JOHN SAUL

 

Nathaniel

 

 

 

 

Roman

 

 

ApexHorror, Band 12

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

NATHANIEL 

Prolog 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Epilog 

 

Das Buch

 

 

Seit über hundert Jahren haben die Menschen von Prairie Bend seinen Namen nur hinter vorgehaltener Hand und erfüllt von Furcht geflüstert: Nathaniel. Einige behaupten, er existiert nur in der Phantasie - wieder andere schwören, er sei ein böser Geist, gekommen, um die Vergangenheit zu rächen.

Doch schon bald werden die Bewohner von Prairie Bend erkennen, dass Nathaniel, der Prophet des Unheils, noch immer am Leben ist - in jenem alten, verfallenen Schuppen, den niemand zu betreten wagt...

 

Nathaniel, John Sauls siebter Roman (und erstmals im Jahre 1984 erschienen), gilt zu Recht als Meisterwerk und Klassiker der modernen Horror-Literatur. Der Apex-Verlag veröffentlicht den Roman in seiner Reihe APEX HORROR als neu übersetzte Neuausgabe.

  Der Autor

 

John Saul, Jahrgang 1942.

 

John Saul (* 25. Februar 1942 in Pasadena, Kalifornien) ist ein US-amerikanischer Schriftsteller von Horrorromanen und Psychothrillern.

Er studierte an verschiedenen Hochschulen - unter anderem Theaterwissenschaften, Anthropologie und Literatur -, blieb aber ohne Abschluss.

Als Studienabbrecher sah er seine Zukunft in einer Karriere als Schriftsteller- zunächst verfasste er zehn Romane unter verschiedenen Pseudonymen; sein Durchbruch zum Bestseller-Autor gelang ihm 1976 mit dem Psycho-Thriller Suffer The Children (dt. Wehe, wenn sie wiederkehren): Heute liegt die Gesamtauflage seiner Bücher bei über 60 Millionen Exemplaren. 

Im Jahr 1982 wurde sein Roman Cry For The Strangers (dt. Am Strand des Todes) unter der Regie von Peter Medak im Stil von Tobe Hooper's Poltergeist verfilmt. 

John Saul lebt und arbeitet in Bellevue im Staat Washington/USA.

 

 

 

NATHANIEL

 

 

 

  Prolog

 

 

 

Wie etwas Lebendiges brach die Nacht herein, ihre warme Feuchtigkeit durchtränkte das Haus mit einer bedrückenden Stimmung, die auf das Mädchen, das in dem kleinen vorderen Wohnzimmer saß, bedrohlich wirkte. Es lag ein wenig in der Luft, das sie beinahe mit den Händen zu greifen vermochte; und während sie dasaß und wartete, überkam sie eine Gänsehaut mit diesem eigentümlichen Kribbeln, das sie im Spätsommer immer befiel. Sie rutschte unruhig auf dem Mohair-Sofa hin und her, aber es half nichts - ihr Baumwollkleid klebte an ihr fest wie nasses Zellophan.

Draußen wurde der Wind stärker, und einen Moment lang verspürte das Mädchen Erleichterung. Zum ersten Mal seit Stunden war die zornige Stimme ihres Vaters verstummt, vom Wind überdeckt, so dass sie, wenn sie sich große Mühe gab, beinahe so tun konnte, als sei sie ein Teil des aufziehenden Sturmes und nicht ein Beweis für die Raserei ihres Vaters und das Entsetzen ihrer Mutter.

Dann erschien die Gestalt ihres Vaters drohend in der Tür - seine Augen stechend, sein Zorn plötzlich gegen sie gerichtet. Sie duckte sich auf dem Sofa zusammen; vielleicht würde er sie nicht sehen, wenn sie sich ganz klein machte.

»Ab in den Keller«, sagte ihr Vater mit leiser, aber nicht weniger drohender Stimme. »Ich hab' gesagt, du sollst in den Keller gehen.«

»Vater...«

»Sturm kommt auf. Im Keller bist du sicherer. Und jetzt geh!«

Zögernd stand das Kind auf und drängte sich an ihm vorbei zur Küchentür, blinzelte einmal mit den Augen und verließ ihren Vater, wie er sich zornig umblickte und die Tür hinter sich musterte, die Tür des Zimmers, in dem ihre Mutter mit den Wehen kämpfte. »Sie wird es überstehen«, sagte er.

Nicht aus Erleichterung, sondern in dem Wissen, dass Widerspruch die Wut ihres Vaters nur vergrößern würde, nahm das Mädchen eine Jacke vom Haken und mühte sich mit den Armen durch die verdrehten Ärmel. Dann verließ sie das Haus, mit dem rechten Arm sich die Augen vor dem brausenden Wind schützend, und hastete über den Hof zu dem sturmsicheren Keller, der schon vor vielen Jahren aus dem unnachgiebigen Prärie-Boden ausgehoben worden war. Einmal blickte sie mit zusammengekniffenen Augen in den beißenden Staubwirbel hinein. In der Ferne sah sie gerade noch, fast unsichtbar in dem Wolkenwirbel, die Ausläufer der wütend rotierenden Windhose.

Nun doch mehr vom Sturm als vom Zorn ihres Vaters erschreckt, ergriff sie die schwere Kellerluke aus Holz und hob sie ein Stück an, gerade so hoch, dass sie durch den Spalt schlüpfen konnte. Sie kletterte die steilen Stufen hinunter und ließ die Luke wieder hinter sich zufallen.

Es erschien ihr wie eine Ewigkeit, so lange saß sie in der fast völligen Finsternis des Kellers, ihre Ohren nur vom Geräusch des tobenden Sturms erfüllt.

Aber manchmal, wenn das Heulen des Sturms für einen Moment nachließ, glaubte sie etwas anderes noch zu hören: Ihre Mutter, die nach ihr rief und die sie flehentlich bat, zu kommen und ihr zu helfen.

Das Mädchen versuchte, diese Geräusche zu überhören - es war unmöglich, dass die Stimme der Mutter den Sturm bis hierher durchdringen konnte. Außerdem wusste sie, was mit ihrer Mutter gerade geschah und dass sie nichts für sie tun konnte.

Sobald das Baby da war und der Sturm aufgehört hatte, würde jemand - ihr Vater oder ihr Bruder - kommen und sie holen. Bis dahin würde sie bleiben, wo sie war, und sich einzureden versuchen, dass sie sich nicht fürchtete.

Sie verkroch sich in einer Ecke des Kellers und kämpfte mit festem Blick gegen die Dunkelheit und die Furcht an.

 

Sie wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war, wusste nur, dass sie es nicht länger aushielt, nicht mehr allein im Keller bleiben konnte. Sie horchte nach draußen, versuchte, die Gefährlichkeit des Windes abzuschätzen, aber schließlich zog sie die Jacke fest um ihren dürren Körper und drückte mühsam die Luke nach oben. Der Wind riss sie ihr aus der Hand, brach sie aus den Angeln heraus und wehte sie durch den Hof. Das Mädchen kauerte sich eine kurze Weile am Ende der Leiter zusammen. Im Haus war jetzt Licht, nicht die hellen Lichter, die sie gewohnt war, sondern der Schein einer Laterne, und so wusste sie, dass der Strom ausgefallen war. Das flackernde Lampenlicht zog sie an wie eine Motte, und sie stemmte sich in den tosenden Wind, lehnte sich in ihn hinein, während sie über den Hof zum Haus zurückging. Sie wusste, dass sie ungehorsam war, aber sogar Vaters Zorn war ihr nun lieber, als noch länger allein zu sein.

Dennoch brachte sie es nicht über sich, hineinzugehen, als sie das Haus erreicht hatte, denn sogar durch den heulenden Wind konnte sie die Stimme ihres Vaters hören. Was er sagte, war nicht zu verstehen, aber sein Zorn war furchterregend. Das Mädchen schlich um die Ecke des Hauses und duckte sich tief, bis sie unter dem Fenster des Zimmers war, in dem ihre Mutter lag.

Langsam richtete sie sich auf, bis sie in das Zimmer sehen konnte. Auf dem Nachttisch stand eine Öllampe mit niedrig gestelltem Docht, deren fahlgelbes Licht seltsame Schatten warf. Ihre Mutter wirkte fast leblos, gegen ein Kissen gelehnt, ihr Haar feucht an der blassen Haut klebend, ihre Augen weit geöffnet und von Hass erfüllt die hochaufragende Gestalt des Vaters anstarrend.

Und jetzt konnte sie auch die Worte verstehen.

»Du hast ihn umgebracht.«

»Nein«, entgegnete ihr Vater. »Er ist tot zur Welt gekommen.«

Das kleine Mädchen sah dabei zu, wie ihre Mutter den Kopf langsam schüttelte und dabei die Augen schloss. »Nein. Mein Baby war noch am Leben. Ich spürte, wie es sich bewegte. Es war noch am Leben, und du hast es umgebracht.«

Eine Bewegung lenkte das Mädchen ab, und ihre Augen verließen das von Qualen gezeichnete Gesicht ihrer Mutter. Es stand noch jemand im Zimmer, aber das Mädchen konnte ihn nicht erkennen, bis er sich umdrehte.

Es war der Doktor, und in seinen Armen lag ein kleines, von Decken umwickeltes Bündel. Eine Falte von der Decke sank herunter, und das Mädchen konnte das Gesicht des Babys sehen - seine Augen waren geschlossen, seine runzlige Gestalt war kaum zu sehen im Flackerlicht der Lampe.

An seiner Regungslosigkeit erkannte sie, dass es tot war.

»Geben Sie es mir!«, hörte sie ihre Mutter verlangen. Dann, mit flehentlicher Stimme: »Bitte, so geben Sie es mir doch...«

Aber der Doktor sagte nichts, sondern legte die Decke wieder um das Gesicht des Babys und wandte sich ab. Dann erfüllten die Schreie ihrer Mutter die Nacht, und als das Mädchen kurz darauf wieder nach dem Doktor schaute, hatte er das Zimmer bereits verlassen. Jetzt, da sie wieder allein waren, warf ihr Vater ihrer Mutter einen durchdringenden Blick zu.

»Ich habe dich gewarnt«, sagte er. »Ich habe dich gewarnt, dass Gott dich strafen würde - und er hat es getan.«

»Du bist es gewesen«, widersprach ihre Mutter, und ihre Stimme war vor Schmerz und Verzweiflung ganz schwach geworden. »Es war nicht die Strafe Gottes, du warst es.« Ihre Stimme brach, und sie begann hemmungslos zu schluchzen, ohne sich die Tränen aus den Augen zu wischen. »Es hat gelebt, und du hast es umgebracht. Du hattest nicht das Recht dazu - du hattest kein Recht...«

Das Mädchen sah, wie sich plötzlich die Tür öffnete und ihr Bruder eintrat. Er stand einen Moment lang unbeweglich da und starrte auf ihre Mutter. Er wollte etwas sagen, aber bevor er ein einziges Wort aussprechen konnte, stürzte sein Vater auf ihn zu.

»Hinaus!« Dann sah das Mädchen, wie ihr Vater zum Schlag ausholte und ihren Bruder mit der Faust seitlich am Kopf traf, so dass ihn die Wucht des Schlages gegen die Wand prallen ließ. Ihr Bruder sank zusammengekrümmt zu Boden. Eine Zeitlang, die dem Mädchen endlos vorkam, lag er reglos da. Niemand sprach. Dann erhob er sich langsam und blickte ihren Vater an.

Er öffnete den Mund zum Sprechen, aber kein Wort kam hervor. Seine Augen glühten vor Hass, als er seinen Vater anstarrte. Dann wandte er sich um und stolperte aus dem Zimmer.

Das Mädchen zog sich vom Fenster zurück, sie nahm den Sturm, der ihr immer noch heftig zusetzte, nicht mehr wahr, so sehr waren ihre Gedanken mit dem Gesehenen und Gehörten beschäftigt, von dem sie instinktiv begriff, dass es nicht für ihre Augen und Ohren bestimmt gewesen war. Sie hätte auf ihren Vater hören und im Keller bleiben sollen, bis jemand sie abgeholt hätte.

Sie machte sich auf den Weg zurück zum Keller. Vielleicht konnte sie, wenn sie sich große Mühe gab, alles aus ihrer Erinnerung auslöschen, so tun, als hätte sie nichts davon gesehen oder gehört, sich davon überzeugen, dass sie niemals den Keller verlassen, niemals die Qualen ihrer Mutter und den Zorn ihres Vaters miterlebt hatte. Und dann sah sie, nur wenige Meter von sich entfernt, ihren Bruder und rief nach ihm.

Er wandte ihr das Gesicht zu, aber sie wusste, er sah sie nicht. Seine Augen waren stumpf, und er schien an ihr vorbeizuschauen, hinaus in den Sturm und die Nacht.

»Bitte«, flüsterte das Mädchen. »Hilf mir. Bitte hilf mir...«

Aber wenn sie ihr Bruder gehört hatte, gab er es nicht zu erkennen. Stattdessen drehte er sich um, als ob er dem Ruf einer anderen Stimme folgte, die das Mädchen nicht hören konnte, verließ das Haus, den Hof und verschwand in der Prärie. Gleich darauf war er verschluckt vom Sturm und von der Nacht. Allein ging das Mädchen zum Sturmkeller zurück.

Sie kletterte die Stufen durch das Loch hinab, auf dem zuvor die Luke gelegen hatte, und ging in ihre Ecke zurück. Sie zog die Jacke fest um sich, aber weder die Jacke noch der offene Keller konnten sie schützen.

Die ganze lange Nacht über saß sie zusammengekauert dort, gepeitscht vom Sturm und in Gedanken an die Szene, die sie miterlebt hatte, die sie quälte, die sich tief in ihre Seele bohrte.

Nach dieser Nacht sprach sie nie davon, was sie gesehen oder gehört hatte. Sie sprach niemals davon, aber sie vergaß es auch nicht.

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

 

»Bist du mein Großvater?«

Michael Hall blickte unsicher zu dem verwitterten Gesicht empor. Er hatte den Mann nie zuvor gesehen, und doch erkannte er ihn so deutlich, als ob er in einen Spiegel blickte. Er versuchte, mit fester Stimme zu reden, nicht zu seiner Mutter zurückzuweichen, sich an all das zu erinnern, was ihn sein Vater über die erste Begegnung mit fremden Menschen gelehrt hatte:

Gerade stehen, die Hand zum Gruß ausstrecken.

Den Leuten stets in die Augen sehen.

Sag ihnen deinen Namen. Diesen Teil hatte er vergessen.

»Ich - ich bin Michael, und das ist meine Mutter«, stammelte er.

Er spürte, wie seine Mutter die Hand fester um seine Schulter schloss. Einen Moment lang fürchtete er, etwas Falsches gesagt zu haben. Aber dann lächelte der Mann ihn an, und er fühlte, wie sich der Griff seiner Mutter etwas lockerte.

Er sieht aus wie Mark. Er sieht genauso aus wie Mark. Dieser Gedanke schoss Janet Hall durch den Kopf, und sie musste ihre ganze Willenskraft aufbringen, um sich nicht in die Arme des Fremden zu werfen, der nun auf sie zuging und mit einem gezwungenen Lächeln vergeblich seinen besorgten Blick zu überspielen versuchte. Sie nahm kaum die Menge der Flughafenbesucher um sie herum wahr, musste sich ganz auf die hagere, knochige Gestalt ihres Schwiegervaters konzentrieren, auf die Kraft, die sein Gesicht ausdrückte, auf die ruhige Selbstbeherrschung, die er, wie sein Sohn, auf seine Umgebung auszustrahlen schien. Unbewusst fuhr sie sich mit der Hand an die Taille und strich sich mit einer nervösen Geste den Rock glatt.

Alles wird gut werden, sagte sich Janet. Er ist genau wie Mark, und er wird für uns sorgen.

Als ob er Janets Gedanken gelesen hätte, beugte sich Amos Hall hinab und hob mit einem Schwung seinen elf Jahre alten Enkel hoch, als wollte er mit der Körperkraft des Farmers verleugnen, dass er schon 67 Jahre alt war. Er drückte den Jungen an sich, aber als er Janet über Michaels Schulter hinweg anblickte, lag in seinen Augen keine Freude.

»Es tut mir leid«, sagte er und sprach so leise, dass niemand außer Janet und Michael ihn hören konnte. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. All die Jahre, und wir begegnen uns erst jetzt, wo Mark...« Seine Stimme stockte, und Janet sah, wie er gegen seine Gefühle ankämpfte. »Es tut mir leid«, wiederholte er, und seine Stimme war plötzlich schroff. »Lasst uns euer Gepäck holen und fortgehen. Wir können im Auto reden.«

 

Aber sie redeten nicht im Auto.

Schweigend fuhren sie aus Northplatte heraus und in die Weite der Prärie hinein, alle drei auf dem Vordersitz von Amos Halls Oldsmobile zusammengedrängt, Janet und Amos durch Michael getrennt. Die Betäubung, die Janet in der Nacht zuvor ergriffen hatte, als sie vom Tod ihres Mannes erfahren hatte, wirkte immer noch auf sie, und sie war sich immer noch nicht ganz bewusst, wo sie sich eigentlich befand und was der Grund für ihr Hiersein war. Sie hatte das Gefühl, in einem Alptraum gefangen zu sein, und sie wartete darauf, dass jede Sekunde Mark sie aufwecken kam und ihr versicherte, dass alles in Ordnung war, alles so, wie es immer gewesen war.

Aber das... war ihr nicht vergönnt.

Meile um Meile ließen sie hinter sich. Schließlich warf Janet einen Blick hinüber zu ihrem Schwiegervater, der aufmerksam die pfeilgerade Straße vor ihm zu studieren schien, die Augen auf die schimmernde Fahrbahn geheftet, als ob auch er allein durch Konzentration verdrängen konnte, was geschehen war.

Janet räusperte sich, und Amos wandte den Blick für den Bruchteil einer Sekunde von der Straße. »Marks Mutter...«

»Sie verlässt Prairie Bend niemals«, entgegnete Amos, und sein Blick richtete sich wieder auf die Straße. »Geht sogar kaum einmal aus dem Haus, genauer gesagt. Sie kommt zurecht, und das Leben...« Er zögerte, und Janet sah, wie sich seine Kehle verkrampfte. »Das Leben ist nicht gerade zimperlich mit ihr umgegangen«, schloss er. Dann: »Die Beerdigung wird morgen früh sein.«

Janet nickte stumm, erleichtert, dass die Entscheidung schon getroffen war; dann verfiel sie erneut in Schweigen.

Eine Stunde später erreichten sie die Farm der Halls. Das alte zweistöckige Haus war nicht groß, aber Janet schien es, als besäße es ein Eigenleben, wie es so fest auf seinem Fundament saß, umgeben von einem Hain aus Ulmen und Pappeln, vor der unendlichen Weite der Prärie geschützt, die sich in alle Richtungen zum Horizont erstreckte, bis auf einen Abschnitt, wo Baumbestand den Verlauf eines Flusses markierte, der nach Osten floss und schließlich in den Platte mündete.

»Wie heißt dieser Fluss?«, fragte Michael plötzlich, und seine Frage lenkte Janets Aufmerksamkeit von ihrem Schwiegervater ab.

»Der Trübe«, entgegnete Amos, als er vor dem Haus anhielt. Gleich darauf nahm er Janets Gepäck aus dem Kofferraum. Mit einem Koffer in jeder Hand ging er die Stufen der Vorderveranda hoch, gefolgt von Janet und Michael. Plötzlich öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle erschien eine Gestalt - eine Frau, mager und hohlwangig - die den Eindruck machte, als hätte sie ihr ganzes Leben in ständigem Kampf mit der unerbittlichen Prärie verbracht.

Sie saß in einem Rollstuhl.

Janet spürte Michael neben ihr erschauern und nahm ihn bei der Hand.

»Wir sind wieder da«, hörte sie Amos Hall zu der Frau sagen. »Das ist Marks Janet, und das ist Michael.«

Die Frau im Rollstuhl starrte sie einen Moment lang schweigend an. Ihr von Alter und Gebrechlichkeit verhärmtes Gesicht trug etwas Verstörtes in sich, und ihre rotunterlaufenen Augen wirkten beinahe leblos. Aber gleich darauf lächelte sie - ein mildes Lächeln, das einige Jahre von ihrem Antlitz wegzuwischen schien. »Komm her«, sagte sie und breitete ihre Arme weit aus. »Komm her und lass dich umarmen.«

Die Betäubung, die Janet seit letzter Nacht verspürt hatte, die Betäubung, die sie an diesem Tag ständig umschlossen und ihre Selbstbeherrschung aufrechterhalten hatte, als sie ihre Sachen gepackt, ein Taxi bestellt und mit Michael von Manhattan zum Flugplatz gefahren war, die Betäubung, die ihr während des Umsteigens in Omaha, bei der Ankunft in North Platte und bei der Fahrt nach Prairie Bend eine Stütze gewesen war, fiel nun von ihr ab.

»Er ist tot«, und ihre Stimme erstarb, nun da sie sich zum ersten Mal offen eingestand, was geschehen war. Sie ließ Michaels Hand los, wankte die Stufen hinauf und sank neben

Anna Halls Rollstuhl auf die Knie. »Oh, Gott, warum ist ihm das passiert? Warum musste er sterben? Warum?«

Anna legte ihre Arme um Janet und wiegte den Kopf ihrer Schwiegertochter an ihrer Brust. »Schon gut, Kind«, tröstete sie. »Manchmal geschehen Dinge, und man kann nichts dagegen tun. Wir müssen sie einfach hinnehmen.« Über Janets Kopf hinweg streifte ihr Blick kurz ihren Mann und blieb dann auf Michael ruhen, der unsicher am Fuß der Stufen stand und in einer Mischung aus Faszination und Besorgnis seine Mutter anstarrte. »Du auch, Michael«, drängte Anna sanft. »Komm in die Arme von Großmutter, und lass dich trösten.«

Der Junge blickte hoch, und als seine Augen die ihren trafen, fühlte Anna eine Woge der Erinnerung über sich zusammenschlagen. In dem Jungen sah sie den Vater. Und als sie ihren Sohn in den Augen ihres Enkels erkannte, begann sie, sich zu fürchten.

Amos Hall führte Janet und Michael die enge Treppe zum ersten Stock hoch, wo drei große Schlafzimmer und ein großzügig ausgestattetes Badezimmer an den Korridor grenzten, der das Haus in zwei Teile teilte. Er öffnete die Tür zum ersten Schlafzimmer, und trat zur Seite, um Janet vorbeizulassen. »Hier wirst du wohnen. War früher Lauras Zimmer.«

»Laura?«, wiederholte Janet mit einem Ton in der Stimme, der sogar ihr selbst verwirrt vorkam. »Wer ist Laura?«

Amos runzelte die Stirn und sagte mit düsterem Blick: »Marks Schwester. Bevor sie heiratete, war das ihr Zimmer.« Er zögerte einen Moment, dann, als er merkte, dass eine Erklärung notwendig war, fuhr er fort. »Ich wollte eine Abstellkammer oder ein Arbeitszimmer daraus machen. Ich bin nur nie dazu gekommen.«

Janet blickte in das Zimmer, nach außen hin in aller Ruhe seine Einzelheiten musternd, während sie krampfhaft ihr Gedächtnis nach der Information durchforstete, die ja da sein musste, die ihr nur irgendwie entfallen war.

Der Name Laura sagte ihr nichts.

Die Vorstellung davon, dass Mark eine Schwester haben konnte, sagte ihr nichts.

Aber das war doch lächerlich. Wenn Mark eine Schwester gehabt hatte, dann musste er doch einmal in all den Jahren von ihr erzählt haben. Sie hatte es einfach vergessen. Eine Art von Amnesie, vielleicht: irgendwie, während der letzten Stunden des Schocks, musste sie die Erinnerung daran verloren haben.

»Es ist wirklich schön«, sagte sie schließlich, darauf achtend, dass ihre Stimme nicht verriet, wie verunsichert sie war. Sie schaute sich noch einmal im Zimmer um und zwang sich dieses Mal zur Konzentration. Das Zimmer hatte nichts Besonderes an sich; es war nur ein Zimmer, mit Bett, Stuhl, Nachttisch und Frisierkommode. Eine Tagesdecke aus Chenille verbarg die etwas durchgelegene Matratze, und ein geflochtener Teppich bedeckte fast ganz den Parkettboden. Am Fenster hingen Vorhänge, die etwas zu kurz waren, und ein Bild aus einem Sears-Katalog ging Janet durch den Kopf. Gleich darauf wurde ihr der Zusammenhang klar: Die Vorhänge waren dieselben, wie die, die sie als kleines Mädchen in ihrem eigenen Zimmer gehabt hatte, die ihr ihre Mutter aus dem Sears-Katalog bestellt hatte, in einer Größe, die ungefähr, aber eben nicht ganz zu den Fenstern passte. Sie ließ den Gedanken freien Lauf, und der Rest der Erinnerungen strömte auf sie ein, Erinnerungen, die sie absichtlich unterdrückt, von denen sie gehofft hatte, dass sie ihnen niemals wieder begegnen würde:

Das Feuer, als das Haus, in dem sie geboren war, bis auf die Grundmauern abbrannte, das Feuer, das alles, was sie liebte - einschließlich ihrer Eltern und ihres Bruders - verzehrt hatte, und nur sie übrigließ, so dass sie von einer Reihe von Tanten aufgezogen werden musste, die alle irgendeinen Vorwand gefunden hatten, sie immer wieder weiterzureichen, bis sie schließlich achtzehn Jahre geworden und nach New York gegangen war, um für sich allein zu sorgen. Ein Jahr später hatte sie Mark geheiratet.

Und hier waren jetzt wieder diese Versandhausvorhänge und brachten die Erinnerungen zurück. Sie sank auf das Bett, unwillkürlich sich mit einer Hand die Augen bedeckend, da sie spürte, wie ihr die Tränen ausbrachen.

»Bist du in Ordnung?«, hörte sie ihren Schwiegervater fragen. Sie holte tief Atem und zwang sich zu einem Lächeln.

»Es geht schon wieder. Es ist nur, dass - dass...«

Aber Amos Hall unterbrach sie. »Leg dich für eine Weile hin. Leg dich einfach hin und versuch, etwas zu schlafen. Ich werde mich um Michael kümmern, und später werden wir reden. Aber jetzt versuche erst mal etwas zu schlafen.« Amos nahm den Jungen fest bei der Hand, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Janet lag lange auf dem Bett und versuchte, sich zu beruhigen, die Erinnerungen aus der Vergangenheit ruhen zu lassen und die Probleme der Gegenwart zu bewältigen.

Laura.

Sie würde sich auf Laura konzentrieren.

Irgendwo in ihrer Erinnerung musste doch etwas über Marks Schwester sein, und wenn sie sich konzentrierte, würde es ihr auch wieder einfallen. Es war einfach unmöglich, dass Mark in den dreizehn Jahren ihrer Ehe niemals seine Schwester erwähnt haben sollte. Es war einfach unmöglich...

Und dann machte sich die Erschöpfung der vergangenen Stunden bemerkbar, und sie schlief ein.

 

Michael blickte voller Scheu in das Zimmer, in das ihn sein Großvater gewiesen hatte. Es war das Zimmer eines Jungen, die Wände waren mit Baseball- und Footballwimpeln bedeckt. Von der Decke hingen vier Modellflugzeuge, im Flug erstarrt, als ob sie in ein Nahkampfgefecht verwickelt wären. Über dem Bett war ein Bücherbrett, und Michael erkannte einige Bücher, ohne ihren Titel zu lesen: Dieselben Bände standen auf seinem eigenen Bücherbrett daheim in New York. »War dies das Zimmer meines Vaters?«, fragte er schließlich.

»Das ist das ganze Zeug, was er als Junge so hatte«, entgegnete sein Großvater. »Die ganzen Jahre über war es hier. Ich hätte es wahrscheinlich wegwerfen sollen, aber nun bin ich froh, dass ich es nicht getan habe. Vielleicht habe ich es nur für dich aufgehoben.«

Michael runzelte die Stirn und betrachtete misstrauisch seinen Großvater. »Aber du wusstest nicht, dass ich kommen würde.«

»Aber du wärst schon einmal gekommen, oder?«, gab Amos zurück. »Irgendwann wärst du doch gekommen, um deine Großeltern zu besuchen?«

Michael schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass Dad hierherkommen wollte. Ich glaube, ihm gefiel es hier nicht.«

»Na, wie kommst du denn auf so etwas?«, fragte Amos, während er sich auf der Bettcouch niederließ und Michael neben sich zog.

»Weil er jedes Mal, wenn ich ihn fragte, ob wir auf Besuch kommen könnten, sagte: vielleicht nächstes Jahr. Das sagte er immer, und jedes Mal, wenn ich sagte, dass er das letztes Jahr schon gesagt hätte, meinte er, er hätte ja nur vielleicht gesagt. Deswegen glaube ich, er wollte nie wirklich kommen, stimmt's?«

»Vielleicht hat er auch nur nie Zeit gehabt«, vermutete Amos.

Michael zuckte die Achseln und löste sich langsam von seinem Großvater. »Er ist immer mit uns in Ferien gefahren. Einmal waren wir in Florida, und zweimal gingen wir in die Berge zum Zelten.« Plötzlich lächelte er verschmitzt. »Das war toll. Warst du schon mal Zelten?«

»Schon seit Jahren nicht mehr. Aber warum sollten wir nicht mal wieder gehen, jetzt, wo du da bist. Hättest du Lust?«

Das Lächeln auf Michaels Gesicht verschwand. »Ich weiß nicht, ich bin immer mit meinem Dad Zelten gegangen.« Er wurde einen Moment lang still, dann wandte er sich um und blickte seinem Großvater ins Gesicht. »Warum ist mein Vater gestorben? Warum ist er eigentlich hierhergekommen, ohne uns mitzunehmen? Ohne überhaupt etwas zu sagen?« Eine Spur Zorn lag nun in seiner Stimme. »Er sagte, er wolle nach Chicago gehen.«

»Er ging auch nach Chicago«, entgegnete Amos. »Dann kam er hierher. Ich weiß wirklich nicht genau, warum.«

Michael kniff die Augen zusammen. »Das heißt, du willst es mir nicht sagen.«

»Das heißt, dass ich es nicht weiß«, sagte Amos barsch und stand auf. Er zögerte, dann nahm er Michaels Kinn in seine raue Hand und zwang den Jungen, ihn anzusehen. »Wenn du meinst, dass ich dir etwas nicht sage, weil ich dich für zu jung halte, dann hast du dich getäuscht. Ich halte nichts von diesem Unfug. Wenn ein Junge alt genug ist, eine Frage zu stellen, dann ist er auch alt genug für die Antwort.« Seine Hand ließ Michaels Gesicht los, aber er musterte weiterhin seinen Enkel mit einem unbeugsamen Blick. »Ich weiß nicht, warum dein Vater hierhergekommen ist«, sagte er. »Alles, was ich sagen kann, ist, dass er gestern hier angekommen und letzte Nacht gestorben ist.«

Michael starrte seinen Großvater lange Zeit an, und als er schließlich sprach, zitterte seine Stimme. »Aber warum ist er gestorben? Er war nicht krank, oder?«

»Es war ein Unfall«, sagte Amos kurz angebunden. »Er war in der Scheune, oben im Speicher. Er muss über etwas gestolpert sein.«

Das Misstrauen kehrte in Michaels Augen zurück. »Über was?«, fragte er fordernd.

Amos wurde etwas abweisender. »Ich weiß es nicht - keiner weiß es. Jedenfalls fiel er von der Speicherrampe in die Heuwanne.«

Michael runzelte die Stirn. »Was ist eine Heuwanne?«

»Auf einer Farm stapelt man das Heu in Ballen auf dem Speicher. Wenn man die Tiere im Stall füttern will, wirft man etwas Heu vom Speicher hinunter in die Heuwanne.«

»Wie tief ist das?«

»Ungefähr drei Meter.«

Michaels Stirnrunzeln verstärkte sich. »Ich bin schon einmal so tief gefallen, und ich habe mir dabei nur den Knöchel verstaucht.«

Amos zögerte mit seiner Antwort. »Aber du bist nicht in eine Heugabel gefallen, stimmt's?«

Michael schaute ihn groß an. »Eine Heugabel?«

Amos nickte. »Eine große Gabel, mit vier Zacken. Man benutzt sie, um Heu zu wenden. Sie lag in der Wanne, und dein Vater ist drauf gefallen.«

Plötzlich sprang Michael auf, sein Gesicht vor Wut verzerrt. »Nein! So ist es nicht gewesen!« Seine Stimme wurde lauter, während er seinen zornigen Blick unablässig auf seinen Großvater heftete. »Mein Dad ist nicht gefallen - das wäre ihm nie passiert. Jemand muss ihn gestoßen haben. Jemand hat ihn umgebracht, nicht wahr? Jemand hat meinen Vater umgebracht!«

Michael riss die Fäuste hoch, bereit auf seinen Großvater einzuschlagen, aber Amos griff nach ihm und hielt Michael an beiden Armen mit einer Hand fest.

»Jetzt hör mir zu, junger Mann«, hörte er seinen Großvater sagen. »Was deinem Vater passiert ist, war ein Unfall. Niemand hat ihn gestoßen oder gar umgebracht. Es war ein Unfall, und es ist vorbei. Verstehst du?«

Michael starrte seinen Großvater an und setzte zum Sprechen an, aber etwas in den Augen des alten Mannes ließ ihn stumm bleiben. Er schluckte kräftig und nickte dann. Der eiserne Griff seines Großvaters löste sich, und seine Arme sanken herab.

»Noch etwas«, fügte Amos mit sanfter, aber nicht weniger gebieterischer Stimme hinzu. »Wenn ich dir etwas sage, dann kannst du dich darauf verlassen, dass es die Wahrheit ist. Ich will also nicht noch einmal erleben, dass du mir widersprichst. Ist das klar?«

»Aber...«

Sein Großvater unterbrach ihn. »Du bist kein Baby mehr, also darfst du dich auch nicht wie eines benehmen. Du hast mich gefragt, was geschehen ist, und ich habe es dir gesagt.« Einen Moment lang schwieg er, dann fuhr er fort: »Wenn du keine Antwort haben willst, dann stell auch keine Frage. Und widersprich mir nicht mehr. Ich bin älter als du, und ich bin erfahrener als du, und ich halte nichts von Kindern, die keinen Respekt vor älteren Leuten haben. Alles klar?«

Einige Sekunden lang sagte Michael nichts, aber dann drangen aus der Tiefe seines Unterbewusstseins die passenden Worte. »Ja, Sir«, sagte er leise. Sein Großvater lächelte.

»Schön. Wir werden prächtig miteinander auskommen, du und ich. Jetzt richte dich hier ein, und wenn du fertig bist, komm herunter, und ich werde dich hier etwas herumführen. Und ich wette, deine Großmutter wird etwas Gutes im Backofen haben. Magst du Apfelkuchen?«

Michael nickte, aber sagte nichts.

»Na, ich wette, so einen, wie den von deiner Großmutter hast du noch nie probiert.« Er wollte aus dem Zimmer gehen, blieb aber stehen, als Michael plötzlich noch einmal sprach.

»Großvater, wieso kann Großmutter nicht laufen?«

Langsam drehte sich Amos Hall um und sah den Jungen an. »Ich hatte eben nicht ganz recht«, sagte er nach langem Schweigen. »Ich werde nicht alle deine Fragen beantworten, denn manche Fragen haben einfach keine Antworten. Und das... war genau so eine Frage. Ich weiß nicht, warum deine Großmutter nicht laufen kann, Michael. Es ist eben etwas, das vor langer Zeit geschehen ist.« Er drehte sich um und ließ Michael allein in dem Zimmer, das voll von Sachen war, die seinem Vater gehört hatten.

 

Anna Hall schaute vom Küchentisch auf, an dem sie im Rollstuhl saß und Erbsen für das Abendessen enthülste. »Nun? Kommen sie zurecht?«

Amos setzte sich auf einen Stuhl ihr gegenüber. »Wenn man's so nennen kann. Das Mädchen nimmt es schwer, glaube ich.«

Anna unterbrach einen Moment lang ihre Arbeit, aber wich immer noch dem Blick ihres Mannes aus. »Wir können nichts anderes von ihr erwarten, oder. Für uns ist das etwas anderes. Schließlich haben wir ihn schon zwanzig Jahre nicht mehr gesehen. Es war fast schon so, als wäre er tot...«

»Er war tot«, entgegnete Amos mit bitterer Stimme. »Für mich war er gestorben an dem Tag, als er hier fortging.«

»Sag das nicht, Amos«, bat ihn Anna. »Bitte sag das nicht mehr. Wenn Janet dich hört. Was soll sie denn denken?«

»Na, wenn schon. Was glaubst du, hat Mark ihr von uns erzählt? Du glaubst doch wohl nicht, dass er nichts von uns erzählt hat?« Als Anna weiter schwieg, wurde seine Stimme lauter. »Oder doch? Glaubst du wirklich, er hätte ihr nichts von dieser Nacht erzählt und von dem, was er zu sehen glaubte?«

Annas Augen wurden schmal. »Aber wenn er es getan hat, warum ist sie dann hier? Warum hat sie uns dann nicht Marks Leichnam nach New York überführen lassen? Ich glaube, er hat ihr nichts erzählt. Überhaupt nichts.«

Amos seufzte und stand auf. »Na, ist ja auch egal. Was zählt, ist, dass sie gekommen ist und das Kind mitgebracht hat.«

»Aber das heißt nicht, dass sie bleiben wird, Amos.«

»Sie wird bleiben«, entgegnete Amos grimmig. »Sie braucht uns jetzt, und wir werden für sie da sein. Sie wird bleiben. Dafür werde ich schon sorgen.«

Als Amos durch die Hintertür schritt, folgte Anna mit bitterem Blick dem aufrechten Gang ihres Mannes. Er hatte Recht, das musste sie sich eingestehen. Wenn Amos wollte, dass Janet und Michael in Prairie Bend blieben, dann würden sie auch bleiben. Und sie, die ihrem Mann in all den Jahren ihrer Ehe nie die Stirn hatte bieten können, würde das auch jetzt nicht können.

 

Michael lag still im Bett und lauschte auf die Geräusche der Nacht. Grillen zirpten zart, und das Muhen der Kühe klang durch die Dunkelheit. Seine Augen suchten die Modellflugzeuge, und er begann noch einmal, über seinen Vater nachzudenken.

Er konnte seinen Vater nicht fühlen.

Das, so fand er, war das Eigenartige an diesem Zimmer. Obwohl es voll war von den Sachen seines Vaters, konnte er ihn darin nicht fühlen.

Dies war etwas, das er noch nie erlebt hatte. Soweit er zurückdenken konnte, hatte er immer die Gegenwart seines Vaters spüren können, selbst dann, wenn er einmal nicht zu Hause war. Es war, als hätte sein Vater überall dort, wo er gewesen war, ein Stück von sich zurückgelassen, etwas, das Michael Halt gab. Es war etwas Besonderes zwischen ihm und seinem Vater, und obwohl sie niemals darüber gesprochen hatten, war Michael sich sicher, dass sein Vater es auch gefühlt hatte.

Und trotzdem - in diesem Zimmer, mit all den Sachen seines Vaters um ihn herum, konnte Michael ihn nicht fühlen.

Aber er hatte ihn im Traum gefühlt.

Im Traum hatte er seinen Vater im Heuspeicher stehen sehen, und er hatte noch jemand anderes gesehen, jemand, den er nicht deutlich erkennen konnte, in der Nähe seines Vaters.

Und dann war da eine blitzartige Bewegung gewesen, und plötzlich war sein Vater über den Rand gestürzt und gefallen.

Es war, als würde Michael selbst fallen, doch obwohl er sich unendlich tief in die Heuwanne hineinstürzen fühlte, konnte er auch seinen Vater in die Dunkelheit hineinfallen sehen.

Er hatte die Heugabel gesehen, der Stiel im Heu verborgen, die vier blinkenden Zinken senkrecht nach oben gerichtet. Sie warteten auf ihn, warteten auf seinen Vater.

Er versuchte zu rufen, zu schreien, aber kein Laut drang aus seiner Kehle.

Und dann spürte er den kalten, messerscharfen Stahl in sein Fleisch eindringen, aber gerade als die Heugabel ihn aufspießte, sah er, dass nicht er selbst auf die gefährlichen Zinken gefallen war, sondern sein Vater. Obwohl er nun wusste, dass nicht er es war, der starb, spürte Michael den Schmerz, fühlte er die Todesqual, die durch den Körper seines Vaters schoss, fühlte er den Tod nach seinem Vater greifen.

Und oben war noch jemand anderes und schaute zu...

Es war nur ein Traum, doch tief im Inneren wusste Michael, dass es mehr war als bloße Einbildung.

Es war ein Stück der Wirklichkeit.

 

 

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

 

So sehr sie sich auch bemühte, Janet Hall konnte sich nicht auf das konzentrieren, was um sie herum vorging. Allen Dingen haftete etwas Falsches an, und sie bemerkte, wie sie sich an Nichtigkeiten verlor. In der Wärme des Frühlingsmorgens sah sie sich auf einmal so, wie sie jetzt hätte sein sollen, sah sich die Madison Avenue hinunterschlendern, am Carlyle Hotel vorbei zur American Expression hinüber, der Boutique, die gewöhnlich das Ziel ihrer Einkaufsbummel am Mittwochmorgen war.

Und Michael hätte jetzt in seinem Klassenzimmer in der Manhattan School sitzen und so tun sollen, als würde er seinem Lehrer zuhören. Was er natürlich nie tat. Stattdessen blinzelte er in den herrlich sonnigen Morgen hinaus und träumte davon, das Wochenende zusammen mit Mark beim Zelten in den Berkshires zu verbringen.

Und Mark. Mark sollte nun eigentlich bei seinem Elf-Uhr-Seminar sein, wo er sich die Brille putzte und die Pfeife stopfte, während er seine Anmerkungen zu den Auswirkungen des Vietnam-Krieges auf Mittelstandsfamilien< überflog.

So sollte es sein. Eine typische Familie-wenn nicht gar eine lächerlich stereotype Familie, wie Mark sie einmal bezeichnet hatte, die in alltäglicher Routine ihr normales, stereotypes Leben führte. Aber die Dinge waren selten so, wie sie sein sollten, und heute war überhaupt nichts so, wie es sein sollte.

Alles war falsch, alles war unwirklich.

Mark war tot.

Es war eine Tatsache, die sie akzeptieren musste. Wenn sie dazu fähig war, würde alles andere auch gehen, und sie würde sich wieder in ihrer Umgebung zurechtfinden können.

Sie zwang sich in die Wirklichkeit zurück, holte sich gewaltsam aus New York nach Prairie Bend und richtete ihre Augen auf den Sarg, der neben dem offenen Grab stand. Das ist Mark, sagte sie sich. Das ist alles, was von ihm übrig ist, und in ein paar Minuten werden sie ihn da hinunterlassen und ihn zuschütten, und dann ist er fort. Fort. Im Stillen wiederholte sich das Wort, aber es hatte noch keine echte Bedeutung für sie. Mark konnte nicht fort sein, nicht für immer. Es war nicht gerecht. Und das war, wie sie in einem Moment plötzlicher Klarheit erkannte, der Schlüssel zu allem. Es war nicht gerecht.

Es war unmöglich - einfach unmöglich, dass er tot sein sollte, dass er sie alleingelassen hatte mit Michael - mit Michael und dem Baby. Sie hatte den Halls noch nichts von dem Baby erzählt, und scheinbar hatten sie auch nichts bemerkt. Aber bald würde sie es ihnen sagen müssen. Und auch Michael.

Und wieder ging ihr dieser böse, treulose Gedanke durch den Kopf: Alles war nur Marks Schuld. Wenn er gleich von Chicago nach Hause gekommen wäre, wie er es sich auch vorgenommen hatte, wäre das alles nicht passiert. Seit Jahren schon war er nicht mehr in Prairie Bend gewesen. Jedenfalls nicht mehr, seit sie ihn kannte. Warum war er ausgerechnet jetzt zurückgekehrt?

Es ergab keinen Sinn.

Eine Welle von Übelkeit überfiel sie, die morgendliche Übelkeit, die sie nun schon viel länger als gewöhnlich plagte. Janet kämpfte hartnäckig dagegen an. Mir wird nicht schlecht werden, sagte sie sich. Mir wird bei Marks Beerdigung nicht schlecht werden. Ich werde das durchstehen. Plötzlich spürte sie an ihrem Ellbogen eine stützende Hand, und als sie aufblickte, sah sie Amos Hall, wie er sie sorgenvoll anschaute mit seinen blauen Augen, blau wie Marks Augen. Sie verbannte alles andere aus ihren Gedanken, ergriff die Hand ihres Schwiegervaters und zwang sich, dabei zuzusehen, wie man den Sarg ihres Mannes in die Erde senkte.

 

Michael stand schweigend neben seiner Mutter und versuchte angestrengt, auf das zu achten, was der Pfarrer über seinen Vater erzählte. Wenn er aufmerksam zuhörte, würden vielleicht seine Kopfschmerzen verschwinden. Aber so sehr er sich auch Mühe gab, er konnte sich nicht konzentrieren, denn was der Pfarrer sagte, schien überhaupt nichts mit seinem Vater zu tun zu haben. Zumindest nichts mit dem Vater, den er gekannt hatte. Der Pfarrer sprach unaufhörlich davon, wie wichtig es sei, ein Zuhause zu haben und inmitten der Seinen zu leben und zu sterben, und Michael konnte beim besten Willen keinen Zusammenhang zwischen diesen Worten und seinem Vater erkennen. Meinte der Pfarrer etwa, dass sein Vater nicht gestorben wäre, wenn er Prairie Bend niemals verlassen hätte? Aber das ergab keinen Sinn - er war ja in Prairie Bend gewesen, als er gestorben war.

Gestorben. Bis zum gestrigen Tag hatte das Wort wirklich keine Bedeutung für Michael gehabt. Leute starben, aber nicht die, die man kannte, schon gar nicht der eigene Vater. Und doch war es geschehen. Er starrte den Sarg an, wusste, dass dies das letzte war, was er von seinem Vater sehen würde, aber selbst jetzt konnte er nicht glauben, dass sein Vater in der Holzkiste lag, dass er wirklich hier beerdigt wurde, dass er wirklich für immer fort war. Das konnte nicht sein...

Er nahm eine Bewegung neben sich wahr und spürte, wie seine Mutter seine Hand drückte. Die Predigt war zu Ende. Der Pfarrer hatte sich gebückt und einen Klumpen schwarzer Erde aufgehoben, den er über das offene Grab hielt. Es war alles vorbei, und sein Vater war nicht mehr da.

»Erde zu Erde, Staub zu Staub...« Starke Finger zerdrückten den Erdklumpen, und gerade als Michael hinschaute, brach er auseinander, Schmutz prasselte auf den Sarg, mit einem dumpfen Geräusch, das Michael die Kehle zuschnürte. Ein Schluchzen neben ihm sagte ihm, dass seine Mutter weinte, und plötzlich schossen auch ihm die Tränen in die Augen. Zaghaft ließ Michael die Hand seiner Mutter los, zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte. Auf seiner Schulter spürte er die Hand seiner Mutter. Dann war es vorbei. Er wandte sich vom Grab seines Vaters ab.

Als er sich umdrehte, erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Ein Schimmer. Eine Bewegung. Zuerst wusste er nicht recht, was es war, doch als seine Augen die Ebene absuchten, glaubte er zu erkennen, dass es das Sonnenlicht war, das von einem Wetterhahn zurückgeworfen wurde, der auf dem First eines verwitterten Schuppens ungefähr eine halbe Meile entfernt stand.

»Alles in Ordnung?«, fragte Amos Hall.

Michael nickte. »Ich dachte, ich hätte etwas gesehen. Da draußen.«

Sein Großvater folgte seinem Blick, zuckte mit den Achseln. »Da wohnt Ben Findley. Dort gibt's nicht viel zu sehen. Hält es nicht so in Schuß, wie er sollte. Kommt vom Alleinsein.«

»Hat er denn keine Frau?«, fragte Michael.

Sein Großvater zögerte, dann schüttelte er den Kopf und zog Michael mit sich. »Hatte mal eine, Vorjahren. Aber sie hat ihn verlassen. Und du bleibst am besten weg von dort.«

Michael blieb stehen, drehte sich um, um noch einen Blick auf die Farm zu werfen, die plötzlich interessant für ihn geworden war. »Warum?«

Sein Großvater lächelte schwach. »Weil Ben Findley keine Kinder mag«, sagte er. »Er mag überhaupt niemanden, und Kinder schon gar nicht.«

Er schaute noch einmal zum Grab zurück, dann zog er ein Taschentuch hervor und wischte sich über die Augen. »Er hätte schon vor langer Zeit zurückkommen sollen«, murmelte er wie zu sich selbst. »Und auch euch mitbringen. Aber jetzt, wo ihr da seid, wollen wir Zusehen, dass ihr auch bleibt.«

Nun ging er zum Wagen. Anna hatte gerade Janets Angebot, ihr zu helfen, abgelehnt und stemmte sich aus ihrem Rollstuhl auf den Rücksitz des Oldsmobiles, klappte den Stuhl zusammen und zog ihn zu sich herein.

»Siehst du?«, sagte sie zu Janet, als sie losfuhren. »Es kommt nur darauf an zu entscheiden, was das Beste ist, und es dann auch zu tun. Genauso musst du es jetzt auch machen. Entscheide, was das Beste ist, und dann tue es. Mach dir nur keine Gedanken, Liebes - wir sind alle bei dir und werden dir helfen.«

Janet lehnte sich im Sitz zurück, schloss die Augen und dankte Gott insgeheim für die Familie, die Mark ihr hinterlassen hatte. Er mag sie nicht gebraucht haben, dachte sie, aber ich brauche sie. Mein Gott, wie sehr ich sie brauche...

 

Janet schaute auf die Uhr im Wohnzimmer und fragte sich, wie lange das wohl noch weitergehen sollte. Es war schon halb fünf, und es fiel ihr immer schwerer, gegen die Erschöpfung anzukämpfen. Die Luft war heiß und stickig, das Zimmer mit Leuten überfüllt, und Janet glaubte langsam, dass sie sich in einer hoffnungslosen Situation befand. Die Namen von Marks Schwester, Laura, ihrem Mann, Buck Shields, und deren Sohn Ryan, der etwa in Michaels Alter war, hatte sie behalten können - mehr aber auch nicht. Es war peinlich gewesen, ihnen vorgestellt zu werden, wo sie doch nicht einmal ein Ich habe schon viel von euch gehört sagen konnte. Sie hatte gehofft, dass sie Laura erkennen würde, wenn sie erst vor ihr stand, dass irgendetwas an ihr ihrem Gedächtnis wieder auf die Sprünge helfen würde, aber es war nicht so. Das einzige, was ihr sofort auffiel, war, dass Laura auch schwanger war, nur schon viel länger als sie selbst. Janet gelangte zu der Überzeugung, dass Mark in all ihren Ehejahren kein einziges Mal seine Schwester erwähnt hatte.

Warum?

Jedes Mal wenn sie Laura sah - eine zerbrechliche Erscheinung, deren Augen, selbst dann, wenn sie lächelte, noch seltsam ruhelos wirkten -, ging Janet die Frage durch den Kopf, warum Mark niemals von ihr gesprochen hatte. Immer wieder stellte sie diese Frage zurück und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf eine andere Person.

Um sie herum waren aber nur namenlose Gesichter, Leute, von denen sie hoffte, dass sie nicht gekränkt sein würden, wenn sie sie nicht mit derselben Vertraulichkeit begrüßen konnte, die sie ihr zuteilwerden ließen:

»Sie sind also Marks Janet.«

Marks Janet.

Immer wieder dieselben zwei Worte. »Marks Janet.« Zuerst war sie über diese beiläufige Anrede verärgert gewesen; sie war doch mehr als nur das Eigentum ihres Mannes. Doch als der Nachmittag zu Ende ging, hatte sie sich daran gewöhnt und entdeckte, dass die Redewendung eigentlich nicht kränkend gemeint war.

»Fehlt Ihnen etwas?«

Überrascht blickte Janet auf. Sie erkannte den Mann als jemanden, der ihr bereits vorgestellt worden war, aber wie allen anderen konnte sie auch ihm keinen Namen zuordnen.

»Potter. Dr. Charles Potter.«

Er war, so schätzte sie, Ende Fünfzig - vielleicht schon Anfang Sechzig - und sein Aussehen entsprach genau dem, was er war, ein Landarzt. Sein Haar war weiß, und er hatte das, was man früher als gepflegte Umgangsformen bezeichnet hätte. Und, obwohl sie es kaum glauben konnte, er trug tatsächlich einen bonbonfarbenen Anzug.

»Wie bitte?«, entfuhr es Janet.

»Fehlt Ihnen etwas?«, wiederholte Potter. »Sie sehen etwas angegriffen aus.«

»Es geht mir gut«, versicherte Janet, und dann fiel ihr auf, dass es hier im Zimmer viel zu warm war und ihr die Hitze in den Kopf stieg. Sie versuchte aufzustehen, musste aber feststellen, dass es ihr nicht gelang. »Ich muss zugeben, es geht mir gar nicht gut«, sagte sie schwach. »Wie sehe ich aus?«

Potter grinste und verlor dabei in Janets Augen ein Stück von seinem sorgfältig gepflegten Habitus. »Wie schon gesagt, ein wenig angegriffen. Was in dieser Gegend jeden Gesundheitszustand bezeichnet, der sich nicht mit ausgesprochen gut bezeichnen lässt. Und Sie sehen nicht ausgesprochen gut aus.« Als er weitersprach, wurde seine Stimme ernst. »Was kein Wunder ist unter diesen Umständen. Ich habe es auf der Beerdigung gesagt, ich habe es vorhin gesagt, und ich sage es noch einmal: Es tut mir leid um Mark. Er war ein guter Mensch.«

Janet nickte automatisch, da sie eine plötzliche Benommenheit und einen Anfall von Übelkeit verspürte. »Ich glaube, ich sollte mich besser etwas hinlegen«, meinte sie, und Potter sprang augenblicklich auf und gab Amos Hall ein Zeichen, woraufhin dieser herübereilte.

»Ich glaube, wir sollten sie hinaufbringen«, sagte Potter. »Das ist wohl alles etwas zu viel für sie gewesen.«

Plötzlich schien sie von allen im Zimmer angestarrt zu werden. »Nein - bitte - gleich geht es mir wieder gut, wirklich«, wehrte Janet ab, doch Amos, trotz seines Alters noch kräftig genug, hob sie hoch und trug sie die Treppe hinauf, gefolgt von Dr. Potter.

In ihrem Zimmer legte Amos sie behutsam aufs Bett und lächelte sie an. »Lass dich mal vom Doc anschauen, und Mutter und ich werden die Bande da unten mal fortschicken. Sie hätten schon vor Stunden gehen sollen, aber du weißt ja, wie das ist. Als ob es nicht reicht, wenn jeden Tag jeder jeden sieht. Für irgendwas lädst du sie ein, und dann reden und reden sie unaufhörlich.« Er ging, und Dr. Potter fühlte ihr den Puls. Gleich darauf hatte sie ein Thermometer im Mund, und Potter überschüttete sie mit Fragen nach ihrem Gesundheitszustand. Schließlich deckte er sie zu und riet ihr, etwas zu schlafen.

»Es war wahrscheinlich die Aufregung der letzten Tage«, fügte er hinzu. »Andererseits könnte es auch etwas Ernsteres sein, eine leichte Grippe oder ein Käferstich oder so etwas. Ich sag Ihnen was: Jetzt schlafen Sie, und morgen kommen Sie in meine Praxis, dann sehen wir mal nach. In Ordnung?«

Janet ließ sich erleichtert in die Kissen zurücksinken, als Potter die Tür hinter sich zugemacht hatte. Sie war müde, sie fühlte sich nicht wohl, und wenn sie sich schlafend stellte, ließ man sie wenigstens allein. Andererseits -

Langsam sank sie in tiefen Schlaf.

 

»Wann geht ihr wieder nach Hause?«, fragte Ryan Shields seinen Vetter. Nachdem sie sich anfangs gegenseitig etwas misstrauisch beäugt hatten, hatten die Jungen im Laufe des Nachmittags ein Bündnis geschlossen und waren schließlich aus dem Wohnzimmer ihrer Großmutter entkommen.