Nur seinetwegen erzähle ich sie.

Lucia Heilman

Duschka, dem Flachländer aus Berlin, war der Drang nach oben, ins Gebirge, die längste Zeit

In Wien, ein halbes Jahr später, wird ihn Rudolf Kraus in die Freundesgruppe eingeführt haben, die sich regelmäßig traf, um über Gott und die Welt zu diskutieren. Die letzten Tage der Menschheit und die Russische Revolution, der deutsche Expressionismus und das Rote Wien, die gesunde Ernährung und der gläserne Mensch, die freie Liebe und der technische Fortschritt, es ging wild durcheinander. Gut möglich, daß man sich bei Schlechtwetter oder in der kalten Jahreszeit bald schon in der Brigittenau traf, in einer engen ärmlichen Wohnung in der Pappenheimgasse 6, die sich die schwarzhaarige, etwas füllige Regina Steinig mit ihrem Vater Josef Treister teilte, einem ehemaligen Gutsbesitzer aus einem Dorf nahe Trembowla, rund hundertsechzig

Je älter er wurde, um so häufiger suchte Josef Treister in der Religion Trost für die Widrigkeiten des Daseins. Seine Frau Anna war schon 1921 verstorben, an einer durch Myome verursachten Gebärmutterblutung, Arnold führte mit einem Kompagnon eine gutgehende Apotheke in der Innenstadt, und von Julian ist kaum mehr bekannt, als daß er wegen betrügerischen Kartenspiels zur Fahndung ausgeschrieben wurde und deshalb Hals über Kopf ins Ausland floh. Regina erfuhr als einzige der Familie, und auf Umwegen, daß ihr jüngerer Bruder nach mehreren Zwischenstationen in Lille ansässig geworden war, wo er zu Geld, Ansehen und offenbar auch einer Familie kam. Seine Freundin, die er in Wien zurückgelassen hatte, brachte bald nach Julians überstürzter Abreise ein Mädchen zur Welt, und Regina übernahm es, sich um die junge Frau und deren Kind zu kümmern, so wie sie auch nicht

 

Regina bildete das Gravitationszentrum der Gruppe, wegen ihres geselligen Naturells und weil sie die Gabe besaß, das Vertrauen wildfremder Menschen im Handumdrehen zu gewinnen und diese miteinander anzufreunden. Sie war Doktor der Chemie, arbeitslos wie die meisten in der Runde und offiziell immer noch mit dem Juristen Leon Steinig verheiratet, der ebenfalls aus Trembowla stammte. Dort hatten sie sich, Regina als Vierzehnjährige, miteinander verlobt, ehe sie durch die Kriegsereignisse getrennt wurden. Anzunehmen, daß Steinig als Einjährig-Freiwilliger seinen Militärdienst leistete und kurz vor oder nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie in Wien eintraf. Die Ehe, die sie bald darauf schlossen, hielt nur wenige Jahre.

Leise Ahnung dessen, was sie auseinanderbrachte, das tragische Schicksal ihres Kindes, mit dem

Angenommen, die junge Frau war aus Not auf seine Unterhaltszahlungen angewiesen und fand es außerdem richtig, daß er für sein schuldhaftes Verhalten büßte, das würde erklären, wieso sie erst viel

Den Familiennamen Steinig führte Regina weiterhin, sei es, weil sie nicht das Geld hatte, ihre Personaldokumente umschreiben zu lassen, oder weil sie andernfalls der österreichischen Staatsbürgerschaft verlustig gegangen wäre.

 

Der Freundeskreis also, halb pazifistisch, halb kommunistisch gesinnt und großteils ohne Bedürfnis, sich einer Partei anzuschließen. Während Reginas Vater in der Kammer nebenan am Bettrand saß und in der Bibel las, waren sie um den Küchentisch versammelt, in der Mitte eine Schüssel, jeder erhielt von der Gastgeberin einen Schlag Maisgrieß, der sättigte und billig zu haben war. Irgendwann war, wie schon erwähnt, der magere, drahtige Reinhold Duschka hinzugekommen, scharfgeschnittene Züge, runde Brillengläser auf der kräftigen Nase,

Im selben Jahr, am fünfundzwanzigsten Juli, brachte Regina ein Mädchen zur Welt, dem sie den Namen Lucia gab. Rudolf Kraus war der Vater,

Das Beziehungsgeflecht um ihre Mutter entwirrte sich jeden Sonntagmorgen für einige Stunden: Während Rudi Kraus und Reinhold Duschka gemeinsam eine Bergtour unternahmen, brachen sie zu dritt zu Wanderungen in den Wienerwald auf, Regina, Lucia und der fade Fritz Hildebrandt.

 

Inzwischen hatte auch Rudi Kraus Arbeit gefunden, als Hilfsmonteur bei Siemens-Schuckert, belegte als Werkstudent an der Universität das Fach Mathematik und beendete das Studium 1936 mit dem Doktorat. Lucias knappe Erinnerung, daß sie bei der Promotionsfeier dabei war. Festakt mit Talaren und Quastenhüten, unbeholfen feurigen oder routinierten Ansprachen, nichts davon ist ihr im Gedächtnis geblieben.

Zweite und wesentlich schärfere Erinnerung, an die Puppe Susi, die er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, der Rumpf aus Sacktuch und Sägespänen, darauf ein Porzellankopf, der irgendwann zerbrach und von der Mutter repariert wurde, nur daß sich

Dritte Erinnerung, an den Wunsch ihrer Mutter, sie Gina zu nennen, was ihr jedoch nicht über die Lippen kam: Mutti!

Die nächste, daß sie dem Rudi Spiegeleier machen durf‌te, sechs in die Pfanne geschlagen, er verschlang sie auf einen Sitz.

Fünf‌te Erinnerung, an Rudis nette Freundin Piroska Szabó, die Zahnärztin war, Lucia hatte eine Fehlstellung des Unterkiefers, und Piroska hat sie gratis oder zu einem Vorzugshonorar behoben.

Sechstens, das überraschte Aufblicken der Lehrerin am ersten Schultag, weil die Nachnamen von Mutter und Tochter – Steinig, Treister – nicht übereinstimmten und Lucia auf die Frage nach dem ihres Vaters zur Antwort gab, was ihr die Mutter eingeschärft hatte und so auch in der Geburtsurkunde stand: Ist unbekannt.

Siebtes Andenken, an die Feiertage bei der gütigen Großmutter in der Engerthstraße, die brennenden Christbaumkerzen an Heiligabend, ein mit Zucker bestreutes Ei am Ostersonntag.

Weitere Erinnerung, an ihre Freundin Erna Dankner in der Wohnung im Erdgeschoß, es gibt ein Foto, auf dem sie gemeinsam vor einem Bretterzaun auf einer Decke sitzen, mit Ball, Luftballon

Noch ein Bild aus der Kindheit, wie Lucia an der Hand ihres Großvaters am Donaukanal spazierengeht, Schabbes oder ein hoher Feiertag ist, und die anderen Passanten sind festlich gekleidet, so daß sie sich in ihrem grauen Kittel und den geflickten Strümpfen zum ersten Mal schäbig vorkommt.

Nicht zu vergessen die Zusammenkünfte in Reinhold Duschkas Sommerhaus, Lucia langweilte sich als einziges Kind unter lauter Erwachsenen oder spitzte die Ohren, wenn von Liebschaften und Zerwürfnissen die Rede war, und Reinholds Freundin kochte Erbsen mit Reis und exotischen Gewürzen.

 

Im Jahr 1937 übersiedelten Regina und sie, und zu Lucias Leidwesen auch Fritz Hildebrandt, in eine größere Wohnung im Neunten Bezirk, Berggasse 29, Hinterhaus, 4. Stock. Nun gab es sogar ein Dienstmädchen, das für Lucia kochte, wenn sie zu Mittag aus der Schule kam, und mit ihr bei Schönwetter in den Schlickpark ging, der nur einen Steinwurf weit entfernt war. Große Aufregung, weil sie