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Heinz G. Konsalik

Eine Sünde zu viel

Roman

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Der letzte, verzweifelte Versuch, etwas zu retten, galt Monika Horten. Dahlmann jagte nach seinen sinnlosen Runden durch Hannover wieder hinaus zu der kleinen Waldhütte. Er war sich klar darüber, dass Sanden sofort nach seinem Weggang Luise angerufen hatte. Vielleicht war sie jetzt schon aus dem Haus. Das kümmerte ihn in diesem Augenblick nicht, man konnte sie zurückholen, wenn es gelang, was ihm als letzter Ausweg in den Sinn gekommen war.

Ein Ausweg über die Straße der Seele.

Wenn es ihm gelang, Monika umzustimmen, wenn er bescheiden wurde und nur einen Bruchteil des Geldes mitnahm, so viel, dass er sich im Ausland eine andere Existenz gründen konnte, ja, selbst wenn es ihm gelang, sein Ziel unter Zwang zu erreichen … Monika musste einen Brief schreiben! Nichts als einen Brief an ihre Schwester Luise, abgeschickt aus Köln. Sie sollte darin schreiben, dass sie gehört habe, Luise wolle sich von Ernst abwenden. Der Text flog Dahlmann durch den Kopf, als er auf der Landstraße nach Osten jagte.

»… ich habe dich im Leben noch nie um etwas gebeten, Luise, aber nun flehe ich dich an, beim Andenken an Vater und Mutter, bleibe bei Ernst, verlass ihn nicht, er liebt dich doch …« Dahlmann war sich nicht klar, ob dieser Brief bei Luise wirken würde, aber er sollte vieles hinauszögern, Luise nachdenklich machen. Vielleicht kam es zu einer klärenden Aussprache. Jede Stunde war Dahlmann wichtig, die er für sich gewann, denn er war von früheren Monaten her noch im Besitz von zwei Blankoschecks, die er einlösen wollte, wenn auf den Bankkonten die Mittel vorhanden waren. Es könnten fünfzigtausend Mark sein, dachte er. Ein kleiner Teil dessen, was ich haben könnte. Man wird bescheiden wie der Teufel, der in der Not Fliegen frisst …

Als er das Waldhaus sah, wurde er ganz ruhig. Aus dem Kamin stieg kein Rauch auf, er hörte keinen Lärm, kein Hämmern an die Läden, denn Monika musste das Kommen des Wagens ja gehört haben.

Hunger wird sie haben, dachte Dahlmann. Fast vierundzwanzig Stunden nur mit Kakao! Er schleifte die beiden Kartons mit den Lebensmitteln zur Tür und schloss auf.

Wieder schlug ihm der schimmlig-süße Geruch entgegen, er ließ die Tür offenstehen und drückte die Kartons in den großen Raum.

In der Hütte brannte kein Licht, die Petroleumlampen standen noch so, wie er sie hingestellt hatte. Auch der Zettel mit seiner Nachricht stak noch am geblümten Schirm.

Ernst Dahlmann ließ den Karton mit Büchsen, den er trug, auf den Tisch fallen.

»Monika!«, rief er. Und dann lauter, mit zitternder Stimme: »Monika!«

Mit ein paar Sätzen sprang er zum Alkoven und riss den Vorhang zurück.

Monika Horten lag noch genauso in dem breiten Bett, wie er sie gestern hingelegt hatte. Bis zum Hals zugedeckt, das blonde Haar um den Puppenkopf, weggestrichen von der Stirn. Nur das Gesicht war jetzt gelb, die Nase stach spitz und weiß hervor, die Augen waren unter den geschlossenen Lidern eingesunken. Aus den ein wenig geöffneten Lippen kam kein Atem mehr. Als Dahlmann die Hand auf ihren Kopf legte, zuckte er entsetzt zurück. Die Stirn war eiskalt.

»Monika …«, stammelte er … »Monika … das ist doch nicht wahr … Moni … Mein Gott, mein Gott … das ist nicht wahr …«

Als er das Unabänderliche erkannte, als er ihren Tod bestätigt fand, nachdem er sie abgehorcht und den Puls gefühlt hatte, als er begriff, dass sie an seiner Morphininjektion gestorben war, an einer zu hohen Dosierung, die ihr Herz nicht verarbeiten konnte, als ihm bewusst wurde: Du bist ein Mörder! Nun ist es soweit … Du hast einen Menschen getötet … mit deinen Händen … da brach er zusammen und fiel ohnmächtig neben dem Bett auf den Dielenboden.

Wie lange er gelegen hatte, wusste er nicht. Seine Gedanken richteten sich nicht auf die Uhrzeit, als er erwachte und sich neben dem Bett mit der Toten fand. Die Ohnmacht hatte das Entsetzen nicht gemildert, aber sie hatte den Kopf frei gemacht für schnelle Entschlüsse.

Die Tatsache war nicht mehr zu ändern. Hier lag eine Tote, und sie war getötet worden durch Ernst Dahlmann. Wenn es auch ein Versehen war, wenn es auch keine Absicht gewesen war, also kein Mord, so war es doch ein Tod durch die Injektion, ein Totschlag, ein Unfall, den er herbeigeführt hatte.

Das erste Problem hieß: Wie kann man Monika Horten wegbringen? Und wohin? Es war Ernst Dahlmann unmöglich, sie irgendwo in dem dichten Wald, der sie umgab, zu verscharren, so wie man einen tollwütigen Hund unter die Erde bringt. Es war aber auch unmöglich, sich der Polizei zu stellen. Und da war dieser junge Schriftsteller Julius Salzer, der keine Ruhe geben würde und Monika suchte. Da war Luise, die nach ihr fragen würde. Da war vor allem der Rechtsanwalt Dr. Kutscher, der sich durch Ausreden nicht abschütteln lassen würde.

Es gibt keinen perfekten Mord, das hatte Dahlmann immer gelesen. Und es würde auch keinen perfekten Totschlag geben. Monika war zuletzt bei ihm gesehen worden, also würde man die Spur der Verschwundenen zuerst bei ihm suchen. Er wusste nicht, ob er die Nerven besaß, die Rolle des Unwissenden zu spielen. Er glaubte es nicht, vor allem nicht mehr in den Sekunden, in denen sein Blick zu der lang hingestreckten Gestalt zuckte, zu dem hübschen Gesicht mit den langen goldblonden Locken, das jetzt ein wenig spitz geworden war und sehr ernst.

Zunächst setzte er sich an den schweren Tisch und stützte den Kopf in beide Hände. Ihm war speiübel, er würgte und fühlte, wie sein Herz schmerzte. Die Angst überkam ihn wieder, jene schreckliche Lebensangst, die ihn von jeher gepeinigt und zu Taten getrieben hatte, die oft jenseits aller Vernunft waren.

Sie muss weg, dachte er immer wieder. Monika muss weg. Er hatte nie geglaubt, wie schwer es ist, einen Menschen völlig verschwinden zu lassen, so restlos aus der Welt zu bringen, dass er nie wieder entdeckt wurde. Wenn man ihm das früher erzählt hätte, würde er gelacht haben. Nichts einfacher als das; die Welt ist groß genug, um einen einzelnen Körper zu verstecken … nun saß er hilflos vor einer Leiche und wusste nicht, was er mit ihr anfangen sollte.

Das Einfachste wäre das Vergraben. Irgendwo in der Tiefe des Waldes, unter weichem Humusboden … oder das Versenken im Moor … es würde nur eine Fahrt von zwei Stunden sein, bis er die einsamen, von ewiger Melancholie überschatteten Sümpfe erreichte … über die Autobahn bis Fallingbostel, dann über Walsrode, Visselhövede und Rotenburg nach Zeven … von dort war der Weg frei in verschiedene Moore, in weite Landstriche, deren Einsamkeit nur von den schmalen Moorkanälen unterbrochen wurde. Hier könnte man einen Körper für immer versenken … die breiige Tiefe gäbe ihn nicht mehr her … vielleicht in fünfzig oder hundert Jahren, wenn man diesen Teil des Moores trockenlegte und begann, Torf zu stechen. Aber wer würde sich da noch an eine Monika Horten erinnern – und einen Ernst Dahlmann gab es dann auch nicht mehr.

Der Gedanke an das Moor ließ Dahlmann nicht mehr los. Nur durfte er Monika dabei nicht ansehen. Ihr schöner Körper in der fauligen Tiefe eines Sumpfes; ihr schönes Gesicht mit den goldenen Haaren, versinkend im grundlosen Brei aus Erde und Pflanzen und schlammigem Wasser – es war ihm unmöglich weiterzudenken, und doch war es die einzige Möglichkeit, Monika für immer aus dieser Welt zu schaffen.

Für Dahlmann war es klar, dass es jetzt für ihn nur noch um das nackte Leben ging. Um einen Abgang von der Bühne in einer von ihm geschriebenen Tragödie. Einen Abgang, der ihn, den Hauptakteur, nicht mit in den Strudel riss. Es musste ein stilles Verschwinden sein: Einlösung der beiden Blankoschecks, von denen Luise nichts mehr wusste (sie waren ein Jahr alt, und damals hatte Dahlmann ihre Hand geführt, da sie die Schecks unterschrieb); es konnten immerhin fünfzigtausend Mark sein, die er herausziehen würde, nicht viel, aber für einen neuen Anfang irgendwo in der Welt musste es reichen. Eine Flugkarte nach Zürich, von dort mit dem Zug nach Mailand, von Mailand mit dem Bus nach Genua, von Genua mit dem Schiff nach Südamerika … Ein glatter Weg, zu dessen Vorbereitung er vier Tage brauchte. Nur noch vier Tage, und der Vorhang konnte fallen über das erste Leben des Apothekers Ernst Dahlmann, der für eine Sünde zu viel Ordnung, Moral und Gewissen eintauschte. Was das zweite Leben bringen würde, wer konnte es vorher wissen? Eine neue Sünde? Oder eine ewige Flucht vor der Erinnerung? Ein ständiges Verstecken vor der Vergangenheit? Niemals Ruhe, niemals Freude, niemals ohne Angst? War das ein zweites Leben …?

Ernst Dahlmann wischte sich über das Gesicht. Kalter Schweiß überzog ihn.

Ins Moor, dachte er wieder. Es bleibt kein anderer Weg. Sie muss ins Moor. Er stand auf und tappte mit schweren Füßen zu dem Alkoven. Wie Blei lag es in seinen Gliedern, jeder Schritt war ein Schleppen von Zentnergewichten. Er zog den bunten Vorhang wieder vor das Bett, löschte die Petroleumlampe und verschloss hinter sich die dicke Bohlentür. Im Freien, nicht umgeben von dem süßlichen Geruch, atmete er ein paarmal tief durch und schwankte zu seinem Wagen.

Man muss das alles genau planen, dachte er. Man kann nicht einfach mit der Leiche im Kofferraum durch die Gegend irren und sich ein Moorstück aussuchen. Man muss wissen, wo der Sumpf tief ist, wo nie oder selten ein Mensch hinkommt, wo man auf Jahrzehnte hinaus nicht daran denkt, Torf zu stechen oder zu kultivieren.

Jetzt erst sah er auf die Uhr. Die Zeit raste … früher war sie sein Verbündeter gewesen, nun wurde auch sie zu seinem Feind. Vier Tage sind nichts für alles das, was er zu tun gedachte. Ein Tag davon war schon zur Hälfte herum, und er hatte nichts getan als dagesessen, einen toten Körper angestarrt und sich bemitleidet.

Bevor er abfuhr, sah er noch einmal auf die einsame Waldhütte zurück. Wieder packte ihn ein kalter Schauer, eine würgende Angst. Er jagte aus dem Wald hinaus, über die halbzugewachsene Schneise, den Feldweg, die sandige Straße und hinauf auf die Chaussee. Erst am Stadtrand Hannovers wurde er ruhiger.

In der Wohnung erwarteten ihn Luise, Dr. Ronnefeld, Dr. Kutscher und Julius Salzer. Sie saßen da wie ein Femegericht, ernst und ihn anstarrend, als er eintrat. Ernst Dahlmann sah zuerst Dr. Ronnefeld und krauste die Stirn. Dann bemerkte er Salzer.

»Sie, Doktor?«, sagte Dahlmann arrogant. »Habe ich vergessen, Ihnen eine Rechnung zu bezahlen? Das hätten Sie auch schriftlich anmahnen können, statt sich hierher zu bemühen.«

»Ich bin als Arzt Herrn Salzers hier.«

»Das kümmert mich wenig! Auch Herrn Salzer habe ich nicht eingeladen, ebensowenig Herrn Dr. Kutscher. Es sei denn, Sie alle sind von meiner Frau hierher gebeten worden. Dann verlange ich allerdings eine deutliche Erklärung für diese Versammlung mir unangenehmer Gesichter.«

Das klang sehr stolz und sehr verletzend. Dr. Ronnefeld wurde rot, aber die Hand Dr. Kutschers, die sich auf seinen Arm legte, beruhigte ihn etwas. Luise sah ihn durch ihre dunkle Brille groß an. Die Haltung der Blinden gab sie nicht auf.

Noch wusste keiner der Anwesenden, dass sie sehen konnte. Aber sie war gewillt, jetzt, in dieser Stunde, die Brille abzunehmen und Dahlmann den letzten Schlag zu versetzen, der ihn vernichten würde.

»Wo ist Monika?«, fragte sie mit fester Stimme.

»Wie soll ich das wissen?« Dahlmann hob die Schultern. »Ich bitte dich, Luiserl … deine Schwester läuft einfach weg, und ich soll mich noch um sie kümmern wie eine Amme? Sie ist alt genug. Überhaupt sollte dieser Herr dort wissen, wo sie ist.«

»Sie ist nicht in Soltau!«, schrie Julius Salzer. »Aber bei Ihnen war sie zuletzt!«

»Anscheinend nicht. Sonst wäre sie ja noch hier. Es scheint überhaupt in der Familie Horten zu liegen, dass die Töchter auswärts übernachten.« Das war eine Anspielung auf Luise und Sanden. Dr. Kutscher fiel sofort ein:

»Lassen Sie den Quatsch, Dahlmann. Das gehört nicht hierher.«

»Und ob das hierher gehört!«, rief Dahlmann. »Ich möchte Ihre Reaktion sehen, wenn Ihnen Ihre Frau eröffnet, dass sie einen Geliebten hat!«

»Ich würde mich scheiden lassen.« Dr. Kutscher lächelte breit. »Ich bin hier, um das einzuleiten. Oder wollen Sie nicht? Ihre Frau verzichtet auf jeden Sühnetermin; sie nimmt die volle Schuld auf sich! Was wollen Sie mehr?«

Dahlmann wurde es heiß. Noch dreieinhalb Tage, dachte er. Ich muss die Post durchsehen und feststellen, wie hoch die Kontenstände sind. Ich werde die Konten bis auf den letzten Pfennig leer machen …

»Wir reden noch darüber, Doktor. Nächste Woche. Im Allgemeinen bin ich einverstanden.«

Luises Kopf fuhr vor. Auch Dr. Kutscher richtete sich verblüfft auf.

»Sie willigen in die Scheidung ein?«

»Ja. Über Einzelheiten müssen wir noch sprechen.«

»Natürlich.«

Luise nagte an der Unterlippe. Die Bereitschaft Dahlmanns war ihr willkommen, aber andererseits unheimlich. Sie musste einen tieferen Grund haben als die Beleidigung, die ihr Verhältnis – ihr angebliches Verhältnis – zu Sanden für ihn bedeutete. Vor allem war es undenkbar, dass er den Kampf um das Vermögen der Hortens aufgab; einen Kampf, den er bisher mit teuflischer Phantasie geführt hatte.

»Wo warst du?«, fragte sie.

»Das interessiert dich noch?«, fragte er zurück.

»Ja.«

»Ich bin durch Hannover gerast. Kreuz und quer. Ich habe irgendwie in der Raserei eine Erlösung gesucht. Du weißt gar nicht, was du mir angetan hast, Luiserl. Ich hatte für einen Augenblick sogar den Gedanken, den Wagen in voller Fahrt gegen eine Mauer prallen zu lassen.«

Luise schwieg. Sie sah sein zerknittertes, bleiches, wie aufgeweichtes Gesicht. Was hat ihn innerlich so zerstört, grübelte sie. Der Zusammenbruch unserer Ehe kann es nicht sein, denn sie ist vor über einem Jahr schon zerbrochen. Der Verlust des Geldes … das höhlt ihn nicht innerlich aus. Monika? Kann er den Weggang Monikas nicht verschmerzen?

»Warum hast du Monika geschlagen?«, fragte sie.

Julius Salzer hieb mit der Faust auf den Tisch. »Jawohl! Ich habe alles erzählt! Dr. Ronnefeld hat mich durch Spritzen wieder fit gemacht. Wo ist Moni?« brüllte er plötzlich und sprang auf.

»Ich habe Monika geohrfeigt, weil sie zu mir frech wurde. Sie hat mich beleidigt. Sie hat mich einen Schmarotzer genannt. Da gingen die Nerven mit mir einfach durch.«

»Das ist nicht wahr!«, schrie Salzer. Dr. Kutscher hielt ihn am Rock fest, sonst wäre er vorgestürzt. »Monika war Ihre Geliebte!«

Ernst Dahlmann hatte es erwartet. Er nahm es hin und lächelte sogar, so, wie man über einen miesen Clown lächelt, dessen Späße abgestanden sind. Luise starrte ihn verwundert an.

Die große Überraschung war misslungen.

»Stimmt das?«, fragte sie hart.

»Nein!«

»So ein Feigling!«, schrie Salzer.

»Du leugnest es ab?«

»Ich leugne nicht. Ich halte diese Verdächtigung für so absurd, dass ich nur noch aus Höflichkeit darauf antworte. Es erschreckt mich fast, dass du so etwas glauben kannst. Monika und ich – das ist doch lächerlich!«

Du Lump, dachte Luise und legte die Hände in den Schoß. Du erbärmlicher Schuft. Auch Julius Salzer strich sich mit zitternder Hand die Haare von den Augen.

»Sie hat es mir selbst gesagt«, keuchte er. »Sie hat es mir unter Tränen gebeichtet.«

»Dann hat sie gelogen und Ihnen eine schöne Szene vorgespielt.«

»Lassen Sie mich los, Doktor!«, schrie Salzer und zerrte an seinem Rock.

»Es wäre am einfachsten, Monika selbst zu fragen«, sagte Dahlmann völlig ruhig. »Hier, vor Ihnen allen, in meiner Gegenwart. Ich glaube kaum, dass sie dann ihre Behauptung wiederholt …«

»Wo ist Monika?«, fragte Luise wieder. Die Sicherheit Dahlmanns schien ihr beängstigend.

»Ich weiß es nicht.« Dahlmann hob bedauernd beide Arme. »Mir läge jetzt sehr viel daran, Monika hier zu haben, um diese Infamie aufzuklären!«

»Wenn Ihre Schwägerin nicht bis heute Abend neunzehn Uhr aufgetaucht ist, werden wir die Polizei einschalten«, sagte Dr. Kutscher. Dahlmann schüttelte den Kopf.

»Nein! Ich bin dafür, dass dies sofort geschieht! Sofort! Man wird nur auf der Polizei darüber lachen, dass aus der Mohren-Apotheke die Frauen verschwinden und sich nachher in anderen Betten wiederfinden. Doch das ist Geschmackssache! Ich bitte Sie, Doktor, die Polizei umgehend zu benachrichtigen …«

»Ich rufe erst in Soltau an.« Julius Salzer machte sich mit einem Ruck frei und ging zum Telefon. Luise starrte noch immer auf ihren Mann. Er leugnet Tatsachen, als seien es Utopien. Und er lässt es darauf ankommen, dass man ihm Monika gegenüberstellt. Welch ein Mensch ist das bloß?! Wie kann so viel Gemeinheit in einem Körper wohnen?! Ernst Dahlmann blickte von einem zum anderen. Sein Mund verzog sich.

»Ich nehme an, dass Sie vorhaben, sich noch länger in diesem Raum aufzuhalten. Da Sie Gäste meiner Frau sind, bin ich so unhöflich, mich von Ihrer Gegenwart zu befreien. Wenn irgendetwas ist – ich bin unten in der Apotheke. Sie können mich dort sprechen, wenn ich die nötige Zeit dazu frei habe.«

In stolzer Haltung verließ er die Wohnung. Die große Schau, die Luise geben wollte, war vertan. Sie sank zurück in den Sessel, noch einmal für kurze Zeit die Blinde, die nur hört und fühlt. Und noch etwas hielt sie ab, ihre Brille abzunehmen und zu sagen: »Dr. Ronnefeld … Sie haben auf dem linken Revers Ihres Anzuges einen kleinen Fleck …« Es war die unverständliche Sicherheit Dahlmanns, mit der er eine Situation, aus der es für ihn keinen Ausweg zu geben schien, souverän überging, als gäbe es diese Situation gar nicht. Er nahm den Schauspieler Sanden hin, die Scheidung, den Verlust der Apotheke, des Vermögens, des Erbes – er gab alles auf mit gleichgültiger Miene, ja fast befriedigt darüber, worum er noch vor einem Tag mit der Erbitterung eines Irren gerungen hatte.

Das hatte einen Grund, das musste einen schrecklichen Grund haben. Ihn zu erfahren, war nur möglich, wenn sie weiter die Blinde spielte, denn vor ihren toten Augen fielen alle Hemmungen von Dahlmann ab. Sie musste mit ihm allein sein, heute und morgen, ihn beobachten, aushorchen, ihm Fallen stellen.

Julius Salzer hatte in Soltau angerufen. Da der »Grüne Krug« kein Telefon besaß, hatte er mit dem Metzger gesprochen, der täglich das Fleisch lieferte. Die Möbel waren angekommen und standen vor dem Haus. Niemand wusste, was man mit ihnen machen sollte; keiner wusste, wie man sie aufstellen sollte. Von Monika Horten hatte man seit ihrer Wegfahrt nach Hannover nichts mehr gesehen.

»Ihr ist etwas zugestoßen!«, rief Salzer völlig gebrochen. »Und ich wette meinen Kopf, dass dieser Dahlmann weiß, was mit ihr geschehen ist.« Dr. Kutscher winkte ihm zu und zeigte kopfschüttelnd auf die Blinde. Mehr Rücksicht, hieß das. Auch wenn die Ehe auseinandergeht, noch ist er ihr Mann. Salzer winkte erregt ab. Rücksicht! Wie kann man von Rücksicht reden, wenn ein Mensch spurlos verschwunden ist? Luise konnte nichts sagen, sie starrte ins Leere und hatte den gleichen Gedanken wie Julius Salzer: Was verbirgt Dahlmann vor uns? Weiß er mehr über Monika?

Dr. Kutscher war der erste, der hinunter in die Apotheke ging. Er fand Dahlmann in den Hinterräumen beim Anrühren einer Schwefelsalbe.

»Ihre Schwägerin ist noch nicht in Soltau«, sagte Dr. Kutscher ernst.

»Haben Sie das erwartet? Sie hat den jungen Spund über und schwirrt als Bienchen durch die Lande.«

»Lassen Sie mal alle Gehässigkeiten weg, Dahlmann, und überlegen wir einmal zusammen.«

»Mit Ihnen nicht, Doktor. Sie sehen, ich habe Kundschaft im Laden und muss eine Salbe anrichten. Ich lasse meine Kunden nicht unnötig warten.«

»Wir werden jetzt die Polizei anrufen.«

»Das hätten Sie schon längst tun müssen.«

»Man wird Sie verhören.«

»Wenn die Polizei diese Zeitverschwendung auf sich nehmen will, bitte!«

»Sie haben Monika zuletzt gesehen.«

»Ja. Und? Bitte, Doktor, leiten Sie davon keine Wallace-Geschichte ab.« Dahlmann ließ den Rührer durch die gelbe, zähflüssige Salbe laufen und träufelte aus einer Pipette einige Tropfen in die Masse. Dabei zählte er und winkte ab, als Dr. Kutscher weiter sprach. »… neun … zehn … elf … zwölf … Seien Sie doch still, Doktor. Oder wollen Sie schuld sein, wenn die Salbe zu stark ist und auf der Haut brennt? Hier geht es um Tropfen … dreizehn … vierzehn …« Er legte die Pipette weg. Dr. Kutscher schnaufte durch die Nase.

»Sie wissen etwas, Dahlmann.«

»Allerdings.«

»Dann sagen Sie es.«

»Ich weiß, dass ich Sie widerlich finde!«

Dr. Kutscher drehte sich schroff um und verließ das Apothekenlabor. Dahlmann füllte die Salbe in einen Porzellantiegel und schob ihn dem wartenden Lehrling zu. Dann setzte er sich hinter die hohen Glaskolben und die unter Glas stehende Feinwaage und dachte nach.

Vor der plötzlichen Entdeckung Monikas hatte er keine Angst – kritisch war nur die Routinearbeit der Polizei. Bei der Überprüfung des Bekanntenkreises musste sie zwangsläufig auf Dr. Förster stoßen. Und über Dr. Förster kam man auf die Waldhütte, sie wurde besichtigt, nur Routine natürlich … der Lauf der Dinge war so logisch und einfach, dass Dahlmann beschloss, am nächsten Morgen mit Monika Horten ins Moor zu fahren.

In der Wohnung hatten sich unterdessen die Herren verabschiedet. Sie fuhren zu Dr. Ronnefeld. Julius Salzer litt unter den Nachwirkungen des Alkohols … sein Schädel stach an den Schläfen, er konnte kaum noch denken und spürte Gleichgewichtsstörungen, als er ein paar Schritte machte und gegen die Wand taumelte. Dr. Kutscher wollte bleiben, ihm schien es zu kritisch, Luise jetzt mit Dahlmann allein zu lassen. Erst als ihn Luise bat zu gehen, entschloss er sich schweren Herzens dazu.

Kaum war die Wohnung leer, rannte Luise ins Schlafzimmer. In der Kommode und dem Schrank suchte sie etwas, sie wusste, dass es noch vorhanden war und dass Dahlmann es kannte. Endlich fand sie den Gegenstand in dem kleinen Anbau neben dem Bad, wo die Koffer aufbewahrt wurden. Sie legte den Gegenstand deutlich sichtbar auf den Sessel in der Blumenecke, stellte dann das Radio an und setzte sich, wie sie es als Blinde immer getan hatte, vor das Gerät, den Kopf zur Seite geneigt, genau gegenüber dem großen Blumenfenster.

Jetzt wird er sich verraten, dachte sie. Hier kommt etwas auf ihn zu, was er mit keiner Selbstbeherrschung überwinden kann.

Sie drehte das Radio etwas leiser, als sie die Dielentür zuklappen hörte. Er kommt, dachte sie. Und gleich wird er es sehen …

*

Ernst Dahlmann lauschte erst an der Tür des Zimmers. Die Musik war von Mozart, Hochzeit des Figaro. Aber sonst hörte er keine Stimmen … nicht das polternde Organ Dr. Kutschers, nicht die etwas helle Stimme Salzers. Auch die Garderobe war leer, wo die Mäntel gehangen hatten. Luise schien allein zu sein. Endlich allein!

Er öffnete die Tür. In dem großen Zimmer saß Luise wie seit Monaten allein am Radio, die Hände auf der Sessellehne, mit geneigtem Kopf, und ließ sich von den Klängen einfangen.

Dahlmann räusperte sich. Luise fuhr etwas hoch und hob den Kopf. »Ernst?«

»Ja, Luiserl …«

»Du hast mich erschreckt.«

»Bitte verzeih.« Er blieb an der Tür stehen, unschlüssig, was er nun tun sollte. Ob er es wollte oder nicht – zwischen ihm und Luise stand jetzt Robert Sanden. Es war, als sei plötzlich eine Wand aufgerichtet, über die hinweg man noch miteinander sprechen konnte, die aber keinen engeren Kontakt, keine Berührungen mehr zuließ. »Dein Besuch ist weg?«

»Ja. Schon seit einer halben Stunde.«

»Wie konntest du mir das bloß antun, Luiserl?!«, sagte er heiser.

»Was?«

»Die Sache mit Sanden.«

»Du warst bei ihm?«

»Ja.«

»Ich weiß. Er hat mich angerufen. Du wolltest mich ihm abkaufen.«

»Ich habe mit allen Mitteln um dich gerungen, Luiserl. Selbst die schäbigste Art, Geld zu bieten, war mir nicht zu blöd. Ich habe mich bis zum Tiefsten erniedrigt. Aber du willst nicht mehr …«

»Nein, Ernst.«

In diesem Augenblick fiel sein Blick auf den Sessel in der Blumenecke. Seine Augen wurden starr, sein Kinn klappte herunter, als spränge es aus den Sehnen.

Auf dem Sessel lag eine Handtasche. Monikas weiße Handtasche. Er erkannte sie sofort; sie war das erste Geschenk gewesen, das er ihr gemacht hatte, damals, im Frühsommer, als sie eine Welt vor sich sahen, die in einen rosa Schleier gehüllt schien. Nun lag sie hier – auf einem Sessel, in dem vorhin Dr. Ronnefeld gesessen hatte.

Dahlmann wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht und starrte dann wieder auf den Sessel. Es war keine Täuschung: Monikas Handtasche lag dort, und vor einer halben Stunde hatte sie noch nicht dort gelegen. Luise schob den Kopf etwas vor, wie es Blinde immer tun, wenn sie angestrengt lauschen.

»Ist etwas, Ernst?«, fragte sie. »Du bist so still.«

Dahlmann schluckte krampfhaft. »Nein, nichts, Luiserl.« Seine Stimme klang hohl und wie durch ein langes Rohr gerufen. »Du warst die ganze Zeit allein?«

»Nachdem die Herren weggingen? Ja. Warum?«

»Ich meine bloß.« Er ging zu dem Sessel, hob die Tasche auf und öffnete leise den Verschlussbügel. Sie war leer bis auf ein Taschentuch und ein Portemonnaie, in dem sieben Mark lagen.

Ein Lippenstift war in einer Seitentasche und eine Fahrkarte der Straßenbahn. Fast ein Jahr alt.

Dahlmann sah sich um. Er ging zur Tür, öffnete sie und lauschte in der Diele nach oben, die Treppe hinauf zum Atelier. Er hörte nichts … nur die Musik Mozarts umgaukelte ihn. Dann hörte er Luise rufen und ging zurück in das Wohnzimmer.

»Wo bist du denn?«, fragte sie erstaunt. »Warum läufst du denn hinaus?«

»War wirklich niemand hier? Hast du nichts gehört? Keine Schritte?« Seine Stimme war heiser vor Aufregung. Das ist doch nicht möglich, dachte er. Das ist einfach nicht wahr. Monika ist tot. Sie liegt kalt und steif in einem Alkovenbett mitten im Wald. Ich bin kein Arzt, aber ich kann feststellen, ob ein Mensch lebt oder nicht. Ich kann einen Puls fühlen, ich weiß, was eine Leichenstarre ist. Und ein Körper, der nicht mehr atmet, ist tot … und Monika ist tot … tot … tot …

Und nun liegt ihre Tasche hier!

»Schritte?« Luise hob lauernd den Kopf. »Ja … doch … ein leises Tapsen … Ich dachte, es sei die Katze gewesen … Ist etwas, Ernst? Du machst mir Angst.«

Sie spielte ihre Rolle vorzüglich, streckte beide Arme hilfesuchend aus, zitterte und bettelte stumm um Schutz. Dahlmann war weit davon entfernt, nun noch den liebevoll sorgenden Ehemann herauszustellen. Er warf die Tasche auf den Sessel zurück und ballte erregt die Fäuste.

Ein Tapsen … wie von einer Katze … Wer war hier durch das Zimmer geschlichen … wer hatte die Tasche dorthin gelegt? Monika selbst – das war unmöglich. Das war zu unwahrscheinlich, um überhaupt mit diesem Gedanken zu spielen. Und doch kam Dahlmann immer wieder auf ihn zurück. Kein anderer konnte an diese Tasche kommen, ja, in der Rekapitulation der letzten Stunden glaubte er sogar zu wissen, dass Monika diese Tasche um den Arm hängen hatte, als sie zuletzt hier im Zimmer gewesen war. Und er hatte die Tasche mit in die Decke gerollt, das wusste er ebenfalls ganz genau.

Und nun lag sie hier!

Dahlmann setzte sich schwer und biss sich in die rechte Faust. Das ist unmöglich, dachte er immer wieder. Das ist völlig unmöglich … Er glaubte so fest daran, gerade diese Tasche zuletzt bei Monika gesehen zu haben, dass aus seinem inneren Zureden unmöglich … unmöglich … langsam die Frage wurde: Wie ist es möglich?!

Eine Frage, die nur eine Antwort zuließ: Er musste sich überzeugen, ob die Waldhütte leer war.

Zunächst ging er hinauf in das ausgeräumte Atelier. Hier hatte sich nichts verändert. Ein kahler, verwohnter, hässlicher Raum, in dem nichts mehr an den Zauber erinnerte, den er einmal ausstrahlte. Anschließend durchsuchte er das Schlafzimmer, die Küche, sein Herrenzimmer, das Gastzimmer – nirgendwo sah er eine Spur davon, dass Monika hier gewesen sein könnte.

Als er zurückkam ins Wohnzimmer, fand er den Sessel, in dem Luise gesessen hatte, leer. Das Radio lief noch. Immer noch Mozart … Ein Mädchen oder Weibchen wünscht Papageno sich …

»Luiserl!«, rief er. Und dann lauter, in die Küche rennend und in das Schlafzimmer, in dem er gerade gewesen war. »Luise! Luise!«

Die Wohnung war leer. Er riss alle Türen auf, jagte die Treppe hinunter in die Apotheke. Die Angestellten wunderten sich, dass ihr Chef wie ein Irrer durch die Räume lief, zum Hinterhof, auf die Straße … zurück … hinauf in die Wohnung … ins Atelier, unter das Dach … Das Rätsel blieb, und seine Panik wurde unerträglich: Luise war nicht mehr da! Während er oben im Atelier gestanden hatte, war sie von jemandem abgeholt worden. Anders war es nicht möglich; als Blinde konnte sie in dieser kurzen Zeit sich nicht allein so weit getastet haben.

Hatte Monika sie abgeholt?!

Dahlmann spürte, wie sein Gehirn brannte und er im Begriff war, wahnsinnig zu werden. Er riss seinen Mantel von der Garderobe und rannte hinaus. Wenig später schoss sein Wagen aus der Garage und schleuderte fast auf die Straße.

An der gegenüberliegenden Ecke drehte Dr. Kutscher den Zündschlüssel um. Luise, die neben ihm saß, umklammerte seinen Arm.

»Da ist er!«, sagte Dr. Kutscher und löste die Handbremse. »Meinen Sie wirklich, dass er etwas weiß?«

»Ja … Ich bin Ihnen ja so dankbar, dass Sie zurückgekommen sind, Doktor.«

»Ich hatte, ehrlich gesagt, Angst! Ich wollte sehen, ob alles in Ordnung ist. Himmel, hat der ein Tempo drauf. Dass Sie diese idiotische Fahrerei nicht sehen können, ist ein Glück.«

Luise sah es mit zusammengepressten Lippen. Dahlmann fuhr rücksichtslos um die Straßenecken und über die Zebrastreifen. Sie fuhren ihm nach, so gut es ging unter Berücksichtigung der Verkehrsregeln, die es für Dahlmann nicht mehr zu geben schien. So kam es, dass der Zwischenraum sich immer mehr vergrößerte. Als Dahlmann bei Gelb über eine Kreuzung raste und Dr. Kutscher beim sofort aufleuchtenden Rot bremsen und warten musste, verloren sie ihn aus den Augen. Auch als Dr. Kutscher bei Grün vorwärtsschoss und diesmal auch die Fußgänger zur Seite springen ließ, fanden sie Dahlmanns Wagen nicht wieder. Drei Ausfallstraßen standen zur Wahl – es war nicht einmal zu erraten, welche Dahlmann hinabgeschossen war.

Dr. Kutscher fuhr rechts heran und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Er ist weg, gnädige Frau. Ich tauge nicht für amerikanische Verfolgungsfahrten. Im Kino sieht das alles so schön aus, da ist nie ein Hindernis, da können sie hundert Kilometer hintereinander herrasen … aber hier, in Hannover? Was nun?«

»Fahren wir nach Hause«, sagte Luise und senkte den Kopf.

»Nicht zur Polizei?«

»Nein! Können wir etwas beweisen?«

»Das nicht. Aber man wird ihn durch die Mangel drehen.«

»Dahlmann nicht.«

»Er muss ein Alibi beibringen darüber, wo er jetzt hingefahren ist.«

»Auch das wird er haben. Sie kennen ihn doch, Doktor.«

»Allerdings.«

»Trinken wir eine Tasse Kaffee!«

»Woher nehmen Sie bloß diese Ruhe?« Dr. Kutscher vibrierte am ganzen Körper. Auch er spürte, dass Dahlmann in diesen Minuten dem Geheimnis entgegenfuhr und dass sie nahe daran gewesen waren, alle Fragen beantwortet zu bekommen.

»Es ist keine Ruhe, Doktor … es ist die Starrheit des Hasses …«

Dr. Kutscher sah sie von der Seite an. Sie saß da wie versteinert. Die dunklen Brillengläser, die ihr Gesicht beherrschten, warfen den Schein der Abendsonne zurück. Dr. Kutscher hob wie frierend die Schultern.

»Trinken wir Kaffee«, sagte er leise, ganz gegen seine sonstige Art. »Und wie wollen Sie – oder wir – beweisen, dass Ihr Mann etwas über den Verbleib Monikas weiß?«

»Ich werde es bald wissen. Morgen schon.«

»Morgen? Aber wie denn?«

»Viele Opfer, die gebracht wurden, waren sinnloser als dieses hier.«

»Opfer? Was wollen Sie tun?«

»Fahren Sie, Doktor. Bitte!«

»Nicht, bevor ich weiß, was Sie vorhaben! Ich flehe Sie an: Machen Sie keine Dummheiten! Sie haben Ihren Mann mit dieser erfundenen Sanden-Geschichte bis an die Grenze der Vernunft gebracht.«

»Das wollte ich! Morgen soll ihn die Vernunft ganz verlassen.«

»Das werde ich verhindern!« Dr. Kutscher ergriff beide Hände Luises. »Gnädige Frau, wenn Sie die Gefahr wüssten.«

»Und wenn ich sie weiß?«

»Dann ist es um so leichtsinniger, dass Sie sich …«

»Doktor, bitte! Ich habe solchen Kaffeedurst.« Luise lächelte, als sie die Angst in den Augen Dr. Kutschers sah. »Glauben Sie mir: Mir wird nichts, gar nichts geschehen.«

Dr. Kutscher war davon in keiner Weise überzeugt. Er kannte Dahlmann, aber er überschätzte ihn. Er traute ihm mehr zu, als Dahlmann zu tun fähig war.

»Bitte, nehmen Sie meinen Rat an«, sagte er stockend. »Übernachten Sie wieder in dem Hotel!«

»Gerade die Nacht brauche ich, Doktor.«

»Wie kann man Sie bloß schützen?!«, rief Dr. Kutscher. Er hieb mit der Faust auf das Lenkrad. Luise ergriff seine Faust und hielt sie fest.

»Keiner braucht mich zu schützen. Mein bester Schutz ist die Notwendigkeit zu leben …«

Dr. Kutscher war es, als drücke ihm jemand die Kehle zu. Er umklammerte Luises Hand und atmete schwer. Verdammt, dachte er. Welche Nerven hat diese Frau.

»Sie wissen …«, sagte er leise.

Luise nickte. »Ich weiß alles, Doktor.« Ihr Lächeln zu diesen Worten war wie ein Blütenregen auf die Stätte einer Hinrichtung. »Und nun fahren Sie. Ich sehne mich nach einer Tasse Kaffee.«

*

Die ganze Nacht blieb Luise auf und wartete. Dahlmann kam nicht zurück. Sie wusste dafür keine Erklärung, aber ihre Angst wuchs, dass sie sich diesmal verrechnet haben könnte. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder war er bei Monika, oder er hatte die Nerven verloren und war geflohen. Wohin, das würde sich bald feststellen lassen – nur entsprach es nicht der Wesensart Dahlmanns, alle Brücken abzubrechen, ohne wenigstens die letzte Möglichkeit auszunutzen, einen Vorteil herauszuschlagen. Dass er ohne Geld über die Grenze gegangen war, schien also unwahrscheinlich zu sein. Aber auch bei Monika konnte er nicht die Nacht verbringen, denn sie hatte ihn weggestoßen in ihrer Verzweiflung; sie wollte vergessen. Der Zauber, der sie einmal gefangen hielt, war zerbrochen. An die Stelle der Hörigkeit war Ernüchterung getreten.

Und doch war er bei Monika.

Dahlmann saß die ganze Nacht über bei ihr.

Er war zur Waldhütte gerast und hatte die Tür so verschlossen gefunden, wie er sie verlassen hatte. Im Alkovenbett lag Monika, tot und steif, mit halboffenem Mund. Die zarte, rosa Haut war gelb geworden … er ließ den Vorhang schnell wieder vor das Bett fallen und taumelte zum Tisch.

Die Tasche! Wie kam die Tasche in die Wohnung? Dahlmann tastete die Decke ab, in die er Monika eingerollt hatte. Da war keine Tasche. Er überwand sich, zog noch einmal den Vorhang vom Bett und schob die Steppdecke von dem starren Körper. Hinter Monika, zwischen ihrer rechten Hüfte und der Wand, lag die Handtasche. Eine rote Tasche, nicht eine weiße. Ernst Dahlmann schloss die Augen und lehnte sich an die Alkovenwand.

Die Nerven, dachte er. Ich habe die Nerven verloren. Wer aber hat die weiße Tasche in den Sessel gelegt? Wo kommt sie plötzlich her? Wem gehörten die tapsenden Schritte, die Luise gehört hatte?

Wer hatte ihm diese Falle gestellt?

Das war es nämlich, was ihm plötzlich völlig klar wurde: Die Tasche in dem Sessel war eine Falle gewesen! Jemand hatte sie dorthin gelegt, der seine Reaktion beobachten wollte. Wer aber? Wer? Luise war blind, und sonst war niemand im Haus gewesen. Davon hatte er sich selbst überzeugt. Aber unten auf der Straße? Hatte jemand auf sein Wegfahren gewartet und war ihm nachgefahren?

In Dahlmann stieg heiße Angst hoch. Er rannte aus der Waldhütte und blieb zwischen den Stämmen stehen. Er bemerkte keinen zweiten Wagen, hörte keinen Motor, keine Schritte, kein Knacken von Ästen oder das Rascheln von Laub. Und doch war er beobachtet worden, dessen war er sich sicher. Ebenso klar war er sich darüber, dass er nicht mehr nach Hause konnte, bevor die Leiche Monikas im Sumpf versenkt war. Dann war es gleichgültig, wenn sie die Hütte fanden und durchsuchten. Es gab keine Spuren mehr. Und der Grund, warum er die Hütte von Dr. Förster übernommen hatte? Auch die Polizei würde verstehen, wenn er mit einem Augenzwinkern antworten würde: »Ich liebe die Waldeinsamkeit; ich habe die Hütte für meine Freizeit und zur Erholung gemietet.«

Dahlmann rauchte hastig eine Zigarette und ging zur Hütte zurück.

Die ganze Nacht über saß er am Tisch und studierte beim Schein der Petroleumlampe die Karte von Norddeutschland, die er immer im Handschuhfach seines Wagen liegen hatte. Es gab viele Moore nördlich von Hannover, aber eines schien ihm besonders geeignet zu sein. Es war eine ziemlich unbewohnte Gegend zwischen Scheeßel, Hetzwege und Mulmshorn; ein vierzehn Kilometer langer Streifen Moor, durchzogen von einigen Kanälen, Wasserrinnen nur, ein Flecken Einsamkeit.

Er maß die Strecke aus, er suchte die besten Anfahrtswege. In drei Stunden kann man am Ziel sein, dachte er. Um ein Uhr nachts fahre ich hier weg. Morgens um vier wird das Moor die einsamste Gegend der Welt sein, und um sieben Uhr werden selbst die Spuren des Autos aufgequollen und verwischt sein.

Eine perfekte Möglichkeit, einen Menschen verschwinden zu lassen. Und so einfach, dass sich Dahlmann wunderte, warum noch niemand auf diesen Gedanken gekommen war.

Kurz vor ein Uhr nachts begann der letzte, für Dahlmann schwierigste Teil: Er musste den starren Körper Monikas wieder in die Decke rollen und sie zum Wagen tragen.

Noch einmal sah er Monika an, und sein Herz stockte bei der Erinnerung, wie glühend diese blassen Lippen einmal hatten küssen können, wie warm der schöne Körper gewesen war, wie anschmiegsam und voller Lebensgenuss. Dann schlug er die Decke über das Gesicht, verschnürte das Bündel wieder und trug es ächzend hinaus. Sie schien ihm jetzt schwerer als vorher zu sein … das Rätsel, warum Tote schwerer sind als Lebende, beschäftigte auch ihn. Mit Mühe – weil er die Beine nicht anwinkeln und das »Paket« knicken konnte – brachte er sie auf den Rücksitzen unter und schlug die Tür zu.

Über eine halbe Stunde verwandte er darauf, alle Spuren zu verwischen. Als er die Hütte abschloss, war sie wieder so, wie er sie übernommen hatte.

Niemand würde beweisen können, dass in den letzten Tagen jemand hier gewesen war. Dass in dem Bett eine Tote gelegen hatte.

Das wusste nur Gott, und ihn konnte man nicht fragen.

*

Kein Mensch sah den Wagen, der gegen vier Uhr morgens über den schmalen festen Weg holperte, auf dem sonst die Moorkarren fahren. Keiner sah auch den Mann, der mit einer Deckenrolle über dem Rücken den festen Weg verließ und den Spuren der hochrädrigen, leichten Wägelchen nachging, die bis an die Grenze des begehbaren Bodens rollen.

Auch Dahlmann tastete sich mit seiner Last so weit in das Moor hinein, bis er spürte, wie der Boden unter ihm schwankte und schwebte und das Moorwasser ihm oben in die Schuhe lief. Da blieb er stehen und ließ die Deckenrolle von den Schultern rutschen.

Über dem Moor lag Nebel in dünnen, schwebenden, wie aus weißgrauer Seide gesponnenen Schleiern. Einzelne Schwaden zogen träge auf ihn zu, wehten über ihn hin und trugen den Geruch von Fäulnis und nasser Erde weiter ins Land.

Dahlmann schauderte und sah über das einsame, schwermütige und geheimnisvolle Land. Es sah so friedlich aus – und zwei Schritte weiter war es gnadenlos, grausam und feindlich. Ein lautloser Tod; vielleicht nur ein Schmatzen des Sumpfes, wenn er sich über dem Körper schloss; das Schmatzen eines satten Todes.

Dahlmann blickte sich um und suchte einen harten Gegenstand, den er vor sich in das Moor werfen wollte, um zu sehen, wie weich der Boden war und wie schnell er einen Körper in sich hineinsaugte. Da er nichts fand, nahm er seine goldene Armbanduhr ab und warf sie vier Schritte weit von sich. Sie klatschte auf, und dann war es, als öffneten sich wulstige Lippen, umfingen die Uhr und verschluckten sie. Nicht schnell, sondern langsam. Ganz allmählich, millimeterweise. Genussvoll fast … ein Aufsaugen, ein Vergehen …

Dahlmann starrte auf seine Uhr, bis sie im Moor versunken war. Er konnte sich keinen Begriff machen, wie tief der schwabbende Boden war. Zweifel kamen ihm auf, dass ein menschlicher Körper völlig in ihm verschwinden könnte. Er erinnerte sich, dass einmal eine Kuhherde im Moor versunken war; er dachte an die vielen Geschichten, die er über Sümpfe gelesen hatte. Ein ganzes Fahrzeug mit Pferden und Lenkern sollte einmal spurlos im Teufelsmoor verschwunden sein. Er hatte das immer als eine Sage angesehen, und auch jetzt, am Rande des lautlosen Todes, glaubte er nicht daran, dass es tief genug sein würde.

Um eine neue Probe zu machen, ging er zurück zum Wagen und holte seinen Wagenheber aus dem Kofferraum. Er warf auch ihn in den schwabbenden Boden, und dieses Mal war der Mund gieriger – er umschloss den schweren Wagenheber mit gurgelnden Lauten und verschluckte ihn in weniger als zehn Sekunden. Dahlmann, ohne seine Uhr, zählt sie nach militärischer Art … einundzwanzig … zweiundzwanzig … dreiundzwanzig … Bei der zehnten Sekunde lag die Moorfläche glatt und ruhig wie vorher da, ein lauernder Moloch von trauriger, nebelschleierumwehter Schönheit.

Im Osten zeigte sich am weiten Horizont ein schwacher hellgrauer Streifen, die Ahnung eines kommenden Tages, ein Hauch von Licht. Durch Ernst Dahlmann zog ein Frieren und Schütteln. Es gab kein Zurück mehr. Die Trennung für alle Ewigkeit war nicht aufzuhalten.

Dahlmann hob die Decke mit Monika wieder hoch. Er versuchte, ob es möglich sei, sie mit beiden Armen von sich wegzustoßen und ein paar Meter weit hinein ins Moor zu werfen. Aber der zarte Körper war zu schwer, oder ihn hatten die Kräfte verlassen – es war unmöglich, Monika zu halten. Die Deckenrolle rutschte ihm aus den Armen weg und stieß wieder auf den Weg.

Dahlmann drückte die Hand in den Rücken, reckte sich und griff wieder zu. Ächzend bückte er sich, schob die Rolle über seine Schulter und richtete sich auf. Er schob sie so zurecht, dass sich das Gleichgewicht nach vorn verlagerte. Dann schleuderte er von der Schulter aus, mit beiden Händen nachdrückend, die Tote in das Moor hinein. Der Schwung war so groß, dass er selbst mitgerissen wurde, nach vorn stürzte, auf die Knie fiel und mit ausgebreiteten Armen auf dem schwabbenden Boden lag.

Als er sich aufstützen wollte, fühlte er, wie der Boden unter seinen Händen nachgab, wie er in einen faulig riechenden Erdpudding griff, wie seine Finger sich im Breiigen verloren. Einen Augenblick lang war er versucht zu schreien. Entsetzen ergriff ihn. Todesangst, winselnde Feigheit. Er presste die Knie zusammen und spürte, dass der Boden unter seinen Füßen hart war, dass seine Brust noch auf fester Erde ruhte, dass es nur die Arme und Hände waren, die ins Moor reichten, in die saugende, alles verschlingende weiche Tiefe.

Er kroch zurück wie ein Molch und wagte erst dann, sich aufzurichten, als er beim Rundumtasten überall harten Grund fühlte. Zitternd stand er da, mit Lehm und schwarzem Moorbrei beschmiert. In seinem Kopf summte und rauschte es, vor den Augen drehten sich die Nebel und wurden von blauen, gelben und roten Punkten durchtanzt. Wenn man sich irgendwo anlehnen könnte, dachte er. Ausruhen, tief atmen, die Augen einen Moment schließen und an nichts denken … Doch um ihn herum war Moor; er stand auf einem schmalen festen Wegstreifen. Schilf und Gras wuchs neben ihm – aber kein Baum, an den er sich zu lehnen vermochte; nicht einmal ein Strauch mit einigen biegsamen Ästen, an die man sich anklammern konnte.

Vor ihm versank langsam die Deckenrolle. Er starrte auf den Sumpf, wie er Monika in sich hineinzog. Es war ein Anblick, der ihn erschaudern ließ, aber er wandte das Auge nicht davon ab, es war ein Abschied von Monika für immer.

Er wartete, bis sie völlig versunken und die Oberfläche des Moores wieder glatt war. Dann ging er langsam zurück zum Wagen und fuhr, mit einem Gefühl von Übelkeit im Magen, nach Hannover. Der Moorschmutz an seinem Anzug trocknete. Kurz vor der Abfahrt von der Autobahn in der Innenstadt hielt er an einer Raststelle, klopfte seinen Anzug ab, säuberte die Hosenaufschläge von Pflanzenresten und die Schuhe vom festgeklebten Schlamm. Als die Geschäfte um acht Uhr öffneten, kaufte er sich einen neuen Anzug, zog sich in der Probierkabine gleich um und brachte den fleckigen Anzug zur Reinigung. Express, bestellte er. In drei Tagen werde er ihn wieder brauchen.

In seiner Wohnung fand er Fräulein Erna Pleschke vor. Sie war beauftragt worden, wie an jedem Tag, zu kommen. Dahlmann begrüßte sie brummend und ging ins Zimmer. Fräulein Pleschke konnte er jetzt am wenigsten gebrauchen; außerdem wusste er nicht, was sie hier sollte. Es war nicht anzunehmen, dass Luise spazierenging, wenn man ihre Schwester suchte.

»Bist du es, Ernst?«, fragte Luise. Sie saß blass und übermüdet in der Blumenecke. Ihre Augen brannten unter den dunklen Gläsern und tränten etwas. Mit letzter Kraft kämpfte sie gegen eine ohnmachtähnliche Müdigkeit an. Dass sie, im Sessel sitzend, eine Stunde geschlafen hatte und durch die Geräusche, die Fräulein Pleschke verursachte, geweckt worden war, wusste sie nicht. Sie glaubte, sie sei nur ein wenig eingenickt.

Ernst Dahlmann setzte sich. Luise musterte ihn. Er hat einen neuen Anzug an, dachte sie. Was soll das bedeuten? Wo kommt er jetzt her? Aber sie fragte nicht danach. Sie hatte sich ein anderes Mittel ausgedacht, um Dahlmann zu veranlassen, sein eigener Verräter zu werden. Auf Fragen würde er immer eine Antwort wissen … man musste ihn überraschen, ihn plötzlich treffen, so wie es mit der Handtasche Monikas gelungen war. Nur war dieser Schuss ins Leere gegangen, weil Dahlmann schneller gewesen war als seine Verfolger.

»Ja. Ich bin’s, Luiserl.« Er lehnte sich weit zurück und sah an die Decke. Die Morgensonne stach grell durch das breite Fenster. Ein schöner Herbsttag begann … vielleicht war es der letzte in diesem Jahr. In Bayern lag schon Schnee, von Schweden wurde das Gleiche gemeldet. Es würde nicht lange dauern, bis auch nach Hannover der Winter kam. Dahlmann genoss die Stille, die Sonne, die Blumenranken, den Duft von Rosen und Dahlien. Er genoss es, in einem weichen Sessel zu sitzen, die Beine weit von sich zu strecken und zufrieden zu sein.

Das war er: zufrieden! Wenn er eitel gewesen wäre, hätte er sagen können: Ich habe die Methode des perfekten Mordes entdeckt! Nicht aus Gemeinheit, nicht aus einem verbrecherischen Instinkt heraus, sondern aus der Angst, der Notwendigkeit, einen Menschen spurlos verschwinden zu lassen, dessen Tod man nie, nie gewollt hatte.

Er griff in die Tasche, zog eine Schachtel Zigaretten heraus und begann zu rauchen. Was nun?, dachte er dabei. Der zweite Tag der vier Tage ist gekommen. Ich werde mir die Fahrkarte nach Zürich bestellen, einige Koffer packen und sie als Reisegepäck vorschicken. Das fällt nicht auf. Und falls sie es später erfahren, wird die Spur verwischt sein.

»Wie hast du geschlafen, Luiserl?«, fragte er, um etwas zu sagen und die Stille aufzulockern.

»Gar nicht.«

»Gar nicht? Aber warum denn?«

»Da kannst du noch fragen?«

»Verzeih.« Dahlmann sog an seiner Zigarette. »Du erkundigst dich gar nicht, wo ich diese Nacht gewesen bin?«

»Nein. Du wirst es mir ja auch so sagen.«

»Hast du keine Angst, dass ich dich belüge?«

»Nein. Du hast mich nie belogen.« Luise kam der Satz völlig frei von den Lippen. »Warum sollten wir uns jetzt noch etwas vormachen? Ich war auch ehrlich zu dir, Ernst. Wenn du mir sagst, du warst diese Nacht bei einer anderen Frau – es berührt mich nicht mehr.«

Luises Kopf flog hoch. Sie blickte Dahlmann an … Sie sah ihn nur verschwommen, die Augen tränten im Licht der Sonne. Sie nahm ein Taschentuch, schob es zwischen die Brillengläser und drückte es gegen die Augen. Sie tupfte die Tränen ab … Dahlmann kehrte aus der Verschwommenheit seiner Träume in die Klarheit zurück.

»Aber das war ich doch nicht! Ich habe Monika gesucht.«

»Du hast Monika gesucht? Wo denn? Keiner weiß doch, wo sie hingegangen ist! Hat sie dir etwas gesagt?«

»Nein. Aber ich bin ein Mensch, der das Systematische liebt. Ich habe sämtliche Hotels abgeklappert.«

»Du hast …?«

»Ich wusste gar nicht, dass es in Hannover so viele Hotels, Fremdenpensionen, Privatpensionen und Einzelzimmervermietungen gibt. Ich bin die ganze Nacht herumgesaust, kreuz und quer durch die Stadt, und habe gefragt. Ein paarmal hätten sie mich bald verprügelt. Ich bin bis zu den Spelunken hinabgestiegen und hinauf bis auf Dachkammern, die man auch stundenweise vermietet. Von Monika keine Spur. Sie ist entweder nicht mehr in Hannover, oder sie lebt irgendwo privat. Dann kann es nur ein Mann sein.«

»Monika ist keine Hure«, sagte Luise kalt.

»Das will ich damit auch nicht angedeutet haben! Aber ich denke an diesen blonden Träumer Julius Salzer, der sich Rechte an Monika anmaßt – und wie lange kennt er sie? Ein paar Tage! Das spricht nicht gerade für ein zimperliches Verhalten deiner Schwester.«