Über Vivek Shanbhag

Vivek Shanbhag hat fünf Kurzgeschichtenbände, drei Romane und zwei Dramen veröffentlicht, alle verfasst in der südindischen Sprache Kannada. »Ghachar Ghochar« ist der erste Roman von ihm, der auf Deutsch erscheint. Er wurde in neun Sprachen übersetzt und von der Presse hochgelobt. Shanbhag lebt in Bangalore.

Daniel Schreiber, Kunstkritiker, Essayist und Übersetzer, hat in Berlin und New York studiert. Sein Buch »Susan Sontag. Geist und Glamour« war die erste Biografie über die bekannte amerikanische Intellektuelle und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Er ist Autor der hochgelobten Essaybände »Nüchtern. Über das Trinken und das Glück« und »Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen«. Schreiber lebt in Berlin.

Informationen zum Buch

»Vivek Shanbhag ist der indische Tschechow.« Suketu Mehta

Als der Onkel des jungen Erzählers in den Handel mit Gewürzen einsteigt, ändert er über Nacht das Schicksal der ganzen Familie. Der einst mittellose Clan zieht in ein großzügiges Haus in einer reichen Wohngegend, verschafft sich neue Möbel und einen neuen Bekanntenkreis. Doch mit dem plötzlichen Reichtum werden auch die Abhängigkeiten neu verteilt: An dem Erfolg des Onkels hängt nun das gesamte Wohl der Familie. Und dieses gilt es zu schützen, um jeden Preis. Notfalls auch vor den eigenen Familienmitgliedern.

»Ein großer Roman aus Indien. In diesem verdichteten psychologischen Portrait einer Familie ist ein ganzes Universum enthalten.« New York Times Review of Books

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Vivek Shanbhag

Ghachar Ghochar

Roman

Aus dem Englischen
von Daniel Schreiber

Inhaltsübersicht

Über Vivek Shanbhag

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Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Impressum

In Erinnerung an Yashwant Chittal

Eins

Vincent ist Kellner im Coffee House. Es heißt tatsächlich nur so – Coffee House. Die Bezeichnung hat sich seit hundert Jahren nicht verändert, das so bezeichnete Café aber schon. Man kann hier immer noch eine gute Tasse Kaffee bekommen, aber inzwischen ist das Coffee House zu einer Mischung aus Bar und Restaurant geworden. Es ist keine dieser schummrigen Bars, in denen die Leute furchtbar eng beieinander an den Tischen sitzen und wo sich einem immer die Vermutung aufdrängt, dass das Trinken vielleicht doch keine so erbauliche Tätigkeit sei, wie man eigentlich denkt. Nein, dieses Lokal ist luftig, geräumig und hat hohe Decken. Wenn man hier trinkt, fühlt man sich kultiviert und weltgewandt. Die Wände sind mit schulterhohen Holzpaneelen getäfelt und an den soliden, vierkantigen Säulen in der Mitte des Raumes hängen alte Fotos, auf denen zu sehen ist, wie schön diese Stadt noch vor einem Jahrhundert war. Die Fotos rufen eine entspanntere und gemütlichere Zeit in Erinnerung und irgendwie schafft man es hier im Coffee House, den Eindruck zu vermitteln, man lebe noch immer in genau dieser Zeit. Zum Beispiel kann man hier um sieben Uhr abends herkommen, wenn am meisten los ist, nur einen Kaffee bestellen und seinen Tisch trotzdem für zwei Stunden in Besitz nehmen. Niemand hat dagegen etwas einzuwenden. Man scheint hier zu wissen, dass jemand, der so lange einfach so in einem Café herumsitzt, sich mit tausend kleinen Rädchen in seinem Kopf herumschlagen muss, die unablässig rattern. Und man weiß auch, dass diese Rädchen dem Besitzer jenes Kopfes keine Ruhe lassen werden und ihr Rattern ihn schließlich unter sich begraben wird. Genauso wie die ruhigen Orte von jenen alten Fotos begraben, von Investoren verschlungen und in das überladene Kuddelmuddel verwandelt wurden, in dem wir heute leben.

Aber wie auch immer – ich will hier nicht ins Grübeln geraten. Um auf diesen Vincent zurückzukommen: Er ist ein großer, dunkelhäutiger Mann, die Mitte seines Lebens hat er schon leicht überschritten, aber er verfügt über eine gute Statur und hat noch nicht einmal die Spur eines Bauchansatzes. Er trägt eine weiße Uniform, die es unmöglich macht, den extravaganten roten Kummerbund zu übersehen, und auf seinem Kopf sitzt ein weißer Turban, dessen Quaste aufrecht emporsteht und an Krishnas Pfauenfeder erinnert. Wenn Vincent da ist – wenn er den Kaffee bringt, mit geübten Handgriffen das Bier in einem bestimmten Winkel in das Glas gießt oder wenn der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht zieht, sobald er sieht, dass ein Gast sein Kotelett nicht mit der Hand, sondern affektiert mit Messer und Gabel isst –, dann kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er in der Lage ist, jeden von uns hier mit nur einem einzigen Blick zu durchdringen. Inzwischen glaube ich sogar, dass er seine Stammgäste besser kennt als sie sich selbst.

Einmal, ich war völlig aufgebracht hergekommen und er brachte mir eine Tasse Kaffee, entrutschte mir die Frage »Was soll ich nur machen, Vincent?«. Mir waren diese Worte auf der Stelle peinlich und ich wollte mich gerade dafür entschuldigen, als er bedächtig antwortete: »Loslassen, Sir.« Sicherlich war das eine sehr allgemeine Antwort, aber etwas an der Art, wie er sie aussprach, sorgte dafür, dass ich seine Worte ernst nahm. Nicht lange danach beendete ich die Sache mit Chitra und ließ alles, was zwischen uns gewesen war, hinter mir. Danach schlug mein Leben eine Richtung ein, die dazu führte, dass ich heiratete. Nun, ich möchte hier nicht den Eindruck vermitteln, dass ich an übersinnliche Dinge glaube – das tue ich nicht. Aber ich suche auch nicht wie verrückt nach rationalen Erklärungen für alles, was passiert.

Heute sitze ich länger als je zuvor im Coffee House und warte verzweifelt auf irgendeine Art von Zeichen. Ein Teil von mir sehnt sich danach, mit Vincent zu sprechen, aber ich halte mich zurück – was, wenn er die einzige Sache zur Sprache bringt, über die ich nicht nachdenken möchte? Es ist Nachmittag. Außer mir gibt es nur wenige Gäste. Ich kann direkt auf eine junge Frau in einem blauen T-Shirt schauen, die etwas in ihr Notizbuch einträgt. Sie sitzt an einem der Tische, von denen man nach draußen auf die Straße blickt. Vor ihr auf dem Tisch befinden sich zwei Bücher, ein Glas Wasser und eine Kaffeetasse. Eine Locke ihres Haares ist ihr beim Schreiben ins Gesicht gefallen. Sie ist mindestens dreimal die Woche hier, immer zur gleichen Zeit. Manchmal kommt ein junger Mann dazu und sie trinken einen Kaffee, bevor sie zusammen aufbrechen. Es ist derselbe Tisch, an dem Chitra und ich uns früher getroffen haben.

Gerade, als ich mich frage, ob ihr Freund heute auch kommen wird, sehe ich, wie er zur Tür hereinspaziert und auf dem Stuhl ihr gegenüber Platz nimmt. Mein Blick schweift daraufhin ab und gleitet durch den Raum, aber er kehrt mit einem plötzlichen Ruck zum Tisch der beiden zurück, als ich höre, dass sie sich anschreien. Die junge Frau hat sich inzwischen erhoben und lehnt sich über den Tisch. Mit einer Hand hält sie den Mann am Kragen fest, mit der anderen schlägt sie ihm ins Gesicht. Er versucht sich mit erhobenen Unterarmen vor ihren Schlägen zu schützen und presst eine Reihe von Rechtfertigungen hervor. Sie lässt von seinem Kragen ab, schmeißt dann aber mit einem ihrer Bücher nach ihm, dann mit dem nächsten und schreit ihn weiter an. Ihre Beleidigungen richten sich inzwischen gegen die Männer an sich. Sie hält inne und schaut sich wütend nach etwas anderem auf dem Tisch um, mit dem sie nach ihm werfen kann. Er stößt seinen Stuhl zurück und ergreift die Flucht. Schließlich nimmt sie das Wasserglas, das vor ihr steht, und feuert damit nach ihm. Aber sie verfehlt ihr Ziel und das Glas zerspringt an der Wand.

Die Frau wirkt erstaunlich ruhig, nachdem ihr Begleiter gegangen ist. Sie hebt ihre Bücher vom Boden auf, ihre Tasche auch, setzt sich an den Tisch und schließt ein paar Augenblicke lang die Augen, ihr Atem ist immer noch sichtlich bewegt. Einer der Angestellten fegt die Glasscherben auf. Während des Streits der beiden war es im Coffee House still geworden; die anderen Gäste hatten wie gebannt das Geschehen verfolgt. Nun erfüllen die üblichen Geräusche langsam wieder den Raum. Als würden wir uns in einem Theaterstück befinden und als hätte Vincent nur auf seinen Einsatz gewartet, tritt er an den Tisch der jungen Frau und sie wendet sich ihm zu, um etwas zu bestellen. Augenscheinlich wusste er bereits, was sie bestellen würde und hat das Getränk schon zubereitet. Überraschend schnell bringt er ihr ein Glas Gin Tonic.

Nachdem er sie bedient hat, winke ich Vincent zu mir heran. »Was ist passiert?«, frage ich.

Jemand anderes an seiner Stelle hätte gesagt, dass das Paar dabei sei, sich zu trennen, oder würde vielleicht vermuten, dass der Mann die junge Frau betrogen habe. Jemand anderes an seiner Stelle hätte darauf hingewiesen, dass die junge Frau eben zum ersten Mal überhaupt ein alkoholisches Getränk bestellt habe. Aber nicht unser Vincent. Er beugt sich zu mir und sagt: »Sir, man kann so eine Sache immer von mehreren Seiten betrachten.«

Wenn Vincent sich einen eindrucksvollen Namen zulegen und sich einen langen, glänzenden Bart wachsen ließe, gäbe es Tausende, die ihm zu Füßen lägen. Ist der Unterschied zwischen den Worten jener höheren Wesen und den seinen etwa so groß? Worte schließlich bedeuten für sich selbst genommen gar nichts. Sie erlangen ihre Bedeutung erst im Geiste derer, die sie vernehmen. Wenn man genauer darüber nachdenkt, sprechen selbst jene geistigen Führer, die selbst schon fast als Götter gelten, selten von grundlegenden Dingen. Es sind ihre ganz alltäglichen Äußerungen, die von Bedeutung und Erhabenheit erfüllt sind. Und wer kann schon sagen, ob die Götter nicht auch die Gestalt eines Kellners annehmen können, wenn sie sich mal dazu entschieden haben, uns einen Besuch abzustatten?

Die Wahrheit ist, dass ich nicht wirklich einen Grund dazu habe, ins Coffee House zu kommen. Aber wer gibt schon freiwillig zu, etwas ohne jeden Grund zu tun, in Zeiten wie den unseren, in einer Stadt, in der man so geschäftig ist? Also sage ich mir, ich komme her, um mich von meinen häuslichen Auseinandersetzungen zu erholen. Und wenn zu Hause mal alles friedlich sein sollte, kann ich mir immer noch eine andere Entschuldigung ausdenken. Wie auch immer, meine Besuche im Coffee House sind zu einem täglichen Ritual für mich geworden. Anita, meine Frau, der ich einmal dargelegt habe, dass ich glaube, Vincent umgebe etwas Göttliches, fragt mich manchmal ganz trocken: »Und, warst du heute wieder in deinem Tempel?«

In gewisser Hinsicht werden meine stummen Klagen erhört, wenn ich hier im Coffee House bin. Manchmal muss ich kurz vor dem Schlafengehen an das Lokal denken und verbringe dann die ganze Nacht wie benommen im Halbschlaf, da ich es kaum erwarten kann, dass es endlich Morgen wird. Ich komme her, suche mir einen Tisch aus, von dem aus ich sehen kann, was auf der Straße passiert, und nehme Platz. Normalerweise gibt es zu diesem Zeitpunkt nur ein, zwei Gäste, und Vincent bringt mir einen starken Kaffee, ohne dass ich danach fragen muss. Ich sitze dann nur so da und sehe den Leuten dabei zu, wie sie auf der Straße vorbeigehen: In der Kühle des Dezembers eilen sie in Pullovern und Jacken dahin; im Sommer tragen sie leichte, dünne Kleidung und bieten ihre Haut der Sonne dar. Nachdem ich eine halbe Stunde oder so aus dem Fenster geschaut habe, rufe ich Vincent zu mir herüber und fange ein Gespräch mit ihm an. Alles, was er sagt, ist eine Quelle der Erkenntnis und der Weisheit für mich. Wenn die Wetterlage in meinem Gemüt besonders stürmisch ist, bestelle ich noch etwas Kleines zu essen und vertiefe mein Gespräch mit ihm. Manchmal spüre ich die Versuchung, ihm ganz mein Herz zu öffnen. Aber warum sollte ich das tun, wenn er doch ohnehin zu wissen scheint, was in mir vorgeht, ohne dass ich es ausführen muss? Diese Intermezzi im Coffee House, fern jeder Anstrengung von Heim und Familie, sind der wohltuendste Teil meines Tages.

Die junge Frau, die gerade ihren Freund verjagt hat, erinnert mich an Chitra. Ich frage mich, wie oft Chitra mich in Gedanken auf dieselbe Art verprügelt haben muss – ich habe sie ohne jede Ankündigung aus meinem Leben verbannt, ohne ihr jemals zu erklären, warum. Während all dieser Zeit hat sie nicht ein einziges Mal versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen. Früher habe ich fast jeden Nachmittag hier mit ihr verbracht, für gewöhnlich genau an jenem Tisch. Sie hat für eine Frauenrechtsorganisation gearbeitet, und je länger sie mir bei unseren Gesprächen von ihrem Tag berichtete, desto aufgebrachter wurde sie. Ich hatte den Eindruck, dass die Dinge, die sie über Männer sagte, auch an mich gerichtet waren. Ich hatte keine andere Wahl als stumm dazusitzen und mich auf unbestimmte Weise schuldig zu fühlen. Sie sagte Sachen wie: »Warum bricht man jemandem den Arm, nur weil der Tee einem nicht geschmeckt hat?« Oder: »Bringt man seine Frau um, nur weil sie vergessen hat, den Schlüssel beim Nachbarn zu hinterlegen?« Ich wusste, dass ein schlecht gemachter Tee keinen gebrochenen Arm nach sich ziehen sollte, ein nicht hinterlegter Schlüssel keinen Mord. Aber es ging doch auch nie um diesen Tee oder diesen Schlüssel, dachte ich. Die letzten Stränge, die eine Beziehung zusammenhalten, können schon aufgrund eines einzigen Blickes oder einer Sekunde des Schweigens reißen. Wie konnte ich ihr das erklären? In diesen Gesprächen war kein anderes Gefühl als das ihres Zornes zugelassen. Wie sollte es da jemals zu etwas wie Zärtlichkeit kommen? Kein Wunder, dass es so etwas zwischen uns nicht gab, jedenfalls nicht in körperlicher Hinsicht. Aber ich glaubte damals, dass sich das ändern würde und wir uns einander schon näher kämen, wenn wir uns besser kennenlernten. Doch das taten wir nie. Und eines Tage verschwand das, was zwischen uns gewesen war. Ich hörte auf, zu unserer üblichen Zeit ins Coffee House zu kommen und kehrte stattdessen am Abend hier ein. Und das war das Ende unserer Beziehung – wir haben uns nie wieder gesehen.

An das, worüber wir das letzte Mal, als wir uns sahen, sprachen, kann ich mich noch erinnern, als wäre es gestern gewesen. Sie erzählte mir von einer Frau, die von ihrer Schwiegermutter mitten in der Nacht aus dem Haus geworfen wurde. Während die Frau draußen fror, schliefen ihr Ehemann, dessen Eltern und dessen Schwester fest in ihren warmen Betten. Sie hingegen saß vor dem Haus und konnte das Schnarchen ihres Mannes hören, das aus dem Fenster drang. Als der Morgen anbrach und der Milchmann kam, versuchte sie ihre Scham zu verbergen, indem sie vorgab, auf die Milch gewartet zu haben. Chitras Stimme wurde schrill, während sie die Misere dieser Frau beschrieb. »Ich werde dafür sorgen, dass der Ehemann und die Schwiegermutter eine Gefängniszelle von innen kennenlernen«, schwor sie. »Ich muss den Fall unbedingt noch mit unserem Anwalt besprechen, bevor er nach Hause geht.« Sie stand auf, berührte mich sanft an der Schulter, sagte »Ciao, mein Lieber«, wie sie es immer tat, und ging. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob ich schon in jenem Moment wusste, dass es zwischen uns vorbei war. Aber ich sehe noch genau vor mir, wie ich für eine Weile unbewegt dasaß, nachdem sie gegangen war. Am Tag darauf kam ich nicht zu der Zeit her, zu der wir uns für gewöhnlich trafen. Oder überhaupt jemals wieder. Vielleicht hat Chitra Vincent nach mir gefragt, ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hatte sie irgendwann verstanden, dass ich ihr aus dem Weg ging, und hat deswegen nicht versucht, mich wiederzusehen.

Mir fällt auf, dass ich mich heute tatsächlich unruhiger fühle als sonst. Und wenn mir das auffällt, fällt das auch Vincent auf. Er weiß, dass ich unbedingt mit ihm reden möchte und kommt von sich aus zu mir an den Tisch. »Noch eine Zitronenlimonade«, sage ich, und er zieht sich mit einem Blick zurück, der zu fragen scheint: »Ist das wirklich alles?« Die junge Frau am Tisch vor mir stürzt ihren Gin Tonic in zwei großen Schlucken herunter und packt eilig die Bücher in ihre Tasche.

Mein Handy klingelt und reißt mich aus meinen Gedanken. Der Anruf muss von zu Hause kommen. Es ist dreißig Stunden her, dass ich das letzte Mal da war, und ich habe Angst vor der Nachricht, die mir der Anrufer zu überbringen droht. Ich schaue auf das Telefon – eine unbekannte Nummer. Ich hebe voller Furcht ab. Aber es ist nur jemand, der mir eine Versicherung verkaufen möchte. »Nein«, antworte ich kurz angebunden und stecke das Handy zurück in meine Hosentasche.

Vincent bringt ein Tablett an meinen Tisch, auf dem sich ein Glas mit einer Mischung aus Zitronensaft und Salz, eine Flasche Mineralwasser, eine kleine Schüssel mit Zitronenscheiben und ein langer Löffel befinden. Mit großer Sorgfalt stellt er diese Dinge vor mir ab. Von irgendwo in seinem Kummerbund zaubert er einen Flaschenöffner hervor und entfernt den Kronkorken der Mineralwasserflasche. Er gießt das Wasser in vorsichtigen Schüben ins Glas mit dem Zitronensaft, nach jedem Schluck steigt der Limonadenschaum nach oben. Er lässt sich Zeit bei seiner Aufgabe. Es ist fast so, als wolle er mir die Möglichkeit geben, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ich kann mich noch so sehr verstecken – es ist mir so gut wie unmöglich, vor diesem allwissenden Mann zu verbergen, dass ich mich verzweifelt danach sehne, jemandem mein Herz auszuschütten.

Zwei

Wir sind eine Großfamilie und leben alle gemeinsam in einem Haus – meine Frau und ich, meine Eltern, mein Onkel und Malati. Malati ist meine ältere Schwester, die wieder zu Hause wohnt, nachdem sie ihren Ehemann verlassen hat. Eigentlich muss man sich fragen, warum diese sechs Leute überhaupt zusammen wohnen wollen. Was soll ich schon sagen – es ist eine der großen Stärken von Familien, so zu tun, als wäre das, was unvermeidbar ist, auch genau das, was sich alle insgeheim wünschen.

Die zentrale Figur unseres Haushalts ist Venkatachala, mein Chikkappa, der jüngere Bruder meines Vaters und der Ernährer der Familie. Seine große Schwäche ist die Arbeit, er geht ihr Tag und Nacht nach. Wir handeln mit Gewürzen und besitzen eine Firma namens Sona Masala. Das Geschäftsmodell ist recht einfach: Wir bestellen große Mengen an Gewürzen in Kerala, verpacken diese dann in unserem Depot in kleine Plastikpackungen und verkaufen sie an die Einzelhändler in unserer Stadt weiter. ChikkDosa