«Fasziniert von der dörflichen Kultur ihrer Um­­gebung, sind Aline Valangin Bilder von ­seltener Leuchtkraft ­gelungen.» ­Deutschlandfunk

Viele dieser Erzählungen hat Aline Valangin in Comologno im Onsernonetal geschrieben, um sie ihren Gästen, zu denen etwa auch ­Ignazio Silone gehörte, vorzulesen und Ab­wechslung in die langen Abende im abge­legenen Bergdorf zu bringen.

Die Erzählungen spielen denn auch in einem engen Tessiner Bergtal. Aline Valangin ist eine genaue Beobachterin des Dorfes und seiner Bewohner, und ihre Geschichten erzählen von Schlaumeiern und Revo­luz­zern, von Trinkern und Außenseitern, aber auch von Frauen, die den Unbill und die Härten des Lebens am direktesten zu spüren bekamen und zu ertragen hatten. Sie sucht in den Erzählungen nicht das idyllische, verklärte Tessin, sondern die urtümlichen, wilden Leidenschaften, ihre ­Figuren sind wahr, intensiv und lebendig.

Als Ganzes bilden die Erzählungen ein packendes Sittenbild des Tessins der Dreißiger- und Vierzigerjahre, unbeschönigt, realistisch, virtuos.

Aline Valangin

Tessiner Erzählungen

Limmat Verlag

Zürich

Porträt Aline Valanging

Aline Valangin (1889–1986), aufgewachsen in Bern. ­Aus­bildung als Pianistin. Verheiratet mit dem Anwalt ­Wladimir Rosenbaum. Im Zürich der Dreißigerjahre ­empfing und betreute sie in ihrem Haus Emigranten und Künstler. Tätigkeit als Psychoanalytikerin, Publizistin und Schriftstellerin. Befreundet mit ­Ignazio ­Silone und in zweiter Ehe verheiratet mit dem Komponisten Wladimir Vogel. Ab 1936 lebte sie im Tessin in Comologno und Ascona.

Zu diesem Buch

Dort wo das Pedemonte, also das Hinterland zwischen Locarno und Ascona, ins Centovalli übergeht, gleich nach dem reizvoll gelegenen Ort Cavigliano, beginnt zur rechten Hand die schmale und kurvenreiche Straße, die ins Onsernonetal und fast bis zur italienischen Grenze führt. Das Onsernone ist arm. Die Hänge sind steil und eignen sich kaum für die Landwirtschaft. Das Tal besteht zumeist aus Wald und steinigem Boden. Die wenigen Gärten und Felder genügen nicht, um die Bevölkerung zu ernähren. Das Sprichwort gilt: Die drei Wunder des Tessin sind die Brücke von Melide, der Kirchturm von Intragna – und der Hunger des Onsernone …

Die Not zwang die Männer der Gegend stets, anderswo Arbeit zu suchen. Sie wanderten über die gute Jahreszeit aus. Zumeist als Bauarbeiter in die Schweizer Städte, aber auch nach Frankreich. Unterdessen besorgten die Frauen die wenige Landarbeit, hielten sich einige Ziegen, Schafe und Hühner (selten nur eine Kuh) und sichelten, auf den Knien kauernd, das spärliche Gras an den Hängen. Zu Weihnachten kehrten die Männer zurück und brachten, nebst Geld, auch viel Lärm und Unruhe in die Dörfer. Wohl hatte längere Zeit hindurch eine Heimindustrie im Tal geblüht und den Leuten einigen Wohlstand gebracht: durch das Flechten von Strohborten. Der Weizen, der auf den spärlichen Äckern reifte, lieferte sehr weiches Stroh. Dieses konnte vorzüglich zu Tressen verarbeitet werden, die sich gut bis nach Florenz hinunter verkaufen ließen. Auch die Männer halfen den Winter über bei dieser Arbeit. Die Leute saßen am Kaminfeuer gemütlich beisammen. Sie ließen die flinken Finger spielen und der Lust am Schwatzen und Lachen freien Lauf, wie ihre heitere Art dies verlangte. Als Japan mit weit billigeren Preisen auf dem Markt er­schien, fiel die kleine Heimindustrie zusammen. Dies war schlimm genug für das Tal. Viel später wurde versucht, das Handweben für die Frauen einzuführen. Eine diplomierte Webmeisterin gab Kurse in Weben und Wollefärben. Auch schenkte der Kanton denjenigen, die dabei bleiben wollten, einen Webstuhl. In den Städten schuf man Absatzstellen für fertige Teppiche. Doch zeigte sich bald, dass das Weben diesen Frauen nicht entsprach. Sie waren es gewohnt, draußen zu werken, das magere Gras am Hang zu schneiden und in den Wäldern das Holz für den Winter zu sammeln. Das stundenlange Sitzen am Webstuhl, allein ohne Gefährtinnen, mochten sie nicht. Die meisten verkauften ihren Webstuhl. Damit war dieser Versuch der Selbsthilfe gescheitert.

Das vorletzte Dorf oben im Onsernone ist Comologno. Die Häuser stehen nahe beieinander. Sie sind mit Kalkfarbe getüncht: rosa, blau oder grün. Das Schwarz der langen Holzbalkone sticht ab von der Helle der Fassaden. Das Dorf, klein und bescheiden, besitzt etwas ganz Besonderes: den Palazzo della Barca. Er ist im Tessinband der «Bürgerhäuser der Schweiz» angeführt und zeugt vom Reichtum und vom guten Geschmack seiner Erbauer. Schon Bonstetten hat ihn in seinen klassischen «Briefen über die ita­lienischen Ämter» beschrieben und ge­rühmt. Als Juwel in der Abgeschiedenheit dieses Tales.

Die Geschichte des Hauses ist interessant. Mitte des 18. Jahrhunderts wanderte ein junger Mann, Carlo Francesco Remonda, von Comologno nach Paris aus, um der Armut zu entkommen. Zu jener Zeit war es in Frankreich üblich, Schiffe, die zur vereinbarten oder möglichen Zeit nicht in ihren Bestimmungshafen einliefen, auf gut Glück öffentlich zu versteigern. Unser Auswan­derer erstand ein solch überfälliges Schiff, dass dann doch noch mit Waren beladen eintraf und so seinem Besitzer ein Vermögen einbrachte. Damit zog Remonda einen schwunghaften Handel in Seidenbrokaten (wie sie in Paris gesucht waren) auf und machte gute Geschäfte. Aus einem später im Estrich des Hauses gefundenen dicken Buch konnte man entnehmen, dass der Glückliche mit einer höchsten und adeligen Kundschaft verkehrte. 1770, mit fünfzig Jahren, kehrte der wohlhabende Kaufmann in sein Heimatdorf zurück. Er ließ an bester Lage den Palazzo della Barca (benannt nach seinem «Glücksschiff») erbauen, stattete ihn mit den besten französischen Seidenstoffen und Möbeln aus und lebte darin bis zum Tode. Zudem veranlasste er, dass der alte schmale Saumpfad durchs Tal hinauf durch eine gute Fahrstraße ersetzt wurde. Remondas einzige Tochter soll einen einfachen Bauern vom Ort geheiratet haben, der angeblich im Essraum seine paar Kühe hielt. Auch später, so scheint es, wurde der Prachtsbau nicht seiner Schönheit und Würde gemäß bewohnt, bis wir ihn 1929 erwarben und in Stand setzten.

Viele Jahre habe ich den Sommer, gelegentlich auch den Winter, in der «Barca» verbracht: umgeben von Freunden und Gästen und mit den Einheimischen in gutem Kontakt. Die Comolo­gnesi nannten uns die «Sciuri», im Gegensatz zur alten Herrschaft, die man als «Padroni» bezeichnet hatte. In der «Barca» habe ich zu schreiben begonnen. Da es im ganzen Tal keine Möglichkeit gab, sich zu vergnügen (kein Kino, kein Hotel, keine gemütliche Wirtschaft), fasste ich Dorfbegebenheiten in Erzählungen und las sie am Abend den Gästen vor. Sie gefielen und fanden bald in Zürich einen Verleger.

Diese Novellen (im Ganzen fünfzehn und in zwei Sammlungen erschienen) liegen vierzig Jahre zurück. Es handelt sich nicht um «wahre Geschichten» im strengen Sinne. Aber jede Episode ist entstanden aus Erfahrung und Wissen um die Eigenart dieser Menschen – ihre Freuden, Nöte und Leiden. Die Enge des Da­seins, aber auch die befreiende Größe der Landschaft bilden gleichsam den Hintergrund. So beschränkt dieses Leben dem Außenstehenden erscheint – es genügt dennoch den menschlichen Leidenschaften.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich vieles im Onsernone und in Comologno verändert. Nicht nur die Männer wandern jetzt aus. Ganze Familien ziehen an den See hinunter, wo sie in den Fremdenorten Arbeit finden. Selbst die jungen Mädchen bleiben nicht mehr zu Hause. Auch sie haben ihre Stellen in Fabriken und Geschäften im Locarnese gefunden. Fast alle Weggezogenen haben ihre alten, oft baufälligen Häuser ausgebessert und mit Wasser, Strom, mit Badezimmer und Kühlschrank versehen. Wer immer kann, kehrt für die Ferien oder die Wochenenden in sein Dorf zurück. Die kleine Piazza steht dann voller Autos und überall geht es lebhaft zu und her. Auch verbringen viele Alte ihre letzten Lebensjahre im Dorf. So ist es den Leuten gelungen, sich die Heimat lebendig zu erhalten und ihrem Tal treu zu bleiben.

Ascona, im Spätherbst 1980

Das Testament

Die Sciora und die alte Teresa kramten im Estrich des Hauses herum. Immer noch kamen Truhen und Kisten zum Vorschein, die der Sciora neu waren und welche aus der Zeit der früheren Padroni, der echten Padroni, stammten. Die Teresa war gerne bei diesem Räumen dabei, denn im Geheimen glaubte sie, wie alle im Dorf, dass noch einmal ein Schatz ans Tageslicht gebracht würde. Sie hatte zwar schon jedes Winkelchen des großen Hauses ungezählte Male durchsucht und nie etwas Wichtiges gefunden, aber für sie war es trotzdem sicher: Ein Schatz war im Hause und fatal wäre es, wenn diese Sciora, diese Fremde, ihn finden sollte. Denn dieser Schatz, darüber bestand für sie kein Zweifel, gehörte ihr, wie überhaupt das ganze Haus, nach ihrer Meinung, ihr Eigentum war.

Die Sciora hatte sich auf eine der Truhen gesetzt, die voll­gestopft waren mit altem Kram, und beobachtete die Teresa, wie sie sich zu schaffen machte. Wie alt mochte die Frau sein? Ihr Ge­sicht war verrunzelt, aber aus den Falten und Furchen schauten kleine, lebendige Augen, klug wie Elefantenaugen. Sie konnte arbeiten wie ein Mann und war nie krank. Siebzig Jahre mochte sie zählen, und mehr als fünfzig davon hatte sie als Magd im Hause verlebt. Fünfzig Jahre … siebzig Jahre … staunte die Sciora … Warum nicht hundert Jahre und mehr? … Die Zeit schien an der Alten vorbeizugehen, ohne sie zu verändern. Das gleichmäßige Leben, jahraus, jahrein, hatte sie zeitlos gemacht.

Jeden Morgen, Sommer und Winter, stand Teresa um fünf Uhr morgens auf und nach neun Uhr abends war es still in ihrer Kammer. Sie trank ein wenig Milch, im Sommer aß sie Salat aus ihrem Gemüsebeet. Von was sie sonst lebte, hatte die Sciora nie erfahren können. Sie arbeitete schwer, solange der Tag dauerte. Die ganze Arbeit galt ihrer Kuh. Es war die schönste Kuh im Dorf und sie gab die süßeste Milch. Jeden Herbst bekam sie ein Kalb. Das war das große Ereignis im Jahre der Alten geworden. Davon sprach sie wochenlang vorher und wochenlang nachher. Denn das Kalb war, mit der Milch der Kuh, ihre einzige Geldeinnahme. Sie verkaufte es, wenn es groß genug war, dem Metzger im Tal. So ging das Leben weiter und man hätte denken können, es sei immer so gegangen.

Und doch hatte die Teresa einst anders gelebt, ganz anders. Die Sciora hörte sie gerne aus jener vergangenen Zeit berichten. Es gefiel ihr, sich vorzustellen, wie es im Hause gewesen war, früher, als noch die Nachkommen des Erbauers hier wohnten, lange bevor sie es gekauft hatte. Niemand wusste da besser Bescheid als die Teresa, niemand hatte solange im Hause gelebt, wie sie. Sie kannte jeden Schlüssel im Haus und jedes Schloss, jeden Nagel an der Wand, jedes Loch, wo einst ein Nagel gesteckt hatte. Es stand kein Gerät, kein Möbel da, von dem sie nicht die Geschichte wusste, es fand sich kein alter Fetzen Leinwand, dessen Herkunft sie nicht hätte nennen können. Nein, niemand wusste Bescheid wie die Teresa. Jetzt, hier auf dem dunklen Estrich, dachte die Sciora, umgeben von dem alten Plunder, wäre der richtige Ort, der Teresa zuzuhören. Also rief sie ihr zu, sie möge doch das Wühlen sein lassen und ihr lieber wieder einmal die Geschichte erzählen. Die Alte richtete sich auf und kam näher. Ihr Gesicht wurde streng. Sie nahm ihre sonntägliche Haltung an und begann sogleich, denn die Geschichte – es gab für sie nur diese – hatte sie nie genug erzählt. Es war ihre Geschichte, ihre eigene, fast unglaubliche Geschichte.

«Sie wissen, Sciora», begann sie, «die Letzten aus der Familie der Padroni waren schon gestorben, und alle in ihrem Schlaf­zimmer. Ja, seltsam genug», fügte sie kopfnickend zu, «in diesem fröhlichen Zimmer mit den roten Blumen an den Wänden.»

Dass die Menschen in ihrem Schlafzimmer gestorben waren, hatte die Sciora als Erstes – am ersten Morgen ihres Hierseins – von der alten Teresa erfahren: Sie erinnerte sich noch genau des Satzes, mit dem sie begrüßt worden war. «Ich wünsche», hatte die Alte gesagt, «die Sciora habe im Zimmer mit den roten Blumen gut geruht. Es ist das Zimmer, in dem die sechs letzten Padroni gestorben sind.» Die Sciora erinnerte sich auch, wie genau die Alte sie dazu aus ihren kleinen Augen beobachtet hatte, um zu sehen, ob sie erschrecke. Sie hatte damals zwar verstanden, dass es die Teresa gefreut hätte, ihr das schöne Zimmer zu verleiden, doch hatte sie nicht begriffen warum. Sie hatte sich befremdet gefühlt und sich vorgenommen, auf der Hut zu sein. Erst später hatte sie erfahren, dass die Teresa die letzten Jahre ganz allein im Palazzo gehaust und sich so an die Einsamkeit gewöhnt hatte, dass der Tag, an welchem die Sciora das Haus bezog, ein richtiger Unglückstag für sie wurde. Es kam der Alten unmöglich vor, Fremde im Hause ein und aus gehen zu sehen, in ihrem Hause, in dem sie nichts mehr zu sagen haben sollte. Oft habe sie zu der Zeit gebetet, gestand sie nachher einmal, es möge der Sciora etwas zustoßen, damit sie wieder allein und für sich im Hause leben könne.

An jenem ersten Morgen also hatte die Sciora geantwortet, das Blumenzimmer sei scheint’s ein gutes Sterbezimmer und werde wohl auch ein angenehmes Ruhezimmer sein. Sie werde kein anderes beziehen, es gefalle ihr. Von da an hatte die Teresa andere Mittel versucht, um der Eingedrungenen das Haus zu ver­gällen. Darüber könnte die Sciora manches erzählen.

So musste sie sich im ersten Sommer, den sie im Hause verbrachte, oft wundern, warum jeden Morgen irgendein Zweiglein der neuangepflanzten Büsche geknickt sei, immer jene Zweiglein, die im nächsten Frühjahr Blüten getragen hätten. Vögel? Aber wer verdrehte stets den Wasserhahn des hinteren Brunnens, so dass er pustend und spuckend und gurgelnd die Nachtruhe störte und Martino ihn mit viel Kunst und Geduld wieder in Ordnung drehen musste? Und wer öffnete geheim die verschlossene Gartentüre sperrangelweit, alles an fremdem Getier hereinlassend, was hereinwollte? Da hatte einst die Sciora im Morgengrauen gesehen, wie die alte Teresa zu einer Pflanze ging, sich bückte, wie um mit ihr zu sprechen – so tat sie es zu Katzen – sie anfasste und vorsichtig, wie vorsichtig, ein wenig hob. Seither wusste die Sciora, warum die schönsten Zinnien und saftigsten Tageten plötzlich unter der Sonne verschmachteten und nicht wieder zu sich kamen. Sie verstand auch, warum nur morgens um vier Uhr in Teresas Kammer, die über ihrem Schlafzimmer lag, gebuttert werden konnte – es ging lange, bis sie sich an den Lärm des rollenden Butterfasses gewöhnt hatte – und wieso der Käse in Teresas Keller so alt zu werden hatte, bis man ihn vor dem Hause roch. Sie verstand dies alles und noch vieles andere, was vergessen sein soll. Es hatte sie ein wenig verdrossen. Sie hatte der alten Frau freundliche Gefühle entgegengebracht und war enttäuscht, dass diese so gar nicht erwidert wurden. Doch war ihr aufgegangen, warum die Alte ihr Schaden zufügen wollte. Sie tat ihr leid und sie sagte sich, mit der Zeit werde sich die Teresa schon an ihre Gegenwart gewöhnen. Und bis dahin müsse man Geduld haben. Sie ließ sich also nicht ärgern. Vor allem war sie klug genug, es der Alten mit keinem Wort und keiner Miene zu verraten, wenn es dieser gelungen war, sie mit irgendeiner Bosheit zu treffen. Die Teresa sah ein, dass die Sciora entschlossen war, das Haus zu lieben, trotz allem, und da sie selbst nichts auf der Welt mehr liebte als das Haus, fühlte sie sich bald in dieser Anhänglichkeit der Fremden verbunden. «Welche Passion die Sciora doch für das Haus hat», konnte sie bewundernd sagen. «Es ist kaum zu glauben. Alles sieht sie, an alles denkt sie, als ob sie immer da gelebt hätte. Ja, es ist eine richtige Passion.»

An das alles erinnerte sich jetzt die Sciora. Die Teresa vielleicht auch. Sie hatte zu sprechen aufgehört und sann vor sich hin.

«Also sechs waren gestorben», brachte die Sciora das Gespräch wieder in Gang. «Ja, die sechs Letzten», fuhr die Alte weiter. «Zuerst ist die alte Padrona gegangen. Sie hatte es leicht. Dann der alte Herr, dann die Tochter und so weiter. Alle, alle sind sie gestorben, bis nur noch der jüngste Sohn, mein Herr, übrig blieb. Zwanzig Jahre habe ich allein mit ihm im Hause gelebt. Er kümmerte sich um nichts mehr, auch nicht mehr um seine Bäume, trotzdem er Förster von Beruf war. Nie ging er zum Garten und selten zum Haus hinaus. Er saß Winter und Sommer im getäfelten Zimmer, das Gesicht gegen den Kamin gekehrt, in jenem sonderbaren alten Stuhl, an welchem zwei Eisenschienen herauszuziehen sind, um ein Tischblatt daraufzulegen, und trank Wein. Das große Fass drunten im Keller ist das letzte Fass, das er ausgetrunken hat. Der Garten verwilderte, denn ich allein konnte nicht alles tun. Die Bäume hatten das Haus ganz zugewachsen, es waren Zwetschgenbäume, aber sie trugen nichts mehr. Sie waren nicht gepflegt. Im Esszimmer drunten wohnte eine Kuh. Das Zimmer war so schmutzig, oh Sciora», und die Alte kicherte, «es war so schmutzig, dass ich, um es einmal zu reinigen, den Pickel nehmen musste, um die steinharte Mistkruste herauszuschlagen. Dem alten Herrn war eben alles einerlei. Er hatte ein trauriges Gemüt bekommen und hasste alle Menschen. Die Dienstboten hatte er längst schon fortgeschickt. Die Kinder des Dorfes, ja seine eigenen Neffen, wagten sich nie in die Nähe des Hauses, er schlug sie mit dem Stecken, wenn er sie erwischen konnte.»

Die Alte verschwieg stets, was die Sciora wusste: sie war nicht nur die Magd und der Knecht des alten Herrn, sondern auch seine Geliebte gewesen. Darum hatte der Alte ihr alles überlassen. Sie hatte geschaltet und gewaltet wie eine Padrona. Sie hatte sich diesen Posten erarbeitet, verdient, erobert.

Mit sechzehn Jahren war sie in den Dienst der alten Herrschaft getreten. Diese Herrschaft war gefürchtet gewesen im Tal als streng und geizig. Im Jahr gab es zehn Franken Lohn. Das Essen bestand werktags und feiertags aus Polenta und Kaffee. Dafür hörte die Arbeit nie auf, denn der alten Herrschaft gehörte das halbe Tal, die Alpen, Wälder und Wiesen.

Nicht dass sie von Anfang an so viel Land besessen hätte, nein, aber einer aus der Familie hatte Geld aus dem Ausland nach Hause gebracht. Viel Geld! Dieses Geld hatten seine Nachkommen begonnen auszuleihen, hier einem armen Bauern, der den Zins nicht zahlen konnte, dort einem anderen, der Unglück ge­habt hatte mit dem Vieh, und wieder einem Dritten, um sein Haus zu vergrößern, das zu klein wurde, weil immer mehr Kinder ankamen. Doch konnten von diesen Schuldnern die meisten das Geld nicht zurückgeben und die alte Herrschaft war hart und nahm ihnen ihr Stücklein Land anstelle des Geldes ab. So hatte sie nach und nach aus vielen kleinen und kleinsten Parzellen ein grobes Besitztum zusammengebracht. Je schlechter es den Talleuten ging, umso leichter wurde es der Herrschaft, auch einzelne Stücke Land noch anzukaufen, bis ihr alles gehörte, was man vom Haus aus sehen konnte, «und noch viel mehr», fügten die Leute hier bei, wenn sie davon erzählten.

Als die junge Teresa ins Haus kam, waren viele Mägde und Knechte da. Es gab für alle Arbeit durchs ganze Jahr. Teresa hatte zuerst für die Kühe zu sorgen gehabt. Sie arbeitete wie ein Knecht, mit den Knechten. Den ganzen Tag und oft nachts war sie draußen oder im Stall. Erst später wurde sie von der alten ­Padrona ins Haus genommen, sogar in die Küche, weil ihre angeborene Sparsamkeit die Sicherheit bot, sie werde den anderen Dienstboten nicht zu viel zu essen geben. So wurde sie zuerst nach und nach der rechte Arm der alten Padrona, später dann der jungen, angeheirateten Frau, der sie überlegen war, weil sie länger im Hause lebte und darin alles von Grund auf kannte. Als auch die junge Frau gestorben war – man hatte nie gewusst, an was – bekam die Teresa alle Kleider der Verstorbenen, auch die Wäsche. Und heute noch, wenn sie einmal am Sonntag die Messe besucht, zieht sie ein schwarzseidenes Kleid ihrer Padrona an, legt über ihr graues Haar ein schönes, schwarzes Tuch mit langen Fransen und geht mit steifem Nacken und kleinen Schritten, genau wie man es von der letzten Padrona erzählte, zur Kirche, wo sie den jetzt leeren Platz der alten Familie einnimmt.

Teresa erzählte: «Und dann kam der alte Herr zum Sterben. Er war nicht sehr krank, aber ich dachte mir, so habe es mit den anderen auch angefangen und nun sei er an der Reihe zu gehen. Er lag im Zimmer mit den roten Blumen. Allein. Lange hatte ich im Hause gedient und oft hatte mein Herr gesagt, alles werde mir gehören, wenn er einmal sterbe. Alle anderen seien von ihm weggelaufen, sagte mein Herr, nur ich hätte bei ihm ausgehalten. Und eben darum, sagte mein Herr, solle ich alles bekommen. Ich wusste es, er hatte ein Testament gemacht. Alle seine vielen Neffen sollten nichts bekommen, nur ich.

Der eine Neffe war sogleich angereist gekommen, als er von der Krankheit des Onkels hörte. Ich ließ ihn aber nicht ins Haus, ich sagte, der Onkel schlafe, er solle sich gedulden, oder der Onkel wolle jetzt niemanden sehen. Der Neffe wohnte drüben im kleinen Diensthaus, er war aufgeregt und wollte ins große Haus eindringen. Aber je mehr er zwängte, desto weniger ließ ich ihn ein, obschon ich den Herrn Neffen als Kind viel auf den Armen getragen hatte und er mir der Liebste war von all den Jungen. Aber er hatte ja eine reiche Frau geheiratet und wenn es auch hieß, er sei mit ihr unglücklich, was ging mich das an? Und so wehrte ich Tag für Tag ab, doch der Alte ist immer noch nicht so weit. Sciora, das war keine leichte Zeit. Man will doch in einem Moment nicht die ganze Arbeit eines Lebens verlieren? Warum wollte der Herr Neffe denn unbedingt zu seinem Onkel? In all den Jahren hatte er sich nie gezeigt, oder hatte er je geschrieben? Ich weiß von jedem Brief, der ins Haus kam oder aus dem Haus ging. Von dem Herrn Neffen ist nie ein Brief gekommen. Und nun, warum wollte er denn so heftig zum Sterbenden? Doch nur, um ihn wegen des Testamentes noch zu plagen. Aber dafür hatte ich nicht mein Leben lang gearbeitet und geduldet, nicht wahr, Sciora, dass mir ein anderer im letzten Moment einen Streich spielt, das ist doch klar? Ich hatte für meines Herrn Sache gesorgt, ich hatte ihn gepflegt und nun sollte der junge Herr mir alles wegschnappen? Nein und nein, und darum ließ ich ihn nicht herein … Endlich starb auch mein Herr und nun wäre ja alles gut gewesen. Aber … jetzt hören Sie: ich suchte nach dem Testament, denn die Männer kamen, um alles zu versiegeln. Das Testament musste ich vorher finden. Aber ich fand es nicht. Oh Sciora, ich konnte und konnte es nicht finden.»

Die Teresa setzte sich hier auf ein altes Laufgestell, in welchem wohl die Kinder der alten Padroni das Gehen erlernt hatten. Es sah aus wie das Gestell eines Riesen-Lampenschirms und war ganz verstaubt. Unten waren Röllchen daran, und wie das Gewicht der Alten nun darauf zu ruhen kam, setzten sich diese Röllchen in Bewegung und es war seltsam hexenartig, wie sie auf dem Vehikel, das ihre Röcke ganz verdeckten, ein Stück weit in den Estrich hineinfuhr. Auch ihr Gesicht sah aus wie ein Hexengesicht, es war von Zorn und Schmerz eigentümlich starr. Das Licht fiel durch eine Dachluke darauf und die Sciora spürte, welche Passion für das Haus die Alte besessen hatte, dass heute noch die Gier in ihrem Gesicht stand.

Das Testament war nicht gefunden worden. Die Sciora hatte durch andere gehört, die Teresa sei damals wie wahnsinnig immer und immer wieder durch alle Räume des Hauses gezogen, habe alle Möbel untersucht, jede Schublade hundertmal durchstöbert, alle Geheimfächer des getäfelten Zimmers abgetastet und dazu immer vor sich hin gejammert: Das kann mir mein Herr nicht angetan haben, das kann er mir nicht angetan haben. Sie sei so ver­zweifelt gewesen, dass sie sogar den Schadenfreudigen erschüttert hätte, mehr noch mit ihrem Gram als mit der immer wieder ausbrechenden Wut. Das Testament fand sich nicht. Die Möbel und Räume wurden versiegelt und vierzehn Tage lang geschah nichts, als dass die vielen Erben, Neffen und Nichten, sich auf einen Tag mit dem Notar verabredeten, um das Erbe zu teilen.

Es war ein großes Erbe. Das schöne alte Haus, voll kostbaren Möbeln und leinener Hauswäsche, von schönen alten Seiden, Bildern und Büchern, fast alles aus Frankreich und von gutem Geschmack, viel Silber für die Tafel und manches kaum ge­braucht, denn außer dem ersten Herrn und Erbauer des Hauses, welcher sich in der Fremde nicht nur Geld, sondern auch Kultur und ­Ge­schmack angeeignet hatte, waren alle übrigen Herren ein­fache Bauern geblieben, welche aus Holztellern Polenta aßen und sicher nichts lasen als den Kalender. Dann waren da die anderen Häuser, die großen Wälder auf der Nordseite des Tales bis weit hinauf in die Felsen, die Weiden und Wiesen, die Äckerchen, unzählige Heustöcke, gut aus Stein gebaut, und ein Sack voll Geld. Vieh war nur wenig mehr da, weil der letzte Herr sich ja nicht mehr um die Wirtschaft kümmern wollte und sie so immer kleiner und kleiner geworden war, bis zuletzt von dem ganzen Viehstand nur noch die Kuh im Esszimmer und etliche Ziegen zu zählen waren.

Teresa fuhr fort:

«Der Tag kam, an welchem die Teilung vorgenommen werden sollte, und Sciora, ich hatte das Testament nicht. Ich konnte nichts anderes mehr denken als das Testament. Ich war ja sicher, der Herr hatte ein Testament gemacht. Ich hatte dem Herrn Notar eines Abends selbst die Türe aufgemacht, als er kam, um mit dem Herrn zu sprechen. Das Testament war gemacht worden, nun hatte es jemand fortgenommen, dachte ich, ein böser Mensch, der mich verderben wollte, der neidisch war. Was sollte ich denn anderes denken? Glauben Sie mir, Sciora, ich bin in diesen Tagen so schwach geworden, dass ich auf den Knien in den Zimmern herumkroch, als die Siegel abgenommen worden waren … Und dann fand es sich … es lag, es war kaum zu glauben, oben in einer Schublade.»

Die alte Teresa starrte vor sich hin und schüttelte den Kopf, ganz leicht, zuerst von oben nach unten, dann von links nach rechts. Ein paarmal nahm sie mit weit offenem Mund Atem und fuhr dann fort:

«Aber er hat mich doch verraten.»

Die Sciora schaute neugierig in das Gesicht der Alten. Sie begriff, darin würde sich nichts mehr ändern. Was der alten Frau damals, in jenem Moment, als das Testament verlesen wurde, geschehen war, war alles, was ihr überhaupt widerfahren konnte. Auf einen Schlag hatte sich ihr Schicksal erfüllt und wurde in ihr Gesicht gezeichnet, nichts konnte es je mehr ändern.

«Er hat mich doch verraten.» Die Alte vergaß in ihrer neu aufbrechenden Enttäuschung den Anstand, den sie sonst für so nötig hielt, und sagte «er», damit zugestehend, dass der alte Herr ihr mehr gewesen war als nur der Padrone.

«Er hat mich doch verraten.» Denn das Testament lautete so. Die Alte stand auf, und wie sie in ihrer fernen Kindheit wohl biblische Sprüche im Katechismus-Unterricht hergesagt hatte, so sagte sie jetzt den ganzen, ach so oft wiederholten Text des Testamentes.

«Haben Sie gehört, Sciora, haben Sie dieses gehört?» Und sie wiederholte jene Stelle im Testament, die Unglück und Niederlage für sie bedeutete: «Eine Wohnung im Palazzo bis zu ihrem Tode.» Nach einer Pause sagte sie: «Und mehr nicht … Man könnte fluchen über eine solche Niedertracht, wenn man nicht ein Christenmensch wäre.»

Die Sciora nickt mit dem Kopf. Sie spürt den Schmerz der alten Frau, anderen Leuten das überlassen zu müssen, für was man ein Leben lang gearbeitet und gesorgt hat und woran das Herz mit aller Kraft hängt, und wenn es auch unvernünftig ist, dass es da­r­an hängt. Es war unvernünftig, denn was sollte die einsame Frau mit dem großen Haus beginnen? Sie hatte die Mittel ja nicht, es zu unterhalten und wahrscheinlich war das der Grund, warum der alte Herr ihr den Palazzo nicht vermacht hatte. Aber die Sciora fühlte die Enttäuschung der Teresa mit und fand auch, der alte Herr habe nicht recht getan. Ein Beweis dafür schien ihr die Tatsache zu sein, dass die rechtmäßigen Erben nichts mit dem Haus anzufangen wussten und es verkauften. Das hätte die Teresa nie getan, sie hätte das Haus behalten.

Aber wo bliebe dann sie, die Sciora, in dieser Geschichte? Einen Moment lang war sie verwirrt und kam sich vor wie zu Gast in ihrem eigenen Hause. Wem gehört es denn nun eigentlich?, fragte sie sich, und dachte zurück an jenen Maimorgen, an welchem sie das Haus zum ersten Male sah und es ihr so gefiel, dass sie es bald darauf kaufte. Sie dachte an die Sorge und Arbeit, die sie daran verwandt hatte und wie sehr sie schon damit verwachsen war. Dann frug sie sich noch, woher die große Anhänglichkeit an ein Haus kommen könne, ob ein Mann auch so empfinden würde, oder ob das Frauenart sei, sich an ein Haus zu hängen, auch wenn keine Familie Unterkunft verlange. Ob diese Liebe zu einem Hause aus der Habsucht der Frau stamme oder aus ihrer Unfähigkeit, ungeborgen zu leben. Das Haus! Das Haus!

Dann stand sie auf und sagte zu der alten Teresa: «Nun, so leben wir jetzt zusammen in dem Palazzo, den wir beide so gern haben. Und wer weiß, vielleicht sterbe ich vor der Teresa.»

Die Alte konnte sich mit diesem Trost nicht zufriedengeben, aber eine Art Trost war es doch, annehmen zu können, dass sie, die Teresa, auch noch die neuen Sciori würde sterben sehen im Zimmer mit den roten Blumen. Und warum eigentlich nicht? Würde sie denn nicht immer hier im Hause leben?

Die Sciora nimmt jedenfalls an, dass die Teresa immer, so­lange das Haus steht, darin leben wird.

Das Jesulein

Eines Morgens fand man den Sindaco, einen rüstigen, rotblonden Mann von vierzig Jahren, tot auf seinem Bette sitzend. Er war, während er seine Schuhe anziehen wollte, vom Schlag getroffen an die Wand gesunken und gestorben.

Die Familie des Sindaco war mit der Kirche zerfallen. Darum wünschte sie ein besonders schönes und feierliches Begräbnis auszurichten zum Beweis, dass man nicht nur ohne Kirche leben, sondern auch ohne Kirche sterben könne. Sie war es der Ehre und der Stellung des Verstorbenen schuldig und die Leute begriffen das.

Am Morgen des Begräbnistages waren sie aus allen Dörfern des Tales gekommen, viele zu Fuß, andere mit der Post, keiner wollte bei einem so außergewöhnlichen Anlass fehlen. Denn – darüber wurde im Geheimen getuschelt – was konnte sich nicht alles dabei ereignen? Der Tod des Sindaco war ungewöhnlich gewesen. So ohne einem Menschen noch ein Wort sagen zu können – abgesehen davon, dass kein Pfarrer ihm auf den letzten Weg verholfen hatte und er nun vielleicht als Geist herumirrte, wenn man nicht gerade annehmen wollte, er sei schon im Fegefeuer – abgesehen davon also, so ohne einem Menschen noch ein Wort sagen zu können, sterben müssen, ist das nicht ungewöhnlich? Aber noch ungewöhnlicher war es, dass er nun auch ohne Segen der Kirche begraben werden sollte. Was konnte sich da nicht alles ereignen? Donnerschläge aus blauem Himmel, Rabengeflatter über dem Sarg, schlimme Gerüche; vielleicht wird der Sarg vor der Kirchentüre, an welcher er vorübergetragen werden muss, schwer wie Blei, die Männer können ihn nicht weiter tragen; am Ende beginnen die Glocken selbst zu läuten … ja, was konnte sich nicht alles ereignen? Bald waren der Dorfplatz und die anstoßenden Gässchen voller Leidtragende und immer kamen noch mehr dazu, Frauen und Männer. Die Frauen hatten sich die frisch gestärkte Schürze vorgebunden und das schwarze Kopftuch tief ins Gesicht gezogen. Manch eine hielt den Rosenkranz in den gefalteten Händen, bis jemand ihr bedeutete, das sei ­heute nicht am Platz. Der betende Mund blieb stehen, der Rosenkranz verschwand in der Schürzentasche, doch die Hand blieb auch darin und ließ die Kügelchen weiter durch die Finger rollen. Die Männer hatten ihr bestes Gewand angezogen und etwas auf den Kopf gesetzt. An den Kopfbedeckungen kann man erkennen, welcher politischen Richtung ihre Besitzer angehörten. Einige tragen hohe, nach oben ausladende Strohhüte in Zylinderform, mit breitem, aufgekrempeltem Rand, wie sie schon vor hundert Jahren im Tal von den Wohlhabenden getragen wurden. Sie ha­ben etwas Englisches an sich. Andere ziehen dunkle, schlichte Filzhüte vor, rund oder länglich, das ist nicht dasselbe, manchmal mit einer kleinen Vogelfeder geschmückt. Darunter gibt es eine Art grüner, kecker Filzhüte, auf einer Seite stark aufgeschlagen – das Haar muss hier buschig hervorquellen –, die den Mädchen besonders gefallen. Die meisten haben Mützen aufgesetzt, Mützen, die auf die verschiedenste Weise getragen werden, sogar verkehrt, mit dem Schild hinten im Nacken, ja solche, die ihren Schild verloren haben und so eigentlich zu den Kappen gehören, die bloß nachts im Bett zu tragen wären. Man sieht aber auch des Tags Kappen, von allen Farben und Formen und Größen, aus Stoff, Lappen, Fell. Heute werden aber alle diese Kopfbedeckungen nicht als Abzeichen getragen, sie werden nur getragen, um abgenommen zu werden vor dem toten Manne, den sie alle gleicherweise verehrt haben. Denn der Sindaco war ein gerechter Mann gewesen, einfach und gütig, trotz seines Geldes, sagen alle.

Nach und nach stellte der Trauerzug sich zusammen und setzte sich in Bewegung, ohne Glockengeläute, ohne Gesang und ohne Priester. Dafür flatterte eine rote Fahne voran. Der Sarg folgte, von vier Männern getragen. Er war mit bäuerlichen Blumen und einfachen Kränzen bedeckt. Obenauf lag ein breiter, schöner Kranz. Die Sciori hatten ihn aus der Stadt bestellt. Er wurde sehr bewundert. Hinter dem Sarg gingen die nächsten Verwandten, dann die besten Freunde des Verstorbenen; nachher die Reichen des Dorfes, die weniger Reichen, die Armen und die ganz Armen und zum Schluss, wie es sich schickt, kam der endlose Zug der Frauen. Obschon der Sindaco ledig geblieben war, hörte man lautes, wildes Frauenweinen. Das gehört zu einem richtigen Begräbnis.

Langsam zog das Geleite, dem schwankenden Sarg nach, durch die Kirchentreppe hinunter, an der verschlossenen Kirchentüre vorbei und in einem stattlichen Bogen auf den Kirchhof. Dort, vor der offenen Grube, wurden viele Reden gehalten. Jeder Freund des Verstorbenen – und wie viele hinterließ er! – wollte ihm etwas Gutes ins Grab nachsagen. Der Friedhof war zu klein für die vielen Menschen. Sie standen dicht gedrängt und zertraten die Gräber. Es war heiß. Mancher hätte gerne seinen Hut aufgesetzt oder den Kittel ausgezogen. Aber das ging nicht an. Erst um die Mittagszeit wurde der Sarg endlich in die Grube hinuntergelassen. Jeder streute eine Hand voll Erde darauf und stapfte über die Gräber davon. So leerte sich der Friedhof bald und nur noch die Buben hockten auf dem Dach der Totenkapelle, wohin sie geklettert waren, um besser zu sehen. Sie warteten auf etwas. Aber es geschah nichts Weiteres mehr. Maurilio, der Küster, schaufelte einen kleinen Berg über dem Grab zusammen, warf den Spaten auf die Schulter und ging auch fort. – Aus.

Der arme Sindaco war ein guter Freund des Herrn Martino gewesen. Beide hatten die Welt gesehen, Südamerika, beide hatten etwas Geld gemacht und waren nach Haus gekommen, um friedlich zu altern. Sie standen sich so nahe, dass sie sogar einen ge­meinsamen Jagdhund besaßen, ein schönes, böses Tier, das sie sich aus Italien aus einer Zucht für viel Geld hatten kommen lassen. Denn beide waren gute Jäger. Nun ja, was war dabei? Männer sind, wie das italienische Sprichwort sagt, von Geburt her Jäger.

Der Tod des Freundes hatte Herrn Martino recht getroffen. Obschon er mit seinen roten Wangen und seinem spitzen Schnurrbart kühn und unternehmend aussah, so hatte er doch ein weiches Gemüt. Es hieß, er sei einmal auf der Gämsjagd am lichten Tag laut schreiend davongestürzt, weil ihn die unerschütterliche Stille der Berge jäh mit Entsetzen erfüllt habe. Auch war es ihm ungemütlich und er vermied es sorgfältig, wenn immer möglich, sich allein im alten Palazzo aufzuhalten. Die Hallen in den klösterlichen Gängen, die Blicke der alten Herrenbilder an den Wänden, die den Besucher still verfolgten, die Spiegel, das Krachen im Holzwerk, das alles beeindruckte ihn. Vielleicht hatte er auch Furcht vor den Gespenstern, von denen die alte Teresa früher gerne erzählt hatte. Sie sollten im blauen Zimmer herumpoltern und manchmal gewaltig an Teresas Kammertüre geschlagen haben. Wenn auch im Dorf alle wussten, dass die Teresa die Gespenstergeschichten nur erzählt hatte, um den Leuten Angst einzuflößen vor dem Haus, denn sie wollte ganz allein und un­gestört sein, so schaute doch mancher abergläubisch daran em­por, und sicher war auch Herr Martino, obwohl er fast jeden Tag in den Palazzo kam, um dieses oder jenes zu flicken oder zu richten, nicht frei von dieser Angst.

Seit dem Tode seines Freundes, des Sindaco, blieb er mehr zu Hause. Wenn man ihn traf, setzte er eine jämmerliche Miene auf und seufzte. Er sprach davon, manches sei ihm verleidet. So waren die Sciori nicht erstaunt, als er sie im Herbst darauf in der Stadt besuchte. Er war in ein neues Gewand gekleidet, sein Schnurrbart stand eingefettet spitzig auf beiden Seiten heraus. Ein Vetter von ihm, berichtete er, derjenige, der in Südamerika die vierzehn Millionen verdient hatte, «ja, verdient, was denn sonst?», dieser Vetter habe ihn nach Frankreich eingeladen, um Luft und Gedanken zu wechseln und für solange, als es ihm passen würde. Warum sollte er nicht zugreifen? Und so habe er sich auf den Weg ge­macht. Er werde voraussichtlich einige Monate in Paris bleiben.

Darüber wunderten sich die Sciori nun doch. Ihr Herr ­Martino in Paris? Sie wussten, wie verhasst ihm jede städtische Kleidung war. Zu Hause ging er in verwaschenen Halbleinhosen, ohne Strümpfe, ein netzartiges Hemd mit Ausschnitt um seine hochgewölbte Brust gespannt und als Schutz auf seinem dunkeln Krauskopf einen ungewöhnlich reich durchlöcherten Strohhut. Und wie sollte er, der Bastler, es aushalten ohne Holz und Nägel, ohne Schlösser zum Ölen oder Flicken, ohne elektrische Anlagen zum Nachsehen, ja ohne die Ölheizung der Sciori, die nicht funktionieren wollte ohne ihn. Nur er wusste ihr so zuzusprechen, wusste an den richtigen Hebelchen zu drücken, verstand Luft und Öl so zu mischen, dass diese höchst weibliche Einrichtung ihre Pflicht tat. Vor allem, wie sollte Herr Martino leben ohne sein Boggiaspiel? Er spielte mit Leidenschaft, er spielte gut, aber nicht so gut wie der Schulmeister, nicht ganz so gut, denn der Schulmeister blieb kühl und seine Hand zitterte nie vor Zorn. Darum gewann er. Meist gewann der Schulmeister. Herrn Martinos Kopf wurde dann rot wie eine Tomate, er brüllte so laut, dass die Frauen, die auf der Piazza strickten, ihn hörten und sich zunickten: «Tino verliert wieder.» Aber doch, sooft der Schulmeister Zeit hatte, spielte Herr Martino mit ihm, um ihn zu besiegen. Wie sollte er ohne diesen täglichen Ansporn auskommen? Das schien den Sciori unmöglich. Sie machten ein großes Fragezeichen zu der geplanten Reise ihres Herrn Martino, doch wussten sie aus Erfahrung mit den Leuten aus dem Tal: Fragen nützte nichts. Man bekam keine richtige Antwort. Man musste warten. Einmal würde man schon verstehen, später, manchmal erst viel später … Und so wünschten sie dem Guten Glück auf die Reise.

In diesem Jahre waren die Sciori zu Weihnachten in ihr Landhaus gezogen, um den Festen in der Stadt auszuweichen. Es lag viel Schnee, als sie durch das Tal hinauffuhren, und in jedem Dorf standen viele Männer auf der verschneiten Straße, schauten und plauderten, zeigten sich mit ihren Bräuten oder trugen ihre kleinen Kinder herum. So ist es immer: auf Weihnachten kommen die Männer und Söhne nach Hause, die im Frühjahr in die großen Städte gezogen sind, um dort als Gipser und Maler ihr Geld zu verdienen. Im Tal findet ein Mann kein Auskommen. Das bisschen Heu und die wenigen, kleinen Kartoffeln genügen gerade, um die Ziegen, die Frauen und Kinder durchzubringen. Es sind geschickte Leute unter den Männern, die viel Geld verdienen. Das Geld – und die neueste Herrenmode – bringen sie an Weihnachten ins Tal. Es geht dann hoch her. Jeden Abend wird in den vielen kleinen Wirtschaften des Tales bis spät debattiert, über Politik und über Gemeinde- und Familienangelegenheiten. Oft gibt es gegen Mitternacht Zank und es heißt, wenn die Männer im Tal seien, so weinen die Frauen. Wie dem auch sei, es kommen dann im Herbst immer viele Kinder zur Welt. Manche davon sterben bald wieder. Man sieht in jener Zeit etwa eine einsame Frau mit einem kleinen Paket, das mit einer weißen Gardine verhangen ist, den Weg zur Kirche hinabgehen. Es ist eine Mutter oder Verwandte, die das tote Kind zuerst dem Pfarrer bringt, der in der offenen Kirchentüre wartend steht, unter lautem und be­sonders vergnügtem Geläute der Glocken, denn Gott freut sich über den Tod eines unschuldigen Kindleins, das direkt zu ihm in den Himmel kommt. Dann geleitet sie der Pfarrer auf den Friedhof, wo das kleine Paket von Maurilio, dem Küster, in eine winzige Grube verlocht wird. Nach kurzer Zeit weiß die Mutter nicht mehr genau wo.

Aber nicht alle Kinder kommen im Herbst zur Welt. An einem dieser Weihnachtstage, während die Sciora ihren Kaffee trank, den die Marta nach alter Gewohnheit ihr am Morgen ans Bett brachte, begann diese ohne Umschweife: «Sciora, das Kind der Berta ist heute Nacht geboren worden. Der Doktor war dabei. Es ist ein Junge.»

Die Sciora war sich nicht sogleich im Klaren, wer die Berta sei. «Nun, die Berta vom oberen Haus, diese … nun eben … diese … Sie wissen schon, Sciora, die liederliche, die Berta, die mit den Männern am Abend spricht.»

Die Sciora meinte, die Berta werde wohl nicht nur mit den Männern gesprochen haben, aber sonst fand sie alles in Ordnung. Doch die Marta ließ nicht locker, die Sciora musste verstehen, was das heißt: Ein Mädchen bekommt ein Kind, dazu ein solches Mädchen. Das war durchaus nicht in Ordnung. Das musste jede rechte Frau aufregen. «Und das arme Kind, das keinen Vater hat», fuhr die Marta eifrig und in jammerndem Tone fort, «und die armen Eltern, die solche Schande an ihrer Tochter erfahren müssen!» Sie legte ihr Gesicht in Falten, richtete sich auf und meinte: «Nun, warum haben sie nicht besser auf die Tochter aufgepasst! Der Herr Pfarrer hat erst kürzlich allen zu Herzen geredet, sie sollen doch lieber heiraten, es freue weder Gott noch den Herrn Jesus, noch genau besehen, sonst jemanden, wenn immer wieder so viele uneheliche Kinder zur Welt kämen.» «Wie ist es eigentlich mit der Muttergottes gewesen?», fragte da die Sciora und schaute die Marta lächelnd an. Diese errötete ein wenig, lächelte wieder und sagte, wie sie es gelernt hatte: «Das ist ein Mysterium.» Nun schien es aber mit der liederlichen Berta auch ein Mysteri­um zu werden.

Als der Segretario, der das Neugeborene einzuschreiben hatte, ordnungsgemäß fragte, wer der Vater sei, ließ das Mädchen antworten, der Vater sei der verstorbene Sindaco. Der Segretario war bestürzt. Er beschloss, mit dem Einschreiben zu warten. Das Dorf war bestürzt. Niemand hatte das vorausgesehen. Da schien sich etwas Ungehöriges begeben zu wollen. Wie würde man die Wahrheit erfahren können? Den armen Sindaco konnte man nicht mehr fragen, ob das Mädchen lüge. Er schwieg. Umso lauter beschuldigte es die Familie des Verstorbenen, vor allem seine Brüder, das sei Verleumdung schlimmster Art. Niemals hätte ihr Bruder … niemals, und überhaupt, wie verworfen und zu allem fähig müsse man sein, um einem armen Toten einen solchen Tort anzutun, wo er sich doch nicht mehr verteidigen könne … doch sie, die Brüder und der Vater, sie würden die Ehre ihres lieben Verstorbenen schon zu schützen wissen, mit allen Mitteln und bis zum Schluss. Ob das Mädchen denn überhaupt irgendeinen Be­weis für eine Behauptung aufbringen könne?

Das Mädchen lachte, es brauche da keinen Beweis, das Kind sei Beweis genug. Es sei vom Sindaco und sie verlange die üblichen Gelder. Sie habe den Arzt holen lassen müssen, das Kind wolle er­nährt und erzogen sein, kurz, sie verlange Geld. Und dieses Geld habe der Vater und Erbe des Sindaco zu bezahlen.

Es entbrannte Streit, denn durch nichts wäre der Alte zu be­wegen gewesen, freiwillig etwas von dem geerbten Geld herauszugeben. Und über dem Streit teilte sich das ganze Dorf in zwei Parteien. Die einen glaubten, es sei, wie das Mädchen behaupte, der Sindaco der Vater des Knaben, und wetterten gegen den Alten, der lieber sein einziges Großkind in Armut und Schande würde aufwachsen lassen, als mit einem Franken herauszurücken. Die nicht gegen den Alten waren, schimpften auf das Mädchen, dass es sich schlauerweise einen Toten, und dazu einen ledigen und so reichen als Vater des kleinen Kindes ausgesucht habe. Sie schlage nicht aus der Art. Schon ihre Großmutter, die Matratzenmacherin Julia, habe das Geschäft verstanden. Wisse man nicht etwa, wie sie zu ihrem Mann gekommen sei? So wurde der Geiz der einen Sippe gegen die Liederlichkeit der anderen Sippe abgewogen. Dieser Zank zog sich hin bis Ostern. Das Kindchen war jetzt schon ein hübsches, pausbackiges Wickelkind, und wenn sich die Mutter mit ihm im Dorf zeigte, oder sonntags in der Messe, drängten die Frauen hin, um es anzuschauen, denn sie dachten, es müsse sich doch auf seinem Gesichtchen verraten, wer der Vater sei. Viele fanden, es sehe wirklich ganz und gar den rothaarigen Burschen aus der Familie des Sindaco ähnlich, trotzdem es noch keine Haare habe. Es wurden allerdings auch andere Männer ge­nannt, solche, von denen es bekannt war, dass sie abends gerne mit den Frauen und Mädchen scherzen, und manche Ehefrau tat schnell einen Blick unter das weiße Häubchen in der Angst, die Züge ihrer eigenen Kinder dort wiederzufinden. So wurde durch diese Unordnung das ganze Dorf von Misstrauen erfasst.

Da brachten die Eltern der Berta, im Geheimen von irgendeinem der vielen Anwälte beraten, die ihren Verdienst aus der Händelsucht der kleinen Leute ziehen, die Sache vor Gericht. Jetzt wurde sie ernst. Jeder im Dorf begriff es: Jetzt konnte es geschehen, dass die Berta Recht – und Geld – bekäme. Und jetzt, jetzt erst fand das Mädchen gute Zeugen, die bereit waren, auszusagen, ja, der arme Sindaco sei etwa abends mit ihr zu sehen gewesen, am Waldrand, wo die Wiesen des Sindaco münden und das Gras früh schon so hoch stehe, nirgends so hoch. Und welch guter Mäder der Sindaco gewesen sei, keiner wie er. Schade, dass er sein Gras nicht mehr mähen könne. Oder am Brunnen, wo man ei­gentlich am Abend nichts mehr zu suchen hat, auch etwa beim verfallenen Ställchen, in welches die Berta nachts ihre Hühner einschließt, damit der Fuchs sie nicht hole. Ja, man habe sie zu­sammen gesehen. Warum auch nicht? Ein flotter Mann, ein hübsches Mädchen … eben …

Nun musste der Vater des Sindaco schauen, wie er sich aus der Schlinge rette, die drohte, sich um ihn zusammenzuziehen. Er tat es auf die einfachste Art, indem er auf die Suche ging nach Männern, die um die bestimmte Zeit die Berta näher betrachtet hatten. Und er fand viele. Denn die meisten Leute werden sich gesagt haben, bis jetzt habe noch immer derjenige recht bekommen, der das Geld hat, und darum sei es klüger, dem Alten zu helfen gegen die Berta, es schaue für sie sicherer etwas dabei heraus.

An einem regnerischen Spätsommertag sah die Sciora von ihrem Balkon aus ein Auto auf der Piazza ankommen und dort halten. Sie kannte es nicht. Ihm entstiegen Herren, darunter der Richter aus dem nahen Städtchen, ihr Sommernachbar. Die Herren be­gaben sich in das Gemeindehaus, ohne sich umzuschauen. Etwas später, es regnete nun stark, sah sie einen langen Zug dunkler Männer unter Regenschirmen gebückt die Straße heraufkommen und auch im Gemeindehaus verschwinden. Bald kamen von der anderen Seite schwarz gekleidete Frauen rasch und scheu über den Platz und huschten die Kirchentreppe herunter in die Kirche.

Das alles kam der Sciora ungewöhnlich vor. Sie rief nach der Marta, ob sie wisse, was das zu bedeuten habe.