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Andrea Sommer-Mathis, Elisabeth Großegger und
Katharina Wessely (Hg.)

Spettacolo barocco
– Performanz, Translation, Zirkulation

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Gedruckt mit Unterstützung durch die Stiftung der Familie Philipp Politzer

Andrea Sommer-Mathis, Elisabeth Grosegger, Katharina Wessely (Hg.):

Umschlagabbildung:

Redaktion: Herausgeberinnen

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-99012-507-6

INHALT

Vorwort der Herausgeberinnen

UTA COBURGER (MANNHEIM)

Die große Illusion. Eine Barockausstellung – ein Drahtseilakt

Barocke Performanz

SUSANNE WINTER (SALZBURG)

TheaterKulturTransfer: Die Commedia dell’arte in Frankreich und Spanien

CHRISTINE FISCHER (BASEL)

Theatrales Spektakel als Weltenordnung: Angelica vincitrice di Alcina von Johann Joseph Fux, Pietro Pariati sowie Ferdinando und Giuseppe Galli Bibiena (Wien, 1716)

MARGRET SCHARRER (SAARBRÜCKEN)

Résistance oder Amusement? Österreichs Adel besucht das französische Theater

CHRISTOPHER F. LAFERL (SALZBURG)

Der Festejo deLos empeños de una casa“ von Sor Juana Inés de la Cruz als barockes Spektakel

Translation des Barock

FLORIAN BARANYI (WIEN)

Spektakel des Königtums, Rache im Theater:
Thomas Kyds The Spanish Tragedy und die Apologien des souveränen Rechts

MICHAEL RÖSSNER (WIEN/MÜNCHEN)

Comoedia est enim speculum comoediae (et imitatio vitae?)
Translationen und Spiegelungen in der barocken Komödie

MATTHIAS MANSKY (WIEN)

Von geberden und Reden aber recht gut teütsch worden
Adaptions- und Transferprozesse im frühneuzeitlichen Berufstheater

EVA-MARIA HANSER (WIEN)

Verbessert aber undt zierlicher in hochteitscher Sprach gegeben
Cicogninis Le gelosie fortunate del prencipe Rodrigo im frühen deutschsprachigen Berufstheater

Zirkulation des theatralen Wissens

KATHARINA WESSELY (WIEN)

… dies „Ragout aus Anderer Schmaus
Die Neuerfindung des Alt-Wiener Volkstheaters im Rahmen der Internationalen Musik- und Theaterausstellung in Wien 1892

ELISABETH GROSSEGGER (WIEN)

„Das zweite Barock“. Ein Theaterdiskurs der Zwischenkriegszeit

CORINNA HERR (Bochum)

Hybride Sänger? Stimme und Geschlecht des Primo uomo in Barock und Postmoderne

SIGRID T’HOOFT (GENT)

Barockregie heute: Eine Fallstudie anhand der Inszenierung von Händels Imeneo bei den Internationalen Händel-Festspielen in Göttingen im Mai 2016

Anhang

CLAUDIA CONTIN ARLECCHINO (PORDENONE)

Prolog des Arlecchino, eines zeitgenössischen Gauklers

FERRUCCIO MERISI / CLAUDIA CONTIN ARLECCHINO

Arlecchino e il suo doppio (Arlecchino und sein Double)

VERONICA RISATTI (TRIENT)

E così tosto al mal giunse lo ’impiastro
Ein Commedia dell’arte-Stück der Bottega Buffa CircoVacanti in Zusammenarbeit mit dem Theatermuseum in Wien

VERONICA RISATTI

E così tosto al mal giunse lo ’mpiastro (Und geschwind ward Abhilfe für das Übel gefunden)

Autorinnen und Autoren

Vorwort

Spektakel, Inszenierung, Theatralität sind Schlüsselbegriffe für das Barockzeitalter. Zu den vielfältigen theatralen Vergnügungen des Barock, die in den zeitgenössischen Quellen als „Spektakel“, „Feste“, „Lustbarkeiten“ und „Divertissements“ bezeichnet wurden, gehörte alles, was ein „Schau-Spiel“ bot, was sich an Theatralischem im weitesten Sinne anschauen und bestaunen ließ – Opern, Komödien und Tragödien ebenso wie Turniere und Rossballette, Feuerwerke und Illuminationen, Bauernwirtschaften oder Maskeraden. Mit dem Begriff des spettacolo barocco, des barocken Spektakels, ist aber natürlich auch die sinnliche „Schau-Lust“ konnotiert, eine Lust, die nicht nur die Augen, sondern alle Sinne umfasste.

Dem Barock als Epoche der „Schau-Lust“ war die Ausstellung des Wiener Theatermuseums Spettacolo barocco! Triumph des Theaters1 gewidmet, die vor allem die Inszenierung von Macht und Herrschaft im 17. und 18. Jahrhundert sowie die dabei eingesetzten performativen Mittel der Bühnentechnik, Kostümkunst und Maskierung präsentierte. Barock war aber auch das Zeitalter von Krisen, Kriegen und religiösen Konflikten, von Krankheit, Tod und verschiedensten Vanitas-Vorstellungen. Gerade die Antinomien von Sinnlichkeit und Askese, von Fest und Gewalt, die in einem nicht mehr auflösbaren Spannungsverhältnis zueinander stehen, sind den Gegenwartsgesellschaften wohl vertraut und tragen zweifellos zum aktuellen ‚Barockboom‘ bei, der sich in Ausstellungen, wissenschaftlichen Tagungen, 2 Festivals Alter Musik und Aufführungen barocker Opern manifestiert.

Im Rahmen der erwähnten Ausstellung fand vom 5. bis 7. Oktober 2016 die internationale Jahreskonferenz des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte statt, die unter dem Titel Spettacolo barocco! Performanz, Translation, Zirkulation Themen der barocken Performanz, kulturellen Translation und Zirkulation theatralen Wissens erörterte. Die Referent/inn/en befassten sich in ihren Vorträgen mit der Aufführung und Inszenierung barocker Spektakel in Vergangenheit und Gegenwart, den für die Epoche des Barock spezifischen Theaterformen und ihrer Wiederbelebung im 19. und 20. Jahrhundert, aber auch der Aktualisierung der theatralen Praktiken des Barock in der gegenwärtigen Gesellschaft.

Ausgangspunkt war die Frage, ob wir heute eine neue Epoche des Historismus erleben, oder ob doch eher ein ästhetischer Barockbegriff vorherrscht, wie er für Epochen des Hybriden, Unreinen, auch Krisenhaften typisch ist. Kann man die barocke Schaulust, die sich auch im Theater manifestierte, mit der „Schau-Lust“ des 21. Jahrhunderts, die mehr noch eine „Zeige-Lust“ ist, in Beziehung setzen? Diese und ähnliche kultur- und gesellschaftspolitische Fragen standen im Zentrum der Tagung und wurden in transdisziplinärer Perspektive diskutiert. Die Ergebnisse der Vorträge und der daran anschließenden Diskussionen finden sich im vorliegenden Sammelband vereint.

Der Begriff „Barock“ ist sowohl als Bezeichnung einer Epoche wie auch als ästhetische Kategorie höchst ambivalent und entstand erst durch spätere Kategorisierungsversuche. Die Problematik des Barockbegriffs erläutert Uta Coburger (Mannheim) in ihrem Beitrag Die große Illusion. Eine Barockausstellung – ein Drahtseilakt. Sie hatte sich als eine der Kurator/inn/en der Ausstellung Barock. Nur schöner Schein? in den Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen (11. September 2016 – 19. Februar 2017)3 der großen Herausforderung gestellt, eine umfassende – nicht nur das Theater betreffende – Schau zum Phänomen Barock zu gestalten. In ihrem Aufsatz weist sie darauf hin, dass der Barock auch lebendige Inspirationsquelle für Mode- wie Produktdesigner/innen, Film- und Theaterschaffende, Musiker/innen, Schriftsteller/innen und bildende Künstler/innen ist.

In der ‚spektakulären‘ Theaterpraxis des Barockzeitalters war die Konstruktion theatraler Räume gleichzeitig auch die Konstruktion von Wirklichkeit: Über die technische und apparative Konstruktion der Bühne und die performative Darstellung des Bühnengeschehens wurden für die sinnliche Wahrnehmung des Publikums illusionistische Räume konstruiert, die als ‚echt‘, d.h. in Korrespondenz mit der Wirklichkeit, wahrgenommen werden sollten.

Ein eindrucksvolles Beispiel für die Konstruktion derartiger imaginärer Räume bietet die Wiener Festoper Angelica vincitrice di Alcina, die 1716 mit ungeheurem szenischem Aufwand als multimediales Spektakel im Garten der habsburgischen Sommerresidenz Favorita inszeniert wurde. Christine Fischer (Basel) untersucht anhand der erhaltenen Musik- und Bildquellen die theatralen Methoden dieser Produktion, die sich in vielfältiger Weise auf ihre Orte rückbezieht: auf den wandelbaren Ort des Bühnengeschehens, der wiederholt Gelegenheit zum Einsatz Aufsehen erregender (‚spektakulärer‘) Theatermaschinerien bot, ebenso wie auf den ‚realen‘ habsburgischen Herrschaftsraum, der zur Grundlage und zum Gegenpol des Bühnenraumes wurde. Der erhaltene zeitgenössische Bericht von Lady Montagu über diese Aufführung zeigt allerdings auch, wie wenig von dem komplexen ideologischen Konzept dieser Festa teatrale die damaligen Zuschauer tatsächlich rezipieren konnten, und dass erst die Publikation des Librettos und der Szenenstiche für die gewünschte Rezeption und Verbreitung sorgte.

Um Fragen der Performanz und Rezeption des barocken Musiktheaters geht es auch in dem Aufsatz von Margret Scharrer (Saarbrücken), der sich mit den Kavaliersreisen österreichischer Adeliger an den französischen Hof im 17. Jahrhundert beschäftigt. Die kulturell italienisch sozialisierten Aristokraten erwiesen sich dabei dem französischen Musik- und Sprechtheater gegenüber keineswegs so abweisend, wie angenommen werden könnte. In ihren Berichten hoben sie die französische Instrumentalmusik und vor allem die Tänze als durchaus positiv zu bewertende Erscheinungen hervor, während der französische Gesang in Komposition und Aufführungspraxis bei ihnen Befremden hervorrief.

Mit welchen Schwierigkeiten die Theaterleute heute konfrontiert sind, wenn sie eine Barockoper auf die Bühne stellen wollen, demonstrieren zwei weitere Beiträge, die aus unterschiedlicher Perspektive die musikalischen wie szenischen Zugangsweisen aktueller Inszenierungen diskutieren. Während Sigrid T’Hooft (Gent) am Fallbeispiel ihrer eigenen Inszenierung von Georg Friedrich Händels Imeneo bei den Internationalen Händel-Festspielen in Göttingen im Mai 2016 ihren Zugang zur historisch informierten Aufführungspraxis darstellt, setzt sich Corinna Herr (Bochum) mit der Besetzungspraxis der Kastratenrolle des Primo uomo in Vergangenheit und Gegenwart im Kontext von Performativität, Selbst-Präsentation und Geschlechterkonstruktion auseinander.

Neben Fragen der historischen und aktuellen Aufführungspraxis im Bereich des Musiktheaters wurde in dem vorliegenden Band ganz bewusst dem Schauspiel und dessen ‚spektakulären‘ Möglichkeiten mehr Platz eingeräumt, als dies in Publikationen über das Barocktheater üblicherweise der Fall ist. Besonderes Augenmerk galt dem italienischen, deutschen, aber auch englischen Berufstheater. In seinem Einführungsvortrag zur Tagung hatte Stefan Hulfeld die Grundlage für das Verständnis des ‚Mythos‘ der Commedia dell’arte geschaffen – ein Thema, das in mehreren Beiträgen aufgenommen wurde.

Die Masken und Spieltechniken der Commedia dell’arte wurden seit dem Ende des 18. Jahrhunderts kontinuierlich, jedoch unter unterschiedlichen Vorzeichen wiederbelebt. Susanne Winter (Salzburg) weist darauf hin, dass ihre Wirkung von Anfang an weit über den italienischen Raum hinausging und sich über Portugal, Spanien, Frankreich, Deutschland, Österreich, Böhmen, Polen und Russland bis nach England erstreckte. In ihrem Beitrag beschränkt sich die Autorin allerdings auf den romanischen Kulturraum und skizziert den komplexen Kulturtransfer, der sich von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum 18. Jahrhundert im Kontext der Commedia dell’arte vollzog.

Ein besonders anschauliches Beispiel einer kulturellen Translation innerhalb eines Kulturraumes präsentiert Michael Rössner (Wien/München) mit Giambattista Andreinis Le due commedie in commedia aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Der italienische Autor spielt in seinem Drama nicht nur mit dem Gegensatz der beiden Komödienformen Commedia dell’arte und Commedia erudita, sondern hebt ihn auch spielerisch auf, ebenso wie den Gegensatz zwischen theatralischer Illusionsrealität und Realität der Zuschauer, die ihrerseits Bühnenfiguren sind. Andreini stellt damit – lange vor Luigi Pirandello und der Avantgarde – die Rampengrenze als Trennwand der Realitäten in Frage.

Es erscheint bemerkenswert, wie viel kreatives Potential die Commedia dell’arte durch die Jahrhunderte freizusetzen vermochte und noch immer vermag. Ihre Aktualität zeigte sich auch im Rahmenprogramm zur Ausstellung und Tagung, insbesondere in den beiden Theaterproduktionen, die von drei italienischen Theater- und Musikgruppen, Porto Arlecchino aus Pordenone, Bottega Buffa CircoVacanti und Alì’nghiastre aus Trient, bestritten wurden. Die entsprechenden Stücktexte Arlecchino e il suo doppio (Arlecchino und sein Double) und E così tosto al mal giunse lo ’mpiastro (Und geschwind ward Abhilfe für das Übel gefunden) werden sowohl im italienischen Original als auch in deutscher Übersetzung samt Einführung im Anhang dieses Bandes abgedruckt. Die erste weibliche Arlecchino-Darstellerin, Claudia Contin Arlecchino (Pordenone), die mit Arlecchino e il suo doppio weltweit erfolgreich auftritt, verfasste außerdem auf der Basis ihres jüngst erschienenen Buches4 einen ausführlichen Prolog zu diesem Stück, in dem sie die Geschichte der Arlecchino-Figur von ihren Anfängen bis zu ihrer eigenen Interpretation nachzeichnet.

Auch in den beiden Aufsätzen von Matthias Mansky (Wien) und Eva-Maria Hanser (Wien) geht es um kulturelle Adaptions- und Translationsprozesse, hier jedoch im Bereich des deutschsprachigen Berufstheaters der Frühen Neuzeit. Während Mansky mit Ein verliebter Verdruss ein für die frühe Molière-Rezeption im deutschsprachigen Raum exemplarisches Stück vorstellt, verfolgt Hanser anhand des Spieltexts Die glüeckselige Eÿfersucht die Stationen des Kulturtransfers von Giacinto Andrea Cicogninis italienischer Tragikomödie Le gelosie fortunate del prencipe Rodrigo (1654) bis zu den verschiedenen deutschsprachigen Versionen, die sich fast ein Jahrhundert lang im Repertoire des Berufstheaters hielten.

Einem Grundlagentext des elisabethanischen Theaters, Thomas Kyds The Spanish Tragedy, widmet Florian Baranyi (Wien) seinen Beitrag, der einerseits die ‚spektakelhaften‘ Elemente dieser Rachetragödie in den Blick nimmt und andererseits die Bedeutung der theatralen Fiktion für die Einübung der Zuschauer in die Funktionsweise des souveränen königlichen Rechts zur Zeit der Erstaufführung um 1592 aufzeigt.

Der Aufsatz von Christopher F. Laferl (Salzburg) führt nach Mexiko, wo 1683 das Theaterstück Los empeños de una casa der schon zu Lebzeiten als Schriftstellerin berühmten Nonne Sor Juana Inés de la Cruz als festejo (Festakt) aufgeführt wurde. Abgesehen vom Text der comedia haben sich hier auch die Vor-, Zwischen- und Nachspiele erhalten, was sonst bei barocken spanischen Theaterstücken nur sehr selten der Fall ist. Dem Verhältnis dieser einzelnen Teile zueinander wird besonderes Augenmerk geschenkt, aber auch der direkten Anrede des Publikums, dem die Möglichkeit gegeben wurde, das barocke Spektakel durch aktive Teilnahme unmittelbar zu erfahren.

Um die Aktualisierung und Instrumentalisierung des Barockbegriffs und die Wiederbelebung von barocken Theaterpraktiken im Rahmen von zwei Ausstellungen – die eine am Ende des 19. Jahrhunderts, die andere in der Zwischenkriegszeit – geht es in den Beiträgen von Katharina Wessely und Elisabeth Großegger.

Nach der Wiederentdeckung des barocken Stils für die Baukunst in den 1880er-Jahren durch den Kunsthistoriker Albert Ilg änderte sich bald auch die Sicht auf die Literatur und das Theater des 17. Jahrhunderts. Katharina Wessely (Wien) thematisiert die Neuerfindung des Alt-Wiener Volkstheaters im Rahmen der Internationalen Musik- und Theaterausstellung 1892, bei der man sich bemühte, Wien als traditionsreiche Musik- und Theaterstadt zu präsentieren. Für dieses Image Wiens spielte vor allem die sogenannte ‚Hanswurst-Bühne‘ eine besondere Rolle, auf der mit großem Erfolg Stücke gegeben wurden, die dem Volkstheater des Barockzeitalters nachempfunden waren.

Einen weiteren Höhepunkt erreichten die barocken Traditionsbezüge Wiens im Jahre 1936 mit dem (Welt-)Theaterkongress und der als Begleitprogramm veranstalteten Internationalen Ausstellung für Theaterkunst. Elisabeth Großegger (Wien) zeigt, wie dieses „zweite Barock“ zum Sehnsuchtsort der desillusionierten Gegenwart der Zwischenkriegszeit wurde, indem man nicht nur versprach, Wien als Theaterstadt wieder zu etablieren, sondern als „angewandte Weltanschauung“ auch geistige Lebenshilfe zu sein. In der Folge bildeten gerade diese Barockbezüge den Denkanstoß für eine geplante, aber nicht mehr realisierte Großausstellung im Jahre 1938 unter dem Titel „Österreich in Geschichte und Kultur“.

Im Rückgriff auf die barocke Tradition des sinnlichen Spektakels diente eine solche „invented tradition“5 insbesondere in katholischen Ländern der Selbstvergewisserung. Gleichzeitig wurde damit implizit die Konstruktion der Wirklichkeit von der Bühne auf die Ebene der Interpretation verlagert: Nicht das Bühnengeschehen wurde als ‚echt‘ wahrgenommen, sondern der historisch-geographische Rückgriff auf die eigene Tradition sollte für wirklich gehalten werden.

In den Beiträgen dieses Sammelbandes wird mit unterschiedlichen theoretischen Zugängen der eingangs erwähnten Ambivalenz des Barockbegriffs Rechnung getragen und nach dem Gegenstand der kulturellen Übersetzung – Barock als Epoche oder als ästhetische Kategorie – gefragt. Es werden aber auch die spezifischen Veränderungen in der Translation zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen geographischen Räumen analysiert. Daran lässt sich ein a-historischer Begriff des Barocken erkennen, der nicht an die Epoche gebunden ist, sondern auf die Multifunktionalität des Barock fokussiert, die in der These und Antithese des Stilbegriffs liegt: Inklusiv umfasst er das Schöne ebenso wie das Hässliche, höfische Repräsentation ebenso wie einfache Volksbelustigungen. Es wird aber auch deutlich, dass sich die aktuelle historisch informierte Aufführungspraxis ganz konkret auf die künstlerischen Techniken des Barocktheaters bezieht und dass zwischen der Aufführungspraxis des Barocktheaters und späteren Inszenierungen bis in die Gegenwart ein ganz spezifisches theatrales Wissen zirkuliert.

Abschließend möchten die Herausgeberinnen ihren Dank aussprechen: Dem Theatermuseum und seinem Direktor Thomas Trabitsch danken wir für die großzügige Unterstützung unserer Tagung und dafür, dass wir die Konferenz im Rahmen der Ausstellung Spettacolo barocco! Triumph des Theaters und mit einem opulenten Begleitprogramm abhalten konnten. Für die kenntnisreiche Übersetzung der Theaterstücke und der einführenden Texte aus dem Italienischen sind wir Rudi Risatti, einem der Kuratoren des Theatermuseums und der Barocktheaterausstellung, zu großem Dank verpflichtet. Wir möchten aber auch die Druckkostenförderung durch die Stiftung der Familie Philipp Politzer nicht unerwähnt lassen und Michael Hüttler für die Aufnahme dieses Bandes in das Verlagsprogramm des Hollitzer Wissenschaftsverlages danken.

Anmerkungen

Vgl. Andrea Sommer-Mathis / Daniela Franke / Rudi Risatti (Hg.), Spettacolo barocco! Triumph des Theaters (Ausstellungskatalog, Wien, 3.3.2016–30.1.2017), Petersberg 2016.

Bereits 2004 fand am Österreichischen Historischen Institut in Rom eine transdisziplinäre Tagung zum Thema Barock – ein Ort des Gedächtnisses. Interpretament der Moderne/Postmoderne statt, deren Ergebnisse in einem von Moritz Csáky, Federico Celestini und Ulrich Tragatschnig herausgegebenen Band veröffentlicht wurden (Wien / Köln / Weimar 2007). In jüngerer Vergangenheit waren es vor allem drei Konferenzen, die sich dem Barock aus einer ähnlichen transdisziplinären Perspektive näherten: Barocktheater als Spektakel (Basel, 10.–12.4.2013; Tagungsband von Nicola Gess / Tina Hartmann / Dominika Hens (Hg.), Barocktheater als Spektakel. Maschine, Blick und Bewegung auf der Opernbühne des Ancien Régime, Paderborn 2015); Spektakel als ästhetische Kategorie: Theorien und Praktiken (Jena und Weimar, 19.–21.11.2015; Tagungsband von Simon Frisch / Elisabeth Fritz / Rita Rieger (Hg.), Spektakel als ästhetische Kategorie. Theorien und Praktiken mit Beiträgen aus den Bereichen der Kunstgeschichte, Philosophie, Film-, Literatur-, Medien-, Tanz- und Theaterwissenschaft, Paderborn 2017); Musiktheater im höfischen Raum (Gotha, 27.–29.10.2016; Tagungsband, hg. von Heiko Laß und Margret Scharrer, in Vorbereitung).

Vgl. Alfried Wieczorek / Christoph Lind / Uta Coburger (Hg.), Barock. Nur schöner Schein? (Ausstellungskatalog, Mannheim, 11.9.2016–19.2.2017), Regensburg 2016.

Claudia Contin Arlecchino, La Umana Commedia di Arlecchino. Tra iconografia antica e ritratti d’arte del primo Arlecchino donna, Trient 2017.

Eric Hobsbawm / Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983.

UTA COBURGER (MANNHEIM)

Die große Illusion Eine Barockausstellung – ein Drahtseilakt

Barocco – Das Zuviel von Etwas

Wie kann man etwas ausstellen, vom dem man bei zunehmender Beschäftigung immer weniger weiß, was es ist? Von dem noch nicht einmal das Geschlecht klar ist – der Barock oder doch lieber das Barock?1 Der Barock ist wahrhaft eine Schimäre, ein Trugbild ebenso wie ein Fabelwesen, das verschiedene Vorstellungen in sich vereint. Das vorherrschende Barockbild ist äußerst schillernd und wirft, pardon: ‚beamt‘ prächtige Schlösser, gezirkelte Gärten, dekadente Feste und überbordend dekorierte Kirchen an die Wand. Ein Bild voller verzückt-wundertätiger Heiliger, ausschweifend-feiernder Sonnenkönige und lasziv-üppiger Rubensweiber. Ein Bild eines maßlosen Zeitalters, dessen Akteure vor prächtigen Kulissen im Rausch das Jetzt genießen und die jenseitige Glorie durch das neu erfundene Teleskop fokussieren.

Unseren heutigen, überwiegend rational geprägten Lebensentwürfen scheint jene hedonistische Vorstellung vom Barock fern und fremd. Auch unsere ästhetischen Empfindungen und unsere Sehgewohnheiten stoßen sich an dem Zuviel, dem man sich gegenübersieht – an überbordender Dekoration ebenso wie an expressiv ausgestellten Affekten.

Diese kurz skizzierten Schlaglichter bilden das allgemein verbreitete Barockbild, dem ein intensiv geführter Wissenschaftsdiskurs gegenübersteht, der den Barock wie seinen Begriff entweder in Frage stellt oder (seltener) affirmativ begrüßt. Ein einheitliches Ergebnis der wissenschaftlichen Bewertung steht bislang aus und wird es auch vermutlich nie geben – schließlich war nicht alles barock im Barock.2 Die Kunstgeschichte meint es noch relativ milde und benutzt den Barock als Stil- und manchmal auch als Epochenbegriff. Die katholische Theologie erkennt im Barock eine Epoche, während die evangelische Theologie ihn komplett ablehnt. Die Historiker retten sich meist auf die Insel der Frühen Neuzeit, nachdem heikle Klippen namens Barock oder Absolutismus erfolgreich umschifft wurden. Zeitgenössische Künstler lassen sich vom Phänomen Barock inspirieren oder definieren Werkphasen ihres Schaffens gar als barock.3 Barock scheint bei näherer Betrachtung alles und zugleich nichts zu sein. Doch er ist präsent, er ist lebendiger Teil unseres Alltags. Täglich stolpert man in den Medien über Dinge oder Menschen, die ‚barock‘ seien: eine Schweizer Millionärsgattin („dekadent-barock“), ein Interieur („üppig-barock“) oder allzu freizügige Oktoberfestdirndl („Münchner Barock“). Der Barock ist in den Vorstellungen der Menschen verankert und führt eine schillernde Existenz zwischen klischeebehaftetem Alltagsgebrauch, kreativer Inspiration und kritischem Wissenschaftsdiskurs. Doch selbst bei Ablehnung und Infragestellung offenbart sich im Wissenschaftsbetrieb das Dilemma, etwas so hartnäckig Etabliertes wie den Barock und seinen Begriff nicht einfach abschaffen zu können. Was wäre die Alternative?

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Abb. 1: Egid Quirin Asam, St. Johann Nepomuk „Asamkirche“, München, Chor und Galeriealtar, 1733–1740 (© Uta Coburger)

Die Wurzeln der Barockproblematik reichen tief, da der Begriff Barock bzw. barocco schon lange vor jener Zeit existierte, die später gemeinhin als Barockzeit erfasst wird.4 Die Bedeutungen jenes vom 14. bis 16. Jahrhundert verbreiteten Begriffs sind nur auf den ersten Blick verschieden: eine unregelmäßige Perle im Portugiesischen (barocco), eine hervorstehende Gesteinsformation im Spanischen (barrueco), eine Bezeichnung für einen Wucherzins (barocco), ein besonders spitzfindiger Modus der Rhetorik (baroco) oder ein skurriler Einfall in italienischen Satiren.5 Gemein ist diesen Barockbegriffen eine inhaltliche Grundtendenz, in der meist ein negativer Beigeschmack mitschwingt. Barocco ist regellos, maßlos, nicht konform, ungewöhnlich oder gar unsittlich. Barock scheint schlicht das Zuviel von Etwas zu sein.

Seit der Antike bis in die heutige Zeit verdammte man das Zuviel von Affekten, Rhetorik und Künsten, das nicht dem etablierten Kanon entsprach, als Sophistereien, ‚Kapuzinaden‘, Hirngespinste, Schwulst oder gar als Verbrechen.6 Als die noch junge Kunstgeschichte im 19. Jahrhundert nach einem Etikett, einer Bezeichnung für die Kunstformen des 17. und 18. Jahrhunderts suchte, fand sie das regellose und groteske barocco. Ausgehend von einem ästhetischen und kunsttheoretischen Ideal, das antikisch, naturhaft und maßvoll zu sein hatte, seine Referenzen in der Antike wie in der Renaissance und in den zeitgenössischen Klassizismen verankerte, erschien eine Kategorisierung für jene un-klassischen Formen des 17. und 18. Jahrhunderts als barocco angemessen.

Die ersten Definitionen lesen sich retrospektiv amüsant: Die Barockkunst sei der „Gipfel des Bizarren“ (Quatremère de Quincy, 1800), eine „Abstumpfung der Augen für alle feineren Nuancen“ (Burckhardt, 1855), und überhaupt hätten die „Haupt-Barockkünstler“ sicher alle an „Kopfschmerzen“ gelitten.7 Der Barock als kunsthistorischer Stil war geboren und schien das Gegenteil von Winckelmanns geradem Weg der „edlen Einfalt und stillen Größe“. Doch war im 17. und 18. Jahrhundert jenes seit der Antike herrschende Reglement der Angemessenheit ausgesetzt? Nein, im Gegenteil! Man stritt um das rechte Maß der Gestaltung, vor allem in der Architekturtheorie oder an den Akademien. Die an der Académie française geführte Querelle des Anciens et des Modernes stellte beispielsweise zu Ende des 17. Jahrhunderts die Vorbildfunktion der Antike für die Künste infrage. Die Architekturtheorie orientierte sich hingegen fast durchweg an den tradierten vitruvianischen Säulenbüchern und schimpfte über die bewegten römischen Fassaden des 17. Jahrhunderts: „Man siehet in Rom kein Gebäude mehr so in diesem letzten Jahrhundert auffgerichtet worden / welches den Reguln und Vorschriften der rechten Baukunst völlig Gemäß wär. Man findet da nichts als Schnirckel-Taffeln / gebrochene Giebel oder Frontons, eingeblindete Säulen / und dergleichen ungereimte Wercke mehr / welche von Boromini, Pietro de Cortona, Rainaldo und vielen andern eingeführet worden / gleichsam den alten Denckmahlen zu Schande.“8 Der Verfasser Augustin-Charles Daviler (1653–1701) hoffte, dass „es dermahleins Frankreich nicht eben so wie Italien ergehe / da jetzund die Freyheit in den Künsten sich gar keinen Schranken mehr halten will“.9 Jene neue, auf Regellosigkeit basierende „Freyheit“ in der Architektur übertreffe sogar die „verwilderte Bauart“ des „Gothischen“.10

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Abb. 2: Carlo Dolci, Allegorie der Aufrichtigkeit, um 1665, Kunsthistorisches Museum Wien (© KHM-Museumsverband)

In der sogenannten Barockzeit herrschte daher ein Spannungsgefüge zwischen ‚Barock‘ und ‚Nicht-Barock‘, das sich in allen Bereichen der Künste wie des Lebens festmachen lässt. Die Antipoden existierten parallel und geben konfessionelle wie kulturlandschaftliche Prägungen zu erkennen. Nachdem der Barockbegriff um die Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführt worden war und sich etabliert hatte, erwies er sich mit der zunehmenden Erforschung des 17. und 18. Jahrhunderts als Dilemma. Die Fachwissenschaften suchten im letzten halben Jahrhundert vergeblich nach einer eindeutigen Definition des Begriffs. Barock kann als Epoche zwischen Renaissance und Aufklärung – je nach Kulturlandschaft und zu betrachtender Gattung irgendwo zwischen 1580 und 1770 – angesiedelt werden. Doch prägend waren konfessionelle Gräben, die überwiegend katholischen Barock und protestantischen ‚Nicht-Barock‘ erkennen lassen und den Epochenbegriff an seine Grenzen bringen.11 Die Anfänge der Barockforschung verankerten den Barock denn auch als „Kunst der Gegenreformation“12 oder „Jesuitenstyl“. Barock als kunsthistorischer Stil umfasst das besagte Zuviel jener Zeit – schwingende Architekturen, exaltierte Schnörkel, affektive Emotionalität und üppige Leiber –, dessen Zeugnisse uns tendenziell eher in katholisch geprägten Kulturlandschaften begegnen. Dabei war das katholische Frankeich ein Sonderfall. Betrachtet man beispielsweise den Pariser Invalidendom, so zeigt sich das Dilemma der Kategorien „Barock-Stil“, „Barock-Epoche“ und „katholisch-dramatisch“. Jules Hardouin Mansarts (1646–1708) imperialer Prestigebau für Ludwig XIV. (1638–1715) entstand um 1700, doch ist er deswegen barock? Wohl kaum, weswegen die französische Kunstgeschichte l’âge classique ausrief und statt der weit verbreiteten Schubladen des „Hochbarock“, „Spätbarock“ oder „frühen Rokoko“ mit Regierungszeiten oder Personalisierungen operiert (Louis XIV, Régence, Style Pompadour). Unter epochalem Blick wurde der Invalidendom während des sogenannten Barock errichtet, doch stilistisch markiert er eine gezielte Abwendung der französischen Baukunst von den „verwilderten römischen“ Bauten – Davilers Befürchtungen traten nicht ein.13 Vor den Kulissen einer ‚verwilderten Natur‘ kommt der Barock nun – nach seinen Auftritten als Stil und Epoche – als Phase auf die Bühne der Kategorisierungen. Meist agiert er dabei als Spätstil oder Hochphase mit Verfallserscheinungen: „Die Barockbaukunst spricht dieselbe Sprache wie die Renaissance, aber einen verwilderten Dialekt davon.“14 Jacob Burckhardt (1818–1897) erweiterte jenes Bild mit seinem „Pergamesischen Barock“, der eine besonders bewegte Phase der antiken hellenistischen Plastik umschreibt, zu der er die rund 1800 Jahre vor den ersten Barockbauten entstandenen Skulpturen des Pergamonaltars ebenso wie die Laokoon-Gruppe zählte. Über ein Jahrhundert später erklärte Lucio Fontana (1899–1968) eine Phase seines Schaffens als barock – der Barock war damit im 20. Jahrhundert angekommen.15 Unabhängig von stilistischer, epochaler oder phasenweiser Klassifizierung ist man, wenn man im bislang letzten Akt der Verwechslungskomödie den Auftritt des Barock als Charakteristikum, als Phänomen erlebt, der auf manchen Bühnen als operatives Modell, ja sogar als Vorläufer der Postmoderne gilt.16

Vom Barberinischen Faun (um 220 v. Chr.) über den Pariser Invalidendom (um 1700) bis zu Alessandro Mendinis Proust Armchair (1978) oder Peter Greenaways Filme (vor allem jene der 1980er-Jahre) kann nun alles barock/Barock sein – je nachdem, ob man ihn als Phase, Epoche, Stil oder Phänomen betrachtet. Die Werke von Peter Paul Rubens (1577–1640) oder Francesco Borromini (1599–1667) verkörpern hingegen aus jeder Perspektive eindeutig die Idealbesetzung eines barocken Protagonisten. Nur gehen die Meinungen der Kritiker in ihrer Bewertung auch heute noch auseinander, ob die Darstellung gelungen sei – das Barocke ablehnend und pejorativ begreifend oder affirmativ, das Korsett des klassischen Kanons sprengend und in der Nonkonformität eine Qualität erkennend. „Die Beobachtung dieses Begriffsbabels legt eine doppelte Schlussfolgerung nahe: auf der negativen Seite, dass keine eindeutige Begriffsbestimmung unbestritten bleiben würde; auf der positiven Seite, dass die ganze Debatte dem Barockbegriff eine erstaunliche kulturhistorische Wirksamkeit attestiert.“17

Barock? – Ein Zeitalter jenseits des schönen Scheins

Blickt man hinter die klischeebehafteten Kulissen des schönen Scheins jener Zeit, so entdeckt man ein faszinierendes Zeitalter jenseits von Glamour, Pomp und Puder, das viel mehr als ‚nur barock‘ ist. Eine unscharfe Verankerung des Zeitalters zwischen Renaissance und Klassizismus markiert zugleich die krisenhaften Umwälzungen von protestantischer Reformation und Französischer Revolution. Zwischen 1450 und 1520 legten die Erfindung des maschinellen Buchdrucks, die Entdeckung des amerikanischen Kontinents und die Infragestellung der päpstlichen Kirchenmacht den Nährboden für die Entwicklungen des 17. Jahrhunderts. In protestantischen Gebieten, vor allem in den niederländischen Provinzen, erblühte eine moderne Ökonomie und beförderte wissenschaftliche Neuerungen, die Grundlagen unseres heutigen Lebens bilden. Das Fernrohr wie das Mikroskop, die Aktienbeteiligung wie die erste öffentliche Zentralbank, die währungsübergreifenden bargeldlosen Geldverkehr gewährleistete, oder ein weltumspannendes Handelsnetz mit global agierenden Handelskompanien sorgten für die niederländische Vormachtstellung im 17. Jahrhundert. Die res publica literaria kommunizierte länder- und konfessionsübergreifend und sorgte für einen Austausch von Ideen und Entdeckungen, ebenso wie das neue Medium der Zeitung Nachrichten aus europäischen Korrespondenzstädten als Ereignisse der Zeitgeschichte publizierte. Doch auch populärwissenschaftliche Druckwerke ließen im 18. Jahrhundert das neu erworbene Wissen des 17. Jahrhunderts in die breite Gesellschaft einfließen.18 Das Individuum bereiste als Händler, Pilger, Künstler, Missionar oder Forscher die Welt und entdeckte unerschlossene Gebiete, wodurch sich auf der Weltkarte des Barock zunehmend die leeren Stellen füllten. Reiseberichte zirkulierten in hohen Auflagen wie mehrfachen Übersetzungen und bedienten die Faszination für das Fremde. Vor allem zwischen Europa und Asien entwickelte sich ein reger Kulturaustausch; man kann Aspekte einer ersten Globalisierung im 17. Jahrhundert erkennen. Konfessionelle aber auch politische Kriege verheerten vor allem Mitteleuropa und lösten Flüchtlingswellen aus, die die Durchmischung der Bevölkerungsstrukturen zur Folge hatten. Die zeitgleich in Literatur, Musik und Kunst aufkommende Vanitas-Thematik verarbeitete das Elend in artifizieller Weise. Den üppigen Idealkörpern flämischer Maler zum Trotz hielt sich in Italien ein an Antike und Renaissance geschultes Ideal vom schlank-athletischen Körper, das unsere Vorstellung von einem idealen ‚Barockkörper‘ über den Haufen wirft. Medizinische Entdeckungen wie beispielsweise die des Blutkreislaufs waren die Grundlage für die ersten Bluttransfusionen, die mit Enten- oder Gänsehälsen durchgeführt wurden: „There was a pretty experiment of the blood of one dog let out, till he dies, into the body of another on one side, while all his own run out on the other side. […] This did give occasion to many pretty wishes, as of the blood of a Quaker to be let into an Archibishop, and such like.“19

Die Barockzeit erweist sich in fast allen Bereichen des Lebens wie der Künste als Reibungsfläche zwischen dem Traditionellen, Bewahrenden und dem Innovativen, Aufbrechenden. Die vorgegebene Herrschaftsordnung sollte eine göttliche Ordnung auf Erden symbolisieren, sichtbar in symmetrischen Schlössern, gezirkelten Städten und getrimmter Natur. Vielfältige Ordnungsregularien intendierten eine Disziplinierung des Volkskörpers, doch stand dem angestrebten Ideal oft eine unordentliche Realität gegenüber. Wissenschaftliche Entdeckungen wurden als Teil des göttlichen Heilsplans erklärt, wie beispielsweise die Anatomie als Offenbarung des Wunders der göttlichen Schöpfung. Manchmal hatte sich die Wissenschaft auch Glaubensfragen unterzuordnen: Dem Jesuiten Christoph Scheiner (1573–1650) wurde die Entdeckung der Sonnenflecken durch seinen Orden abgesprochen, weil die Sonne als Sinnbild Mariens nun einmal unbefleckt und rein zu sein habe. Glauben und Wissen rieben sich aneinander, Fortschritt und Rückwärtsgewandtheit existierten parallel und fanden ihre Entsprechung in den zwei Zeitsystemen, in denen der Barockmensch lebte.20

Es gab weder Barockpolitik, Barockliteratur, Barockmusik, Barockkunst noch Barockwissenschaft, sondern ein ausnehmend komplexes Zeitalter, das nun einmal als Barockzeit etabliert ist. Diese Widersprüchlichkeit auf Basis eines differenzierten Wissenschaftsdiskurses bot zusammen mit klischeehaften Erwartungshaltungen zum Phänomen Barock die differenzierte Ausgangslage für ein Ausstellungsvorhaben zu diesem Thema. Welchen Barock sollte man ausstellen? Das Klischee bedienen? Die Problematik totschweigen? Wissenschaftlich korrekt ohne den Begriff operieren? Sich auf einen Aspekt beschränken? Die hier nur kurz skizzierte Problematik wurde als Chance erkannt, erstmals innerhalb eines Ausstellungsprojektes die Komplexität des Zeitalters als Leitmotiv zu wählen: Barock. Nur schöner Schein? – eine Ausstellung, die Klischees ebenso bedienen wie hinterfragen und dem geneigten Besucher die Vielschichtigkeit jenes Zeitalters vor Augen führen sollte.21 Die Aufgabe erwies sich als kuratorischer Drahtseilakt über den Tiefen eines allgemein etablierten Barockbildes und einem kontrovers geführten Wissenschaftsdiskurs; Laien wie Fachleute sollten sich begeistern für jene Epoche, unabhängig von allen Begriffsdiskussionen. Unter diesem Ansatz entstand ein Kaleidoskop aus Kunst, Musik, Geschichte, Wissenschaft, Religion und Literatur, das von der Hochkultur bis zum Alltag reichte, vom Repräsentationsporträt des Sonnenkönigs bis zur Votivtafel der Heiligen Apollonia mit der Zahnreißzange.22 Die exquisitesten, mit delikatester Chinoiserie-Malerei gezierten Lackpaneele einer französischen Kutsche trafen auf den unscheinbaren Reisebericht des Dominikanermissionars und Plantagenbesitzers Jean-Bapstist Labat (1663–1738), in dessen Anhang man – vergleichbar heutigen Reiseführern – praktische Übersetzungshilfen des wichtigsten Vokabulars des bereisten Landes findet.23 Allerdings liest man hier irritiert statt „Ich bin krank“ oder „Was ist das?“ die Basiskommunikation zum Sklavenhandel: „Memiton vè – Ce nègre est trop chère.“ Die prächtige, bildreiche, handkolorierte Erstausgabe der Merian-Bibel, die während des Dreißigjährigen Krieges in Straßburg entstand, konterkarierte das gesetzte Bild vom ‚bescheidenen und bildarmen Protestantismus‘ und befand sich gegenüber von einem schlichten hugenottischen Holzspiegel, dessen Rückseite ein Geheimfach zum Verstecken einer Bibel beinhaltete – Glaubenspraxis der ob ihrer Konfession verfolgten Gläubigen.24 Jacques Jordaens (1593–1678) üppige Susanna hing neben Orazio Gentileschis (1563–1639) schlanker Maria Magdalena und dem athletischen Heiligen Sebastian Guido Renis (1575–1642).25 Diese sinnlichen, leicht bekleideten barocken Idealkörper kontrastierten mit Beispielen der damaligen Faszination für kuriose Körper – Abnormität, Missbildung oder Versehrtheit.26

Durch diesen Ansatz entstand ein buntes Kaleidoskop der Barockzeit, thematisch gegliedert in Raum, Körper, Wissen, Ordnung, Glaube und Zeit, wobei diese Themen auch durch Interventionen zeitgenössischer Künstler aufgenommen wurden. Ausgewählte Positionen aus Design, Fotografie, Video und Objektkunst zeigten die Aktualität des Phänomens Barock und schlugen eine Brücke zwischen den Epochen. Auch wenn innerhalb der Ausstellung eine Diskussion um Epoche, Stil, Phase oder Phänomen bzw. Charakteristika des Barock anhand der ausgewählten Objekte akademisch ermüdend gewesen wäre und deshalb im wissenschaftlichen Begleitbuch abgehandelt wurde, so konnte man doch anhand der Auswahl der Exponate die verschiedenen Kategorien erkennen.

Theatralität – Die Inszenierung des Daseins

„In den Glassärgen unserer Museen zerfällt die Seide, erblindet das Gold, die die Menschen des Barock für ein paar Stunden ihrer Notdurft enthoben und Göttern gleich gemacht haben.“27 Theatralität und Inszenierung durchziehen fern der Opernbühnen und Theaterbretter alle Bereiche des Lebens in der Barockzeit. Der Begriff des Theatralen ist daher ebenso wie die eingangs angeführten Allgemeinplätze fest in den Vorstellungen von Barock verankert. Dem gegenüber definierten wissenschaftliche Studien die vielfältigen Strukturen der Theatralität der Barockzeit jenseits der Bühnenkünste oder untersuchten die Wechselwirkungen zwischen Theater, Kunst und Alltag.28 Pedro Calderón de la Barcas (1600–1681) Gran Teatro del Mundo mit Gott als Regisseur, der Welt als Bühne und dem Menschen als Schauspieler gab das Libretto vor: „So sind wir denn, in eins, ich Autor, du [Welt] das Theater und der Mensch Akteur.“29

Die Bühnenkünste boten dank der neuen Kulissentechnik ab dem 17. Jahrhundert dem Betrachter eine perfekte Illusion, die seine Realitätsebene in den Bereich der Fiktion überführte: Während eines Wimpernschlags wandelte sich eine idealperspektivische Gartenlandschaft in einen Festsaal oder ein Höllenszenario – der viel bemühte deus ex machina oder durch die Luft wirbelnde Teufel inklusive.30 Doch die Illusionskünste beschränkten sich nicht auf die weltlichen wie sakralen Sphären von Oper und Theater, die selbst auf kleinen Wanderbühnen geschaffen wurden. Illusionismen und die Lust an der Augentäuschung gehören zu den wichtigsten Charakteristika der Künste des 17. Jahrhunderts.31 Ephemere Aufbauten aus Holz, Leinwand und Pappmaschee gaukelten ‚echte‘ Architektur vor, himmlische Sphären brachen gemalt in den Realraum von Kirchen oder Palästen ein, Trompe-l’œil-hafte Stillleben wetteiferten mit der Realität wie die Trauben des Zeuxis und der Vorhang des Parrhasios, 32 während marmorne Säulen sich als bemalte Ziegelwerke entpuppten. Der schöne Schein betrog die Sinne des Betrachters, der die Täuschung wie die Ent-Täuschung lustvoll genoss.33 Auch in der Kartographie und Literatur wurden fiktive Welten ausgebreitet: Vom Reich der Liebe vermochte man in das Schlaraffenland zu reisen, um später von dort in See zu stechen, mit Kurs auf die Insel Liliput.34

Die Grenzen zwischen Liturgie, Sakralbau und Inszenierung sind schwer zu ziehen. Theatrale Elemente gestalteten beispielsweise auch Egid Quirin Asams (1692–1750) frühe Altaranlagen mit einer illusionistischen Himmelfahrt Mariens in kulissenhaftem Dekor (ehem. Augustiner-Chorherrenkirche Mariä Himmelfahrt, Rohr/Niederbayern) oder Vorrichtungen für Lichtinszenierungen mit Theaterlampen, die den ‚Drachenstich‘ des Heiligen Georg in ein diffuses Gegenlicht tauchen (Benediktiner-Abteikirche St. Georg und Martin, Weltenburg/ Niederbayern).35 Inszenierungen spielten sich vor den Augen der Gläubigen als szenische Liturgieeinschübe ab, und so flog Maria zum Himmelfahrtstag am 15. August durch das ‚Himmelsloch‘ in der Kirchendecke davon, oder die Heiliggeist-Taube senkte sich (mancherorts sogar noch bis heute) zu Pfingsten auf die Kirchenbesucher herab.36 Bezeichnenderweise schuf ein Jesuit, Andrea Pozzo (1642–1709), dessen Orden mit allen ‚Bühnenwassern‘ gewaschen war, mit seinem Mahler- und Baumeister Perspektiv37 die perfekte Anleitung zum Erstellen des imposanten Scheins. Doch je nach Standpunkt erlosch die perfekt gemalte Illusion; Kuppeln formten sich zu Trichtern und Bauten kippten schräg weg.

Inszenierungen waren im Barock alltäglich und allgegenwärtig. Zum Tode eines Herrschers verkleidete man ausgewählte Kirchen mit dunklem Tuch und wählte ein morbides Dekor aus Skeletten oder Totenköpfen. Im mächtigen Aufbau des Castrum doloris gedachte man des Verstorbenen – zur Steigerung der illusionistischen Inszenierung teils in effigie mit einer wächsernen, mit Haar gestalteten Nachbildung des Toten.38 Kaiser Leopold I. (1640–1705) wurde unter anderem in Innsbruck, Graz, Wien, Prag, Konstantinopel und Rom betrauert, und Gaben von Kerzen und Stoff boten den Untertanen einen Anreiz, an diesem letzten Schauspiel teilzunehmen. Für die lebenden Herrscher bildeten der Hofstaat und das Volk das tägliche Publikum. Zeremonialbücher oder Augenzeugen berichteten von der ‚Präsenzpflicht‘ des Volkes bei den öffentlichen Auftritten des Herrschers. Die Bewohner ganzer Dörfer standen Spalier, während die Fürsten in ihren Kutschen hindurchfuhren. Im höfischen Zeremoniell setzte sich die Inszenierung fort und fand ihre stärkste Ausprägung in der multimedialen Darstellung und Inszenierung Ludwigs XIV. Das Lever des Sonnenkönigs um Schlag acht Uhr setzte die alltägliche Maschinerie des höfischen Zeremoniells in Versailles in Gang; jeder nahm die ihm zugewiesene, vom Herrscher bestimmte Rolle ein – ähnlich wie in Calderóns Welttheater. Die Mode der Zeit formte für die höfische Gesellschaft und das ihr nacheifernde Bürgertum eine artifizielle Hülle des Körpers mittels geschnürter Korsette, mächtiger Perücken und maskenhafter Schminke.39 Naturhaftigkeit und Natürlichkeit waren überwiegend aus der Mode. Passend dazu sollten idealerweise auch die Emotionen nur gespielt und die wahren Affekte verborgen werden: „Un homme qui sçait la Cour est maître de son geste, de ses yeux & de son visage; il est profond, impenetrable; il dissimule les mauvais offices, soúrit à ses ennemis, contraint son humeur, déguise ses passions, dément son cœur, parle, agit contre ses sentiments: […].“40 Künstler und Musiker setzten Affekte gezielt ein mit der Intention, den Zuhörer oder Betrachter gemäß der rhetorischen Trias zu belehren, zu erfreuen und zu bewegen. René Descartes’ (1596–1650) Passions de l’âme wurde reflektiert in Charles Le Bruns (1619–1690) Abhandlungen zum Ausdruck der Affekte in der Kunst, die wiederum Nachhall fanden beispielsweise in Franciscus Langs (1654–1725) Dissertatio de actione scenica oder in Gemälden wie Skulpturen als vorgeführte Bandbreite von Emotionen. Viele Kunstwerke muten uns heute durch die Stärke des Ausdrucks ‚affektiert‘ und theatral an. Im sakralen Kontext zielte eine umfassende Perzeption mittels Predigt, Musik und Bildprogramm darauf, die zu transportierenden Inhalte in der emotionalen Erlebniswelt des Rezipienten zu verankern, mit dem Ziel der religiösen Disziplinierung – im Idealfall als Imitatio Christi. Die Anleitung zum Erstellen von ‚inneren Bildern‘ der Ignatianischen Exerzitien gleicht einer Form von mentalem Illusionismus zur Verankerung der Glaubensinhalte: „Es ist einer der scharfsinnigsten Texte zum Problem des Bildes in der frühen Neuzeit. […] Sie verwandeln die ars rhetorica in eine Technik der Autosuggestion, deren Ziel es ist, die Bilder und die in ihnen vagabundierende Einbildungskraft wieder auf ein festes Referenzsystem, das Christentum, zu verpflichten.“41 In ihren vielfältigen Ausgestaltungen und ihrer alltäglichen Präsenz vermochten die Inszenierungen und Illusionismen den Betrachter für einen Moment seines Daseins zu entheben und ihm die Flucht in eine andere Sphäre zu ermöglichen.

Die Aktivierung des Raumes in Platzanlagen, Fassaden, Modellhäusern oder Idealstädten bildete eine weitere Variante barocker Inszenierung, die mit Überwältigung ebenso spielte wie mit der Visualisierung des göttlichen Bauplans auf Erden. Betrachtet man das Zeremoniell der Gesandten- bzw. Herrscherbesuche, findet man eine alles durchdringende Szenographie von Menschenmassen, Individuen, Architektur und Kunst. Je nach Rang des Gastes kam man ihm entgegen – eine ausgelassene Stufe konnte eine diplomatische Krise auslösen. Das Bildprogramm von Fresken, Tapisserien und Gemälden in Schlössern und Palästen entsprach der jeweiligen Raumfunktion und ließ den Status eines Raumes erkennen. Im kurpfälzischen Zeremoniell im Mannheimer Schloss geleitete man ‚normale‘ Ambassadeurs durchs prächtige Treppenhaus hinauf zum ersten Vorzimmer des kurfürstlichen Quartiers. Vom Empfang des französischen und kaiserlichen Gesandten ist hingegen überliefert, dass sie vom Treppenhaus direkt in den Fest- bzw. Rittersaal geführt wurden. Zeremoniell, Liturgie, Architektur und Bildprogramm bildeten so die alltäglichen Kulissen, in denen die Menschen gemäß ihrer Rolle agierten. „Wie die höchsten religiösen und politischen Ideen, so finden auch die bedeutsamen Aktionen des Lebens von Taufe, Hochzeit und Totenfeier bis herab zum Lever und Coucher in der theatralischen Form ihren besonderen Ausdruck. Erst vom Standpunkt des Zeremoniells betrachtet, wird das Auftreten des Kaisers im Roßballett verständlich.“42

Die Atmosphäre dieser komplexen Inszenierungen ist heute nur zu erahnen und nicht darstellbar. Innerhalb der Mannheimer Barockausstellung umspannte die Darstellung der Aspekte barocken Theaters, der Bühnenkünste, der Theatralik und der Inszenierungs- wie Illusionskünste aufgrund des konzeptuellen Ansatzes sämtliche Sektionen, von Raum bis Zeit. Sebastian Stoskopffs (1597–1657) Trompe-l’œil eines vermeintlich an die Wand gepinnten Kupferstichs43 und Juriaen van Streecks (1632–1687) Stillleben44 zeigen meisterhaft gemalte Augentäuschungen jener in der niederländischen Kunst entwickelten Sujets. Matthäus Küsels (1629–1681) Kupferstich nach Lodovico Ottavio Burnacinis (1636–1707) Bühnenbildern zur wohl berühmtesten Habsburger Prunkoper Il pomo d’oro45 zeigt die Zentralperspektive der Kulissenbühnen des 17. Jahrhunderts im Kontrast zu ihrer komplexeren Weiterentwicklung, der scena per angolo,46PerspectivaGulliverRobinson47Gullivers Reisen484950515253545556