Der neue Landdoktor – 3 – 6er Jubiläumsbox

Der neue Landdoktor
– 3–

6er Jubiläumsbox

13-18

Tessa Hofreiter

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-949-7

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Kims Überraschungshochzeit

Nein, es ist nicht nur eine Notlösung

Roman von Tessa Hofreiter

Seit vierzehn Tagen war Kim nun auf der Alm, einem riesigen Plateau mit blühenden Wiesen, das sich zwischen dem Abgrund und den kahlen Gipfeln ausbreitete. Sie genoss jede Minute ihrer selbstgewählten Einsamkeit. Die Sonnenaufgänge am Morgen, die Wärme des Tages, wenn das Licht über die Hochwiesen flirrte, und schließlich die kühlen Abende, das Kaminfeuer und das Buch bei Kerzenlicht.

Wie an jedem Morgen hatte sie sich nach dem Aufstehen eine Tasse Tee zubereitet. Sie setzte sich auf die Bank auf der Veranda und beobachtete den Nebel, wie er über dem Tal aufstieg, sich allmählich auflöste, während die Sonne am Horizont aufblitzte und Himmel und Berggipfel in rosarote Farben tauchte.

Kim wollte die letzten Wochen des Sommers für ihre Forschungen nutzen. Sie war Botanikerin, und die Universität hatte sie damit beauftragt, die Artenvielfalt der heimischen Almen zu untersuchen. Ihr Cousin Leonhard, dem die Alm gehörte, hatte ihr angeboten, sich dort einzuquartieren. Sie hatte das Angebot ohne Zögern angenommen, schon wegen der Hütte, die komfortabel eingerichtet war, über fließend Wasser und Strom verfügte. In den letzten Jahren hatte Kim an einigen Expeditionen teilgenommen, sie war es gewohnt, tagelang ohne jeglichen Komfort durch den Urwald zu streifen. In ihrem jetzigen Zustand wollte sie aber nicht auf die Errungenschaften der Zivilisation verzichten. In sechs Wochen würde ihr Kind zur Welt kommen.

»Wenn irgendetwas ist, dann rufe mich an, ich kann in einer halben Stunde bei dir sein«, hatte Leonhard gesagt, als er sie mit dem Auto bis zur Brücke unterhalb der Alm gebracht hatte und sie das letzte Stück, das nur zu Fuß zu bewältigen war, hinauf begleitete.

Im Gegensatz zu Norbert, dem Vater ihres Kindes, sorgte er sich um sie. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass der Mann, den sie auf einer Party kennenlernte und mit dem sie ein paar aufregende Wochen verbrachte, nicht der junge Maschinenbauingenieur war, für den sie ihn hielt, sondern der Erbe des Maschinenbauunternehmens Maring, der längst verheiratet war und nur nach einer Abwechslung gesucht hatte. Als sie Norbert von der Schwangerschaft erzählte, rückte er mit der Wahrheit heraus und machte ihr klar, dass er an einer Beziehung mit ihr nicht interessiert sei und dass sie zusehen müsse, wie sie mit dem Kind allein zurechtkam.

Warum er sie am Abend zuvor nach Monaten des Stillschweigens angerufen hatte, um ihr vorzuschlagen, das Kind in einer von ihm ausgewählten Privatklinik zur Welt zu bringen, war ihr ein Rätsel. Dass er für die Kosten des Aufenthaltes aufkommen wollte, bedeutete vielleicht, dass er inzwischen ein schlechtes Gewissen hatte, und das wollte er mit dieser ›noblen‹ Geste beruhigen. Aber was auch immer er damit bezweckte, sie war nicht darauf eingegangen. Sie war fertig mit ihm, und es interessierte sie auch schon lange nicht mehr, was in der Klatschpresse über ihn zu lesen war.

»Es tut mir leid, meine Liebe, aber ein Mädchen aus kleinen Beamtenverhältnissen wäre für meine Familie ohnehin nicht infrage gekommen, selbst wenn ich noch frei wäre. Dir fehlt einfach der Glamour, weißt du. Meine Mutter würde vor Scham sterben, wenn ich ihr jemanden wie dich zumuten würde.« Diese Worte hatte er zu ihr gesagt, nachdem er ihr die Wahrheit über sich gestanden hatte. Sie würde sie niemals vergessen, sie hatten sie zu sehr verletzt.

Sie zuckte zusammen, als sie plötzlich ein merkwürdiges Ziehen tief unten in ihrem Rücken spürte. Da es aber bald wieder nachließ, kümmerte sie sich nicht weiter darum. Sie trank ihren Tee zu Ende, aß ein Stück Brot mit Käse und machte sich dann an ihre Arbeit. In festen Wanderstiefeln, Hosen und weitem T-Shirt und mit einem Sonnenhut auf dem Kopf streifte sie durch die Wiesen, fotografierte Blumen und Gräser. Ihre besondere Aufmerksamkeit aber galt den Bienenvölkern, die Leonhard gehörten und die in den Holzkästen zu Hause waren, die in einiger Entfernung zur Hütte auf der Wiese standen. Sie teilte die Faszination für diese Wesen mit Susanne, Leonhards Frau, die sich um die Imkerei in Bergmoosbach kümmerte und dafür sorgte, dass das berühmte Honigbier der Brauerei Schwartz, die Leonhard von seinen Eltern geerbt hatte, immer gleich gut schmeckte.

»Hallo, Herr Brombacher«, begrüßte Kim den großen starken Mann, der mit einem geflochtenen Weidenkorb auf dem Rücken gegen Mittag zu ihr herauf kam.

»Ich grüße Sie, Frau Baum, alles in Ordnung bei Ihnen?«, erkundigte sich Alois Brombacher, der Imker, der sich in Leonhards Auftrag um die Bienenstöcke auf der Alm kümmerte, die Waben austauschte und die mit Honig gefüllten zur Imkerei nach Bergmoosbach brachte.

Alois‘ Hof lag am Fuß des Berges, und der Imker kam jeden zweiten Tag auf die Alm, auch um nach Kim zu sehen, wie er es Leonhard versprochen hatte.

»Die Erni hat Schwarzbrot gebacken, frischen Schafskäse und ein bissel ein Gemüse gibt es auch, damit Sie auch ordentlich was zum Essen haben.« Alois hatte seinen Tragekorb auf die Bank vor der Hütte gestellt und nahm die Stofftasche heraus, in der alles steckte, was seine Frau ihm für Kim mitgegeben hatte.

»Vielen Dank, Herr Brombacher«, bedankte sich Kim bei ihm. Jedes Mal, wenn er zu ihr heraufkam, brachte er ihr etwas von seinem Hof mit.

Während Alois die Waben auswechselte, packte sie die Tasche aus und kochte Kaffee, weil sie wie immer noch ein bisschen mit ihm plaudern wollte, bevor er wieder ins Dorf hinunterging.

»Noch fünf Tag, dann treff ich hier wieder nur die Bienerl an, dann ist’s vorbei mit dem Kaffeeempfang«, seufzte Alois und nahm einen großen Schluck aus der Tasse, die Kim ihm hingestellt hatte.

»Ich werde die Alm auch vermissen und ich werde Sie vermissen«, sagte Kim und streichelte Alois über die Hand.

»Geh, Sie machen mich ganz verlegen«, antwortete er und strich über seinen ergrauten Schnurrbart. »Aber wenn das Kleine dann mal ein bissel größer ist, dann kommen Sie wieder hier herauf und zeigen ihm, was es hier alles zum Schaun gibt, und vielleicht kommt er dann ja auch mit.«

»Ich glaube nicht, dass er jemals hierherkommt.« Kim wusste, dass Alois mit ›er‹ den Vater ihres Kindes meinte, über den sie nie sprach.

»Wer kümmert sich denn um Sie und das Kleine, wenn Sie wieder in der Stadt sind?«, fragte Alois. Seitdem sie ihm erzählt hatte, dass ihre Eltern nicht mehr lebten und sie außer Leonhard keine Verwandten mehr hatte, schien er sich um sie und das Kind zu sorgen.

»Ich habe Freunde in der Stadt; wenn ich Hilfe brauche, dann werden sie für mich da sein«, versicherte sie ihm, obwohl sie nicht wirklich davon überzeugt war. Ihre Münchner Freunde hatten sie in den letzten Monaten nur selten besucht und sie aus ihren Unternehmungen ausgeklammert. Niemand von ihnen hatte bisher Kinder, alle waren noch auf der Jagd nach schicken Häusern, schicken Autos und dicken Bankkonten. Sie dagegen plante ohne diese Voraussetzung eine Zukunft mit Kind, und es schien, als gehörte sie nun nicht mehr dazu. Wieder spürte sie dieses Ziehen im Rücken und wieder ignorierte sie es.

»Ist was?«, fragte Alois und betrachtete sie aufmerksam, weil ihm nicht entgangen war, dass sie sich kurz an den Rücken fasste.

»Alles in Ordnung«, beruhigte sie ihn. Um die Pflanzen für ihre Arbeit zu fotografieren, musste sie sich ständig bücken, da konnte es schon mal im Rücken zwicken.

»Wollen Sie mit mir ins Dorf hinuntergehen?«

»Das ist sehr nett von Ihnen, Herr Brombacher, aber mir geht es gut«, sagte sie, als er sie mit seinen dunklen Augen skeptisch musterte.

»Und Sie bleiben auch nur auf der Wiese, wie Sie es dem Leonhard versprochen haben.«

»Aber ja, in meinem Zustand verbietet sich die Kletterei«, versicherte sie ihm.

»Dann mach ich mich wieder auf den Weg.« Alois schulterte den Tragekorb mit den eingesammelten Waben, trank im Stehen den letzten Schluck seines Kaffees und verabschiedete sich.

»Wir sehen uns übermorgen!«, rief Kim und winkte ihm noch einmal zu, bevor er in einem Waldstück verschwand.

Am Nachmittag streifte Kim durch ein Waldstück, das an die Hochwiese grenzte, fotografierte Farne und Moose und kehrte am frühen Abend zur Hütte zurück. Bevor sie sich etwas zu essen machte, stellte sie sich unter die Dusche, und plötzlich kehrten die Rückenschmerzen zurück, das Ziehen wurde beinahe unerträglich. Diese Schmerzen kamen nicht vom Bücken, das wurde ihr schlagartig klar, es war die Geburt, die sich auf diese Weise ankündigte.

»Was mache ich denn jetzt?«, flüsterte sie. Sie schlüpfte in ihren langen Bademantel, stützte sich auf dem Waschbecken ab und betrachtete sich im Spiegel. Der Pony ihres rötlichen Haares hing ihr wirr in der Stirn, und sie konnte die Angst in ihren Augen sehen. Wie schnell würde es gehen? Blieb noch genug Zeit, damit sie jemand ins Krankenhaus bringen konnte?

Sie lief in den angrenzenden Raum, dem einzigen Zimmer in der Hütte neben dem Bad und einer kleinen Speisekammer. Ihr Telefon lag auf dem Esstisch.

»Hallo, mein Name ist Kim Baum, ich bin allein auf der Schwartz-Alm, ich bin im achten Monat schwanger und ich glaube, das Kind kommt«, sagte sie, nachdem sie die Notrufnummer gewählt hatte und sich die Rettungsstelle meldete. »Oh Gott«, stöhnte sie, als sie einen heftigen Stich spürte und sich vor Schmerz zusammenkrümmte.

»Bleiben Sie ganz ruhig, wir sind in ein paar Minuten bei Ihnen, suchen Sie sich eine bequeme Stellung und atmen Sie ruhig. Ist es Ihr erstes Kind?«, fragte die Frau, nachdem sie im Hintergrund in ein Funkgerät ­gesprochen hatte und Kim nur die Worte Alm und Geburt verstanden hatte.

»Ja, es ist mein erstes Kind«, antwortete sie und legte sich mit dem Telefon auf das Bett, das sie gleich bei ihrer Ankunft mit dem Fußende zum Fenster geschoben hatte, damit sie nach dem Aufwachen und vor dem Einschlafen die Bergkulisse genießen konnte.

»Das erste lässt sich meistens ein bisschen länger Zeit, es wird alles gut gehen. Sie schaffen das, der Hubschrauber ist in wenigen Minuten bei Ihnen«, versicherte ihr die Frau von der Rettungsstelle.

»Danke.« Ein paar Minuten sind eine Ewigkeit, wenn man Angst hat, dachte Kim und schaute auf die Berge, die ihr in diesem Moment unendlich weit erschienen.

*

»Mit dem Transport wird es schwierig, wenn die Geburt zu weit fortgeschritten ist«, sagte Anna, als sie zu Sebastian Seefeld ins Auto stieg, der vor ihrer Praxis auf sie gewartet hatte.

»Ich weiß, deshalb möchte ich auch eine Hebamme dabei haben«, entgegnete der junge Arzt, der vor einiger Zeit die Landarztpraxis seines Vaters in Bergmoosbach übernommen hatte und sich hin und wieder als Notarzt bei der Bergwacht einteilen ließ.

»Wo genau fliegen wir hin?«

»Ich weiß es nicht. Die Rettungsstelle hat mich nur darüber informiert, dass ich den Hubschrauber der Bergwacht begleiten soll, weil bei einer hochschwangeren Frau die Wehen eingesetzt haben. Der Hubschrauber holt uns ab, er wird in etwa zwei Minuten am See landen«, sagte Sebastian, als er den Geländewagen wieder in Gang setzte, nachdem Anna die Beifahrertür geschlossen hatte.

»Hoffen wir, dass das Kind noch ein wenig Geduld hat. Wir wissen ja nicht, was uns erwartet. Vielleicht ist eine Schwangere während des Kletterns verunglückt, das wäre eine echte Herausforderung.«

»Es wäre nicht unsere erste.«

»Nein, das wäre es nicht«, sagte Anna und dachte an die Nacht, in der sie dem jungen Arzt zum ersten Mal begegnet war und in seine wundervollen grauen Augen geschaut hatte. Die Nacht, in der sie auf einem Bauernhof außerhalb des Dorfes einer jungen Mutter und ihrem Kind mit einem Notfallkaiserschnitt das Leben retten mussten, die erste Herausforderung, die sie gemeinsam gemeistert hatten.

Der See, den die Bergmoosbacher den Sternwolkensee nannten, weil sich in klaren Nächten die Milchstraße auf dem Wasser spiegelte, lag eingebettet zwischen hügligen Wiesen am Ortsrand. Dem Besucher bot sich ein atemberaubender Blick auf die Gipfel der Allgäuer Alpen. Aber für diesen Anblick hatten Anna und Sebastian dieses Mal keine Zeit. Der Hubschrauber der Bergwacht war bereits im Anflug.

Er steuerte den mit weißem Kies ausgelegten Parkplatz des Bootsverleihs an, kurz nachdem Sebastian seinen Wagen dort abgestellt hatte. Der Bootsverleih hatte an diesem Abend schon geschlossen, der Parkplatz war so gut wie leer, und der Hubschrauber konnte gefahrlos aufsetzen.

»Hallo, Sven«, begrüßte Sebastian den Piloten, der ihnen nach der Landung die Tür öffnete und seine Sonnenbrille kurz abnahm. »Das ist Anna, sie ist Hebamme«, stellte er Sven Anna vor.

»Gute Idee, eine Hebamme mitzunehmen«, sagte der junge Mann, der die gleiche rote Jacke wie Sebastian anhatte und einen weißen Helm trug. »Anna, sobald du in meinen Hubschrauber steigst, sind wir per du, alles klar?«, wandte er sich mit einem charmanten Lächeln an die junge Hebamme.

»Alles klar, Captain«, antwortete sie lachend.

»Wo genau fliegen wir hin?«, erkundigte sich Sebastian, nachdem Anna und er auf die beiden Sitze hinter Sven geklettert waren und sich anschnallten.

»Zur Schwartz-Alm.«

»Ist nicht Leonhards Cousine dort oben?!«, schrie Anna gegen den Lärm der laufenden Rotoren an.

»Richtig, es geht um Kim!«, antwortete Sven, setzte seine Sonnenbrille wieder auf und schloss die Tür.

Anna fragte sich, was dieser wehmütige Blick zu bedeuten hatte, mit dem Sven den Namen Kim ausgesprochen hatte. Sebastian schien ihre Gedanken erraten zu haben. Während Sven den Hubschrauber wieder aufsteigen ließ, zückte er sein Handy. Kurz darauf stupste er Anna an, damit sie die Nachricht las, die er für sie geschrieben hatte. Sie nickte, nachdem sie sie gelesen hatte. Jetzt wusste sie, was in Sven vor sich ging.

»Kim war seine unglückliche Jugendliebe«, hatte Sebastian geschrieben.

Eine unerfüllte Liebe tut weh, offensichtlich auch noch nach vielen Jahren, dachte Anna, während sie aus dem Fenster schaute. Es war das erste Mal, dass sie Bergmoosbach aus der Luft betrachten konnte. Das Dorf lag malerisch inmitten von Wiesen und Feldern, der See und der dunkle Tannenwald, der sich vom Tal bis hinauf zu den Hängen der Berge ausdehnte.

»Alles in Ordnung?!«, rief Sebastian und legte seine Hand auf ihre Schulter.

Sie nickte, obwohl schon seit einiger Zeit nicht mehr alles für sie in Ordnung war. Seit dieser Nacht, in der sie Sebastian begegnet war, sehnte sie sich nach ihm. Sie wusste, dass er noch nicht bereit für eine neue Beziehung war, weil er noch unter dem Tod seiner Frau litt, die im letzten Jahr bei einem Autounfall ums Leben kam, aber Gefühle ließen sich leider nicht einfach auf Eis legen. Sie musste irgendwie mit ihnen klar kommen.

*

Kim hatte sich auf die Bank vor der Hütte geschleppt und schaute an den Himmel. Sie wollte auf keinen Fall die Ankunft des Hubschraubers verpassen, damit sie nicht erst nach ihr suchen mussten. Bis zur Geburt konnte es nicht mehr lange dauern, die Wehen kamen nun alle zwei Minuten. Wieder krümmte sie sich vor Schmerzen und musste sich zwingen, ruhig zu atmen, so wie sie es in der Schwangerschaftsgymnastik gelernt hatte. Endlich hörte sie die Rotoren, die ihr die Ankunft ihrer Retter ankündigten. Als die nächste Wehe sie überwältigte, wurde sie kurz ohnmächtig, und als sie wieder zu sich kam, setzte der Hubschrauber auf der Wiese auf, erschien ihr wie eine riesige brummende Hummel, die lauter und lauter wurde.

»Kim!«, hörte sie jemanden rufen, und als sie sich aufrichtete, sah sie einen Mann in weißer Hose und roter Jacke auf sich zu kommen. »Hallo, Kim, ich bin Sebastian Seefeld«, stellte er sich vor und hockte sich neben die Bank, auf der sie seitlich mit angezogenen Beinen lag. »Du erinnerst dich vielleicht nicht mehr an mich, aber wir kennen uns von früher«, sagte er, während er ihren Puls fühlte.

»Doch ich erinnere mich. Du und Leonhard, ihr wart schon als Kinder dicke Freunde, später haben alle Mädchen in Bergmoosbach und auch die, die zu Besuch aus der Stadt kamen, für euch geschwärmt«, antwortete sie und konnte sogar lächeln, weil die Wehen gerade eine Pause einlegten und sie keine Schmerzen hatte.

»Daran hat sich bis heute kaum etwas verändert, nur dass die Mädchen inzwischen erwachsen sind. Hallo, Kim, ich bin Anna«, stellte sich ihr die junge Frau vor, die Sebastian begleitete und die nun behutsam ihren Bauch betastete.

»Es geht wieder los«, keuchte Kim und bäumte sich auf.

»In welchen Abständen kommen die Wehen?«, erkundigte sich Anna.

»Inzwischen weniger als zwei Minuten.«

»Tief einatmen, langsam ausatmen«, gab Anna Kim den Atemrhythmus vor, während Sebastian Sven bedeutete, die Rotoren auszuschalten.

»Sollten wir nicht gleich losfliegen?«, fragte Kim, als sie wieder zu sich kam und sie die Rotoren nicht mehr hörte.

»Die Geburt ist schon zu weit fortgeschritten, das Kind wird hier zur Welt kommen«, sagte Anna.

»Aber wir sind sechs Wochen zu früh dran. Was ist, wenn es Komplikationen gibt?« Zum ersten Mal bedauerte Kim, dass sie sich so kurz vor der Geburt noch auf dieser Alm einquartiert hatte.

»Du musst dir keine Sorgen machen, Anna ist eine erfahrene Hebamme, und ich habe auch schon einige Geburten begleitet, die nicht nach Plan verliefen. Wir schaffen das, Kim, und jetzt bringen wir dich erst einmal ins Haus«, sagte Sebastian und half ihr behutsam auf.

»Okay, ich vertraue euch. Meinem Kind tun wir vermutlich sogar einen Gefallen. Wer kann heutzutage noch von sich behaupten, auf einer Alm geboren zu sein.«

»Ein besonderer Ort für ein besonderes Kind«, entgegnete Anna lächelnd, die Sebastian half, Kim zu stützen.

»Wie lange wird es noch dauern?«, wollte Kim wissen, als sie die nächste Schmerzwelle überrollte und sie sich gerade noch auf das Bett retten konnte.

»Das lässt sich so nicht sagen, vielleicht eine Stunde, vielleicht auch länger«, antwortete Anna. »Ist die Schwangerschaft bisher normal verlaufen?«

»Es war immer alles in Ordnung, hier, mein Mutterpass.« Sie reichte Anna den Pass, den sie aus der Handtasche zog, die neben dem Bett lag.

»Sieht gut aus.« Anna reichte den Pass an Sebastian weiter, nachdem sie die Eintragungen gelesen hatte.

»Ich denke, ihr werdet mich nicht brauchen, ich warte dann draußen, bleibe aber in Rufweite, sollte etwas sein«, sagte Sebastian, nachdem er Kim abgehört, Puls und Blutdruck gemessen hatte und er und Anna sich über den Fortgang der Geburt ein Bild gemacht hatten.

»Einverstanden, dass wir allein bleiben?«, wandte sich Anna an Kim.

»So machen wir es«, stimmte sie Sebastians Vorschlag zu, als Kim nickte.

»Was ist los?«, wollte Sebastian wissen, als er die Hütte verließ und Sven mit einem Schraubenzieher in der Hand neben dem Hubschrauber stand. Er hatte seinen Helm und die Jacke abgelegt und die Klappe geöffnet, hinter der sich der Motor verbarg.

»Vorhin beim Ausschalten der Rotoren war so ein merkwürdiges Klappern zu hören. Ich muss wissen, was das war, bevor wir wieder starten.«

»Kann ich dir helfen?«

»Wirst du nicht in der Hütte gebraucht?«

»Im Moment nicht.«

»Dann wird alles gut gehen?«

»Ich denke schon.«

»Wieso ist der Vater des Kindes nicht bei ihr?«

»Keine Ahnung, darüber haben wir nicht gesprochen. Du kannst sie ja nachher selbst fragen.«

»Wer weiß, ob sie überhaupt mit mir reden will? Schließlich hat sie mich schon früher gern übersehen.«

»Das ist über zehn Jahre her, das wirst du ihr doch nicht mehr nachtragen?« Sebastian sah den großen sportlichen Mann überrascht an.

»Wenn du mir helfen willst, dann kannst du mir den Werkzeugkasten aus der Kabine holen«, erwiderte Sven und strich sich die dunkelblonden Locken aus der Stirn, bevor er sich wieder dem Motor zuwandte.

»Sicher, mache ich.« Offensichtlich bist du noch nicht über sie hinweg, mein Freund, dachte Sebastian.

»Ich brauche Licht, würdest du mir bitte die Taschenlampe geben?«, bat Sven, als Sebastian mit dem roten Werkzeugkasten zurückkam.

»Ich kann sie dir auch halten.«

»Gern, vielleicht kannst du auch zusammen mit mir nach einem losen Teil suchen, dein chirurgisch geschultes Auge müsste solche Veränderungen bemerken. Wir sollten uns allerdings beeilen. Wenn es erst dunkel ist, werden wir den Fehler nicht mehr beheben können. Auf eine Taschenlampe als einzige Lichtquelle möchte ich mich bei einer möglichen Reparatur nur ungern verlassen.«

»Dann sollten wir keine Zeit verlieren«, sagte Sebastian und sah auf die Hütte, in der bereits Licht brannte.

»Du hast es gleich geschafft, nicht aufgeben«, forderte Anna Kim auf. Sie hatte die Stehlampe, die einzige künstliche Lichtquelle in der Hütte, eingeschaltet, da es allmählich dunkel wurde.

»Ich bin so müde«, seufzte Kim.

»Kim, bitte, noch einmal pressen, dann habt ihr es geschafft. Nimm meine Hand, ich zähle bis drei, dann gibst du dir noch einmal richtig viel Mühe, einverstanden?«

»Dieses Angebot kann ich wohl schlecht ablehnen, fangen wir an«, sagte sie und umfasste Annas Hand.

Annas Unterstützung in der letzten Phase der Geburt hatte Erfolg, wenige Sekunden später wurde Kims Sohn geboren.

»Ist er gesund?«, fragte Kim erschöpft, als Anna ihr das Kind, das sofort laut aufgeschrien hatte und nun selbstständig atmete, behutsam auf den Bauch legte.

»Soweit ich das auf den ersten Blick beurteilen kann, scheint alles mit ihm in Ordnung zu sein. Hast du schon einen Namen für ihn?«

»Florens.«

»Ein schöner Name.« Anna streichelte über das dunkle Haar des Neugeborenen. »Dann ziehe ich dich mal für deine erste große Reise an, mein Kleiner«, sagte sie.

»Ich habe aber gar nichts zum Anziehen für ihn da«, wandte Kim ein.

»Kein Problem, ich habe immer Windeln, Strampelhosen und Jäckchen in meinem Gepäck.«

Nachdem Anna den kleinen Florens und Kim versorgt hatte, ließ sie die beiden allein, um Sebastian und Sven zu sagen, dass sie nun starten konnten.

Inzwischen war die Dämmerung heraufgezogen, die Berge warfen dunkle Schatten auf die Wiese. Sven und Sebastian standen mit dem Rücken zu ihr vor dem Hubschrauber, schienen in ein Gespräch vertieft und nahmen sie gar nicht wahr.

»Hallo, ihr beiden!«, rief sie, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.

»Und?!«, fragten sie wie aus einem Mund und drehten sich zu ihr um.

»Es ist geschafft, Kim hat ihren kleinen Florens zur Welt gebracht. Wir könnten dann los.«

»Ich glaube, daraus wird nichts.« Sven schloss die Klappe, die den Motor des Hubschraubers abdeckte.

»Warum nicht?«

»Mit dem Motor stimmt etwas nicht, irgendetwas klappert. Sebastian und ich konnten die Ursache bisher nicht finden. Und jetzt ist es zu dunkel, um weiter daran herumzufummeln.«

»Das heißt, wir müssen hier übernachten?«

»Die andere Möglichkeit wäre, einen Krankenwagen zu rufen. Das würde aber bedeuten, dass Mutter und Kind über den schmalen Fußweg nach unten zur Straße transportiert werden müssten. In der Dunkelheit eine ziemlich verwegene Aktion.«

»Und ein anderer Hubschrauber?«, fragte Anna.

»Kann hier nicht mehr landen.«

»Wie geht es den beiden denn?«, erkundigte sich Sebastian.

»Kim hat alles gut überstanden, und der Kleine scheint recht kräftig zu sein. Du solltest sie dir aber noch einmal anschauen.«

»Das mache ich. Wenn keine akute Gefahr für sie besteht, sollten wir die Nacht hier verbringen und die beiden morgen früh bei Tageslicht ins Krankenhaus bringen.«

»Du bist der Arzt, es ist deine Entscheidung«, sagte Sven.

»Gut, dann gehen wir uns die Hände waschen und gratulieren Kim zu ihrem Sohn.«

»Ich möchte sie aber nicht stören.« Sven warf die Arbeitshandschuhe, die er angezogen hatte, in den Werkzeugkasten und verstaute ihn wieder an seinem Platz in der Kabine.

»Wenn wir hier übernachten, kannst du ihr nicht aus dem Weg gehen«, sagte Sebastian.

»Es wäre nicht das erste Mal, dass ich im Freien übernachte.«

»Sven, du gehörst zu den mutigsten und waghalsigsten Männern, die ich kenne, du wirst dich doch nicht vor dem Wiedersehen mit Kim fürchten?«, fragte Sebastian verblüfft, als ihm klar wurde, was Svens Zögern bedeutete.

»Ja, ich weiß, dass es ein bisschen albern ist, zumal ich eigentlich darauf brenne, Sie wiederzusehen«, gab er zu.

»Dann spring über deinen Schatten«, forderte Sebastian ihn auf.

»Gut, überredet, ich werfe die Vergangenheit über Bord und befasse mich mit der Gegenwart.« Was sollte schon groß passieren? Möglicherweise würde er sich nach dieser Begegnung mit Kim sogar fragen, warum er sie all die Jahre nicht vergessen konnte.

»Bereit, Sven?«, fragte Anna, als sie die Hand auf die Klinke der Hüttentür legte.

»Gehen wir hinein.«

Kim saß aufrecht im Bett und betrachtete Florens, der eingehüllt in eine Babydecke vor ihr auf der Daunendecke lag. Das lange Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, schimmerte noch immer in dem gleichen rotgoldenen Ton, wie Sven es in Erinnerung hatte. Als sie aufschaute und ihn mit ihren hellen blauen Augen ansah, war es ihm, als stünde die Zeit plötzlich still. »Hallo, Kim«, sagte er leise.

»Sven?«

»Du erinnerst dich also noch an mich.«

»Aber ja, natürlich, was machst du hier?«, fragte sie verblüfft.

»Ich habe den Hubschrauber geflogen.«

»Du bist bei der Bergwacht?«

»Seit fünf Jahren.«

»Pilot bei der Bergwacht, das passt zu dir, mutig warst du ja schon immer. Wenn ich daran denke, was bei unserem Kletterunfall damals mit Leonhard alles hätte passieren können. Wenn du nicht gewesen wärst, würde ich vielleicht gar nicht mehr leben.«

»Das war allerdings spektakulär«, sagte Sebastian, der sich noch gut an diesen Unfall erinnern konnte, weil im Dorf tagelang darüber gesprochen wurde.

»Was war denn los?«, fragte Anna, die erst seit drei Jahren in Bergmoosbach wohnte.

»Ich hatte mein Seil nicht richtig eingehakt und bin in eine Felsspalte gerutscht. Sven hat mich irgendwie da rausgezogen«, erzählte Kim. »Leonhard hatte das Seil gehalten, aber Sven hatte sich irgendwann ausgeklinkt, weil er mich mit Seil nicht erreichen konnte. Das hätte auch für ihn schief gehen können.«

»Das ist lange her, Kim, nun liegt ein ganz anderes Leben vor dir. Ich wünsche dir und deinem Sohn alles Glück der Welt.«

»Ich danke dir, Sven.«

Ich könnte mich auf der Stelle wieder in sie verlieben, dachte er, als sie seinen Blick einen Moment lang festhielt, bevor sie sich wieder ihrem Kind zuwandte, es behutsam hochhob und in ihren Arm legte.

»Habt ihr alles gut überstanden?«, fragte er und vertrieb den Gedanken an die Liebe, die in Kims Fall sicher dem Vater des Kindes vorbehalten war.

»Es ist alles in Ordnung mit uns«, versicherte sie ihm.

»Von mir auch alles Gute zur Geburt deines Sohnes«, sagte Sebastian, der sich mit Anna ein wenig im Hintergrund gehalten hatte, um diesen ersten Moment des Wiedersehens der beiden nicht zu stören.

»Wann brechen wir auf, Anna?«, fragte Kim, als Sebastian und Sven ins Bad gingen, um sich die Hände zu waschen. Sie hatte den Eindruck, dass es niemand wirklich eilig hatte.

»Wir werden die Nacht auf der Alm verbringen. Der Motor des Hubschraubers hat einen Defekt, und in der Dunkelheit kann Sven den Fehler nicht beheben.«

»Für Florens und mich ist das in Ordnung, wir haben es warm und gemütlich, wir haben eine Hebamme und einen Arzt für uns allein, und wir haben einen eigenen Piloten.«

»Leider könnt ihr mit dem Piloten aber gerade nicht viel anfangen. Ich meine, ohne flugfähigen Hubschrauber«, fügte Sven hinzu, der wieder aus dem Badezimmer kam.

»Vielleicht könnte der Pilot mir nachher ein paar Geschichten aus seinem Leben erzählen«, schlug Kim vor. Er hat ein wundervolles Lächeln, und seine Augen sind von dem gleichen Blau wie der Himmel am Abend, dachte sie und fragte sich, warum sie in Sven nie mehr als einen guten Freund gesehen hatte.

»Erfahre ich dann auch etwas über dich?«

»Frage mich, was du wissen möchtest.«

»Das muss warten. Wir beide gehen noch ein bisschen an die frische Luft, bis Sebastians Visite bei dir und deinem Sohn vorüber ist«, sagte Anna, als Sebastian wieder ins Zimmer kam. »Wie geht es dir? Wie war die Begegnung mit Kim?«, wollte Anna wissen, als sie und Sven sich auf die Veranda setzten.

»Wenn ich nicht aufpasse, werde ich mich wieder in sie verlieben, was aber äußerst dumm wäre, da sie längst vergeben ist«, antwortete er mit einem tiefen Seufzer.

»Darauf nimmt die Liebe aber keine Rücksicht. Ihr ist es völlig egal, ob sie uns Unbequemlichkeiten oder Kummer bereitet, sie taucht einfach auf, wann immer es ihr passt.«

»Du kennst dich mit diesen unpassenden Moment wohl aus?«, fragte Sven, als Anna ihren Blick an den Horizont richtete und das Sternbild des Großen Wagens betrachtete, das über den Berggipfeln zu sehen war.

»Ja, leider«, gab sie zu.

»Sebastian?« Ihm war nicht entgangen, wie liebevoll Anna den jungen Arzt ansah.

»Er hat so viele Jahre in Kanada gelebt, seine Tochter ist dort geboren, er hat seine Frau dort beerdigt, es wird dauern, bis er wirklich wieder hier angekommen ist.«

»Hast du so viel Geduld?«

»Ich hoffe es.«

»Ich habe zehn Jahre lang gehofft, aber jetzt weiß ich, dass ich mich endgültig von dieser Hoffnung lösen muss. Kim hat nun eine Familie. Leonhard hat mir in den vergangenen Jahren hin und wieder von ihr erzählt, wie viel Spaß ihr das Studium gemacht hat, von ihren monatelangen Expeditionen in die tiefsten Urwaldgebiete.«

»Du hast sie bis heute nie wiedergesehen?«

»Sie war ja meistens unterwegs und so gut wie nie hier. Ein Treffen hat sich nicht ergeben. Und nun ist es ohnehin zu spät.«

»Es tut mir leid, Sven«, sagte Anna und streichelte ihm über die Schulter.

»Lassen wir dieses Thema, wir könnten uns stattdessen um das Abendessen kümmern.«

»Das ist eine gute Idee.«

»Vorausgesetzt, in der Hütte gibt es ein paar Vorräte.«

»Die gibt es«, sagte Sebastian, der zu ihnen herauskam. Er hatte die rote Jacke der Bergwacht abgelegt und die Ärmel seines weißen Hemdes ordentlich hochgekrempelt. »Kim wollte schon aufstehen, um uns etwas zu machen«, erzählte er.

»Was du aber nicht zugelassen hast«, entgegnete Anna lächelnd.

»Nein, natürlich nicht.«

»Was denkst du, spricht etwas dagegen, heute Nacht hier zu bleiben?«

»Wir sollten bleiben und uns eine nächtliche Bergwanderung hinunter zur Straße ersparen. Das mit dem Essen übernehmen Anna und ich, du kannst Kim Gesellschaft leisten«, wandte er sich an Sven.

»Ist sie nicht müde? Ich meine, die Geburt war doch sicher anstrengend.«

»Das schon, aber das Glück, das sie empfindet, ist so groß, dass sie diese Müdigkeit gar nicht spürt.«

»Sebastian hat recht, du kümmerst dich um Kim und überlässt uns das mit dem Essen«, stimmte Anna Sebastians Vorschlag zu.

»Sprich sie auf Florens‘ Vater an«, raunte Sebastian Sven zu, als sie wieder in die Hütte hineingingen.

»Warum?«, fragte er leise, aber Sebastian hatte sich schon von ihm abgewandt und folgte Anna in die Speisekammer.

»Komm, setz dich zu mir, Sven«, bat Kim und deutete auf den Stuhl, der neben ihrem Bett stand. »Ein Wiedersehen unter ungewöhnlichen Umständen, nicht wahr?«

»Allerdings«, stimmte er ihr zu und nahm auf dem Stuhl Platz. »Was machst du eigentlich hier oben auf der Alm?«

»Du meinst, warum ich mich in meinem Zustand auf einer Almhütte einquartiere?«

»Nein, ich wollte wissen, was du hier machst.«

»Ich bin auf der Suche nach seltenen Pflanzen.«

»Ich dachte, die seltenen Pflanzen suchst du im Urwald.«

»Es gibt sie auch vor unserer Haustür.« Leider übersehen wir sie viel zu oft, dachte sie und streifte Sven mit einem kurzen Blick.

»Er ähnelt dir«, stellte er fest und betrachtete den kleinen Florens, der neben Kim im Bett lag.

»Findest du?«, fragte sie skeptisch.

»Das entzückende Näschen, das hübsche Gesicht, alles genau wie bei dir, nur die Haarfarbe ist eine andere. Vermutlich ist es die von seinem Vater. Wo ist er eigentlich?« Sven hielt beinahe die Luft an, so gespannt war er auf ihre Antwort.

»Das hat Sebastian mich gerade auch schon gefragt.«

»Was hast du geantwortet? Oder ist es unhöflich, dich das zu fragen?«

»Nein, gar nicht. Es ist so, Florens‘ Vater interessiert sich nicht für sein Kind und auch nicht für mich. Ich nehme an, dass er um diese Zeit zu Hause bei seiner Frau ist und sich mit ihr einen gemütlichen Abend macht. Aber ehrlich gesagt, es ist mir egal, was er tut. Er ist mir egal.«

»Er ist verheiratet?«, fragte Sven erstaunt.

»Ich wusste es nicht, als ich ihn kennenlernte«, sagte Kim und erzählte ihm von Norberts Auszeit und dass er sie über sein wahres Leben im Unklaren gelassen hatte.

»Ich kann verstehen, dass sie diesen Mann nicht wiedersehen will«, raunte Anna Sebastian zu, während sie die Tomaten für den Salat wusch, die sie in der Speisekammer geholt hatten.

Sie standen nebeneinander vor der Küchenzeile, die mit Herd, Backofen und Kühlschrank ausgestattet war und genügend Komfort für einen längeren Aufenthalt bot.

»Es ist erstaunlich, wie leicht es einigen fällt, den Umstand, dass sie Vater werden, einfach zu ignorieren.«

»Sie werden nicht Vater, weil das bedeutet, sich zu kümmern, sie setzen nur das Kind in die Welt.«

»Du hast recht, wie meistens«, stellte Sebastian lächelnd fest.

»Nur meistens? Habe ich nicht immer recht?«, hakte Anna lachend nach.

»Es wäre furchtbar, wenn einer immer recht hätte.«

»Und schrecklich langweilig, weil es gar nichts mehr zu diskutieren gäbe. Zum Beispiel über die Bratkartoffeln, die wir machen wollen. Ich dachte, die Kartoffeln werden in Scheiben geschnitten«, sagte Anna, als Sebastian die Kartoffeln, die sie gemeinsam geschält hatten, in Streifen schnitt.

»Traudel bevorzugt Streifen.« Alles, was er über die bayerische Küche wusste, hatte er von Traudel, der guten Seele der Seefelds gelernt. Traudel hatte sich von Anfang an um ihn gekümmert, weil seine Mutter seine Geburt nur ein paar Stunden überlebt hatte. »Die Tomaten schneiden wir auch in Streifen.«

»Nein, das tut ihr nicht«, widersprach Anna lachend.

»Du hast recht, das tun wir nicht«, gab Sebastian mit einem verschmitzten Lächeln zu und stellte die gusseiserne Pfanne auf den Herd.

»Du sprichst von Norbert Maring, dem Erbe von Maring-Maschinenbau?«, wollte Sven wissen, nachdem Kim ihm von dem Vater ihres Kindes erzählt hatte.

»Richtig, er hat sich monatelang nicht bei mir gemeldet, und gestern Abend ruft er mich an und erzählt mir etwas von einer Privatklinik, in der ich das Kind bekommen soll. Er hat nicht gefragt, wie es mir geht, gar nichts, mir einfach nur diese Adresse genannt und mir erklärt, dass er für die Kosten dort aufkommen wird.«

»Hattest du vor, dieses Angebot anzunehmen?«

»Nein, das hatte ich nicht vor. Vermutlich will er mit dieser Aktion nur sein Gewissen beruhigen und sich einreden, dass er etwas für uns getan hat. Aber ich will weder mit ihm noch mit seiner Familie etwas zu tun haben. Später, wenn Florens alt genug ist, werde ich ihm erzählen, wer sein Vater ist, dann kann er selbst entscheiden, ob er ihn kennenlernen möchte.«

»Lass es mich wissen, wenn ich etwas für dich tun kann.«

»Das ist lieb von dir, danke. Wie sieht es denn bei dir aus? Hast du Kinder?«

»Nein, noch nicht.«

»Aber du lebst nicht allein.«

»In meinem Einzimmerappartement ist nicht genug Platz für zwei.«

»Du hattest noch nie den Wunsch umzuziehen?«

»Ich wohne in der Kreisstadt, in der Fußgängerzone. Ich kann bequem einkaufen und von meinem Balkon aus kann ich das Geschehen auf der Straße beobachten. Das ist beste Unterhaltung«, erzählte er lächelnd.

Er hat also keine feste Beziehung, dachte sie, und diese Vorstellung gefiel ihr. Im selben Moment beendete das Neugeborene ihre Überlegung.

Florens schlug die Augen auf, machte ein Schmollmündchen und verkündete mit kräftiger Stimme, dass er Hunger hatte. Während Kim sich nun um das Kind kümmerte, leistete Sven Anna und Sebastian Gesellschaft.

»Bratkartoffeln mit frischen Kräutern und Tomatensalat, ich freue mich darauf«, sagte er, als er sah, was die beiden für das Abendessen zubereiteten.

»Du musst nicht mehr lange warten«, entgegnete Anna und stellte den Tomatensalat auf den Tisch.

»Dann hole ich noch schnell zwei Schlafsäcke aus dem Hubschrauber. Ich denke, du bist damit einverstanden, dass wir Anna das zweite Bett überlassen«, wandte er sich an Sebastian.

»Aber ja, das ist doch keine Frage.«

»Danke«, sagte Anna und bedauerte zutiefst, dass sie es nicht wagte, Sebastian anzubieten, dass er sich das Bett auch mit ihr teilen konnte.

»Wo sind die Teller und das Besteck?«, fragte Sven, als er gleich darauf mit den roten Schlafsäcken der Bergwacht zurückkam.

»Teller im Schrank neben dem Herd, Besteck in der Tischschublade«, antwortete Anna.

»Was ist mit Kim?«, wollte Sven wissen.

»Sie wird heute ein bisschen verwöhnt, wir servieren ihr im Bett.«

»Danke, das hört sich gut an«, meldete sich Kim aus dem Hintergrund.

»Wie klappt es mit dem Stillen?«, erkundigte sich Anna, als Kim Florens behutsam an ihre Schulter lehnte und in kreisenden Bewegungen über seinen Rücken strich.

»Er ist satt, und mir tut nichts weh, ich denke, das ist ein gutes Zeichen.«

»Das ist es«, stimmte Anna ihr zu und betrachtete den kleinen Jungen, der zufrieden dreinschaute. »Er wird sich heute Nacht bestimmt noch einige Male melden.«

»Das heißt, dass auch ihr eine unruhige Nacht verbringen werdet.«

»Ich habe im Krankenhaus gearbeitet, ich bin mit unruhigen Nächten bestens vertraut.«

»Das Gleiche gilt für mich«, schloss sich Sebastian Anna an.

»Und für mich ist es ein wundervolles Erlebnis, Florens‘ erste Nacht mitzuerleben. Ich werde mich später gern an diese Stunden erinnern«, sagte Sven und betrachtete Kim mit einem liebevollen Blick.

»Ich danke euch, dass ihr euch so um Florens und mich bemüht. Und eigentlich weiß ich nicht, warum ich jetzt weinen muss.«

»Das sind die Hormone, das ist ganz normal«, antwortete Anna, als Kim plötzlich mit den Tränen kämpfte. »Was ist mit Essen? Hast du Hunger?«

»Ja, habe ich.« Kim legte Florens neben sich ins Bett, schüttelte ihre Kissen auf und strich die Bettdecke glatt.

Damit Kim nicht das Gefühl hatte, allein essen zu müssen, schoben Sebastian und Sven den Esstisch ein Stück näher an das Bett heran, und Anna reichte ihr ihren Teller auf einem Tablett, das sie vor sich auf der Bettdecke abstellen konnte.

»Ich habe wirklich keine Ahnung, wie ich das alles wieder gut machen kann«, seufzte Kim.

»Es gibt nichts gut zu machen, du hast Hilfe gebraucht. Dass wir hier festsitzen, das ist nicht deine Schuld«, sagte Sven.

»War es leichtsinnig von mir, dass ich kurz vor der Geburt so eine Unternehmung gestartet habe?«, fragte Kim nachdenklich, nachdem sie von den Bratkartoffeln versucht hatte.

»Es hat doch nichts darauf hingedeutet, dass Florens beschließen würde, eher auf die Welt zu kommen«, antwortete Anna, als Sebastian so tat, als habe er die Frage überhört.

»Und was meinst du?«, sprach Kim ihn nun direkt an. Wenn sie sich zu viel zugetraut hatte und die anderen damit zum Handeln gezwungen hatte, dann sollte er es ihr sagen.

»Du hast nichts falsch gemacht, Kim, es war noch genug Zeit bis zur Geburt. Die Ruhe, die frische Luft auf der Alm und deine Spaziergänge, das hat dir sicher gut getan. Könnte es vielleicht sein, dass dich der Anruf von Norbert Maring mehr aufgeregt hat, als dir bewusst ist?« Sebastian wollte Kim nichts einreden, aber er hatte oft genug erlebt, welche Macht die menschlichen Gefühle über den Körper besaßen.

»Du denkst, deshalb haben die Wehen so früh eingesetzt?« Kim legte die volle Gabel, die sie gerade zum Mund führen wollte, wieder auf ihrem Teller ab und sah Sebastian erstaunt an.

»Ich könnte es mir vorstellen. Was meinst du, Anna?«, wandte er sich an die junge Hebamme, die auf dem Stuhl neben ihm saß.

»Dieser Anruf hat alte Wunden aufgerissen, Kim. Ich kann es mir gut vorstellen, dass die Wehen dadurch ausgelöst wurden.«

»Aber ich empfinde nichts mehr für Norbert«, beteuerte Kim.

»Er hat dir wehgetan, dieser Anruf hat deinen Ärger über ihn wieder hochkochen lassen.« Genau wie Anna und Sebastian wollte auch Sven ihr diese Schuldgefühle nehmen, mit denen sie gerade zu kämpfen schien.

»In Zukunft werde ich mich nicht mehr über Norbert aufregen, weil ich nicht mehr ans Telefon gehen werde, wenn er anruft«, erklärte Kim und widmete sich wieder ihrem Abendessen.

»Apropos Telefon, du solltest Leonhard anrufen, er sollte doch von dem Nachwuchs in eurer Familie wissen«, sagte Sebastian.

»Das mache ich.«

»Hier.« Sven reichte ihr das Handy, das auf dem Kaminsims lag, als sie sich suchend umschaute.