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Kinderärztin Dr. Martens
– Box 6 –

E-Book 26-30

Britta Frey

Impressum:

Epub-Version © 2022 Kelter Media GmbH & Co. KG, Averhoffstraße 14, 22085 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © Kelter Media GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-731-8

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Zwei Jungen leben gefährlich

Ihre Abenteuerlust wäre ihnen fast zum Verhängnis geworden

Roman von Frey, Britta

»Tag, Mutti, darf ich nach dem Mittagessen zu Sascha fahren? Wir wollen zusammen unsere Schularbeiten machen.«

Bittend sah der zwölfjährige, blondhaarige Junge seine Mutter an und stellte seine Schultasche ab.

»Langsam, langsam, mein Junge. Kaum bist du zur Tür herein, und schon zieht es dich wieder zu Sascha. Bitte, erzähle mir doch erst einmal, wie es heute in der Schule gelaufen ist. Für deinen Freund hast du noch den ganzen Nachmittag Zeit.«

Mit einem nachsichtigen Lächeln sah Dagmar Biesinger auf ihren Ältesten.

»Dann darf ich also? Sascha wartet auf mich.«

»Natürlich darfst du, doch jetzt möchte ich zuerst wissen, wie es heute in der Schule gelaufen ist. Habt ihr eure letzte Arbeit geschrieben?«

»Na klar doch, Mutti, ich habe auch alle Aufgaben gewußt. Es war aber noch nicht unsere letzte Arbeit. Herr Fiedler hat gesagt, daß wir in der nächsten Woche noch einen Aufsatz schreiben. Sascha und ich wollen üben, weil der Sascha ja in Deutsch nicht so gut ist.«

»Fein, Jörg, du kannst dann noch etwas mit dem Nicki spielen, bis ich mit dem Mittagessen soweit bin. Vati wird auch jeden Moment kommen. Sei aber lieb zu deinem kleinen Bruder, er ist nicht ganz in Ordnung.«

»Weiß ich doch, Mutti. Nicki ist ja meistens krank. Ich paß schon auf.«

Lächelnd sah Dagmar Biesinger dem Jungen nach, der nun eilig die Küche verließ. Ihr Ältester war ein lieber Junge. Nur war er meistens sehr still und schüchtern. Man konnte sogar sagen, gehemmt. Ihre große Sorge war, daß sich das einmal ungünstig für Jörg auswirken könnte. Er wurde eigentlich nur lebhafter, wenn es um seinen Schulfreund Sascha Wengers ging. Er war der einzige Junge aus seiner Schulklasse, mit dem er sich näher angefreundet hatte, seitdem sie vor drei Jahren nach Falkenberg gekommen waren und hier ein kleines Einfamilienhaus gekauft hatten.

Während Dagmar Biesinger die letzten Vorbereitungen für das Mittag­essen traf, gingen ihre Gedanken eigene Wege. Bis vor drei Jahren hatten sie in einer Großstadt gelebt, sie, ihr Mann Uwe und ihre beiden Jungen. Da aber Dominik, der zu dieser Zeit gerade zwei Jahre alt war, von Geburt an immer kränkelte, hatten sie beschlossen, in eine ländliche Gegend zu ziehen. Sie hatten die Hoffnung gehabt, daß die Landluft für den Kleinen heilsam wäre. Uwe, von Beruf Buchhalter, hatte Glück. Auf seine Bewerbung hin wurde er in Celle von einer großen Bekleidungsfirma als Buch­halter eingestellt. Auch die Suche nach einem kleinen Familienhaus hatte Erfolg, und so waren sie nach Falkenberg übergesiedelt, einem kleinen Ort, zwischen Celle und Ögela gelegen.

Drei Jahre lebten sie nun schon hier und hatten es noch nicht einen Tag bereut. Nur ein Wermutstropfen blieb. Dominik, von allen liebevoll Nicki genannt, war noch genauso krankheitsanfällig wie vor diesen drei Jahren. Er brauchte ihre Liebe und Fürsorge noch am meisten mit seinen fünf Jahren.

Dagmar war so in ihre Gedanken vertieft, daß sie völlig überhörte, daß vor dem Haus ein Wagen vorgefahren war. Erst als eine fröhliche Männerstimme hinter ihrem Rücken sagte: »Hallo, Liebling, da bin ich«, fuhr sie überrascht herum.

Mit leuchtenden Augen ließ sie sich in die Arme ihres Mannes ziehen und erwiderte seinen zärtlichen Kuß. Sich sanft aus seinen Armen lösend, sagte sie: »Ich habe dich gar nicht kommen gehört, Uwe. Schön, daß du endlich da bist. Der freie Nachmittag wird dir guttun. Wir können auch in wenigen Minuten zu Mittag essen, ich bin gleich soweit.«

»Wo sind unsere Jungen? Ist Jörg schon aus der Schule zurück?«

»Ja, er ist schon daheim und spielt oben mit Nicki im Kinderzimmer. Mach du es dir bequem, ich decke nur rasch den Tisch.«

»Ich helfe dir dabei, Liebling, dann geht es schneller. Gegessen habe ich heute wohl genug. Ich brauche Bewegung. Wir könnten ja heute nachmittag alle gemeinsam etwas unternehmen. Was hältst du von meinem Vorschlag?«

Dagmar holte die Teller aus der Anrichte, und während Uwe das Besteck dazulegte, antwortete sie: »Daraus wird wohl nichts, Uwe. Mit Jörg können wir heute nachmittag nicht rechnen. Der Junge hat mich gebeten, zu Sascha zu dürfen, und ich habe es ihm schon erlaubt.«

*

Mathilde Wengers, eine hagere Frau von zweiundfünfzig Jahren, sah ungeduldig auf die Uhr. Es war doch fast jeden Tag das gleiche. Statt von der Schule aus erst ins Haus zu kommen, um zu Mittag zu essen, lief Sascha immer erst zu seinem Vater ins Sägewerk hinüber und vergaß dabei die Zeit. Sie mußte doch mal ein ernstes Wort mit ihrem Bruder Leo reden, damit das geändert werden konnte. Es war schon manchmal ein Kreuz mit dem Jungen, an dem sie Mutterstelle vertrat, seitdem Leos Frau vor sieben Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Obwohl Sascha ein sehr aufgeweckter und kluger Junge war, brachte er sie mit seiner Wildheit manchmal an den Rand der Verzweiflung. Durch seinen Leichtsinn würde der Junge noch einmal Schaden nehmen. Er war nur sehr schwer zu bändigen. Wenn sie dabei an Saschas Schulfreund dachte, wie still und schüchtern dieser Jörg Biesinger doch war, wünschte sie sich, daß davon etwas mehr auf Sascha abfärbte.

Wenn der Junge nicht bald kommt, werde ich ihn eigenhändig holen, dachte Mathilde, da stürmte der Zwölfjährige auch schon völlig außer Atem ins Haus.

»Nicht schon wieder böse sein, Tante Tilly, ich habe Vati noch etwas geholfen. Jetzt habe ich aber einen riesengroßen Hunger.«

Mathilde Wengers konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie dem Zwölfjährigen nachsah. Nein, richtig böse konnte sie dem Jungen einfach nicht sein. Er war ja nicht mit böser Absicht ungezogen. Es war ganz einfach sein ungezügeltes Wesen, das ihn manchmal so unbedacht handeln ließ. Vielleicht war sie dem Jungen gegenüber von Anfang an viel zu nachgiebig gewesen. Sie war eben nur die Tante und nicht die Mutter. Dazu kam außerdem noch, daß sich Leo viel zu wenig um den heranwachsenden Jungen kümmerte, kaum Zeit für ihn hatte.

Sascha setzte sich an den Tisch und ließ sich das herzhafte Eintopfgericht, Grünkohl mit Mettwürstchen, gut schmecken. Dazu trank er fast einen halben Liter frische Milch.

Nachdem er fertig war, wollte Mathilde Wengers wissen: »Und deine Hausaufgaben, Sascha? Wann gedenkst du die zu machen? Du weißt ja, daß du mir vorher nicht aus dem Haus kommst.«

»Der Jörg kommt nachher zu mir, Tante Tilly. Wir machen heute unsere Hausaufgaben gemeinsam, weil wir nächste Woche noch eine Arbeit schreiben. Heute haben wir eine Mathearbeit geschrieben.«

»Hoffentlich hast du auch gut aufgepaßt und machst deinem Vati keinen Ärger?«

»I wo, Tante Tilly, ich glaube, ich habe nur einen oder zwei Fehler gemacht. Eine Zwei kriege ich bestimmt.«

»Wir wollen es hoffen, Sascha. Was meinst du, soll ich nachher für dich und den Jörg einen Kuchen backen?«

»Au ja, prima, Tante Tilly. Einen mit ganz viel Rosinen drin. Den mögen Jörg und ich noch am liebsten. Du bist auch meine liebe Tante Tilly.«

»Und du bist ein kleiner Schmeichler, Sascha«, entgegnete Mathilde lächelnd. »Aber ich will mal nicht so sein. Wenn ihr beiden fleißig lernt, mach ich euch euren Rosinenkuchen. Hat Vati gesagt, wann er heute fertig wird?«

»Hat er nicht. Er hat nur gesagt, daß er auf den Riederbauern warten muß, der einen großen Auftrag für ihn hat. Danach will Vati auch noch in die Stadt fahren. Darf ich jetzt aufstehen und in mein Zimmer gehen?«

»Lauf schon, Sascha. Ich schick dir den Jörg hinauf, wenn er nachher kommt. Erst wird gelernt, und anschließend habt ihr beide dann noch genug Zeit zum Spielen. Einverstanden?«

»Einverstanden, Tante Tilly, und vergiß den Kuchen nicht?«

Mathilde Wengers hatte später gerade den Kuchen in die Backröhre geschoben, da tauchte Jörg Biesinger auf.

»Guten Tag, Frau Wengers. Ich möchte gern zu Sascha. Ist er nicht daheim?« fragte Jörg schüchtern.

»Guten Tag, Jörg. Du sollst mich doch nicht immer Frau Wengers nennen. Sag einfach Tante Tilly zu mir, so wie es Sascha auch tut. Er ist oben in seinem Zimmer und wartet auf dich. Geh nur hinauf, du kennst ja den Weg. Und in Zukunft sagst du Tante Tilly, sonst backe ich euch keinen Kuchen mehr. Verstanden?«

»Ja, Tante Tilly«, antwortete Jörg mit rotem Kopf und lief die Treppe ins Obergeschoß hinauf.

Eine ganze Weile blieb es oben ruhig. Die beiden Jungen waren wohl mit ihren Hausaufgaben beschäftigt. Es war für Mathilde Wengers eine wohltuende, ruhige Zeit.

Erst gegen sechzehn Uhr kamen Sascha und Jörg erneut hinunter in die Küche. Da hatte Mathilde jedoch schon den Tisch für sich und die beiden Jungen gedeckt, und ein herrlich duftender Rosinenguglhupf stand auf dem Tisch.

»Toll, Tante Tilly, hast du für uns auch Kakao dazu gemacht?« wollte Sascha wissen.

»Habe ich, ist doch klar, mein Junge. Greift tüchtig zu, und anschließend hinaus mit euch an die frische Luft. Da könnt ihr euch noch so richtig austoben. Aber macht keinen Unsinn. Einverstanden?«

»Tante Tilly, wo denkst du denn hin? Wir machen doch nie Unsinn«, kam es treuherzig über Saschas Lippen.

»Eben, Sascha, darum sage ich es ja auch«, entgegnete Mathilde Wengers und hob mahnend den Finger. Sie konnte jedoch ein leichtes Schmunzeln wieder nicht unterdrücken.

Später liefen Jörg und Sascha, jeder noch ein dickes Stück Kuchen in der Hand, nach draußen, und an den hellen Stimmen, die durch das geöffnete Fenster drangen, erkannte Mathilde, daß sich die beiden Jungen wie immer ganz prächtig verstanden.

*

Während sich Jörg bei Sascha aufhielt, war Uwe Biesinger mit seiner Frau und dem fünfjährigen Nicki hinaus ins Grüne gefahren. Dem langen Spaziergang in der Heide, bei dem Uwe seinen Jüngsten die meiste Zeit huckepack getragen hatte, schloß sich ein Besuch in einem gemütlichen Gasthaus an.

Zu Hause, als die beiden Jungen schliefen, kam Dagmar noch einmal auf den Nachmittag zu sprechen.

»Eigentlich schade, daß Jörg nicht dabei war.«

»An mir hat es nicht gelegen, Liebling. Du hattest dem Jungen ja schon erlaubt, zu seinem Freund zu gehen. Ich freue mich, daß sich die beiden Jungen gut vertragen.«

»Ich doch auch, Uwe. Nur, manchmal ist mir bei dieser Freundschaft nicht so ganz wohl zumute. Die beiden sind wie Feuer und Wasser. Sascha ist eigentlich viel zu wild und leichtsinnig. Die beiden vertragen sich so blendend, weil Jörg immer alles tut, was Sascha von ihm verlangt. Ich habe das schon einige Male beobachten können.«

»Es sind doch noch Kinder, Liebling. Du weißt doch, daß Gegensätze sich anziehen. Wichtig allein ist, daß sich die beiden gut vertragen. Du weißt ja selbst, daß unser Junge hin und wieder mal einen kleinen Anstoß nötig hat. Er ist ziemlich lahm. Mach dir also keine unnötigen Gedanken.«

»Du hast leicht reden, Uwe. Ich sehe das Ganze etwas anders. Ich wünschte mir nur, daß er nicht ganz so abhängig von Sascha ist. Er müßte sich Sascha gegenüber mehr behaupten und seine eigene Meinung vertreten. So gerne ich diese Freundschaft mit Sascha Wengers auf der einen Seite sehe, so bin ich doch besorgt darüber, daß unser Junge dem Sascha wie ein Hündchen nachläuft.«

»Ich bitte dich, Liebling. Deine Vergleiche hören sich recht ungewöhnlich an. Abhängig, wie ein Hündchen hinterherlaufen, das alles ist doch völlig absurd. Wir haben so viel Sorgen mit unserem Kleinen, da sollten wir froh sein, daß sich die beiden Buben so gut verstehen. Oder hast du schon etwas davon bemerkt, daß Sascha einen schlechten Einfluß auf Jörg ausübt?«

»Nein, habe ich nicht, Uwe.«

Uwe zog Dagmar in seine Arme und küßte sie zärtlich, bevor er das Zimmer verließ.

Dagmar räumte noch die Gläser vom Tisch und brachte sie in die Küche.

Dort brachte sie auch noch einiges in Ordnung und ging dann hinauf ins Kinderzimmer, um nach ihrem Jüngsten zu sehen. Liebevoll strich sie dem Fünfjährigen über den blonden Wuschelkopf. War es eigentlich genug, was sie und Uwe für den Jungen taten? Hatte der Umzug hier in die ländliche Gegend, dazu eine gesunde Ernährung mit viel Obst und frischem Gemüse, gereicht? Was konnte man noch tun, damit er kräftiger und widerstandsfähiger wurde? Einmal mußte es mit ihm doch besser werden. Auch jetzt, da er tief und ruhig schlief, sah man ihm an, daß er nicht gerade gesund war. Wenn sie nicht gut aufpassen würde, würde er bald wieder krank werden.

Noch einmal fuhr Dagmar dem Jungen über den Wuschelkopf, dann ging sie mit sorgenvollem Gesicht aus dem Zimmer.

Nachdem sie auch einen kurzen Blick in Jörgs Zimmer geworfen hatte, der jedoch auch fest schlief, suchte sie das Schlafzimmer auf, wo Uwe auf sie wartete.

»Alles in Ordnung, Liebes? Warst du noch einmal bei unserem Kleinen?«

»Ja, er schläft, doch ich muß ehrlich sagen, er gefällt mir nicht so recht. Manchmal denke ich, wir sollten den Jungen einmal in eine Klinik geben, daß er unter Beobachtung gründlich untersucht werden kann.«

»Geh, Liebling, waren wir denn noch nicht oft genug mit Nicki bei den verschiedensten Ärzten? Er ist eben so zart und empfindlich, und damit müssen wir uns abfinden. Wenn wir noch mehr Ärzte aufsuchen, ändern wir auch nichts daran.«

»Trotzdem geht mir der Gedanke an eine Untersuchung in einer guten Kinderklinik nicht aus dem Kopf. Die Kinderklinik Birkenhain liegt doch so nah. Wir sollten es auf einen Versuch ankommen lassen.«

»Nein, davon möchte ich nichts hören. Ich mache mich doch nicht lächerlich. Komm jetzt lieber schlafen. Ich will nicht, daß du dir zuviel Sorgen um Nicki machst. Es wird mit der Zeit von ganz allein besser mit ihm werden. Wenn wir einen Arzt für ihn brauchen, werden wir einen zu uns ins Haus kommen lassen.«

Dagmar konnte an diesem Abend noch lange nicht einschlafen, denn mit dem, was Uwe gesagt hatte, war sie nicht einverstanden. Aber ein Mann sah alles wohl viel nüchterner als sie.

Es ging schon auf Mitternacht zu, als die Natur ihr Recht forderte und Dagmar in einen unruhigen Schlaf fiel.

*

»Wo ist eigentlich Nicki, Liebes?«

»Er spielt hinten im Garten. Ich sehe rasch nach ihm, danach brühe ich dir frischen Kaffee auf.«

»Laß dir ruhig Zeit, den Kaffee übernehme ich schon.«

Während Dagmar die Küche verließ, setzte Uwe schon in der Kaffeemaschine den Kaffee an und holte das Geschirr aus dem Schrank. Er war noch nicht ganz damit fertig, als Dagmar mit dem fünfjährigen Nicki ins Haus zurückkam.

»Hallo, mein Kleiner, guten Tag. Hast du draußen schön gespielt?«

Liebevoll begrüßte Uwe seinen Jüngsten und sah dann prüfend in das blasse Kindergesicht.

»Stimmt mit dem Jungen etwas nicht?« Fragend sah Uwe von dem Jungen zu Dagmar. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, meinte Nicki lustlos: »Ich mag nicht spielen, Vati. Mein Kopf tut heute so weh. Darf ich zu Jörg gehen?«

»Geh nur, Nicki, Jörg ist in seinem Zimmer.«

Uwe wartete, bis der kleine Knirps die Küche verlassen hatte, dann sagte er besorgt: »Irgendetwas stimmt doch nicht mit unserem Nicki, Dagmar. Wir sollten doch mal einen Arzt aufsuchen oder kommen lassen.«

»Er hat leichte Temperatur, darum habe ich ihn jetzt gleich mit ins Haus gebracht. Ich werde den Jungen heute früher ins Bett stecken und in Abständen kontrollieren, ob die Temperatur womöglich weiter ansteigt. Sollte sich sein Befinden verschlechtern, bin ich auch dafür, einen Arzt kommen zu lassen.«

»Einverstanden, machen wir es so«, antwortete Uwe.

Es war für Dagmar und Uwe eine große Erleichterung, als sie im Laufe des Abends feststellen konnten, daß sie sich um den Kleinen keine zusätzlichen Sorgen machen mußten. Für den Augenblick schien alles in Ordnung zu sein, denn die Temperatur war wieder völlig normal.

*

In der Kinderklinik Birkenhain ging alles seinen gewohnten Gang. Großen Zulauf hatte Hanna Martens’ ambulante Sprechstunde. Die Sommerferien hatten begonnen, und es gab doch einige Mütter, die ihre Kinder vor Antritt einer Urlaubsreise noch einmal gründlich untersuchen ließen.

Dazwischen kamen auch kleine Patienten mit kleinen und größeren Wehwehchen. Hanna, die sehr beliebt war, behandelte all ihre kleinen Patienten mit gleichbleibender Fröhlichkeit und viel Geduld.

Die junge Kinderärztin sah auf die Uhr. Schon fast halb zehn, stellte sie fest.

»Wie viele sind noch im Wartezimmer, Schwester Jenny?« fragte Hanna, als in diesem Augenblick eine junge Schwester den Raum betrat.

»Frau Lehrte mit der kleinen Susi und eine junge Frau mit einem Jungen, die zum ersten Mal hier bei uns sind. Ich habe Namen und Anschrift schon notiert, Frau Doktor.«

»Fein, lassen Sie die Karte gleich bei mir und bringen Sie mir zuerst Susi und ihre Mutter.«

»Sehr wohl, sofort, Frau Doktor.«

Schwester Jenny legte eine Karteikarte vor Hanna hin und ging danach in den angrenzenden Warteraum, um Susi Lehrte, ein zierliches Mädchen, sowie ihre Mutter in Hannas Sprechzimmer zu bitten. Susi hatte sich vor gut sechs Wochen einen Arm gebrochen und kam an diesem Tag zur letzten Nachuntersuchung.

Hanna untersuchte Susis Arm und sagte dabei lächelnd: »Ist doch alles ganz wunderbar, Susi. Wenn du die nächste Zeit noch sehr vorsichtig mit deinem Arm umgehst, kannst du bald alles wie früher machen.«

»Es tut auch überhaupt nicht mehr weh, Frau Doktor.«

»Fein, ich hatte dir ja gesagt, daß alles wieder gut wird.«

»Ich brauche also mit Susi nicht mehr zur Klinik zu kommen, Frau Dr. Martens?« fragte die Mutter des Mädchens.

»Nein, das ist erst einmal vorbei. Nur wenn Susi Beschwerden bekommen sollte, was ich jedoch nicht annehme, bringen Sie das Mädel noch einmal zu uns. Der Bruch ist sehr gut verheilt, es liegt also kein Anlaß zur Sorge vor.«

»Das freut mich, Frau Doktor, denn die vielen Besuche hier in der Klinik waren in den letzten Wochen ein wenig viel für mich. Gott sei Dank, daß das jetzt erst einmal vorbei ist. Ich werde schon darauf achten, daß Susi sich mit dem Arm noch nicht zuviel zumutet. Ich darf mich dann verabschieden.«

Hanna wandte sich nun mit fröhlicher Stimme und einem verschmitzten Augenblinzeln dem neunjährigen Mädchen zu und sagte scherzend: »Paß schön auf dich auf, Susi. Wenn wir dich hier auch alle sehr mögen, wollen wir dich doch so bald nicht wiedersehen. Nur, wenn du mit deiner Mutter mal in der Nähe bist, darfst du uns gern besuchen. Aber nur, wenn du magst.«

»Ich komme ganz bestimmt einmal, Frau Doktor.«

Lächelnd sah Hanna Susi und ihrer Mutter nach, dann sagte sie freundlich zu der jungen Schwester: »Führen Sie jetzt bitte unseren letzten Patienten für heute herein, Schwester Jenny.«

Einen Augenblick später sah Hanna eine hübsche, blondhaarige Frau, so um die fünfunddreißig herum, mit einem zierlichen kleinen Jungen an der Hand, ihr Sprechzimmer betreten. Es war ein niedlicher Junge mit einem blonden Wuschelkopf.

»Guten Morgen, Frau Dr. Martens. Ich komme wegen meines Buben. Mein Mann und ich machen uns große Sorgen um unser Kind. Nicki ist gerade erst fünf Jahre alt, aber er ist schon von Geburt an überaus anfällig. Wir sind seinetwegen sogar vor ungefähr drei Jahren hierher nach Falkenberg gezogen, damit es in der Landluft besser mit ihm wird. Es hat jedoch bis jetzt noch keinen Erfolg gebracht. Seit einigen Tagen klagt er erneut über Kopfweh, und ständig wechselt seine Temperatur. Können Sie sich Nicki nicht einmal ansehen?«

»Selbstverständlich, Frau Biesinger. Dafür bin ich ja da.«

Mit einem sanften Lächeln beugte sich Hanna zu dem Fünfjährigen und fuhr ihm über den blonden Wuschelkopf.

»Nicki heißt du also, mein Kleiner. Ein hübscher Name. Du hast doch keine Angst, wenn ich dich jetzt untersuche, nicht wahr?«

Zaghaft schüttelte Nicki den Kopf und antwortete scheu: »Nein, ich habe keine Angst. Darf meine Mutti denn bei mir bleiben?«

»Sicher doch, Nicki, deine Mutti darf zuschauen, wenn ich dich untersuche.«

Während sich Hanna nun mit Hilfe der jungen Schwester um den kleinen Knirps bemühte, wollte sie von Dagmar wissen: »Haben Sie denn schon einen anderen Arzt mit dem Jungen aufgesucht, Frau Biesinger?«

»Einen, Frau Doktor? Wir haben mit Nicki schon sehr viele Ärzte aufgesucht.«

»Und was ist dabei festgestellt worden?«

»Nichts Außergewöhnliches, Frau Dr. Martens. Uns wurde nur immer wieder gesagt, daß Nicki sehr zart und daher besonders anfällig für Erkältungskrankheiten sei. Etwas, was wir selbst nur zu genau wissen. Es hilft uns jedoch nicht weiter. Es muß doch etwas geben, was unserem Kind helfen kann. Es kann doch so nicht weitergehen. Wir sind schon ganz verzweifelt.«

Hanna konnte jedoch auch nur eine leichte Erkältung bei dem kleinen Jungen feststellen. Um vielleicht mehr zu erfahren, würden umfangreichere Untersuchungen notwendig sein. Dazu gehörte jedoch auch, daß der Junge in der Kinderklinik bleiben mußte.

Als Hanna mit Nicki fertig war, sagte sie zu Dagmar, die sie mit ängstlichen Blicken beobachtete: »Eine leichte Erkältung, mehr kann ich im Augenblick nicht feststellen. Ich möchte Ihnen jedoch einen Vorschlag unterbreiten. Ich gebe Ihnen jetzt ein Medikament gegen die Erkältung des Jungen. Sobald diese abgeklungen ist, bringen Sie uns Ihren Jungen für ein paar Tage in die Klinik, damit wir einige umfangreiche Untersuchungen durchführen können. Besprechen Sie es mit Ihrem Mann und geben Sie uns dann Bescheid.«

»Muß das unbedingt sein?«

»Es muß nicht, doch es könnte von Vorteil für die Gesundheit des Kleinen sein. Nur so können wir etwas herausfinden. Wir haben hier hervorragende Mitarbeiter in allen Fachbereichen, und auch die erforderlichen Geräte. Sie dürfen glauben, daß der Kleine bei uns gut aufgehoben sein wird.«

»Ich weiß nicht, Frau Dr. Martens, aber ich werde die Angelegenheit mit meinem Mann besprechen.«

»Tun Sie das umgehend, Frau Biesinger, und lassen Sie anschließend von sich hören. Sollte sich jedoch das Befinden des Jungen zwischenzeitlich verschlechtern, rufen Sie mich an. Ich komme selbstverständlich zu jeder Zeit zu einem Hausbesuch zu Ihnen.«

Hanna gab Schwester Jenny einige Anweisungen, und ein paar Minuten später brachte diese ihr ein Medikament.

»So, mein Junge, diese Tropfen mußt du jetzt ganz brav jeden Tag dreimal schlucken, dann bist du bald wieder gesund und hast auch kein Kopfweh mehr.«

Noch einmal fuhr Hanna mit ihrer Rechten leicht über Nickis blonden Wuschelkopf, reichte danach Dagmar das Fläschchen mit der Medizin und verabschiedete sich mit einem beruhigenden Lächeln.

»Wenn wir Ihrem Kleinen helfen können, werden wir es auch tun, Frau Biesinger.«

Nachdem sich die Tür hinter Dagmar Biesinger und ihrem kleinen Sohn geschlossen hatte, sagte Schwester Jenny mitfühlend zu Hanna: »Ein sehr zartes Kind, der Kleine, nicht wahr, Frau Doktor? Ich hätte nie gedacht, daß er schon fünf Jahre alt ist. Werden Sie ihm helfen können?«

»Das wird sich zeigen, wenn die Eltern uns den Kleinen anvertrauen. Doch ich denke schon, allerdings erst dann, wenn wir herausgefunden haben, was ihm eigentlich fehlt. Sie können jetzt wieder hinauf auf die Station gehen. Hier unten sind wir ja fertig.«

»Gut, Frau Doktor«, erwiderte die junge Schwester und ließ Hanna allein.

Hanna machte sich noch ein paar Notizen auf dem Krankenblatt von Nicki, danach verließ auch sie den Raum, um anderen Aufgaben nachzugehen.

*

»Nun, Dagmar, was hat die Ärztin in der Kinderklinik gesagt?« war Uwe Biesingers erste Frage, als er am Nachmittag von seinem Dienst nach Hause kam.

Dagmar erzählte ihm alles, auch von dem Vorschlag der Ärztin, Nicki für ein paar Tage in die Kinderklinik zu bringen.

»Was hältst du davon, Uwe?«

»Ich finde den Vorschlag gut. Wir sollten darauf eingehen, Liebes. Schaden wird es unserem Kleinen ganz gewiß nicht. Da jedoch die Erkältung erst einmal abklingen soll, bleiben uns ja noch ein paar Tage, um uns zu entscheiden. Wo ist Nicki jetzt?«

»Er schläft oben im Kinderzimmer.«

»Und Jörg, wo ist er?«

»Jörg? Wo kann der wohl sein? Er steckt natürlich wieder mit dem Sascha zusammen. Da die Jungen morgen ihren letzten Schultag vor den großen Ferien haben, habe ich ihn auch gleich nach dem Mittagessen gehen lassen. Ich hoffe doch, daß beide keine Dummheiten machen. Im Augenblick kann ich mich ja sowieso nicht so viel um Jörg kümmern, da mich Nicki sehr beansprucht. Wir müssen eben darauf vertrauen, daß Jörg alt genug ist, um auf sich selbst achtzugeben. Ich habe ihm erlaubt, bis neunzehn Uhr bei Sascha zu bleiben. Wie sieht es mit dir aus, du hast bestimmt Hunger? Mach es dir bequem, ich hole dir dein Essen.«

»Ich habe wirklich großen Appetit. Bring mir bitte auch etwas Erfrischendes zum Trinken mit. Am liebsten wäre mir jetzt eine Flasche Helles. Ist noch welches im Haus?«

»Natürlich, Uwe, ich bringe es dir sofort.«

»Soll ich nicht inzwischen nach Nicki sehen?«

»Das mache ich, wenn ich dir dein Essen gebracht habe.«

Nachdem Uwe versorgt war, ging Dagmar ins Kinderzimmer hinauf, um nach Nicki zu sehen. Er war inzwischen erwacht und spielte mit seiner Eisenbahn.

»Möchtest du nicht mit hinuntergehen und Vati einen guten Tag sagen, Nicki?«

»Ist er denn schon da?«

»Ist er, mein Junge. Er sitzt gerade beim Essen.«

»Ich habe auch Hunger und Durst, Mutti.«

»Fein, dann komm mit mir zu Vati.«

Dagmar war darüber erfreut, daß der Kleine von sich aus nach Essen und Trinken verlangte. Selten genug kam es in der letzten Zeit vor. Zu den meisten Mahlzeiten mußte sie ihm die Speisen regelrecht aufdrängen. Auch an diesem Spätnachmittag freute sie sich zu früh. Nicki trank wohl ein Glas Milch, stocherte jedoch lustlos auf seinem Teller herum und sagte weinerlich: »Ich mag nicht, Mutti, mein Bauch tut mir weh.«

Obwohl Dagmar zu diesem Zeitpunkt glaubte, Nicki würde das Bauchweh nur als Ausrede vorschieben, zwang sie ihn nicht, sondern ließ ihn gewähren.

Als er bettelte, wieder ins Kinderzimmer zum Spielen zu dürfen, ließ sie ihn gehen.

»Bist du Nicki gegenüber nicht zu nachgiebig, Liebes? Der Junge muß doch mehr essen. Er hat ja überhaupt nichts zuzusetzen, sollte er einmal ernsthaft erkranken. In diesem Punkt verstehe ich dich nicht.«

»Was soll ich denn machen, Uwe? Soll ich die Speisen mit einem Trichter in ihn hineinzwingen?« entgegnete Dagmar aufgebracht.

»So drastisch habe ich es nun auch nicht gemeint. Du brauchst dich nicht gleich aufzuregen. Ich mache mir doch nur Sorgen um den Jungen. Kannst du das nicht verstehen?«

»Ich verstehe dich, kann es aber nicht ändern. Ich versuche es im Guten und mit Strenge. Du hast doch eben erlebt, mit welchen Ausreden er uns kommt. Je mehr ich darüber nachdenke, um so mehr komme ich zu dem Schluß, daß es für Nicki wirklich nur von Vorteil sein kann, wenn wir ihn in der Kinderklinik gründlich untersuchen lassen, obwohl ich ihn nur ungern aus dem Haus gebe. Sobald er einigermaßen in Ordnung ist, bringe ich ihn zu Frau Dr. Martens in die Klinik.«

»Ja, sicher, das war ja schon so abgesprochen.«

Die Unterhaltung zwischen Uwe und Dagmar wurde unterbrochen, denn in diesem Moment kam Jörg in die Küche gestürmt.

»Tag, Vati, Tag, Mutti. Ich hab vielleicht einen Kohldampf.«

»Jörg, was ist denn das für ein Ausdruck«, sagte Dagmar tadelnd.

»Wieso, Mutti? Das sagen doch alle in unserer Klasse. Ich habe eben mächtigen Hunger. Wann gibt es Abendbrot?«

»Immer langsam, mein Sohn, es ist gerade erst siebzehn Uhr vorbei. Bis zum Abendbrot dauert es schon noch ein Weilchen. Wie kommt es, daß du heute schon so früh daheim bist?«

»Der Sascha mußte mit seiner Tante noch in die Stadt fahren, darum bin ich schon hier. Machst du mir ein Butterbrot?«

»Selbstverständlich, Junge. Verhungern sollst du uns ja nicht. Zuerst ­gehst du aber ins Bad und wäscht dir die Hände und das Gesicht. Ich möchte nur wissen, wo ihr zwei wieder den ganzen Nachmittag herumgeturnt seid.«

»Sascha und ich bauen uns doch ein Baumhaus. Saschas Vati hat es erlaubt«

»Soso, er hat es erlaubt. Trotzdem gehst du dich erst einmal waschen, bevor du dich an den Tisch setzt. Also, marsch ab mit dir, Jörg.«

»Ich geh ja schon, Mutti«, brummte Jörg vor sich hin und verließ den Raum.

»Ich kann über Jörg nur staunen, Liebes. Die Freundschaft mit Sascha Wengers hat ihn verändert. Er ist nicht mehr so scheu und still. Bist du nicht auch meiner Meinung?«

»Schon, Uwe, doch es hält meistens nicht lange an. Meine Bedenken kennst du ja. Wichtig ist, daß der Junge gesund ist. Ich wünsche mir so sehr, daß es mit unserem Nicki auch einmal so sein wird.«

»Es wird schon, du mußt nur Geduld haben, darfst nicht ständig daran denken. Ich gehe ein bißchen hinauf und beschäftige mich mit Nicki.«

»Du hast mir überhaupt noch nicht gesagt, ob es mit deinem eingereichten Urlaub klappt.«

»Ich weiß auch noch nichts Genaues, Liebes. Erst am kommenden Montag werde ich Bescheid erhalten. Ich habe ihn etwas zu spät angemeldet. Du kannst aber davon ausgehen, daß ich für die letzten vier Wochen der großen Ferien meinen Urlaub bekomme. Wir brauchen also nur um zwei Wochen zu verschieben. Wir reden kommenden Montag weiter darüber. Es wird schon schiefgehen.«

»So, Mutti, sauber genug?«

Jörg kam in die Küche zurück und hielt seiner Mutti die geöffneten Handflächen hin.

»Bekomme ich jetzt ein Butterbrot? Und Durst habe ich auch.«

»Setz dich, dann mach ich dir etwas zurecht, Jörg«, entgegnete Dagmar, während Uwe die Küche verließ, um hinauf ins Kinderzimmer zu gehen.

Dagmar belegte für Jörg eine Doppelschnitte Brot und füllte ihm ein großes Glas mit Orangensaft. Während er mit gutem Appetit aß und trank, setzte sie sich ihm gegenüber und fragte: »Du bist wohl gern mit Sascha zusammen, Jörg?«

»Ist doch klar, Mutti. Der Sascha ist mein Freund. Wenn wir Ferien haben, wollen wir seinem Vati helfen. Er nimmt uns dann bestimmt mit zum Angeln. Du erlaubst es doch, nicht wahr? Du hast ja sowieso keine Zeit für mich, und Vati muß arbeiten.«

»Wenn es Nicki bessergeht, habe ich auch wieder Zeit für dich, Jörg. Nicki ist noch zu klein. Du bist dagegen ein großer und vernünftiger Junge und verstehst das sicher. Wenn Vati seinen Urlaub doch noch bekommt, fahren wir für vier Wochen in den Urlaub an die See, wir haben dann viel Zeit füreinander.«

»Wir fahren an die See, Mutti? Das ist ja ganz toll. Wohin fahren wir denn? Nun sag es doch schon.«

»Genaues haben Vati und ich noch nicht herausgesucht. Wir werden das mit dir besprechen, wenn es feststeht, wann Vati seinen Urlaub bekommt. Alles klar, mein Junge?«

»Ja, Mutti, ihr seid doch die liebsten und besten Eltern der Welt. Ich habe euch beide sehr lieb.«

»Wir dich auch, mein Junge. Und jetzt beschäftige dich noch etwas in deinem Zimmer, denn ich muß nach Nicki schauen. Es geht ihm heute nicht so gut, und ich war schon mit ihm beim Arzt.«

»Warum ist Nicki nur immer krank, Mutti?«

»Ich weiß es nicht, Jörg. Geh jetzt in dein Zimmer. Wenn es Zeit fürs Abendbrot ist, rufe ich dich schon. Du kannst ja in deinem neuen Buch lesen oder etwas Musik hören.«

»Mach ich, Mutti.« Jörg trank den Rest seines Orangensaftes aus und ging danach in sein Zimmer hinauf.

Dagmar folgte Minuten später, um zu sehen, was Nicki und ihr Mann machten.

Uwe spielte mit dem Kleinen, der jedoch matt und lustlos wirkte. An Uwes besorgten Blicken erkannte Dagmar, daß auch er wußte, daß mit dem Jungen überhaupt nichts stimmte. Wie sollte das alles nur in Zukunft weitergehen? Es war gut, daß sie Jörg während der nächsten Zeit gut aufgehoben wußte.

*

»Hoffentlich bleibt das Wetter während der nächsten Wochen so schön und sonnig«, sagte Bea Martens zwei Tage später am Frühstückstisch zu Hanna.

»Wir wollen es für die Kinder wünschen, Mutti. Doch in vielen Fällen bringen die Sommerferien für uns auch ein Mehr an Arbeit in der Kinderklinik. Wir werden sehen, ob es in diesem Jahr auch der Fall ist. Die großen Ferien haben ja gerade erst begon­nen. Was hast du für heute vor?«

»Ich fahre heute vormittag mit der Füchsin in die Stadt. Es bleibt doch dabei, nicht wahr?« wandte sich die zierliche Frau an Jolande, die lächelnd erwiderte: »Selbstverständlich.«

»Fein, dann geh ich jetzt in die Klinik hinüber, wir haben für den heutigen Vormittag zwei Operationen angesetzt.«

»Ich weiß, Hanna. Kay hat gestern nachmittag darüber gesprochen. Ich wünsche euch, daß alles klappt.«

»Wird schon, Mutti, es sind ja beides keine schwierigen Eingriffe. Ich wünsche euch einen schönen Vormittag mit euren Einkäufen und gehe jetzt. Wir sehen uns ja zum Mittagessen wieder. Also, macht’s gut, bis dahin.«

Leichtfüßig verließ Hanna das Doktorhaus und eilte durch den Park zum Klinikgebäude hinüber. Bevor sie das Gebäude erreicht hatte, rief hinter ihrem Rücken Kay mit fröhlicher Stimme: »Warum so eilig, Schwesterherz? Du kannst es wohl kaum erwarten, an deine Aufgaben zu kommen?«

Hanna drehte sich um und sah Kay, der mit ausgreifenden Schritten auf sie zukam, lächelnd entgegen: »Guten Morgen, Kay. Ich glaubte dich schon längst in der Klinik. Sagtest du gestern abend nicht, daß du eine halbe Stunde früher an die Arbeit wolltest? Da war wohl der Geist wieder einmal williger als das Fleisch, oder?« neckte Hanna ihren Bruder.

»Wenn du recht hast, hast du recht, Hanna. Doch Spaß beiseite, so wichtig war die halbe Stunde auch wieder nicht. Komm, gehen wir den Tag an.«

»Wer kommt zuerst an die Reihe, Kay? Bleibt es so wie vorgesehen?« wollte Hanna wissen, während sie das Klinikgebäude betraten.

»Ja, natürlich, Hanna. Ich habe, zwar mit dem Gedanken gespielt, beide Eingriffe auf kommenden Dienstag zu verschieben, bin jedoch im Endeffekt davon abgegangen. Auch wenn heute Freitag ist, was wir hinter uns haben, ist geschafft. Man weiß ja nie, was uns die nächsten Tage noch bringen. Du führst sicher in der Zwischenzeit die Visite durch, nicht wahr? Es sind ja relativ leichte Eingriffe, dabei kann, wie vorgesehen, Dr. Küsters assistieren.«

»Mir ist das heute nur lieb, denn ich habe außer der Visite auch so reichlich zu tun. Du weißt ja, daß ich die Nackengeschwulst bei der kleinen Mia Sickers punktieren werde.«

»Stimmt ja, daran hatte ich im Augenblick nicht gedacht. Hoffentlich bestätigt die Untersuchung des punktierten Sekrets, daß es sich um eine harmlose Angelegenheit handelt.«

»Ich bin da ganz sicher«, entgegnete Hanna und hob lächelnd ihre Rechte in Richtung Martin Schriewers, der sie in diesem Augenblick freundlich begrüßte.

Kay erwiderte den Morgengruß ebenfalls und fragte aufgeräumt: »Daheim alles in Ordnung, Martin?«

»Alles bestens, Kay«, entgegnete Martin und wandte sich wieder seiner Arbeit in der Aufnahme zu.

Da zwischen Martin und Marike Schriewers und dem Geschwisterpaar Martens ein sehr freundschaftliches Verhältnis bestand, meinte Hanna, bevor sie und Kay auseinandergingen: »Wir sollten Marike und Martin wieder einmal zu einem gemütlichen Abend ins Doktorhaus einladen, Kay. Mutti würde sich bestimmt auch über etwas mehr Gesellschaft am Wochenende freuen.«

»Das denke ich auch. Du kannst ja etwas in der Richtung arrangieren.«

»Mach ich, doch jetzt muß ich erst hinauf auf die Station. Wir sehen uns dann in einer halben Stunde bei der Frühbesprechung. Bis dann.«

Kay nickte und verschwand hinter der Tür zum medizinischen Bereich, während Hanna den Treppenaufgang benutzte, um zur Krankenstation zu gelangen.

Die Schwestern, die für den Tagdienst eingeteilt waren, hatten schon damit begonnen, die kleinen Patienten frisch zu betten und zu versorgen.

Hanna ging zuerst zur Oberschwester ins Schwesternzimmer, um den Bericht der Nachtschwestern einzusehen.

»Fein, daß die Nacht einigermaßen ruhig verlaufen ist, Schwester Elli«, sagte Hanna zufrieden.

»Ich bin da ganz Ihrer Meinung«, stimmte Schwester Elli ihrer Vorgesetzten zu. Sie fügte jedoch einschränkend hinzu: »Ich möchte noch darauf hinweisen, daß die kleine Sickers heute morgen sehr unruhig ist. Das Mädel verlangt laufend nach seiner Mutter. Im Augenblick ist Schwester Laurie bei dem Kind.«

»Ich werde mich sofort darum kümmern, zumal ich ja später sowieso mehr mit dem Mädel zu tun habe. Es bleibt dabei, daß mir das Kind gegen neun Uhr heruntergebracht wird.«

»Die Kleine wird pünktlich unten sein, Frau Dr. Martens. Die beiden kleinen Patientin für den Eingriff müssen ja auch vorbereitet werden.«

Hanna sah kurz auf die Uhr. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr bis zur Frühbesprechung. Freundlich sagte sie: »Alles Weitere werden wir später noch besprechen, Schwester Elli. Ich kümmere mich jetzt noch um die kleine Mia, danach wird es für mich Zeit, daß ich wieder hinunterkomme.«

Während Hanna das Schwesternzimmer verließ, war sie in Gedanken schon bei dem kleinen Mädchen, nach dem sie sehen wollte. Eine sehr ängstliche kleine Person war die achtjährige Mia Sickers, die vor vier Tagen in die Kinderklinik eingewiesen worden war. Eine taubeneigroße Geschwulst im Nacken behinderte die Kleine doch recht erheblich, und Hannas Tests hatten bis zu diesem Zeitpunkt keinen Aufschluß darüber gegeben, ob es sich um eine harmlose Angelegenheit handelte. Hanna war trotzdem davon überzeugt, daß dem so war. Den letzten Beweis sollte eine Punktion bringen.

Schwester Laurie war gerade damit fertig, der Achtjährigen bei der Morgenwäsche behilflich zu sein, als Hanna das Krankenzimmer betrat, in dem zwei Betten belegt waren.

»Guten Morgen, Kinder«, sagte sie mit fröhlicher Stimme und trat zuerst zu der achtjährigen Mia. Sie fuhr dem Mädel über das flachsblonde, naturkrause Haar und fragte: »Alles in Ordnung, Mia? Wie fühlst du dich heute? Du hast doch keine Schmerzen, nicht wahr?«

Mit aufmerksamen Blicken sah Hanna in das schmale Kindergesicht, in dem die Mundwinkel ängstlich zuckten.

»Nein, ich habe keine Schmerzen, Frau Doktor. Meine Mutti soll aber kommen. Sie hat doch gesagt, daß Sie mich heute schneiden wollen. Ich mag aber nicht, ich fürchte mich so.«

»Geh, Mia, wer wird sich denn fürchten? Du bist doch schon ein großes Mädchen. Ich werde dir jetzt genau erklären, was ich heute bei dir mache. Du möchtest doch den Knubbel in deinem Nacken weghaben, oder?«

»Ja, das möchte ich gern.«

»Na, siehst du, und dabei möchte ich dir helfen. Also, hör mir gut zu, Mia.«

Hanna setzte sich auf die Bettkante, umschloß die schmalen Kinderhände mit sanftem Druck und sagte weich: »Du bekommst erst eine Spritze, die etwas größer ist, dann hole ich etwas aus dem Knubbel heraus. Das ist alles, und es wird heute ganz bestimmt nicht geschnitten. Das hat deine Mutti bestimmt falsch verstanden. Du glaubst mir doch, nicht wahr.«

Die blauen Mädchenaugen sahen Hanna einen Moment eindringlich an. Dann legte sich ein zaghaftes Lächeln um Mias Mund, und sie sagte leise: »Ja, ich glaube Ihnen, Frau Doktor. Jetzt habe ich auch keine Angst mehr.«

»Das ist fein, Mia, dann bin ich ja beruhigt. Schwester Laurie bringt dich später zu mir herunter.«

Hanna ging nun noch zum zweiten Bett, in dem ein vierjähriges Mädchen lag, und sprach auch da ein paar liebevolle Worte. Dann wurde es aber allerhöchste Zeit, denn Kay und die anderen Kollegen würden sicher schon auf sie warten.

*

Dagmar Biesinger sah auf die Uhr. Sie hatte für sich und ihre beiden Jungen den Frühstückstisch schon gedeckt und wartete darauf, daß beide wach wurden. Es ging inzwischen auch schon auf neun Uhr zu. Sie selbst fühlte sich müde und zerschlagen, denn sie hatte eine unruhige Nacht mit ihrem Jüngsten hinter sich. Wenn es mit Nicki, um den sie sich wieder größere Sorgen machen mußte, nicht im Verlauf des Vormittags besser würde, blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als die Kinderärztin kommen zu lassen. Dagmar stellte die Kaffeemaschine an, und nach einem erneuten Blick auf die Uhr ging sie hinauf ins Kinderzimmer, um nach Nicki zu sehen.

Zuerst warf sie einen Blick in Jörgs Zimmer, doch der Junge schlief noch tief und fest, und so, wie sie es sah, würde er wohl noch ein Weilchen schlafen.

Bei ihrem Kleinen sah das schon anders aus. Dagmar erschrak, als sie an Nickis Bett trat. Es war nicht besser geworden, denn mit weinerlicher Stimme klang es ihr entgegen: »Mein Bauch tut mir schon wieder so weh, Mutti.«

Mit raschen Griffen zog Dagmar das Rollo am Fenster hoch und war auch schon wieder bei dem Kleinen. Sie sah sofort an Nickis Gesicht, daß er schon wieder erhöhte Temperatur haben mußte. Als sie es mit dem Thermometer prüfte, wurde es ihr bestätigt. Zwar war das Fieber noch nicht beängstigend hoch, doch immerhin betrug es schon achtunddreißig Grad.

»Mutti holt dir eine Tasse Tee, und wenn du den getrunken hast, geht dein Bauchweh ganz bestimmt bald vorbei, mein Junge.« Zärtlich fuhr Dagmar dem Fünfjährigen über die Stirn.

»Ich mag keinen Tee, Mutti, es rummelt so komisch in meinem Bauch. Ich muß…«

Im nächsten Moment war Nicki mit einem Satz aus dem Bett und an Dagmar vorbei aus dem Zimmer geeilt.