Sie würde alles tun, um ihr Baby zu schützen. Alles.

Sie schluckte mühsam und zwang sich, ruhig zu atmen. „Daniels Großvater, Simon Fear“, begann sie, „hat an diesem Abend seinen 75. Geburtstag gefeiert. Alle Kerzen auf dem Kuchen brannten. Und dann hat Daniel verkündet, dass ich, Nora Goode-Fear, seine frisch gebackene Ehefrau sei. Daraufhin hat sein Großvater einen Schrei ausgestoßen …“

„Lügnerin!“, brüllte der Mann. „Ihr wart nicht verheiratet. Jeder in Shadyside weiß das.“

„Doch, wir waren verheiratet!“, widersprach Nora verzweifelt. Wie konnte sie den Mann bloß dazu bringen, ihr zu glauben? „Aber es war ein Geheimnis“, erklärte Nora. „Wir wollten es unseren Familien erst nach der Heirat erzählen. Wir befürchteten, dass sie uns wegen der Fehde zwischen den Fears und den Goodes davon abhalten würden.“

Der Mann schüttelte den Kopf und presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. „Sprich weiter“, drängte er ungeduldig.

„Daniel und ich sind Hals über Kopf zusammen durchgebrannt. Wir haben uns nicht mal die Zeit genommen, Eheringe zu besorgen. Stattdessen hat Daniel mir dies hier gegeben.“ Nora holte ein Amulett hervor, das an einer Kette um ihren Hals hing. „Wie ich schon sagte, an diesem Abend wurde der Geburtstag von Daniels Großvater gefeiert. Irgendwer brachte eine Torte herein, auf der unzählige Kerzen brannten. Dann verkündete Daniel unsere Heirat. Sein Großvater schrie auf und rappelte sich aus seinem Rollstuhl hoch …“

„Unmöglich!“, zischte der Mann sie an. „Simon Fear war ein schwacher Greis. Er konnte nicht aus seinem Rollstuhl aufstehen.“

Nora zuckte bei seinem barschen Ton zusammen. „Aber es war so“, beharrte sie. „Dann hat er das Gleichgewicht verloren und ist nach vorne auf den Tisch gestürzt. Die Torte ist heruntergefallen, und die Kerzenflammen haben sofort auf das Tischtuch übergegriffen … und dann …“

„Erwartest du allen Ernstes, dass ich dir das abnehme? Ein Herrenhaus dieser Größe soll wegen einer heruntergefallenen Geburtstagstorte bis auf die Grundmauern abgebrannt sein?“

Nora fuhr sich mit der Hand über die Augen und nickte. Sie sah wieder vor sich, wie Daniel an ihrer Seite stand und sie seinen Großeltern vorstellte. Im nächsten Moment trennte sie eine Flammenwand – für immer.

„Und keiner hat einen Versuch unternommen, das Feuer zu löschen?“, fragte der Mann.

„Das war unmöglich. Daniel hat es versucht, aber das Feuer breitete sich in Sekundenschnelle aus. Es war wie ein lebendes, atmendes Wesen. Ein Wesen mit einem eigenen Willen. So heiß und gleißend hell.“

Nora holte tief Luft und zwang sich, dem kalten Blick des Mannes zu begegnen. „Ich sah Gesichter in den Flammen, lachende, schreiende Gesichter“, sagte sie mit fester Stimme. Als sie spürte, dass ihr wieder Tränen über die Wangen liefen, wischte sie sie mit einer hastigen Geste fort.

„Genug!“ Der Mann schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich habe dir viermal die Gelegenheit gegeben, die Wahrheit zu sagen. Die Geschehnisse, die du beschreibst, können sich unmöglich so zugetragen haben.“

Er griff nach einer Feder, tauchte sie in ein Tintenfass und kritzelte seinen Namen quer über das Papier. Die Kerzenflamme flackerte. Schatten tanzten über das Gesicht des Mannes.

Er hob den Blick und sah sie an. „Es tut mir Leid, Nora, aber mir bleibt keine andere Wahl. Ich muss dich für geistesgestört erklären und in eine Irrenanstalt einweisen.“

Nora öffnete den Mund, um zu protestieren, doch sie brachte keinen Ton heraus. Irrenhaus, Irrenhaus, Irrenhaus, hallte es in ihren Ohren.

Kapitel 2

Das Dorf Shadyside, 1901

Nora hasste die Nacht.

Während des Tages hörte sie nur vereinzelte Schreie oder vernahm einen gedämpften Aufschlag aus der Zelle über oder unter ihr.

Doch in der Nacht hallten dumpfes Stöhnen und verzweifelte Schreie von den Wänden des Irrenhauses wider. Obwohl Nora sich die Ohren zuhielt, konnte sie die schrecklichen Laute der anderen Insassen deutlich hören.

Sie fragte sich, was diese Menschen wohl in ihren Albträumen sahen. Konnte es schrecklicher sein als das, was sie durch ihr Fenster erblickte?

Nora schaute zwischen den schwarzen Eisenstäben hindurch. So wie sie es seit zehn Monaten jeden Abend tat. Zehn lange Monate, die sie jetzt schon in dieser Anstalt eingesperrt war.

Hinter den Gitterstäben waren im fahlen Licht des Vollmonds die Überreste des Herrenhauses der Fears zu erkennen. Wie konnte irgendein Albtraum schrecklicher sein als das?

Nora bemerkte, dass die Arbeiter mit der Straße, die auf dem Land der Fears gebaut wurde, Fortschritte gemacht hatten. Mit der Straße, die einmal Fear Street heißen sollte, wie sie erfahren hatte.

Nora schlang die Arme um ihren Körper. Sie hatte versucht, die Ärzte und Schwestern zu warnen. Hatte ihnen erzählt, dass es keine gute Idee sei, diese Straße zu bauen. Aber sie hatten ihr nicht einmal zugehört. Warum sollten sie auch? Schließlich hielten sie sie für geistesgestört.

Doch Nora wusste, dass jener alte Fluch, der die Fears verfolgt hatte, auch auf ihr Land übergegangen war und es vergiftet hatte. Er war mächtig. Mächtig und unheilvoll. Und noch lange nicht gebannt …

Sie wandte sich vom Fenster ab. Die Dunkelheit kam immer viel zu rasch und hüllte das Bett, den Tisch und den Stuhl in tiefe Schatten.

Und die Wiege.

Nora beugte sich hinunter und nahm ihren Sohn auf den Arm. Nicholas blickte sie aus braunen Augen vertrauensvoll an. Es hatte die Augen seines Vaters. Daniel Fear.

Sie kehrte zum Fenster zurück. Der Wind pfiff durch das gesprungene Glas. Nora beugte sich vor und sog tief die Luft ein. Sie sah hinaus in die Dunkelheit, die Freiheit. Eine Welt, die Nicholas unbedingt kennen lernen sollte.

Doch ihr Sohn war an diesem Ort geboren worden. Er hatte noch nie die Welt außerhalb der eisernen Gitterstäbe und verschlossenen Türen der Irrenanstalt betreten.

Nora schlief meistens auf dem Holzboden sitzend ans Fenster gelehnt. Ihre Matratze, die nach schalem Parfüm, Blut, Schweiß und Tod stank, benutzte sie nie.

Sie wiegte sich vor und zurück. Irgendjemand schrie – ein hoher, schriller Ton. Ihr Sohn begann, leise zu weinen. Während sie sein unschuldiges Gesicht betrachtete, strich sie ihm das braune Haar aus der Stirn.

„Es ist der Wind. Nur der Wind“, flüsterte sie ihm zu. „Keine Sorge. Ich werde dich hier rausbringen. Wir gehen beide fort. Bald.“

Nora spürte warmes Sonnenlicht auf ihren Lidern. Lang­sam öffnete sie die Augen.

Ein neuer Tag.

Schlüssel rasselten, als jemand die Tür aufschloss. Nicholas wimmerte kläglich. Nora hob ihn hoch und drückte ihn fest an sich.

Die Tür flog auf. Eine große Frau betrat den kleinen Raum. Es war Martha, Noras Pflegerin. Ihr massiger Körper füllte die Türöffnung fast vollständig aus. „Es ist Zeit für dein Bad, Nora“, sagte sie.

Als sie beiseite trat, drängte sich ein junges Mädchen an ihr vorbei. „Nancy passt so lange auf das Baby auf“, fügte Martha hinzu.

Nancy trug genau wie Nora eine Art Kittel aus grober weißer Wolle, der sie als Insassin der Anstalt kenntlich machte. Sie wedelte hektisch mit den Händen vor ihrem Gesicht herum, und ihr starres Lächeln wirkte wie festgefroren in dem schmalen Gesicht. „Baby. Ich pass auf Baby auf.“

Nora presste Nicholas fester an sich. „Könnte nicht so lange eine Pflegerin bei ihm bleiben?“

„Nancy ist zwölf. Das ist ja wohl alt genug, um auf ein Baby aufzupassen“, knurrte Martha ungehalten.

„Zwölf“, wiederholte Nancy und streckte die Arme aus.

„Er schläft“, log Nora und legte Nicholas in die Wiege.

„Schläft“, echote Nancy. Sie klang enttäuscht, aber ihr seltsames Lächeln blieb.

„Du kannst ihn nicht auf den Arm nehmen, wenn er schläft“, sagte Nora.

„Nicht auf den Arm nehmen“, wiederholte Nancy, während sie in die Wiege starrte.

„Pass nur auf ihn auf, und sorg dafür, dass ihm nichts passiert“, fügte Nora mit sanfter Stimme hinzu.

„Nur aufpassen, dass ihm nichts passiert“, plapperte Nancy ihr nach. Sie begann, die Wiege sanft hin und her zu schaukeln, und sang dabei ein Schlaflied.

Widerstrebend folgte Nora Martha aus dem Raum. Die Pflegerin verriegelte die Tür hinter ihr, packte Nora mit ihrer kräftigen Hand am Arm und schob sie vor sich her, die Treppe hinunter.

Als sie im Erdgeschoss ankamen, sah Nora einen Mann, der seinen Kopf gegen die Wand schlug. „Das tut weh“, sagte er und schlug seinen Kopf wieder dagegen. „Das tut weh.“

In einer Ecke saß eine Frau, die sich mit den Fingernägeln übers Gesicht kratzte. Hellrotes Blut lief über ihre Hände.

Martha schrie die Frau an, damit aufzuhören, doch die schien die Pflegerin gar nicht wahrzunehmen.

Martha verstärkte ihren Griff um Noras Arm und stapfte auf die Treppe zu, die in den Keller führte. Nora stolperte, als Martha sie die Stufen hinunterzerrte.

Die Pflegerin öffnete eine Tür und schob ihren Schützling in einen dunklen, feuchten Raum. Nora press­te sich mit dem Rücken an die Wand. Sie hasste es, hierher zu kommen.

Martha stieß eine weitere Tür auf. „Los, geh schon rein.“

Nora hielt den Atem an, als sie den Raum betrat. In dem schwachen Licht sah sie eine magere Frau aus der gusseisernen Wanne steigen. Sie war über und über mit offenen Wunden bedeckt und klapperte mit den Zähnen.

Nora wusste, dass das Wasser kalt war. Das Wasser war immer kalt. Und der Raum wurde durch kein Feuer geheizt.

Ein Pfleger schlang eine Decke um die dürre Frau und führte sie hinaus.

Als Nora einatmete, drang ihr der Geruch von Schweiß, Fäulnis und Schimmel in die Nase. Wenn sie hier ein Bad genommen hatte, fühlte sie sich immer schmutziger als vorher.

„Beeil dich gefälligst“, kommandierte Martha. „Du willst doch sicher nicht, dass Nancy allzu lange mit deinem Sohn spielt, oder?“

Nach ihrem Bad folgte Nora vor Kälte zitternd Mar­tha zurück in ihr Zimmer.

Martha steckte ihren Schlüssel ins Schloss, drehte ihn und stieß die Tür auf. Nora stürmte hinein.

Nancy stand neben der Wiege und schaukelte sie sacht hin und her. „Wiedersehn sagen“, murmelte sie vor sich hin. „Nancy Baby Wiedersehen sagen.“

Nora betrachtete ihren Sohn. Seine Augen waren geschlossen. Er schlief friedlich.