Cover

Kinderärztin Dr. Martens
– Box 2 –

E-Book 6-10

Britta Frey

Impressum:

Epub-Version © 2022 Kelter Media GmbH & Co. KG, Averhoffstraße 14, 22085 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © Kelter Media GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-876-6

Weitere Titel im Angebot:

Weitere Titel im Angebot
Weitere Titel im Angebot

Schwester Christina hat ein Geheimnis

Warum läuft sie vor dem neuen Arzt davon?

Roman von Britta Frey

Der Januar und mit ihm ein neues Jahr waren ins Land gezogen. Die vergangenen Monate mit sehr kalten und schneereichen Phasen hatten für Dr. Kay Martens und seine Schwester Hanna so einiges an Veränderungen gebracht. Seit gut zwei Monaten wohnten sie nun schon in ihrem neuen Heim, im Doktorhaus, das hinter dem Klinikpark gebaut worden war. Veränderungen hatte es insofern bedeutet, als die Geschwister nun zwar in einem neuen Heim, aber in getrennten Wohnungen lebten. Kay hatte sich für die fünfzigjährige Hella Sandberg entschieden, die ihn und seinen Haushalt versorgte.

Die dunkelhaarige, schlanke Hella Sandberg war eine sehr tüchtige und resolute Person, und Kay, der sich sehr rasch an sie gewöhnt hatte, war vollauf mit ihr und ihren Leistungen zufrieden. Doch auch die inzwischen dreißigjährige Kinderärztin Hanna Martens fühlte sich in ihren eigenen Wänden sehr wohl. Sie und ihr Haushalt wurden umsorgt von Jolande Rilla, einer Hauswirtschafterin von zweiundvierzig Jahren. Jolande Rilla war eine vollschlanke, warmherzige Witwe mit fuchsrotem Haar. Hanna verstand sich ausgezeichnet mit ihr. Schon nach dem ersten Monat im Doktorhaus hatte Jolande Rilla Hanna gebeten, sie einfach nur Füchsin zu nennen, da sie immer so genannt worden sei, und so war es dann geblieben.

Doch nicht nur im privaten Bereich der beiden Chefärzte der Kinderklinik Birkenhain hatte es Veränderungen gegeben, sondern auch im Bereich der Klinik. So hatten sich die Geschwister dazu entschlossen, einen klinikeigenen Krankenwagen anzuschaffen und außerdem zwei Pfleger einzustellen, um das Pflegepersonal der Kinderklinik zu vergrößern. Es waren Jan Sounders, vierundzwanzig, und Dieter Rösler, zweiundzwanzig Jahre alt. Beide kamen aus Celle und wechselten sich im Tag- und Nachtbereitschaftsdienst ab.

Nun stand noch eine Veränderung bevor. Wegen eines Todesfalles in der Familie schied Dr. Hartmut Frerichs nun doch aus. Der bei allen sehr beliebte junge Assistenzarzt würde die Praxis seines verstorbenen Vaters, eine kleine Landarztpraxis in Westfalen, übernehmen. Die Stelle für den neuen Mitarbeiter hatte Dr. Kay Martens inzwischen schon ausgeschrieben.

*

Es war ein trüber Januartag. Tief hingen dunkle Wolken am Himmel, und wenn die Temperatur erneut absinken würde, würde es wohl wieder zu Schneefällen kommen.

Kay und Hanna Martens hatten gerade mit der Oberschwester Elli und Schwester Laurie die Visite beendet. Hanna war noch bei Kay im Sprechzimmer, als Martin Schriewers die Tagespost brachte.

Hanna, die sich von Kay die Unterlagen eines kleinen Patienten hatte geben lassen, wollte gerade aus dem Zimmer gehen, als Kay sie zurückhielt.

»Einen Augenblick, Hanna, ich sehe gerade, daß heute Bewerbungen für den Ersatz von Dr. Frerichs dabei sind. Es wäre mir schon lieb, wenn du sie dir auch anschaust.«

»Gern, Kay, wie viele sind es denn?«

»Es sind vier Bewerbungen. Nimm du zwei, und ich die beiden anderen. Vielleicht ist etwas dabei, was für unsere Klinik in Frage kommt.«

Kay reichte seiner Schwester zwei der vier großen braunen Umschläge, und für Minuten beschäftigten sich beide mit dem Inhalt.

»Nun, was sagst du?« fragte Kay danach.

»Einer würde mir schon zusagen. Aber laß uns erst die Unterlagen tauschen, damit ich mir auch von den anderen Bewerbern ein Bild machen kann. Dir geht es doch umgekehrt sicher genauso, oder?«

»Genau, so machen wir es. Die beiden, die ich hier habe, sind zwar den Unterlagen nach ausgezeichnete Ärzte, aber für unser Team eigentlich nicht die richtigen. Du wirst bestimmt meiner Meinung sein.«

Als Hanna nach wenigen Augenblicken die Bewerbungen aus der Hand legte und Kay sie fragend ansah, schüttelte sie den Kopf und bestätigte damit das, was er vorher schon ausgedrückt hatte.

»Wenn du meine ehrliche Meinung wissen willst, Kay, so würde ich mich für diesen Dr. Küsters entscheiden. Er hat in Erlangen studiert, hat ausgezeichnet abgeschlossen und paßt mit seinen sechsundzwanzig Jahren gut in unser Team. Auch der optische Eindruck ist ausgezeichnet. Er scheint sehr warmherzig und kinderlieb zu sein. Bei ihm stimmt in der Bewerbung eigentlich alles. Und er ist zum kommenden Ersten frei.«

»Es ist genau derjenige Bewerber, der auch mir am meisten zusagt. Da er eine Telefonnummer beigefügt hat, werde ich mich umgehend darum kümmern und mit dem jungen Mann einen Vorstellungstermin vereinbaren. Wenn unser Eindruck bei diesem persönlichen Kennenlernen noch der gleiche ist, könnte man sagen, daß wir einen neuen Mitarbeiter und guten Ersatz für Dr. Frerichs haben. Es tut mir sowieso sehr leid, daß er ausscheidet und nicht mehr an unserer Klinik zurückkommt.«

»Mir auch, aber wir könnten ihn ja nach Lage der Dinge nicht zurückhalten. Jeder geht den Weg, den er gehen muß. Jetzt muß ich mich aber um den kleinen Peter kümmern. Du entschuldigst mich.«

Lächelnd sah Kay hinter seiner Schwester her, die mit leichten Schritten das Zimmer verließ. Er war erleichtert, denn sie hatte ein so gutes Gespür für Menschen, daß er sich eigentlich blind darauf verlassen konnte. Er war schon in diesem Augenblick sicher, daß dieser Dr. Küsters am kommenden Ersten seinen Dienst in der Klinik antreten würde.

Schon eine knappe Viertelstunde später hatte er besagten jungen Arzt am Telefon. Der Mann hatte eine angenehme, warme Stimme, und er würde schon in drei Tagen zu einem persönlichen Gespräch in die Kinderklinik Birkenhain kommen.

Diese drei Tage wollte Kay noch warten, bevor er den anderen drei Bewerbern absagte.

Während Kay das Telefongespräch führte, war Hanna wieder hinauf auf die Krankenabteilung gegangen. Schwester Laurie wartete schon mit dem Verbandswagen.

»Dann wollen wir uns jetzt mal um den Peter kümmern, Schwester Laurie.«

»Ich bin bereit, Frau Dr. Martens. Ein armer Kerl, dieser Peter. Es ist nicht einfach, in einem Kinderheim aufzuwachsen. Wenn es auch gut geführt wird, so kann es doch niemals die Liebe von Mutter und Vater ersetzen.«

»Mir tut auch jedes Kind leid, das im Heim aufwachsen muß, aber wir können nur dazu beitragen, daß den Kindern geholfen wird, wenn sie krank sind. Es gibt nun mal zu viele Heimkinder. Doch genug geredet, kümmern wir uns um den Peter, wechseln wir erst einmal die Verbände bei ihm.«

Während Hanna nun mit Schwester Laurie in das Krankenzimmer ging, in dem man den neunjährigen Peter König untergebracht hatte, ging ihr dieser Fall, für den sie sich von Kay die Unterlagen geholt hatte, durch den Kopf. Es war alles ziemlich seltsam mit dem neunjährigen Jungen. Er hatte sich bei einem Brand, der beim Spielen entstanden sein sollte, schwere Verbrennungen an den Beinen und Armen zugezogen und lag nun schon über eine Woche bei ihnen in der Klinik. Er war ein tapferer und geduldiger kleiner Patient. Nur der Ausdruck seiner Augen, die unendlich traurig blickten, gab Hanna von Tag zu Tag mehr zu denken. Noch nicht ein einziges Mal hatte sie den Jungen lächeln sehen. Aus diesem Grund hatte sie sich auch von Kay die Unterlagen geholt, um sich noch einmal sehr gründlich damit zu beschäftigen.

Sie hatten das Zimmer erreicht und traten ein.

»Hallo, Peter, heute wollen wir wieder deine Verbände wechseln und uns anschauen, wie gut die Wunden inzwischen verheilt sind. Wir wollen doch, daß du recht bald wieder gesund wirst und mit deinen Freunden spielen kannst, nicht wahr?«

Ein weiches Lächeln lag auf Hannas Gesicht, als sie nun mit Hilfe von Schwester Laurie sehr behutsam begann, die Verbände an den Armen abzurollen.

»Wenn ich dir weh tu, mußt du es mir sagen, hörst du?«

»Es tut nicht weh, nicht sehr«, beteuerte der Neunjährige.

Aber Hanna sah auf einmal in seinen Augen einen Ausdruck, der nackte Angst widerspiegelte.

»Wovor fürchtest du dich, mein Junge? Willst du es mir nicht sagen?« Aufmunternd lächelte Hanna den Jungen an.

Doch er schüttelte nur wild den Kopf. Hanna nahm sich vor, später noch einmal darauf zurückzukommen. Zuerst mußte sie sich nun um die Brandwunden kümmern. Die Wunden begannen gut zu verheilen, an den Armen genauso wie an den Beinen. Damit konnten sie also mehr als zufrieden sein. Was ihr nur größere Sorgen bereitete, war der seelische Zustand des Jungen, seit sie die Angst in seinen Augen gelesen hatte. Sie mußte sich erst mit den Unterlagen befassen und danach noch einmal mit Kay reden, bevor sie dem Jungen weitere Fragen stellen würde.

So mit ihren Gedanken beschäftigt, legte sie mit Schwester Laurie behutsam die frischen Verbände an.

»So, mein Junge, jetzt lassen wir dich wieder allein. Vielleicht kannst du noch ein wenig schlafen. Ich komme heute mittag noch einmal zu dir, dann unterhalten wir uns ein wenig.«

Sanft strich sie Peter über das dunkle Haar, danach verließ sie mit Schwester Laurie, die dem Jungen noch einen mitleidigen Blick zuwarf, das Krankenzimmer.

*

Nachdem Hanna sich noch einmal gründlich mit den Unterlagen von Peter König beschäftigt hatte, suchte sie Kay auf, der sich in der chirurgischen Ambulanz aufhielt.

»Was gibt es, Hanna?«

»Ich möchte mit dir über Peter König sprechen. Hast du einen Augenblick Zeit?«

»Natürlich, ich bin hier fertig. Gehen wir hinüber in mein Sprechzimmer.«

»Hast du diesen Dr. Küsters schon erreichen können?« wollte Hanna wissen, während sie über den Gang gingen.

»Hab ich. Er wird am Donnerstag zu einem persönlichen Gespräch zu uns in die Klinik kommen.«

»Das ist prima, daß es so rasch klappen kann.«

»Das ist auch meine Meinung«, erwiderte Kay.

Sie betraten Kays Sprechzimmer, und er fragte interessiert: »Was ist mit dem kleinen Peter? Ist mit ihm etwas nicht in Ordnung? Hast du nicht persönlich die Verbände gewechselt?«

»Natürlich habe ich das, und ich bin auch sehr zufrieden. Natürlich wird der Junge noch ein paar Wochen bei uns bleiben müssen. Aber die Verbrennungen sind es nicht, über die ich mir im Augenblick Sorgen mache. Ich habe mir die Unterlagen noch einmal durchgelesen, und mir sind da einige Unklarheiten aufgefallen. Aber erst zu dem Jungen. Er scheint sich vor irgend etwas sehr zu fürchten. In seinen Augen lag ein Ausdruck panischer Angst, als ich zu ihm sagte: Wir wollen doch, daß du recht bald gesund wirst und du mit deinen Freunden spielen kannst.«

»Das ist in der Tat recht eigenartig. Doch was für Unklarheiten sind dir in den Krankenunterlagen aufgefallen?«

»Nun, es wurde doch angegeben, daß der Brand, bei dem sich Peter verletzt hatte, beim Spielen entstanden sei. An sich mag das so gewesen sein. Ich versteh dabei nur nicht ganz, warum ausschließlich Peter so schlimme Brandwunden davongetragen hat und sonst niemand von den anderen Kindern auch nur die kleinste Verletzung aufwies. Ehrlich, Kay, diese Frage möchte ich ja unbedingt geklärt haben. Ich möchte in Erfahrung bringen, vor wem oder was sich dieser neunjährige Bub so fürchtet. Ich werde natürlich vorsichtig forschen und den Jungen zunächst nicht befragen. So lange nicht, bis es ihm bessergeht. Du kennst mich ja. Was ich mir vornehme, das führe ich auch bis zum Ende durch.«

»Eben weil ich dich genau kenne, werde ich dir auch nicht widersprechen. Wenn da wirklich etwas nicht in Ordnung ist, wirst du es schon herausfinden. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, sage mir Bescheid.«

»Ich werde es nicht vergessen, Kay. Jetzt jedoch will ich dich nicht länger aufhalten. Ich muß noch hinunter in die Küche und einiges mit Marike Schriewers besprechen.«

»Ist es nicht bald soweit, daß Marike ihr Baby bekommt?«

»In vier Wochen. Aus diesem Grund muß ich auch noch etwas mit ihr besprechen. Sie weist ja schon seit vierzehn Tagen ihre Vertretung ein, und ich interessiere mich natürlich dafür, ob während Marikes Abwesenheit auch alles reibungslos weiterläuft. Immerhin wird sie eine Weile aussetzen.«

»Und ist es schon sicher, daß sie danach ihre Arbeit bei uns wieder aufnehmen wird?«

»Ja, denn ihre Mutter wird das Kleine versorgen.«

»Dann ist ja alles bestens. Du, ich muß mich jetzt aber entschuldigen, ich muß ins Labor hinunter und ein paar Ergebnisse holen. Wir sehen uns dann später.«

Marike Schriewers, mit der Kay und Hanna genau wie mit ihrem Ehemann Martin ein fast freundschaftliches Verhältnis verband, kam sofort auf Hanna zu, als diese die große, geräumige Küche betrat, in der es schon recht hektisch zuging.

»Nun, wie läuft es, Marike?«

»Prima, Hanna. Frau Blomfeld ist eine ausgezeichnete Köchin. Sie wird auch hervorragend mit den Küchenhilfen fertig. Ich habe es nicht anders erwartet, sonst hätte ich sie nicht empfohlen. Ich muß auch zugeben, daß mir die Arbeit nun doch mit jedem Tag schwerer fällt und ich wohl ab nächsten Montag aussetze. Ich muß jetzt an mein Kind denken.«

»Ist doch schon seit vierzehn Tagen mein Reden, Marike. Wenn es nach mir geht, sollten Sie noch nicht einmal mehr diese Woche durcharbeiten. Zuviel des Guten ist auch nicht das Wahre. Wenn man es hier in der Klinik schon ohne Sie schafft, bleiben Sie ruhig gleich morgen daheim. Ihre Mutter hat sich ja bestimmt schon hier bei uns in der Gegend eingelebt, nicht wahr?«

»Das hat sie, Hanna. Sie sagte es mir erst gestern abend, daß sie sich schon riesig auf die Zeit freut, in der die Heide wieder zu blühen beginnt. Es wurde auch Zeit, daß sie endlich aus der Enge der Stadt herauskam. Martin hat sich mit ihr schon immer sehr gut verstanden und er ist sehr froh, daß sie in Zukunft mit uns zusammenleben wird. Ich hatte doch sehr häufig große Sehnsucht nach ihr.«

»So geht es mir auch, Marike. Zum Glück ist meine Mutter nicht allein. Wenn auch mein Vater in den vergangenen Monaten immer etwas kränkelt, weil sein Herz nicht mehr so recht mitmachen will, so hat meine Mutter doch wenigstens jemanden, den sie umsorgen kann. Ihre Mutter dagegen lebte ja völlig auf sich gestellt in der Stadt.«

Bevor Marike etwas darauf entgegnen konnte, trat Irma Blomfeld, eine zur Fülle neigende Frau von gut vierzig Jahren, zu ihnen und wollte mit einem freundlichen Lächeln wissen: »Haben Sie einen Wunsch, Frau Dr. Martens?«

»Nein, Frau Blomfeld, ich wollte nur nach Frau Schriewers sehen und mich einen Augenblick mit ihr unterhalten. Aber da Sie gerade hier sind… Sind Sie mit den Arbeitsbedingungen bei uns zufrieden? Kommen Sie schon mit allen klar?«

»Selbstverständlich, Frau Dr. Martens. Es läßt sich hier auch ausgezeichnet arbeiten. Ich bin vollauf zufrieden, und ich komme auch schon mit allem allein klar. Frau Schriewers sollte sich langsam mehr schonen und an das Baby denken, das sie in Kürze erwartet.«

»Das habe ich ihr auch gerade geraten. Ich will auch jetzt wieder gehen und Sie nicht von der Arbeit abhalten. Ich weiß ja, daß es um diese Zeit jede Menge Arbeit gibt, wenn das Essen zubereitet wird. Es bleibt auch dabei, daß ich es mit Ihnen genauso halte wie mit Frau Schriewers. Immer am Sonnabend nach der Mittagszeit werde ich mit Ihnen den Speiseplan für die kommende Woche besprechen. Also dann, ich muß wieder auf die Krankenstation hinauf.«

Hanna reichte Marike lächelnd die Hand und nickte Irma Blomfeld freundlich zu, danach verließ sie die Küche und ging zur Krankenabteilung hinauf.

*

Das persönliche Vorgespräch zwischen Kay und Michael Küsters, bei dem auch Hanna anwesend war, verlief für alle drei sehr erfreulich. Schon als der sympathische junge Arzt das Sprechzimmer Kay Martens’ betrat, waren beide angenehm überrascht. Im Verlauf des Gespräches stellte sich vor allen Dingen für Hanna sofort heraus, daß sie und Kay sich für den Richtigen entschieden hatten. Nicht das angenehme Äußere allein, sondern auch, wie er sich gab: höflich, zurückhaltend, und dabei doch mit einem verschmitzten Ausdruck in den Augen. Die für Kay und Hanna sehr wichtige Aussage über seine Fähigkeiten als Arzt ließen die Geschwister und den zukünftigen Mitarbeiter schnell einig werden. Dr. Michael Küsters würde also in gut einer Woche, zum ersten Februar, seinen Dienst in der Kinderklinik Birkenhain antreten. Es blieb ihm die Zeit, sich nach einer vorläufigen Unterbringung umzusehen.

Hanna empfahl ihm, sich erst einmal in der Pension »Haus Daheim« ein Zimmer zu nehmen.

»Also, Dr. Küsters, dann auf die kommende Woche und auf gute Zusammenarbeit«, sagte Kay, als sich der neue Mitarbeiter von Hanna und ihm verabschiedete, und reichte ihm mit einem herzlichen Lächeln seine Rechte.

Als Hanna und Kay wieder allein waren, fragte Hanna: »Zufrieden, Bruderherz?«

»Und ob, Hanna. Du hast mal wieder das richtige Händchen gehabt. Ich bin sicher, daß wir in Dr. Küsters einen Arzt gefunden haben, der hervorragend in unser Team paßt. Die Sache ist also bestens gelaufen.«

»Nun, wir werden sehen. Ich werde dann dafür sorgen, daß unsere Mitarbeiter und auch die Schwestern, die abkömmlich sind, am nächsten Freitag in der Kantine zusammenkommen, damit du unseren neuen Mitarbeiter einführen kannst, nicht wahr?«

»Einverstanden, so können wir es halten, dann wissen alle sofort Bescheid«, erwiderte Kay, und für diesen Tag war das Thema Michael Küsters für Hanna und Kay abgehakt.

Am Freitag der nächsten Woche, früh um acht Uhr, waren dann alle Mitarbeiter der Geschwister und auch der größte Teil der Schwestern in der Kantine versammelt, als Hanna und Kay Martens mit Michael Küsters eintraten.

Lächelnd sagte Kay: »Hiermit möchte ich Ihnen allen unseren neuen Assistenzarzt Michael Küsters vorstellen. Er nimmt ab heute den Platz von Dr. Frerichs ein.«

Halb verdeckt von Oberschwester Elli und Schwester Tina standen die beiden Operationsschwestern Barbara und Christina. Schon als der Chefarzt und seine Schwester mit dem jungen Arzt eintraten, weiteten sich Schwester Christinas Augen entsetzt. Sie starrte auf den jungen Arzt, als wäre dieser ein Geist, und ihre Gestalt wankte.

Barbara, die als einzige die Fassungslosigkeit der Kollegin und Freundin bemerkte, flüsterte ihr, für die vor ihnen Stehenden nicht verständlich, zu: »Haltung, Christina! Haltung…, und immer lächeln!«

Schon lag auf Christinas Gesicht wieder ein Lächeln, wenn auch ein sehr gezwungenes.

Schwester Christina war die zweite Operationsschwester. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, hatte eine schlanke Figur. Dunkle, große Augen, die immer sehr ernst blickten, verliehen dem schmalen, ebenmäßigem Gesicht einen besonderen Reiz. Während der Dienststunden trug sie ihr dunkelbraunes, halblanges Haar meistens zusammengebunden oder hochgesteckt unter ihrem Schwesternhäubchen verborgen.

Nicht einmal Barbara, mit der sie sich in der Zeit, in der sie nun schon in der Kinderklinik arbeitete, sehr angefreundet hatte, konnte ahnen, was in diesen Minuten in ihr vorging. Mit dem jungen Arzt hatte sie eine Vergangenheit eingeholt, der sie vor mehr als fünf Jahren, als sie sich noch in der Ausbildung befand, entflohen war.

Nimm dich zusammen, raunte eine mahnende Stimme in ihrem Innern… Willst du, daß dir jeder gleich ansieht, was mit dir los ist?

Während Michael Küsters zur Begrüßung Hände schüttelte, gelang es Christina, wenigstens nach außen hin ihre Fassung zurückzuerlangen.

Dann stockte sekundenlang auch der Schritt des jungen Arztes.

Das ist doch Christina, schoß es ihm gedankenschnell durch den Kopf, und ebenfalls nur mit größter Mühe wahrte er seine Fassung.

Wie aus weiter Ferne drang die Stimme seiner jungen Vorgesetzten an sein Ohr, die in diesem Augenblick lächelnd sagte: »Und das, Dr. Küsters, sind unsere Oberschwestern Elli und Tina und unsere Operationsschwestern Barbara und Christina.«

Christina sah Michael Küsters nicht an, als sie ihm ihre Hand reichte, aber bei der kurzen Begrüßung durchzuckte es sie wie ein elektrischer Schlag. Als habe sie sich verbrannt, zog sie schnell ihre Hand zurück.

Hanna kam das Benehmen der beiden ein wenig sonderbar vor, da sie aber noch die übrigen Schwestern vorstellen mußte, machte sie sich zunächst darüber keine Gedanken.

Christina atmete erst auf, als sie mit Barbara und den anderen Schwestern die Kantine verlassen konnte. Sie wollte loslaufen, aber Barbara hielt sie am Kittel fest und zischte ihr leise zu: »Nimm dich zusammen, Christina. Du tust ja gerade so, als würde dich der Neue fressen wollen. Ich finde, er ist ein sehr netter und sympathischer Mensch.«

Während Barbara neben Christina den anderen Schwestern über den Gang folgte, wollte sie wissen: »Woher kennst du ihn, Christina? Sag jetzt nicht, daß es nicht stimmt.«

»Ich habe ihn vor etlichen Jahren kennengelernt. Aber bitte, frag mich nicht, ich will und kann nicht darüber reden. Wenn du wirklich meine Freundin bist, erfüllst du mir diese Bitte. Die Sache geht nur mich allein etwas an.«

»Wie du willst, Christina. Nur, wenn wir Freundinnen sind, dann solltest du mir auch ruhig ein wenig mehr Vertrauen entgegenbringen.«

»Ich kann nicht, nicht jetzt, Barbara. Vielleicht werde ich dir später einmal meine ganze Geschichte erzählen. Aber noch bin ich nicht soweit. Die unverhoffte Begegnung, mit der ich nie im Leben gerechnet hätte, hat alles wieder aufgewühlt. Wenn doch dieser Tag nur schon vorbei wäre.«

»Da mußt du schon noch so einige Stündchen durchhalten, liebe Christina, denn unser Tag beginnt erst. Denk daran, es steht heute noch eine Operation auf dem Plan. Da müssen wir fit sein. Gerade jetzt darfst du dir auch nicht den kleinsten Fehler erlauben.«

»Keine Angst, Barbara, ich werde mich schon zusammennehmen. Ich werde Beruf und private Angelegenheiten schon nicht durcheinanderbringen. Laß uns in den OP gehen und mit unseren Vorbereitungen beginnen.«

Erst als sie nach Dienstschluß oben in dem kleinen Zimmer war, das sie mit Schwester Barbara teilte, wurde Christina sehr still und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Da die Freundin noch einmal in die Kantine hinuntergegangen war, um eine Kleinigkeit zu essen, war sie ungestört.

Sie dachte an die unverhoffte Begegnung mit dem Mann, mit dem ihre Vergangenheit sie eingeholt hatte.

Ein Mädchen von neunzehn Jahren war sie gewesen und noch in der Ausbildung, als sie vor über fünf Jahren Michael Küsters in Erlangen kennengelernt hatte. Er hatte dort in ihrer Heimatstadt studiert. Es war eine glückliche, aber kurze Zeit gewesen, bis sie jäh aus ihren glücklichen Träumen gerissen worden war. Es war Christina plötzlich zumute, als wäre es erst gestern gewesen, als sie den Mann, den sie über alles liebte, mit dieser anderen Frau gesehen hatte. Zutiefst getroffen hatte sie sich zurückgezogen, sich sogar verleugnen lassen, ohne eine Erklärung zu fordern.

Kurz darauf hatte sie selbst aus bestimmten Gründen ihre Heimatstadt verlassen, ohne Michael noch einmal zu sprechen. So vieles war in der Folgezeit geschehen. Und nun, aus heiterem Himmel, führte das Schicksal sie einander wieder über den Weg. Sollte alles wieder von vorn beginnen? Ohne daß sie etwas dagegen tun konnte, traten ihr die Tränen in die Augen.

Erst als sie Schritte hörte, die sich draußen der Tür näherten, fuhr sie sich mit einer unwilligen Geste über die Augen. Sie wollte nicht, daß Barbara sah, wie es in Wirklichkeit in ihr aussah. Wenn sie inzwischen auch schon sehr lange und sehr gut mit ihrer Kollegin befreundet war, so gab es doch in ihrem Leben Dinge, die nur sie allein etwas angingen, von denen niemand wissen durfte.

*

Michael Küsters erging es an seinem ersten Tag in der Kinderklinik Birkenhain genauso wie Schwester Christina. Auch er mußte seine Gedanken an private Dinge ausschalten, bis er nach Dienstschluß in seinen Wagen stieg und zur Pension »Haus Daheim« fuhr, wo er tatsächlich ein freies Zimmer bekommen hatte.

Christina, das Mädchen, das er in all den Jahren nicht vergessen konnte… Ausgerechnet hier in der Heide traf er sie wieder. Er hatte nie begriffen, warum sie damals so plötzlich nichts mehr von ihm wissen wollte und so ohne Angabe von Gründen aus seinem Leben verschwunden war. Obwohl er zu dieser Zeit noch nicht fertig war, stand für ihn damals schon ernsthaft fest, daß er in Christina das Mädchen gefunden hatte, mit dem er sich eine gemeinsame Zukunft aufbauen wollte. Es war doch für sie beide die erste große Liebe ihres Lebens gewesen. So hatte er es gewußt und auch in seinem Herzen gefühlt. Es hatte ihn dann um so härter getroffen, als sie so spurlos aus seinem Leben verschwand. Sein zukünftiger Beruf war es dann, der ihm half, den ersten Schmerz zu vergessen und langsam zu verwinden. Aber von diesem Tag an hatte es für ihn keine andere Bindung zu einer Frau gegeben. Denn trotz allem hatte er Christina nie vergessen können. Nun war sie hier, und er konnte sie jeden Tag sehen. Er würde sie, wenn er sie einmal allein antraf, fragen, warum sie ihn vor Jahren verlassen hatte, warum sie spurlos aus seinem Leben verschwunden war.

Noch immer tief in Gedanken, betrat er wenig später die Pension und wäre fast mit der Pensionswirtin Anne Buschen zusammengeprallt.

»Einen schönen ersten Tag in der Klinik gehabt, Herr Doktor?« fragte Anne Buschen, nachdem er sich höflich bei ihr entschuldigt hatte.

»Ja, ich habe sehr nette Kolleginnen und Kollegen kennengelernt, Frau Buschen. Die Kinderklinik ist alles in allem, wie ich schon heute am ersten Tag erkennen konnte, ein ausgezeichnet geführtes Haus. Ich werde mich wohl fühlen und gern dort arbeiten.«

»Ja, es stimmt. Dr. Martens und seine Schwester sind hier bei uns in der Gegend auch sehr beliebt. Es sind tüchtige Menschen, vor deren Können man Hochachtung haben muß. Wenn meine Jüngste, die Babsi, einmal krank werden sollte, kommt für uns auch nur Birkenhain in Frage. Aber ich will Sie mit meinen Reden nicht aufhalten. Der erste Tag ist immer der anstrengendste. Wann zu Abend gegessen wird, das wissen Sie ja.«

Mit einem freundlichen Lächeln verschwand Anne Buschen hinter der nächsten Tür.

Michael Küsters ging hinauf in sein Zimmer. Er mußte eine Weile mit seinen Gedanken allein sein. Zuviel war mit der kurzen Begegnung mit Christina an diesem Tag auf ihn eingestürmt und hatte alle Fragen aufs neue wieder aufwachen lassen. Er wußte, nur eine Aussprache mit Christina konnte Aufklärung bringen. Er mußte nur den Augenblick abwarten, wenn er Christina allein antraf. Eine Aufklärung war ihm Christina ganz einfach schuldig.

Michael Küsters Erwartungen, Christina allein zu treffen, erfüllten sich gleich am nächsten Tag, kurz nachdem er seinen Dienst in der Klinik angetreten hatte. Es kam für ihn völlig überraschend.

Er kam gerade aus der Röntgenabteilung, als er ihr plötzlich gegenüberstand.

Während Christinas Gesicht die Farbe verlor und sie einen Schritt zurückwich, stieg ihm eine dunkle Röte ins Gesicht. Sekundenlang starrten sie sich an. Bevor Christina jedoch die Flucht ergreifen konnte, Michael sah es ihrem Gesicht an, griff er nach ihrer Hand und bat: »Lauf bitte nicht davon, Christina. Ich bin so froh, dich endlich wiedergetroffen zu haben. Laß uns miteinander reden. Wir können doch nicht so tun, als ob wir uns nicht kennen. Ich muß mit dir reden.«

Mit einem heftigen Ruck entzog Christina ihm ihre Hand. Ihr Gesicht verschloß sich noch mehr, und mit tonloser Stimme entgegnete sie: »Tut mir leid, ich wüßte nicht, worüber es zwischen uns noch etwas zu reden gibt.« Ihr Kinn reckte sich in die Höhe, und ohne ein weiteres Wort zu sagen wandte sie sich ab und ließ ihn einfach stehen.

»Christina, bitte, du kannst doch nicht einfach so gehen«, rief Michael Küsters der jungen Schwester mit gedämpfter Stimme nach, jedoch ohne Erfolg, denn im nächsten Augenblick schon war Christina hinter einer Tür verschwunden.

Michael starrte auf die Tür, die sich hinter Christina geschlossen hatte. Er begriff überhaupt nichts mehr. Warum nur war Christina ihm gegenüber so eigenartig? Man konnte es sogar feindselig nennen. Was hatte er ihr getan, daß sie so reagierte? Er war sich keiner Schuld bewußt. Sie war es doch auch gewesen, die vor über fünf Jahren auf einmal nicht mehr für ihn zu sprechen gewesen war und danach spurlos verschwand. Und dabei war er selbst ihrer Liebe so sicher gewesen. Er hatte sich wohl getäuscht. Was für ihn die große Liebe war, war für Christina nur ein Spiel gewesen. Aber selbst wenn es so gewesen sein sollte, war das auf keinen Fall ein Grund, sich jetzt ihm gegenüber so feindselig zu verhalten.

Michael Küsters ahnte nicht, daß Christina nur nach außen hin so feindselig wirkte, daß sie sich damit stärken wollte. Auf der einen Seite glaubte sie, ihn zu hassen, und hatte eine furchtbare Angst davor, daß er etwas herausfinden könnte, was sie ihm niemals freiwillig preisgeben würde. Doch auf der anderen Seite zog es sie mit allen Fasern ihres Herzens erneut zu ihm hin. So wie es vor all den Jahren gewesen war.

Mit wild pochendem Herzen stand sie hinter der Tür, beide Hände vor die Brust gepreßt. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, die ihr in die Augen schossen.

»Was ist denn mit dir los, Christina? Was ist passiert?« Die Stimme ihrer Kollegin Barbara ließ Christina zusammenzucken.

Nur mit Mühe gelang es ihr, sich zu fassen, und mit spröder Stimme entgegnete sie: »Es ist nichts, Barbara. Ist schon wieder alles in Ordnung.«

»Um nichts weint man nicht, Christina. Bin ich nun deine Freundin, oder bin ich es nicht? Warum willst du mir nicht sagen, was auf einmal mit dir los ist?«

»Bitte, Barbara, wenn du meine Freundin bist, dann frage bitte nicht. Ich kann dir nichts sagen. Ich kann es doch einfach nicht. Und bitte nicht böse sein.«

»Ich bin dir nicht böse, Christina. Ich bin nur ein wenig enttäuscht, daß du so gar kein Vertrauen zu mir hast. Ich sehe doch, daß dich etwas quält, dir schwer zu schaffen macht. Du weißt, wie sehr ich dich mag. Ich möchte dir doch nur helfen. Du weißt, daß ich mich nicht in dein Vertrauen drängen will. Du kennst mich, denn ich habe dich bisher auch nie gefragt, warum du deine freien Tage und Wochenenden immer allein verbringen willst. Ich habe deinen Wunsch in dieser Hinsicht immer respektiert, obwohl ich mich immer und immer wieder gefragt habe, warum du gerade aus diesen Tagen ein solches Geheimnis machst. Ich werde dich auch jetzt nicht bedrängen. Du sollst jedoch wissen, daß, wann immer dir danach ist, du mit mir über alles reden kannst.«

»Es gibt Dinge, über die ich mit niemandem reden kann, Barbara. Bitte verzeih mir, aber ich kann nicht, noch nicht. Wenn es einmal der Fall sein sollte, wirst du die erste sein, die alles erfährt. Jetzt laß uns an unsere Arbeit denken, sonst kommt der Chef und findet nichts vorbereitet vor.«

»Wie du willst, Christina. Also dann, auf geht’s, an die Arbeit.«

*

Es kam zwar selten vor, doch an diesem Morgen hatte Hanna doch wahrhaftig verschlafen. Erst lautes Pochen an ihrer Schlafzimmertür und eine helle Frauenstimme ließen sie hochschrecken.

»Es ist gleich halb sieben, Frau Doktor. Aufstehen, es wird allerhöchste Zeit.«

Mit einem Ruck sprang Hanna aus dem Bett und rief: »Ich komme sofort, Füchsin. Gießen Sie mir ruhig schon den Kaffee ein!«

Keine zehn Minuten später betrat Hanna den kleinen, gemütlich eingerichteten Eßraum in ihrem neuen Heim.

Der Duft des Kaffees stieg ihr in die Nase, und auf dem Teller lagen die zwei Hälften eines knusprigen Brötchens, mit Käse und rohem Schinken belegt.

»Guten Morgen, Füchsin«, wünschte Hanna und sah lächelnd auf die rot­haarige, etwas vollschlanke junge Frau, die sich mit den Blumen auf der Fensterbank beschäftigte.

»Guten Morgen, Frau Doktor. Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit. Ich habe in der Küche noch frisch ausgepreßten Orangensaft. Darf ich Ihnen ein Glas davon bringen?«

»Gern, Füchsin, aber ein halbes Brötchen reicht heute. Danke, daß Sie alles schon vorbereitet haben. Wenn ich noch einmal verschlafen sollte, bitte wecken Sie mich dann ruhig eine Viertelstunde früher. Es ist nur gut, daß heute am Sonnabend der Tag drüben in der Klinik ruhig sein wird.«

Während des kurzen Gespräches trank Hanna ihren Kaffee und aß dazu eine Brötchenhälfte.

Jolande Rilla, von Hanna auf ihren eigenen Wunsch seit kurzem nur Füchsin genannt, holte den Orangensaft aus der Küche, und danach wurde es für Hanna auch höchste Zeit, hinüber in die Klinik zu gehen, denn die Uhr zeigte ein paar Minuten vor sieben.

Rasch zog sich Hanna eine warme Strickweste über, schlüpfte in ihre gefütterten Stiefeletten und verließ das Haus. Mit raschen Schritten, denn es war auch an diesem Februarmorgen draußen sehr kalt, eilte sie durch den Park hinüber ins Klinikgebäude.

Hanna war gerade dabei, in bequeme Schuhe zu schlüpften, als es an die Tür klopfte und kurz darauf Kay in das Zimmer trat.

»Guten Morgen, Hanna, ich habe dich schon vermißt«, sagte er neckend.

»Guten Morgen. Mein Bett war so mollig, daß ich wahrhaftig verschlafen habe. Wenn die Füchsin mich nicht geweckt hätte, würde ich wohl jetzt noch in den Federn liegen. Zum Glück kann ich mich auch in solchen Fällen auf sie verlassen. Es hat ja auch gerade noch mit der Zeit geklappt.«

»Es war nur ein Scherz von mir, Hanna. Der Grund, warum ich zu dir komme, ist ein anderer. Du hast doch neulich gesagt, daß du wegen des Jungen, ich meine den Peter König, etwas unternehmen willst, weil dir einiges unklar ist. Hast du das noch immer vor, oder hast du deine Absicht inzwischen geändert? Ich wollte dich schon gestern abend danach fragen, aber du warst so plötzlich verschwunden.«

»Ich habe meine Absicht keineswegs geändert, Kay. Mir lag aber zunächst daran, abzuwarten, bis es dem Jungen etwas bessergeht. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, werde ich versuchen, den Jungen behutsam anzuforschen. Erst wenn da etwas zutage kommt, werde ich mich mit der Leiterin des Städtischen Kinderheimes in Celle in Verbindung setzen.«

»Städtischen Kinderheim, Hanna? Ich war bis jetzt in dem Glauben, daß der Junge in dem privaten Heim ›Haus Maria‹, lebt. Gehört das nicht auch zu Celle?«

»Schon, Kay, aber Peter König lebt im Städtischen Heim, das sehr streng geführt wird.«

»Ach, so ist das, dann wundert es mich ja eigentlich nicht, daß der Junge verschüchtert ist. Ich habe Herrn Tönnis, den Heimleiter, einmal persönlich kennengelernt. Er ist nicht gerade ein überall beliebter Zeitgenosse. Ein strenger Mann.«

»Manchmal geht es wohl nicht anders, Kay. Ich selbst bin auch nicht für übermäßige Strenge. Doch wenn in einem solchen Heim viele Kinder leben, wird es für die Betreuer auch nicht immer leicht sein. Man muß in solchen Dingen immer beide Seiten sehen. Nun, ich werde diesen Herrn sicherlich bald persönlich kennenlernen. Bis jetzt glaubte ich, daß das Heim auch von einer Frau geleitet würde, so wie es im Heim ›Haus Maria‹ der Fall ist.«

»So war es bis vor einem Jahr, als Herr Tönnis die aus Altersgründen ausscheidende Leiterin ablöste.«

»Ach, so ist das, das wußte ich nicht. Spielt ja auch keine Rolle. Da müssen wir eben sehen, wie wir mit diesem Herrn Tönnis in Zukunft klarkommen.«

Als Hanna auf die Uhr sah, sagte Kay lächelnd: »Ich weiß, es wird Zeit für uns, die Pflichten rufen. Du gehst ja bestimmt zuerst hinauf auf die Station. Ich habe ebenfalls zu tun und will dich nicht länger aufhalten.«

*

Das Wochenende und auch die ersten Tage der neuen Woche gingen ohne besondere Vorkommnisse vorüber.

Michael Küsters hatte zwar noch ein paarmal versucht, Christina allein zu sprechen, doch wie beim ersten Mal hatte sie ihn einfach stehen lassen. Es war ihm jedoch schon aufgefallen, daß Christina sich in den wenigen Tagen, in denen er nun in der Klinik arbeitete, sehr verändert hatte. Ihr Gesicht war schmaler geworden, und sie war jetzt immer sehr blaß. Sie wirkte irgendwie fahrig und nervös. Michael Küsters registrierte diese Tatsachen mit Besorgnis, sogar mit leichtem Befremden. War es allein seine Anwesenheit in der Klinik, die diese Veränderung hervorgerufen hatte? Seiner Meinung nach konnte das nicht der Grund sein, und er konnte ihr Verhalten nicht verstehen. Er wußte inzwischen, daß Christina mit ihrer Kollegin, der zweiten Operationsschwester, in einem gemeinsamen Zimmer in der Klinik wohnte, so wie es auch bei einigen anderen Schwestern der Fall war. Vielleicht konnte er durch Schwester Barbara herausbekommen, wann Christina ihren freien Tag hatte. Aufgeben würde er auf keinen Fall. Dazu war ihm alles, was mit Christina zusammenhing, viel zu wichtig.

Am Mittwochmorgen, er assistierte dem Chef bei einer Blinddarmoperation, konnte er Christina nirgendwo entdecken. Es waren nur Schwester Barbara und zwei weitere junge Schwestern anwesend.

Nach Beendigung der Operation, als er einen Moment mit Schwester Barbara allein war, fragte er: »Wo haben Sie denn heute Ihre Kollegin Schwester Christina gelassen?«

»Christina hat heute ihren freien Tag, Herr Dr. Küsters«, antwortete die junge Schwester und sah ihn abwartend an, ob er vielleicht noch weitere Fragen stellen würde. Aber Michael sagte nur: »So, sie hat heute ihren freien Tag. Vielen Dank für die Auskunft, Schwester Barbara.«

Gegen elf sah Michael zufällig aus dem Fenster des Ärztezimmers, in dem er sich gerade aufhielt, wie Christina das Klinikgebäude verließ und auf den Parkplatz zuging, auf dem das Pflegepersonal und die Ärzte ihre Wagen abstellten. Von seinem Standort aus konnte er beobachten, daß sie sich immer wieder umschaute. Es sah so aus, als habe sie Angst davor, daß ihr jemand folgte. Eigenartig, dachte Michael und verharrte auf seinem Platz. Er würde so wenigstens feststellen können, welchen Wagen Christina fuhr. Zu gern wäre er ihr in diesem Augenblick gefolgt, um sie endlich einmal allein und außerhalb der Klinik zu treffen und sie zu einem Gespräch zu zwingen.

So mit seinen Gedanken beschäftigt, sah er einen kleinen weißen Golf vom Parkplatz kommen und in Richtung des hohen, schmiedeeisernen Torbogens davonfahren. Wo mag sie nur hinfahren? dachte er und sah dem Wagen nach, bis er seinen Blicken entschwunden war.

Michael Küsters ahnte nichts davon, daß es in Christinas Leben ein großes Geheimnis gab, das sie noch niemandem preisgegeben hatte, nicht einmal ihrer einzigen Freundin, Barbara.

»So in Gedanken, Dr. Küsters?«

Es wag Kay, der ins Ärztezimmer getreten war. Michael Küsters, der das Eintreten des Chefs völlig überhört hatte, fuhr erschrocken herum.

»Entschuldigen Sie, Herr Dr. Martens, ich war wirklich einen Moment mit meinen Gedanken woanders.«

»Und sonst, alles in Ordnung? Fühlen Sie sich hier bei uns auf Birkenhain wohl?«

Prüfend sah Kay seinen neuen Mitarbeiter an, der einen winzigen Augenblick zögerte und dann entgegnete: »Ich fühle mich hier in der Klinik wohl, Herr Dr. Martens, und auch in der Pension ›Haus Daheim‹ bin ich gut untergekommen. Es ist ein sehr ruhiges Haus.«

Kay hatte das kurze Zögern wohl bemerkt und dachte bei sich: Scheint also doch nicht alles in Ordnung zu sein. Irgendwie kam ihm der sympathische junge Mann auch ein wenig verändert vor. Er ging jedoch nicht weiter auf diesen Punkt ein, sondern sagte freundlich lächelnd: »Es ist mir klar, daß die Pension für Sie nur eine Übergangslösung sein kann. Ich werde mich zwischenzeitlich auch umhören, ob wir für Sie nicht in der Nähe eine kleine Appartementwohnung finden. Kümmern Sie sich jetzt bitte darum, daß das Mädel von Zimmer vierzehn nach unten zum Röntgen gebracht wird. Werten Sie die Aufnahmen anschließend gleich aus, und bringen Sie mir die Ergebnisse in mein Sprechzimmer hinüber.«

Als Christina gegen Abend in die Klinik zurückkam, war Barbara schon in ihrem gemeinsamen Zimmer.

»Nun, Christina, hast du den Tag gut verlebt?« Fragend sah sie Christina an.

»Ich bin zufrieden, Barbara. Und wie ist es für dich heute hier gelaufen? War viel zu tun?«

»Eine Blinddarmoperation, mehr nicht. Aber unser Neuer, Dr. Küsters hat nach dir gefragt.«

»Er hat nach mir gefragt?« Erschrocken sah Christina die Freundin an.

»Ja, sag ich doch.«

»Und, was hast du ihm geantwortet?«

»Na, was schon. Natürlich, daß du heute deinen freien Tag hast.«

»Sonst nichts, Barbara?« Ein fremder Ausdruck flackerte in Christinas Augen.

»Nein, sonst nichts. Ich weiß ja selbst nicht, wo du deine freien Tage verbringst. Ich möchte sowieso gern wissen, was in den letzten Tagen eigentlich mit dir los ist. Es geht mich zwar nichts an, was da zwischen dir und dem Neuen spielt. Aber ich würde mich an deiner Stelle mehr zusammennehmen, damit nicht noch am Ende der Chef oder die Chefin etwas merken.«