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Michael A. Frank, Franz von Soisses

Mord Surprise





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Mord Surpise

 

 

 

 

Mord Surprise

 

 

Michael A. Frank

 

 

 

 


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar

 

 

Autor: Michael A. Frank

 

Herausgeber: Franz von Soisses

Covergestaltung, Layout

Andrea Skorpil

 

© 2018

intinn@soisses.com

 

 

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Das Haus, in dem das Restaurant "The White Owl" lag, sah von außen aus wie ein ganz normales Wohnhaus aus der Jahrhundertwende. Es lag in der Nähe des Leicester Square, in einer kleinen Seitenstraße. Innen allerdings war es alles andere als alt.

Das "White Owl" war ein gut besuchtes, elegantes Restaurant, das sich innerhalb eines Jahres einen Namen und einen Stern erkocht hatte. Wenn man das Restaurant betrat, gelangte man erst in einen kleinen Salon, in dem man einen Drink nehmen und warten konnte, bis der vorbestellte Tisch frei war. Ohne Vorbestellung war es unmöglich, hier einen Tisch zu bekommen, es sei denn, die Queen würde vor der Tür stehen. Das Restaurant selbst betrat man durch eine verglaste Flügeltür.

Im Speiseraum standen nur ungefähr fünfundzwanzig Tische. Wer zum ersten Mal hier war, wurde fast geblendet von der Eleganz der Einrichtung. Der dunkelblaue Teppich mit dem dezenten gelben Muster schluckte die Schritte der umher eilenden Kellner und Kellnerinnen. Die Wände waren mit Seidentapeten bespannt, die denselben blauen Ton wie der Teppich hatten. Mittelpunkt des Raumes war ein Springbrunnen eines berühmten englischen Künstlers. Weiße Damastdecken bedeckten die Tische, und das edle, massiv silberne Besteck und die feingeschliffenen Kristallgläser spiegelten das Licht der schweren Kristallleuchter, die unter der Decke hingen. Nur leises Klirren des Bestecks und das Klingen der Gläser, gemischt mit den leisen Gesprächen der Gäste klangen durch den Raum.

Selbst die eiligen Schritte der Bedienungen hörte man nicht. Sie schienen über den Boden zu schweben.

In der Küche allerdings sah das alles ganz anders aus. Sie lag, durch einen kurzen Gang vom Haupthaus getrennt, in einem Anbau, der wohl mal eine Unterkunft für Bedienstete gewesen war.

Kein Gast verirrte sich bis dorthin. Deswegen konnte man das Gebrüll und Geschrei von Maître Jean, der eigentlich John Kingley hieß, hören.

Seit sein Restaurant einen Stern ergattert hatte, ließ er sich allerdings von allen Angestellten und Mitarbeitern nur noch Maître Jean nennen. Anscheinend war ihm der Erfolg wohl zu Kopf gestiegen.

Gerade eben hielt er einen Topf mit Hummercremesuppe in der Hand und schüttete ihn mit den Worten: "Was soll das sein? Hummercremesuppe? Wer hat diese abscheuliche Pampe zu verantworten?"Er kippte die Suppe in den Ausguss. Dann schmiss er voller Wut den Topf auf den Boden.

Die Hände in die Hüften gestemmt sah er in die Runde. "Also wer, wer hat diesen Mist fabriziert? Steht hier nicht so blöd rum und geht an eure Töpfe. Antworten könnt ihr mir auch, wenn ihr arbeitet!" Immer noch wütend stand er in der Lücke zwischen den Öfen und wartete auf eine Antwort.

Die Spülhilfe aus der Spülküche stand im Durchgang und starrte ihn an. Maître Jean sah das und brüllte sie an: "Geh an deine Arbeit! Das Geschirr spült sich nicht von alleine!" Zu seinen Köchen meinte er: "Also, was ist? Ich warte immer noch auf eine Antwort."

Zögernd und mit knallrotem Gesicht trat ein stabil gebauter, junger Mann einen Schritt vor. Es war Jason Fischer, ein Lehrling im zweiten Lehrjahr. Maître Jean sah ihn an.

"Du warst das? Sag mal, was fällt dir ein, so einen Dreck zusammen zu kochen? Das Geld dafür ziehe ich dir von deinem Gehalt ab, darauf kannst du dich verlassen!" Der junge Mann war fast den Tränen nahe. "John, das kannst du nicht machen, er ist im zweiten Lehrjahr! Es ist deine Schuld, wenn du ihm so schwierige Aufgaben gibst."

George Hiller, einer der ältesten Mitarbeiter seiner Küchencrew, war auf John zu gegangen.

"Sag mir nicht, was ich kann oder nicht!", schrie der ihn an. "Außerdem heiße ich Maître Jean vor dem Personal. Merk dir das endlich mal." Er drehte sich um und ging in sein kleines Büro, das an die Küche anschloss. Er selbst stand nur noch selten am Herd. Eigentlich nur noch, um neue Rezepte auszuprobieren, was aber auch nicht mehr sehr oft vorkam.

In seinem Büro angekommen ließ er sich auf seinen Sessel fallen und wollte sich eine Zigarette aus der Schachtel angeln, als er merkte, dass sie leer war. "Verdammte Scheisse!", murmelte er.

Er sprang auf und rief in die Küche: "Es soll mir mal eben jemand eine Schachtel Kippen bringen, aber sofort." Dann warf er die Tür wieder zu.

Inzwischen setzte sich John an den PC und klickte auf eine Datei, in der die vorläufige Speisekarte der nächsten Woche gespeichert war. Bevor er weiter daran arbeiten konnte, klopfte es an der Tür.

"Herein!", bellte er. Die Tür öffnete sich und eine der Küchenhilfen kam mit seinen Zigaretten herein. John blickte auf. "Danke, und jetzt an die Arbeit!" Er warf dem Jungen einen Blick zu, den man nicht falsch deuten konnte. Er riss die Packung auf und nahm sich eine Zigarette, steckte sie an und legte die Füße auf den Schreibtisch. Er sah dabei aus einem der kleinen Fenster.

Eines ging hinaus auf den Hof, das andere in seine Küche, damit er einen Überblick über sein Personal hatte. Im Moment sah er, wie seine Köche an den Öfen standen und mit Töpfen und Pfannen hantierten. Er war stolz auf sein Restaurant und auf das, was er geschafft hatte. Das war nicht immer so gewesen. John dachte zurück an seine Jugend. Er hatte schon immer gerne gekocht, aber er wurde von seinen Freunden und sogar von seinem Vater ausgelacht und verspottet. Sein Vater hatte immer zu ihm gesagt: "Männer kochen nicht! Das ist Frauenarbeit. Oder bist du etwa schwul?"

Er lief dann immer rot an vor Wut und Verlegenheit. Er war natürlich nicht schwul, aber bei der Arbeitszeit, die Köche hatten, war es schwer, eine Freundin zu finden und zu halten. Einzig seine Mutter unterstützte ihn dabei, Koch zu werden. Sie hatte ihm auch seine erste Lehrstelle besorgt, wo er aber nicht lange geblieben war. Als er in die Lehre kam, war es noch üblich, dass der Chef einem eine Ohrfeige verpasste, wenn man Mist gebaut hatte. Dann hatte er sich selbst eine Lehrstelle gesucht, bei der er es gut getroffen hatte. Er legte eine erstklassige Prüfung hin und dann erst richtig los. Sein Traum war immer ein eigenes Restaurant gewesen, deswegen nahm er auch einige Strapazen auf sich. Er ging nach London und gab nicht eher nach, bis er seine erste Stelle als fertiger Koch im "Dorchester" hatte. Dort war er dann ein Jahr geblieben. Sein nächstes Ziel war Paris, dort blieb er zwei Jahre lang. Dann legte er noch ein Jahr im Hotel "Sacher" in Wien ein, bevor er sich auf einem Kreuzfahrtschiff einen Job besorgte. Dort verdiente er zwar ein Schweinegeld, aber er blieb trotzdem nur sechs Monate. Der Stress dort ging ihm auf die Nerven. Apropos Stress. Als Koch musste man Nerven wie Drahtseile haben, sonst war man für den Beruf nicht geeignet. In den meisten Küchen herrschte ein, milde gesagt, sehr rauer Ton. Es war keine Seltenheit, dass Töpfe und Teller durch die Gegend flogen. John war früher ein eher ruhiger Typ gewesen, aber der Beruf hatte seine Spuren hinterlassen. Er konnte es nicht durchgehen lassen, wenn seine Leute ihre Arbeit nicht ordentlich machten und Mist bauten. Er drückte die Zigarette aus und machte sich dann an die Arbeit, die Speisekarte zu bearbeiten. In seinem Restaurant wechselte die Speisekarte wöchentlich, da er immer nur das in seiner Küche verarbeitete, was der Markt gerade an frischen Sachen anbot.

Seine Spezialität war ein Fischspieß mit immer wechselnden Fischen. Viele seine Gäste kamen extra deswegen zu ihm. Der Spieß wurde serviert mit einem Wildkräutersalat und einem Morchelrisotto, oder auch mit anderen Pilzen, die eben gerade zu bekommen waren. Dazu gab es noch eine leichte Safransauce. Manchmal musste man das aber auch vorbestellen, wenn man es unbedingt haben wollte. Er schrieb immer noch an der Karte, als es wieder an der Tür klopfte. Was ist denn jetzt schon wieder, dachte er. Er stand auf und öffnete die Tür. Einer der Köche, George Hiller, stand vor ihm.

"Was gibt's?", fragte John herablassend.

"Ich brauche den Schlüssel zum Kühlschrank!", antwortete Hiller.

Besagter Kühlschrank enthielt alles das, was gut und teuer, sehr teuer, war. Angefangen von Foie Gras, Gänsestopfleber, dem guten echten Kaviar, Trüffel bis hin zum Kobe-Rind.

"Wofür brauchst du ihn?", verlangte John zu wissen.

"Ich brauche Stopfleber und Trüffel für unseren Salatteller."

John ging zum Schreibtisch, holte den Schlüssel und warf ihn George zu.

"Vergiss nicht aufzuschreiben, was du davon brauchst, und bring den Schlüssel gleich zurück."

John bestand darauf, dass alles, was aus dem Kühlschrank genommen wurde, vorher und nachher gewogen wurde. Trotz der Tatsache, dass einige seiner Köche schon länger bei ihm arbeiteten, vertraute er keinem von ihnen. Wenn es darum ging, mal eben nebenbei einen Löffel Kaviar zu verputzen, traute er ihnen alles zu. Kurze Zeit später kam George zurück und brachte ihm den Schlüssel zurück. Auch er sah die dunkel gekleidete Gestalt nicht, die die beiden durch das Fenster zum Hof beobachtete.

Viel später, als das Abendgeschäft vorbei war, -eigentlich gab es nur ein Abendgeschäft, da das "White Owl" nur ab 16.30 bis 23 Uhr geöffnet hatte-, saß John wieder an seinem PC. Durch das Fenster, das in die Küche führte, beobachtete er die Putzkolonne, die die Küche wieder auf Vorder- mann brachte.

Er hatte eine Reinigungsfirma damit beauftragt, jeden Tag die Küche von oben bis unten zu reinigen, wenn Feierabend war. Seine Köche waren schon vor knapp einer Stunde gegangen, und die Kellner waren auch schon alle weg. Bis auf die Putzkolonne, die auch bald fertig war, war er allein in seinem Restaurant.

Mit der Karte für die nächste Woche war er auch fertig. Vielleicht mussten noch kleine Änderungen gemacht werden, je nachdem, was er an frischen Lebensmitteln bekommen konnte. Deswegen stand auch immer am Ende der Karte: "Änderungen vorbehalten".

Jetzt aber hatte er eine Datei geöffnet, die nur er öffnen konnte. Es war der Entwurf für sein erstes Kochbuch, das dieses Jahr noch erscheinen sollte. Viel fehlte nicht mehr, das Kapitel mit den Desserts war noch nicht fertig. Es fehlten mindestens noch drei Stück. Was für ihn bedeutete, dass er noch einige Zeit am Herd stehen musste, um drei neue Rezepte zu kreieren. Aber das hatte noch Zeit.

Er war stolz auf das Buch, aber gleichzeitig hatte er auch im Augenblick gewaltigen Ärger mit einem Ex-Mitarbeiter, der ihn beschuldigte, seine Rezepte gestohlen zu haben. Er hatte gerade zwei Anwälte damit beschäftigt, gegen Brandon Miles, so war der Name des Ex-Mitarbeiters, und dessen Anschuldigungen vorzugehen.

Es klopfte an seiner Bürotür. John blickte kurz zur Tür und rief: "Ja, bitte." Die Tür öffnete sich und der Schichtführer der Putzkolonne trat ein. Sein Name war schlicht und einfach Miller, John hatte ihn schon öfters gesehen.

"Ich brauche eine Unterschrift von Ihnen, Sir." Er hielt John ein Klemmbrett unter die Nase.

Ohne großartig hinzuschauen, unterschrieb John. Er kannte Miller gut genug, um zu wissen, dass alles in Ordnung sein würde, was bei anderen Mitarbeitern nicht immer der Fall war.

"Lassen Sie die Hintertür noch offen, wenn Sie gehen!", sagte John und wünschte eine gute Nacht. Miller erwiderte den Gruß und verließ dann das Büro.

"Bis morgen", sagte er noch und schloss die Tür.

John war endlich allein und konnte seine Gedanken auf das Buch konzentrieren. Hier und da machte er sich Notizen, wo er noch einmal etwas ändern wollte, und er vielleicht noch einmal an den Herd musste, um etwas noch einmal zu kochen, was immer mal passieren konnte.

Er war gerade dabei, sich auf einem Zettel zu notieren, welche Dinge er dann noch besorgen musste, als er ein leises Geräusch hörte. Lauschend hob er den Kopf, aber das Geräusch wiederholte sich nicht. Er hob die Schultern und widmete sich wieder seinem PC. In einer Küche gab es immer irgendwelche Geräusche, Kühlschränke, bei denen der Kompressor ansprang oder Ähnliches.

Minutenlang hörte er nichts mehr außer dem Summen seines Computers. Da! Da war es wieder! Das war kein Kühlschrank. Es hörte sich an, als ob jemand eine Pfanne aus einem Regal nehmen würde.

"Verdammt", murmelte er vor sich hin und stand auf, kam hinter seinem Schreibtisch hervor und öffnete die Bürotür. Er blickte sich suchend um, konnte aber nichts sehen. In der Küche brannte nur eine Notbeleuchtung, denn die Putzkolonne hatte die große Beleuchtung hinter sich ausgemacht. John blickte zur Hintertür, die noch offen stand. Er ging hin und schloss sie. Dann drehte er sich um.

"Hallo? Ist da jemand?", rief er in die Küche. Keine Antwort. Er ging um einen der großen Öfen herum und sah in die Spülküche. "Hallo?", rief er noch einmal. "Wollt ihr mich verarschen, oder was?"

Langsam wurde er wütend. Er ging zu einem der großen Kühlräume, die es natürlich hier auch gab, machte Licht und öffnete die Tür. John sah hinein und sah nichts.

Ich werde noch irre hier, dachte er und warf die schwere Tür wieder zu.

Immer noch hörte und sah er nichts. Er wandte sich um und wollte gerade wieder in sein Büro, als er wieder etwas hörte.

"Jetzt reicht es mir aber!", brüllte er. "Wer verdammt ist da?" John blickte sich um und suchte etwas, mit dem er sich eventuell verteidigen konnte. Er griff in ein Regal, holte sich einen Fleischklopfer hervor und schlug damit einmal in seine Handfläche. Dann war da ein Geräusch direkt hinter ihm. John wirbelte herum, kam aber nicht mehr dazu, den Fleischklopfer zu benutzen. Das Letzte, was er sah, waren zwei riesige Fleischspieße, die auf ihn zu kamen.

 

Er hatte ihn schon einige Tage lang beobachtet. Er wollte sicher sein bei dem, was er vorhatte.

Er hasste John Kingley seit dem Tag, seit dem der das "White Owl" eröffnet hatte. Er hasste die Art, wie er mit seinen Mitarbeitern umging. Er hasste das, was John in seinem Restaurant kochte, und vor allem hasste er Johns Erfolg.

Heute Abend sollte es soweit sein. Durch die kleine Einfahrt für die Lieferanten hatte er sich wie die Abende zuvor in den kleinen Innenhof geschlichen und sich unter das Fenster zwischen einige leere Bierfässer geklemmt. Als er die zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er gedacht: Na, wenigstens gibt es ein gutes Bier hier. Die Fässer standen unter einem kleinen Dach in einer Ecke etwas entfernt von dem Fenster zu Johns Büro. Um diese Zeit kam niemand mehr und lieferte etwas. Wenn jemand den Hof betrat, dann nur, um schnell einige Züge an einer Zigarette zu machen, aber auch nur, wenn man sicher sein konnte, dass John nichts mitbekommen würde. Und wenn war es auch nicht weiter schlimm, denn er hatte die Fässer vorsichtig so umgestellt, dass man ihn nicht entdecken konnte.

Zum Glück war es auch nicht kalt, denn es war für September ungewöhnlich mild. Jetzt saß er hinter den Fässern und wartete auf seine Gelegenheit.

Heute musste es im Restaurant wohl einiges zu tun gegeben haben, denn die Putzkolonne, die jeden Abend kam, war heute spät dran. Endlich hörte er sie die Küche verlassen. Er spähte vorsichtig hinter den Fässern hervor, sah zu der Hintertür, und bekam gerade noch mit, wie der letzte der Mitarbeiter die Küche verließ. Er sah auf seine Uhr. Zehn Minuten wollte er noch warten, dann wollte er sich in die Küche schleichen. Langsam und vorsichtig schob er sich hinter den Fässern hervor. Vor Johns Büro blickte er vorsichtig durch das Fenster. Er sah John vor seinem PC sitzen und irgendetwas schreiben. Ein zufriedenes Grinsen huschte über sein Gesicht. Dass die Hintertür aufstand, kam ihm sehr gelegen, denn so kam er ungehindert und vor allem ungehört in die Küche.

Auf leisen Sohlen schlich er weiter, immer einen Blick auf das Büro gerichtet. Er kam über einen kleinen Umweg in die Spülküche und sah sich um, ob er etwas für seinen Plan gebrauchen konnte.

Plötzlich fiel sein Blick auf die Spieße, mit denen die berühmten Fischspieße gemacht wurden. Eine Idee schoss durch seinen Kopf, und sein Mund verzog sich zu einem teuflischen Grinsen.

So leise wie möglich nahm er zwei davon in die Hand, passte aber nicht auf und stieß mit dem Ellenbogen an einen Stapel Pfannen, die zwar gespült, aber noch nicht weggeräumt waren. Er fluchte leise vor sich hin und hielt den Atem an.

Er hörte, wie John rief: "Hallo? Ist da jemand?"

Er verhielt sich immer noch mucksmäuschenstill und wagte kaum zu atmen. Schritte kamen in die Richtung der Spülküche. Leichte Panik ergriff ihn, und er sah sich suchend um. Dann eilte er blitzschnell in die Küche und hockte sich hinter einen der großen Herde. Wieder hörte er John rufen.

Er hörte auch, wie sich die Tür zu einem der Kühlhäuser öffnete, und wie John die Tür wütend zu knallte. Dann hörte er, wie John etwas in die Hand nahm und sich damit in die Hand schlug. Plötzlich kam John mit dem Rücken zu ihm um die Ecke. Das war seine Chance, die er nutzen musste.

So leise wie möglich erhob er sich und schlich in Richtung John, der auf einmal herum wirbelte.

Ohne zu überlegen, hob er blitzschnell beide Hände und stach John die Spieße in beide Augen. John hatte keine Gelegenheit, sich zu wehren, es ging alles zu schnell.

Er hatte so fest zu gestoßen, dass die zwei Spieße am Hinterkopf wieder heraustraten. Er zitterte und spürte den Schweiß, der ihm auf die Stirn getreten war, aber er war überrascht, wie einfach es gewesen war. Er sah auf seine zitternden Hände, die immer noch in Latex-Handschuhen steckten. Dann sah er auf John, der auf dem Boden lag, wo sich eine Blutlache ausbreitete.

Es sah grotesk aus, wie die beiden Spieße aus den Augen ragten, aber es war ihm egal. Zufrieden verließ er die Küche.

 

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Helen Masters gähnte ausgiebig, als sie gegen Mittag aus dem Bett stieg. Auf der Bettkante sitzend reckte und streckte sie sich noch einmal. Einen Moment blieb sie noch sitzen. Dann stand sie auf und ging durch das Zimmer, das sie als Wohn- und Schlafzimmer benutzte. Es gab noch eine kleine Küche und ein kleines Bad mit Waschbecken, Toilette und einer Dusche. Das war alles. Aber sie war froh, dass sie diese Wohnung in London überhaupt bekommen hatte und vor allem nicht zu weit von ihrer Arbeitsstelle entfernt, dem "White Owl", in dem sie seit knapp einem Jahr arbeitete. Sie stellte sich unter die Dusche, bis sie richtig wach war. Es hatte ja eh keinen Sinn, dass sie rumgammelte, denn sie war diese Woche mit einer Küchenhilfe zusammen zuständig, alles für das Abendgeschäft vorzubereiten, das so genannte Mis en Place. Das musste jede Woche ein anderer machen, denn im Abendgeschäft anzufangen, Zwiebeln oder Gemüse zu schnippeln war bei dem Stress unmöglich. John, besser Maitre Jean, war da sehr penibel und achtete sehr darauf, dass alles vorbereitet war, wenn das Abendgeschäft begann. Ihr Dienst begann um vierzehn Uhr, aber dafür hatte sie dann auch früher Feierabend. Nach der Dusche trank sie noch schnell eine Tasse Kaffee, schnappte sich ihre Sachen und machte sich auf den Weg zur U-Bahn. Kochklamotten wie Hose und Jacke, Mütze und Halstuch stellte ihr Arbeitgeber zur Verfügung. Auf dem Bahnsteig herrschte wie immer dichtes Gedränge, und die Bahn würde wieder voll sein. Zum Glück brauche ich nur zwei Stationen fahren, dachte sie, als sie sich in den Waggon drängte. Als sie damals nach London kam, um sich um den Job als Köchin im "White Owl" zu bewerben, hatte sie beim ersten Mal Schweißausbrüche bekommen, als sie sich in die U-Bahn gequetscht hatte. Jetzt aber machte es ihr nicht mehr so viel aus. Ihren letzten Job hatte sie als Köchin bei einer adeligen Familie auf dem Lande gehabt. Dort war sie ein Jahr geblieben, dann hatte sie der Herrin des Hauses das Silbertablett vor die Füße geknallt und ihr gesagt, sie solle sich ihr dämliches Zweieinhalb-Minuten-Ei zum Frühstück selbst kochen und kündigte ihren Job dort.

Ihr großes Glück war gewesen, dass sie die Anzeige vom "White Owl" gelesen hatte und den Job sogar bekommen hatte. An ihrer Haltestelle stieg sie aus der U-Bahn und fuhr an die Oberfläche. Ein paar Meter musste sie noch laufen, dann sah sie schon das "White Owl". Die indische Küchenhilfe stand schon da und wartete auf sie.

"Hallo, Brinda!", grüßte sie. "Warum bist du denn noch nicht drin?"

Brinda sah etwas verwirrt drein. "Ich habe geklopft und gerufen, aber der Chef macht nicht auf.", antwortete sie und sah Helen sorgenvoll an.

"Wie? Er macht nicht auf? Das ist ja was ganz Neues." Sie schob sich an Brinda vorbei und klopfte fest an die Tür. Sie wartete einen Augenblick und versuchte es noch einmal. Sie sah zu Brinda und hob ratlos die Schultern. "Er macht doch immer auf, wenn er weiß, dass einer von uns kommt!", sagte sie. Dann kam ihr eine Idee. Sie holte ihr Handy heraus und klickte sich durch das Telefonbuch. Sie hatte die Nummer von John, so wie alle anderen. Es konnte ja immer mal etwas passieren.

Sie wählte Johns Nummer, aber es sprang nur die Mailbox an. Sie steckte das Handy wieder weg.

Was nun, dachte sie. Sollte sie jemand anderen anrufen? Aber der hatte ja auch keinen Schlüssel, den hatte nur John. Plötzlich meinte sie zu Brinda: "Komm, wir gehen nach hinten und schauen mal nach." Die zwei Frauen schritten die Treppe hinunter, gingen zu der kleinen Einfahrt, durch die gerade mal ein kleiner Lieferwagen passte, und betraten den Hinterhof. Es sah alles normal aus, und die Hintertür war offen. Also musste er doch da sein, dachte Helen. Sie gingen auf die Tür zu und klopften an, aber niemand antwortete. Helen trat einen Schritt in die Küche.

"Hallo?", rief sie. "Hallo, Chef? Sind Sie da?" Einen Schritt nach dem anderen betraten die beiden Frauen die Küche. Brinda sah sich ängstlich um. Sie warf einen Blick in Johns Büro, aber auch da war er nicht. "Chef? Wo sind Sie?" Helen war in die Spülküche gegangen. Sie hatte Brinda aus den Augen verloren, als sie einen markerschütternden Schrei aus der Küche hörte. Schnell drehte sie sich um und lief zu der Stelle, an der Brinda stand und sich die Faust auf den Mund presste.

"Brinda? Was ist denn los? Warum schrei ...", dann sagte sie nichts mehr. Sie folgte Brindas angstvollem Blick und sah, was los war. Dort auf dem Boden, mit zwei Spießen in den Augen, lag in einer Blutlache ihr Chef.

Helen starrte mit weit aufgerissenen Augen auf ihren Chef, der vor ihr in seinem Blut lag. Der Kopf lag zur Seite gedreht, und sie konnten die Spitzen der beiden Spieße sehen, die aus dem Hinterkopf hervortraten. Keine von beiden war in der Lage, sich zu bewegen, bis Brinda sagte: "Ob er noch hier ist?" Helen sah sie verständnislos an. "Wer?", fragte sie. Brinda sah sie an. "Na der, der das getan hat natürlich!" So weit hatte Helen noch gar nicht gedacht. Sie ließ einen ängstlichen Blick durch die Küche streifen. Brinda schlich rückwärts zur Tür, und Helen folgte ihr.

"Was machen wir denn jetzt?", fragte Brinda.

"Na, wir rufen die Polizei, was denn sonst?"

Brinda riss erschrocken die Augen auf. "Nein, keine Polizei! Bitte nicht!" Helen verstand nicht ganz.

"Natürlich müssen wir die Polizei rufen. Was hast du denn gedacht?"

"Nein, keine Polizei!", rief Brinda noch einmal, drehte sich um und rannte panisch davon. Was war das denn jetzt, dachte Helen. Hatte Brinda etwas zu verbergen oder Dreck am Stecken? Sie war ja erst ein halbes Jahr bei ihnen.

Jetzt stand Helen alleine da. Sollte sie auch einfach weglaufen? Aber dann überlegte sie, dass es wohl nicht das Klügste wäre. Endlich entschloss sie sich, etwas zu tun. Sie holte ihr Handy hervor und suchte eine bestimmte Nummer. Sie drückte die Wähltaste und wartete, dass sich jemand meldete.

"Hiller", meldete sich die tiefe Stimme ihres Kollegen.

"Hi, George! Helen hier. Kannst du bitte schnell herkommen? Der Chef ist tot!", haspelte sie, ohne Luft zu holen.

"Wie? Der Chef ist tot? Du spinnst doch!", kam es durch das Handy zurück.

"Nein, ich spinne nicht. Bitte komm, ich habe Angst!" Dann legte sie einfach auf. Sie setzte sich auf eines der Fässer und wartete.

Hiller blickte auf sein Handy und suchte die Nummer von John heraus. Wie auch bei Helen sprang nur die Mailbox an. Er zuckte mit den Schultern. Der Chef tot, die spinnt doch, dachte Hiller.

Er ging in seine kleine Küche und holte sich ein Glas Mineralwasser. Gerade wollte er sich vor das Fernsehen setzen, als ihm der Gedanke durch den Kopf schoss, dass sich Helen sehr komisch angehört hatte. Er kannte Helen eigentlich als vernünftige junge Frau, die normalerweise mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Sie würde nicht so etwas sagen, wenn da nichts daran wäre. Seufzend stellte er das Glas wieder ab und ging in sein Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Ob sie die Polizei schon angerufen hatte? Und was war mit Brinda? Sie hätte doch diese Woche zusammen mit Helen Dienst gehabt! Na egal, er würde es gleich erfahren. Inzwischen war er fertig angezogen. Er schnappte sich seinen Autoschlüssel und verließ seine Wohnung. London war hektisch wie immer, aber er kannte einige Schleichwege, so dauerte es nur fünfzehn Minuten, bis er sein Auto in der Nähe des "White Owl" abstellte und zum Restaurant ging. Wie zuvor Helen und Brinda stieg er erst die Stufen zum Restaurant hinauf und rüttelte an der Tür. Verschlossen. Das war auch zu erwarten. Dann hämmerte er an die Tür und wartete einige Sekunden. Schließlich ging er auch die kleine Einfahrt in den Hinterhof entlang und suchte nach Helen. "Helen?", rief er und lauschte. "Hier!", hörte er sie rufen. Hiller sah sich um und entdeckte sie auf einem der Fässer.

"Was soll das jetzt mit dem Mist, dass der Chef tot ist?", fragte er sichtlich missgelaunt.

"Er liegt in der Küche", antwortete sie.

"Hast du die Polizei angerufen? Und wo ist Brinda? Sollte sie nicht auch hier sein?", fragte er, während er in Richtung der Tür ging.

"Weg", antwortete Helen.

"Weg? Wie weg?", verlangte Hiller zu wissen.

"Als ich sagte, ich wollte die Polizei anrufen, geriet Brinda in Panik und rannte davon."

Hiller sah sie komisch an. "Also hast du die Polizei angerufen?" Helen schüttelte den Kopf. "Noch nicht."

Hiller hatte die Tür erreicht und betrat die Küche. "Wo soll er liegen?" Helen deutete mit dem Kopf zum Ofen.

"Da hinter", meinte sie. Hiller ging um den Herd herum und blieb wie angewurzelt stehen.

"Ach du Scheiße!", meinte er. Er ging noch einen Schritt näher und schaute auf die Leiche.

"Ruf die Polizei! Sofort! Sie wollen sowieso wissen, warum du nicht gleich angerufen hast. Also lass dir was einfallen, wenn sie dich fragen sollten. Außerdem müssen wir herausfinden, was mit Brinda los ist. Es ist besser, dass wir sie vorsichtshalber vorerst nicht erwähnen."

Nach einigem Überlegen hob Hiller den Kopf und meinte: "Bitte warte doch noch einen Moment!"

"Was ist denn?"

"Lass uns erst sehen, ob wir etwas über Brinda im Büro finden. Ihr Verhalten kommt mir doch sehr seltsam vor." George Hiller warf noch einen Blick auf die Leiche und ging ins Büro. Er hoffte, dass John die Personalunterlagen nicht im PC gespeichert hatte, denn er wollte nichts anfassen. Wenn er die Aktenordner anfassen würde, könnte er immer noch sagen, dass er die ab und zu nachgesehen hätte. Dann fiel ihm siedend heiß ein, dass Brinda und Helen zuerst hier gewesen waren, und fragte deshalb: "Habt Ihr irgendwas angefasst, als ihr ihn gefunden habt?"

"Bist du irre? Nein, natürlich nicht!" Hiller nickte. Anscheinend hatte John noch gearbeitet, stellte er fest, als er das Blinken am PC sah. Das bedeutete, dass er ihn nicht heruntergefahren hatte, als er gestört wurde. Auch der Aktenschrank stand offen. Hiller ging hin und nach kurzem Suchen fand er, was er suchte. Helen war hinter ihn getreten und sah, dass Hiller die Personalakten durchblätterte. Endlich fand er, was er gesucht hatte. Er überflog die Seiten, las aber nichts Außergewöhnliches, was die Panikattacke von Brinda begründet hätte.

"Du weiß wohl auch nicht, was mit ihr los war, oder?" Er drehte sich zu Helen um.

Die schüttelte den Kopf. "Nein, nichts. Ich war ganz überrascht davon, und so lange kennen wir sie ja auch noch nicht. Wer weiß, was da los ist."

"Na egal", meinte Hiller. "Die Polizei wird sich schon darum kümmern. Ihren Namen müssen wir den Bullen sowieso sagen. Und jetzt rufen wir die Polizei."

Dass jemand sie belauschte, bekamen sie gar nicht mit.

 

Als er am Abend nach der Tat nach Hause gekommen war, stellte er sich erst einmal unter die Dusche.

Ein zufriedenes Grinsen flog über sein Gesicht. Nach der Dusche trocknete er sich ab, zog sich einen alten Bademantel über, ging in die Küche und holte sich erst einmal ein kühles Bier. Heute würde er bestimmt nicht schlafen können, er war viel zu aufgeregt. Er trank das Bier aus und ging dann aber doch zu Bett. Während er sich hin und her wälzte, kam ihm ein Gedanke. Warum sollte er nicht morgen wieder hinfahren, um zu sehen, was passieren würde? Keiner kannte ihn, und er würde bestimmt nicht auffallen. Mit dem Gedanken schlief er dann doch noch ein.

Am nächsten Tag machte er sich rechtzeitig auf den Weg. Am "White Owl" angekommen suchte er sich einen Parkplatz für seinen Wagen, von dem er aus einen guten Blick auf die Einfahrt hatte. Und wieder war ihm das Glück hold. Er fand einen Platz, von dem er direkt in die Einfahrt sehen konnte. Er war früh dran und machte es sich bequem. Nach knapp einer halben Stunde sah er zwei Frauen in die Einfahrt gehen. Nervös setzte er sich bequemer hin, damit er nur nichts verpassen würde. Einen Augenblick passierte nichts. Dann sah er eine junge Frau panisch aus der Einfahrt laufen. Er grinste.

Aber die andere kam nicht heraus. Er überlegte, ob er sich an die Hintertür schleichen sollte, aber er traute sich nicht so richtig. Jeden Moment könnten die Bullen auftauchen. Weit gefehlt. Nach gut fünfzehn Minuten kam ein jemand um die Ecke. Er kannte ihn vom Sehen. Es war einer der anderen Köche. Offenbar hatte die andere Frau Hilfe gerufen. Jetzt wurde er neugierig. Warum hatte sie nicht die Bullen angerufen? Vorsichtig verließ er sein Auto. Er schlich die Einfahrt entlang und hörte Stimmen. Noch war er zu weit weg, um etwas verstehen zu können. Trotz seiner Neugier vergaß er die Vorsicht nicht. Bis zur Hintertür ging er noch, aber weiter nicht. Jetzt bekam er einige Wortfetzen mit. Es ging wohl um die junge Frau, die er aus der Einfahrt hatte rennen sehen. Zu gerne wäre er ja noch einmal in die Küche geschlichen, um sich sein Werk noch einmal anzusehen, aber das wäre zu gefährlich gewesen.

Die Beiden im Büro konnten jeden Moment die Polizei anrufen. Er schlich zurück zu seinem Wagen und wartete darauf, dass die Polizei eintreffen würde. Dann aber, überlegte er, was sollte er hier, wenn die Polizei eintreffen würde? Dann würde er erst recht nichts mitbekommen. Die würden ihn bestimmt nicht hereinlassen. Er würde doch besser nach Hause fahren. Aber vorher griff er in die Innentasche seiner Jacke und holte einen Zettel hervor. Er faltete ihn auseinander und zeichnete in aller Ruhe hinter dem Namen John Kingley ein kleines Grab mit einem Kreuz darauf.

 

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3

 

Mrs. West, Debbies Mutter, saß heulend auf dem letzten Stuhl, der noch in Debbies Wohnung stand.

Zwischen den Schluchzern versuchte sie immer wieder zu reden. Dann bekam sie auch noch einen Schluckauf. "Warum - hicks - tust du - hicks - mir das an?", stieß sie mühsam hervor.

Debbie sah ihre Mutter an. "Das müsstest du doch eigentlich wissen, oder?"

"Ich meine es doch nur gut mit dir!"

"Mutter, das mag ja sein, aber ich ertrage es nicht mehr, wie du versuchst, über mein Leben zu bestimmen. Dass du meinen Beruf nicht magst, könnte ich ja noch verstehen, aber dass du mich immer mit unmöglichen Männern verkuppeln willst, das geht zu weit."

"Aber ..." , begann ihre Mutter.

"Nichts aber. Ich will das einfach nicht mehr, und fertig. Deswegen habe ich mir eine Wohnung weit weg von euch gesucht. Ich werde euch immer und gerne besuchen kommen, aber nicht jeden Tag. Und unterstehe dich, wenn ich mal zu Besuch komme, irgendeinen Mann her zu bestellen, sonst komme ich gar nicht mehr."

Ihre Mutter sah sie erschrocken an. Debbie tat es sehr leid, so mit ihrer Mutter zu sprechen, aber es ging nicht anders. Ihre Mutter hatte einen Herzfehler und würde demnächst einen Bypass bekommen, aber die Ärzte hatten ihr und ihrem Vater versichert, dass es nicht so ernst wäre. Nachdem ihre Mutter als letztes einen Besitzer mehrerer Sonnenstudios angeschleppt hatte, hatte sich Debbie dazu entschlossen, sich eine andere Wohnung zu suchen. Ihr Chef, Chief Inspector Kevin Andrews und ihr Kollege, Sergeant Neil Stanton, hatten sie bei der Wohnungssuche tatkräftig unterstützt. Bei dem Gedanken an Neil, musste Debbie lächeln. Eine Zeitlang hatte ihre Mutter sogar versucht, sie mit Neil zu verkuppeln, aber als sie ihr gesagt hatte, dass Neil mit seinem Freund zusammen lebte, fiel ihrer Mutter die Kinnlade herunter. Das Einzige, was sie sagte, war: "Mit einem Mann? Das sieht man ihm aber gar nicht an."

Neil war es auch, der ihr dann letztendlich zu ihrer neuen Wohnung verholfen hatte. Eines Tages war er zur Arbeit gekommen und hatte sie gefragt, ob sie auch bereit wäre, sich um einen kleinen Garten zu kümmern, und natürlich war sie einverstanden. Zu Hause hatte sie sich auch zusammen mit ihren Eltern um den Garten gekümmert. Das würde für sie also kein großes Problem werden.

Neil hatte sie also mit Mrs. Elsa Winding bekannt gemacht. Debbie und Mrs. Winding hatten sich lange unterhalten, und als sie Debbie den Garten zeigte, wusste Debbie, dass sie die Wohnung gerne hätte. Der Garten war nicht groß, aber sehr hübsch. Es würde ihr nicht viel Arbeit machen, wenn sie Mrs. Winding dabei helfen würde. Auch Mrs. Winding gefiel Debbie, und so wurde dann eine Woche später der Mietvertrag unterschrieben. Viel zu renovieren war in der Wohnung nicht, außer ein paar neuen Tapeten und hier und da ein wenig Farbe, das war alles. Allerdings schien Mrs. Winding ein Geheimnis zu haben. Manchmal kam sie ihr nervös vor, und einmal hatte Debbie den Verdacht gehabt, dass sie geweint hatte. Sie würde schon noch dahinter kommen.

Ihr Vater riss sie aus ihren Gedanken. "Bist du soweit?" Er hatte den letzten Karton in seinen Wagen geladen, in dem sich die Sachen von Debbies Kater befanden. Seltsamerweise war der in dem ganzen Umzugstrubel sehr ruhig geblieben. Anscheinend war es ihm egal, wo sein Dosenöffner wohnte. Hauptsache er bekam regelmäßig sein Futter serviert.

"Ja, Dad, ich komme gleich." Sie sah sich noch einmal um. Tja, dachte sie, das war's dann wohl. Auf in ein neues Leben. Na ja, nicht ganz neu, aber ein neuer Abschnitt. Ihre Mutter brach erneut in Tränen aus, aber Debbie musste hart bleiben.

"Nun ist es aber gut, Mutter. Ich komme doch bald wieder zum Essen, und zwischendurch auch mal."

Sie umarmte ihre Mutter, schnappte sich den Transportbehälter, in dem ihr Kater sich zusammen- gerollt hatte. Er war die Ruhe selbst. Dann ging sie hinaus zu ihrem Vater, der schon im Wagen auf sie wartete. Debbie stellte den Behälter auf den Rücksitz und setzte sich neben ihren Vater.

"War es schlimm?", fragte er. Debbie schüttelte den Kopf.

"Nicht so sehr. Ich habe zwar immer noch ein kleines bisschen ein schlechtes Gewissen Mutter gegenüber, aber das wird vergehen.", antwortete sie.

"Du musst kein schlechtes Gewissen haben. Mir tut es auch leid, dass du bei uns ausziehst, aber ich denke mal, es musste sein. Deine Mutter hat es wirklich übertrieben."

Debbie lächelte ihren Vater an, aber sie antwortete ihm nicht. Hinten auf der Rückbank miaute ihr Kater. Eine halbe Stunde später parkte ihr Vater vor dem Haus, in dem ihre neue Wohnung lag.

Sie holte den Kater von der Rückbank, und ihr Vater den Karton aus dem Kofferraum. Sie schloss die Haustür auf, wandte sich nach links und stand vor ihrer Wohnung. Gegenüber öffnete sich die Tür, und Mrs. Winding kam ihr mit einem Kuchen in der Hand entgegen.

"Ich freue mich, mein Kind, dass Sie heute einziehen. Ein kleiner Willkommensgruß von mir." Damit drückte sie ihr den Kuchen in die Hand. Debbies Vater kam mit dem Karton durch die Tür.

"Oh, Mr. West. Schön, dass Sie Ihre Tochter gebracht haben. Dann können Sie gleich die neue Wohnung mit dem Kuchen und einer Tasse Tee einweihen."

"Das ist aber lieb von Ihnen. Kommen Sie doch mit rein.", antwortete Debbie und hielt die Tür auf, die sie inzwischen aufgeschlossen hatte. Mrs. Winding zögerte ein wenig. "Ich möchte aber nicht stören!"

"Sie stören nicht!", gab Debbies Vater zurück und schob sie durch die Tür.

"Ach, das ist aber schön geworden!", begeisterte sich Mrs. Winding, als sie im Wohnzimmer stand.

Debbie hatte sich zum größten Teil neue Möbel gekauft, aber auch einiges aus ihrer alten Wohnung mitgenommen. Die meisten ihrer Sachen hatte sie schon nach und nach eingeräumt, so brauchte sie nicht lange suchen. Schnell war der Tisch gedeckt, und Debbie setzte das Wasser für den Tee auf. Gerade holte sie die Teekanne aus dem Schrank, als es plötzlich klingelte. Sie hielt inne.

"Wer kann das denn sein? Es weiß doch niemand, dass ich heute hier einziehe."

Debbie ging zur Tür und öffnete. Das erste, was sie sah, war ein riesengroßer Farn, dann schielten Neil und Colin dahinter hervor. "Herzlichen Glückwunsch zur neuen Wohnung!", sagten sie gleichzeitig. Debbie lachte.

"Woher wusstet ihr, dass ich heute hier einziehe?", fragte sie erstaunt und öffnete die Tür, so weit es ging.

"Ach, du hast neulich eine Bemerkung fallen gelassen, das habe ich mir gemerkt. Und wo soll das jetzt hin? Es wird langsam schwer." Debbie sah sich um. "Stell ihn erst einmal vor den Kamin, ich suche dann in Ruhe einen Platz. Setzt euch, ich wollte gerade Tee machen."

Neil und Colin begrüßten Mrs. Winding und Debbies Vater. Sie kannten sich schon, da Neil und Colin beim Umzug und beim Renovieren geholfen hatten. "Kommt der Chef auch noch?", fragte Neil und biss in ein Stück Kuchen.

"Ich glaube kaum. Der war doch gestern auf dieser Junggesellenabschiedsparty." Debbie grinste.

"Kollege MacDuncan heiratet doch." Neil nickte. "Stimmt, du hast Recht. Dann wird er wohl noch im Bett liegen." Debbie sah zu ihrem Kollegen und zu Colin. Die beiden passten gut zusammen, dachte sie. Neil, Mitte zwanzig, hatte es schon weit gebracht bei der Polizei. Aber eigentlich hätte er auch Model werden können. Neil war groß, blond, hatte breite Schultern und braune Augen. Colin war das Gegenteil. Er sah auch gut aus, aber er hatte dunkelbraunes Haar und die blauen Augen, die eigentlich blonde Menschen manchmal hatten. Colin war Augenarzt. Die Beiden wohnten schon fast drei Jahre zusammen und wollten vielleicht einmal heiraten, hatte ihr Neil verraten. Aber das war noch Zukunftsmusik. Debbies Kater, der in der Zwischenzeit die Wohnung erkundet hatte, saß vor dem großen Farn und beäugte ihn von allen Seiten.

"Ich warne dich!", meinte Debbie. "Wehe dir, du krümmst ihm ein Blättchen, dann kommst du ins Tierheim!" Der Kater drehte sein Kopf und sah Debbie aus seinen unergründlichen Augen an, schlich dann zu einem Sessel und rollte sich zusammen. Er hatte wohl begriffen, dass das nichts zum Fressen war.

Alle am Tisch lachten. Es war eine lustige Teerunde. Nach einer Stunde löste sich die kleine Gesellschaft auf, und Debbie brachte alle zur Tür. Ihrem Vater drückte sie einen Kuss auf die Wange und gab Grüße an ihre Mutter mit. Mrs. Winding sagte: "Wenn Sie etwas brauchen, dann klingeln Sie einfach bei mir." Neil und Colin umarmten sie herzlich, und sie bedankte sich nochmal für die Grünpflanze. Als alle gegangen waren, nahm sie den Kater hoch, setzte sich in den Sessel und legte den Kater auf ihren Schoß. "Endlich alleine!", sagte sie zu ihrem Kater. "Ich hoffe, es wird dir hier gefallen. Wenn ich nicht da bin, wird sich Mrs. Winding um dich kümmern. So als ob der Kater alles verstanden hätte, fing er laut zu schnurren an. Dann klingelte ihr Handy.

Neil und Colin waren auf dem Weg nach Hause. Colin besaß eine große Eigentumswohnung fast im Herzen von London, in der Warwick Road. Er hatte sie von seinen Eltern geschenkt bekommen, als er seinen Doktor gemacht hatte. Sie waren nicht gerade arm. Ihnen gehörten einige Häuser und Grundstücke in London. Colins Vater besaß mehrere Unternehmen, die Verbandsstoffe, Pflaster, Mullbinden und Kompressen herstellten, und alles weitere, was in Krankenhäusern und bei Ärzten gebraucht wurde. Krank wurden die Leute immer, und das Geschäft florierte. Dass ihr Sohn schwul war und mit Neil zusammen lebte, wussten sie und hatten keine Probleme damit. Neil war immer gerne gesehen bei ihnen. Sie hatten sich kennengelernt, als Neil wegen einer Entzündung am Auge bei ihm gewesen war. Es hatte gleich gefunkt zwischen ihnen, und gut ein halbes Jahr später waren sie zusammen gezogen. Als sich herausstellte, dass Neils Chef Colin von früher kannte, war Neil zwar sehr überrascht, aber er nahm es locker. Während Colin so seinen Gedanken nachhing, waren sie zu Hause angekommen. Colin fuhr in die Tiefgarage, die zu dem Haus gehörte. Sie stiegen aus und fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben. Neil schloss die Tür auf, und sie traten in ihre Wohnung.

"Debbies neue Wohnung ist schön, findest du nicht?", fragte Neil.

"Doch ja, sie ist sehr hübsch geworden. Einen Drink?"

Neil nickte, ging in das große Wohnzimmer und lümmelte sich auf das Sofa. Kurze Zeit später kam Colin mit zwei Gläsern zurück, gefüllt mit Southern Comfort, einer Scheibe Limette, Eis und aufgefüllt mit Ginger Ale. Beide sagten sie einen Moment lang gar nichts. Das war bei ihnen nicht unüblich.

"Gehen wir essen oder kochen wir selbst?", fragte Colin nach einigen Minuten.

Colin war ein guter Koch, und er nutzte jede Gelegenheit, die große Küche mit den vielen Geräten zu benutzen.

Neil war froh darüber, er konnte gar nicht kochen. Er hatte zwar einiges von Colin gelernt, aber so gut wie Colin bekam er das Essen nie hin.

Neil sah hinüber zu Colin, der ihm gegenüber saß. Er hatte großes Glück gehabt, Colin zu treffen.

Neil hatte es nicht leicht gehabt in seiner Jugend und wäre fast abgerutscht, wenn ihm nicht einige Leute, vor allem sein Chef Kevin Andrews, geholfen und sich seiner angenommen hätten. Seine Mutter saß immer noch im Knast, aber er hatte mit ihr und auch mit seinem Bruder keinen Kontakt mehr. Er hatte mit Colin einen netten und guten Freundeskreis gefunden. Von einem ihrer Freunde hatten sie auch den Tipp für Debbies neue Wohnung bekommen.

Gerade wollte Neil antworten, ob sie sich nicht etwas bestellen sollten, als sein Handy klingelte. Mit einem Blick auf das Display wusste Neil, dass der Rest des Tages gelaufen war.