Wirklichkeit ordnet sich nur unter, wenn man sie sich ausdenkt.

Alexander Kluge

 

 

 

– Some day, we will all die, Snoopy!

– True, but on all the other days, we will not.

Charles M. Schulz

1

Das Dresdner Staatsschauspiel hat mich eingeladen, mir das Leben Erich Kästners auf der Bühne anzusehen. Sie stellen es mit Kindern dar: sechs an der Zahl – Mädchen wie Jungen mit Hornbrillen, grau gefärbten Haaren, Zigaretten und Whiskygläsern – und ein erwachsener Schauspieler. Zusammen spielen sie Kästners Leben, dazu die Menschen aus seiner unmittelbaren Umgebung. Wenn’s sein muss, auch in durchfallbraunen SA-Uniformen. Dafür haben die Dramaturgin, der Regisseur und der Hauptdarsteller die Kästner-Biographie ein bisschen geplündert, die ich zu seinem Hundertsten veröffentlicht hatte; inspired by sagt man ja heute. Die Kinder rezitieren auch das titelgebende Gedicht: Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Die Geheimnisse des Erich K.

Eine Reise nach Dresden kommt mir gerade gelegen. Schließlich will ich darüber nachdenken, wie sich die Geschichten von Ida Kästner und Kurt Vonnegut im und nach dem Dresdner Feuersturm erzählen lassen: der Mutter Erich Kästners und des Autors von Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug, einem modernen Klassiker der Weltliteratur. Vonnegut versucht, sein Entsetzen über die Zerstörung Dresdens zu versprachlichen, ohne sie plan und direkt nachzuerzählen.

Aus der ersten Dresden-Reise wurde nichts, einen Tag vor der Premiere musste ich absagen: eine Mittelohrentzündung. Danach war ich ein paar Wochen lang halb taub, umgeben von einer Welt in Watte, nicht unbedingt nur von Nachteil.

Für die Geschichte, die ich erzählen möchte, brauche ich eine andere Sicht als die der britischen Piloten. Es gibt eine Fotografie der Bombennacht auf Dresden, vom 13. auf den 14. Februar 1945, aufgenommen zu Beginn der zweiten Welle: eine schwarze Fläche mit kleinen leuchtenden Punkten. Die abgeworfenen Markierungskaskaden haben die Ziele erhellt, damit die Bomberpiloten auch treffen; die erste Welle hat weithin sichtbare Feuer hinterlassen.

Ein Funker hat nach unten fotografiert, und der Hauptmarkierer hat an den Masterbomber durchgegeben: »Die Bomben scheinen jetzt ausgezeichnet zu fallen.« Der Masterbomber antwortet: »ES SIEHT RECHT GUT AUS

Ja, es sieht gut aus: wie ein abstraktes Gemälde in Schwarzweiß. Oder wie eine der Schmuckseiten aus Laurence Sternes Tristram Shandy, modern bearbeitet für das 20. Jahrhundert. Aus dieser Perspektive wird die Unmenschlichkeit von Abstraktion ganz deutlich, ohne die wir aber nicht auskommen. So wenig Abstraktion wie möglich, so viel wie nötig, wie geht das? – Es ist sehr schwer, sich in die Position der Menschen da unten zu versetzen, dazu braucht es die Literatur, zum Beispiel. Hier können wir lesen und günstigenfalls nachfühlen, dass die das ganz anders wahrgenommen haben.

Was weiß man heute schon von Dresden? Vor allem, wenn man im Süden Deutschlands lebt und von dort nur die Nachrichten hört, die politischer Natur sind: Neonazis Pegida AfD. Wer schafft es am besten, den Tunnelblick und die Volksverachtung seiner Anhänger aufrecht zu halten, nur keine Nachrichten aus der Wirklichen Welt. Die anderen Dresdner gibt es auch, und sie werden weiterhin die große Mehrheit sein. Sie krakeelen nur nicht ständig in den Medien herum. An sich mag ich den sächsischen Dialekt, der so antipathetisch ist wie vielleicht nur noch das Jiddische: Machd doch eiern Drägg alleene, soll der letzte sächsische König bei seiner Abdankung gesagt haben.

Sieht man noch etwas von der Katastrophe im Februar 1945? Die Altstadt, auch die Frauenkirche, ist ja wiederaufgebaut, so schön und beeindruckend wie zuvor, das erzählen mir alle, die dort waren. Seit ein paar Jahren ist das alte Wahrzeichen der Stadt wieder das neue, ich hab’s die letzten Male immer nur von außen gesehen. Es muss komisch sein: George Bährs barocker Prunkbau aus der Zeit von August dem Starken, selbst schon ein bisschen inspired by Santa Maria della Salute in Venezia, dann nach dem Feuersturm zusammengefallen und aus den Trümmern neu gebaut: Barockarchitektur mit dem Geruch von frischem Beton, Tourismus-Erleichterungen mit modernen Bänken, vielleicht noch einem Aufzug in die Kuppel, Defibrillatoren und Notfallsofas am rechten Ort. Wo wirklich noch die alten Steine sind, wird man nicht erkennen, alles neu verputzt und verdeckt … Kinder, die in einer Kirche gezeugt worden sind, sollen Glückskinder sein, so geht ein alter Aberglaube. Ob das auch für eine zerstörte und dann rekonstruierte Kirche gilt? Wie viele Kinder sind schon gezeugt worden in der neuen Frauenkirche, mit der Hilfe Unserer Lieben Frau, unter dem Defibrillator?

Kurt Vonnegut hat sich geärgert, als er vom Plan des Neubaus hörte. Für ihn war die Ruine das vollkommene Monument, eine Erinnerung an die Anstrengungen der westlichen Zivilisation, Selbstmord zu begehen – in zwei Weltkriegen. Vielleicht haben die Stadtplaner wenigstens ein paar Gedenkruinen stehenlassen, wie die Erfurter die Ruine ihrer Barfüßerkirche. Alles wegzurenovieren wäre keine Schönheitsoperation mehr, sondern schon Geschichtsfälschung. Oder Disney, heile Welt, made of plastic and elastic.

Die Toten kommen davon nicht wieder. Es gibt sie nicht mehr.

2

Ich will sehen, wie Dresden heute aussieht; nach Spuren suchen, Jahre nach der ersten Spurensuche, die ich 1998 unternommen hatte. Damals hatte mir die Stadt besonders gefallen – nicht nur die beschädigte Grandezza der Altstadt noch ohne Frauenkirche, auch Straßenzüge in der Neustadt, die kleinen Villen zum Elbufer hin, Kleinzschachwitz, die Fähre über den Fluss, Schloss Pillnitz, wo eine Freundin als Fremdenführerin arbeitete. Es war eine ganz andere Suche: Da ging es um Erich Kästners Leben, um sein Viertel, die Dresdner Neustadt, die größtenteils stehengeblieben ist. Ein Lokalhistoriker, Heinz G. Schmidt, hat uns durch das Viertel geführt, den Milchladen der Gebrüder Pfund gezeigt, den Alten Jüdischen Friedhof, die vielen Hausnummern in der Königsbrücker Straße, unter denen Kästner und seine Eltern gewohnt hatten. Zuerst in der Nummer 68, dann weiter vorn in der Nummer 48, immer näher an den Stadtkern heran, immer bessere, teurere Adressen und niedrigere Stockwerke, die Beletage im Blick; zuletzt in der Königsbrücker Straße 38 im zweiten Stock. Ida Kästner wollte aufsteigen, und das war an den immer niedrigeren Hausnummern und Stockwerken abzulesen. Ihr Sohn musste diese Ambitionen nicht nur aushalten, er musste sie einlösen.

Ich steige am Münchner Hauptbahnhof in den Zug, weil ich von Ida Kästner erzählen will und von Kurt Vonnegut, einer alten Frau und einem damals noch sehr jungen Mann. Verrückterweise sind knapp siebzig Jahre nach der Bombardierung Postkarten und Briefe Ida Kästners versteigert worden, und das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, seit ein paar Jahren Hüter des Nachlasses von Erich Kästner, hat sie gekauft. Womöglich hatte ich die Postkarten Ende der neunziger Jahre schon einmal in der Hand, ich erinnere mich an das Befremden auf einem Flohmarkt der Berliner Museumsinsel und an die Anrede: Mein lieber guter herzensguter Junge. Kästner hatte eine Berliner Sekretärin, Elfriede Mechnig, die nach dem Krieg als Literaturagentin arbeitete und einen Teil von Kästners Nachlass besaß. Den Löwenanteil hat die Berliner Akademie der Künste, aber Mechnig hat anscheinend gestreut; es tauchen immer wieder mal Teile aus ihrem Erbe auf, so auch damals auf dem Flohmarkt oder, vornehmer, der Antiquariatsmesse. Aber als stellenloser Germanist kauft man sich keine Antiquitäten, so verwundert und affiziert man ist. Man würde schon kaufen, aber wovon? Und ich bin kein Autographensammler, eher ein Werkausgabensammler. Wenn man auch noch mit Handschriften einzelner Autoren anfinge, wäre man festgelegt, ein kritikloser Fan eines oder einer Einzelnen. Das Schöne an der Literaturwissenschaft ist doch, dass man ein riesiges, unabschließbares Arbeitsgebiet hat, zu dem ständig neue Autorinnen, Autoren, Werke dazukommen, die reine Völlerei, bis man irgendwann am letzten Pfefferminzblättchen platzt.

Die Fahrt nach Dresden dauert gut fünf Stunden. Genug Zeit, sich zu überlegen, wie die beiden zusammenhängen, Ida Kästner und Kurt Vonnegut. Mindestens für eine Skizze sollte es reichen, die ich ausformulieren kann, wenn ich wieder zurück bin. Man kann im Zug nicht ordentlich schreiben, nicht mit der Hand. Mit dem Laptop noch eher.

›Die exemplarische Dresden-Katastrophe‹, das habe ich schon oft gelesen. Wieso eigentlich exemplarisch? Für wen? Wofür? Für Kriege, für das, was Menschen einander antun? Für das, was der Verein zur Verschlechterung des Lebens in Deutschland angerichtet hat? Die Populisten sind neue Vereine dieser Art – in einem wirtschaftlich prosperierenden Land mit einer Arbeitslosigkeit, die seit zehn Jahren sinkt, mit einer Kriminalitätsrate, die trotz der Taten einzelner Wahnsinniger so niedrig ist wie seit einem Vierteljahrhundert nicht. Die neuen Vereine zur Verschlechterung des Lebens wollen abschaffen, was für alle gut gelaufen ist in den letzten Jahren. Deutsche! Die Flüchtlinge wollen euch eure Villen am Starnberger See wegnehmen! Wir wohnen ja bekanntlich alle wie Sisi in Schloss Possenhofen; die Sisisierung der Republik, voller schluchzender Innenminister, die über den Kriminalitäts- und Flüchtlingsstatistiken weinen und dennoch immer härtere Polizeigesetze durchkriegen. Sie weinen und weinen, die europäischen Innenminister, damit dem Mittelmeer nicht das Wasser ausgeht und noch ein paar afrikanische Flüchtlinge mehr ertrinken.

Damit die Arbeit des Dresdner Vereins »Mission Lifeline« noch ein bisschen schwieriger wird.

Ich richte mich ein, Sitzplatz mit Tisch, ein Notizbuch, den Laptop, ein paar Bücher zum Nachschlagen. Vielleicht kann ich Ida und Kurt ja schon ein bisschen disponieren … Der weiß-rote ICE fährt pünktlich los, als wäre er ein Schweizer, durch die immergleichen Bürohochhaus-Fronten, die grauen Vorstädte. Immerhin scheint die Sonne, und erfreulicherweise habe ich den Tisch für mich.

Auch meine Stadt kann man von oben sehen; der Bayerische Rundfunk hat eine Kamera auf dem Dach. Wenn man im Studio sitzt und wartet, kann man auf einem Bildschirm dem langsamen Kreisen der Kamera folgen, über die Stadt, rundum, hin und her … Ein Kollege hat sich in einem der neuen Häuser an der Hackerbrücke eingemietet, im sechsten Stock: Er will immer schnell fliehen können von hier, und so kann er das wenigstens imaginär, schon wenn er aus dem Fenster blickt. Unter sich sieht er die knapp dreißig Gleise und die Züge, die darauf herumrutschen, wie eine Märklin-Modelleisenbahn, Spur H0 vielleicht, Spielzeug. Wenn da mal nichts drauffällt von oben.

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Dresden heute ist Pop, vor allem im Amerikanischen fast nur eine Redensart. Die zerstörte Stadt muss für allerlei Vergleiche herhalten, für zerbrochene Beziehungen, innere Wüsteneien, vielleicht sogar unaufgeräumte Wohnungen, so, wie wir sagen: Bei dir sieht’s aus wie bei Hempels unterm Sofa. Es gibt Bands, die Sorry about Dresden (SAD) heißen oder The Dresden Dolls. Oder ein Stück der New Yorker Punkband NY Niggers mit dem Titel Just Like Dresden ’45. Am kraftvollsten sind die Dresden Dolls, Think about the bridges you are burning 

›Dresden‹ steht also für sinnlose Zerstörung in allen Lebensbereichen, eine Metapher, die den Journalisten ständig einfällt, wenn sie von Städten oder Stadtteilen berichten, die durch welche Katastrophen auch immer in Schuttberge verwandelt wurden: das World Trade Center, Fukushima nach dem Tsunami, Mossul, Gaza. Diese zweifelhafte Popularität unterscheidet Dresden von den beiden Menetekeln des 20. Jahrhunderts, von Auschwitz und Hiroshima, Ortsnamen, die keineswegs eine ähnliche ›Karriere‹ gemacht haben.

Das Urban Dictionary gibt Aufklärung: In all diesen kriegerischen, katastrophischen, popkulturellen Zusammenhängen spricht man von Zerstörungen, die nicht als endgültig gesehen werden. ›Dresden‹ steht für eine der schönsten europäischen Städte mit üppigen Parks, einer beeindruckenden Architektur, einer langen Geschichte von Komponisten, Malern, Architekten, inklusive der expressionistischen Künstlergruppe Die Brücke – eine Stadt, die unglücklicherweise 1945 im Krieg stark bombardiert wurde. Und die in ihrer alten Pracht wieder da ist!

I’m on fire, everything is going my way! ›Like Dresden‹ spricht die Hoffnung aus, dass es Zerstörungen gibt, die repariert werden können … der Neubau der Frauenkirche und großer Teile der Dresdner Altstadt bekäme damit eine andere Bedeutung als die von Geschichtsklitterung und Disneykitsch: Selbst Krieg und Untergang können aufgehoben werden.

Nice try, möchte man sagen. Leider hat auch die Popkultur noch niemanden wieder ins Leben zurückgebracht.

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Für Kurt Vonnegut war Europa ein Kontinent voller kleiner Länder, die sich abwechselnd in esoterischen Nationalismen und Irrlehren irgendwelchen Diktatoren ergaben. Ist Dresden auch hier beispielhaft? Und wie passt Ida Kästner ins Bild, über deren politische Haltungen wir fast nichts wissen? Sie war eine fromme und ziemlich konservative Frau, sie hat nur um ihren Sohn gebangt, wer regiert hat, wird ihr egal gewesen sein. Nur der schreckliche Krieg, der sollte aufhören …

Vonnegut hätte sich 1945 nicht träumen lassen, dass es eine so lange Friedenszeit in Europa geben könnte. Anscheinend konnte das nach den beiden Weltkriegen und in den Jahrzehnten des Kalten Kriegs niemand. Heute scheint es einigen wieder zu friedlich: Geht doch nach drüben!, möchte man ihnen zurufen: über den Teich! Heute sind die USA kriegerischer als alle europäischen Staaten zusammen. Nach jedem Schulmassaker kommt die Nachricht, mit diesem Amoklauf seien nun mehr Schüler seit Jahresanfang ums Leben gekommen als amerikanische Soldaten auf Einsätzen in Krisengebieten. Offenbar sind die USA selbst eine Art von reichem Krisengebiet geworden.