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INGRID GERSTBACH

DEM

KUNDEN

VERPFLICHTET

Mit Empathie und Kreativität
Innovationen schaffen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-867-2

Lektorat: Anke Schild, Hamburg

© 2018 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-Book basiert auf dem 2018 erschienenen Buchtitel "Dem Kunden verpflichtet" von Ingrid Gerstbach, © 2018 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

www.gabal-verlag.de

Inhalt

Vorwort

1. DIE AUSGANGSLAGE

»Die Welt ist kompliziert geworden«

Das Ergebnis dieser Komplexität

2. WOHIN SOLL ES GEHEN?

Unternehmen müssen sich ändern

Was ist Empathie?

Was ist Kreativität?

Was ist Innovation?

Wie werden Unternehmen innovativ?

3. DIE ANTWORT: DESIGN THINKING

Was ist Design Thinking?

Kundenverhalten beobachten

Die wahren Bedürfnisse der Menschen finden

Neue Ideen entwickeln

Eine Vision schaffen

4. DIE TOOLS: Methoden mit dem speziellen Fokus auf Kreativität und Empathie

Visualisieren durch Prototyping

Insight-Statements

Reframing

Szenarioplanung

Extreme User

Erstellen einer Roadmap für Produkte

Bodystorming

Use Case

Concept-Map

Cultural Probes

Contextual Inquiry

Synthese

Menschen skizzieren

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Die Autorin

Vorwort

Wann immer ich den Begriff »Kreativbranche« höre, bin ich überrascht. Gibt es denn wirklich so etwas wie »unkreative« Unternehmen oder Branchen? Wenn ja, wie haben sie es bis dato geschafft zu überleben? Müssten sie nicht vielmehr im Museum neben den Dinosauriern stehen? Die Welt verändert sich so rasant, dass Unternehmen, die nicht kreativ sind, bereits von Anfang an zum Tode verurteilt sind.

»Innovieren oder sterben« ist nicht nur ein Slogan, sondern die brutale Wahrheit. Kreativität wird zum wichtigsten Wettbewerbsvorteil, den ein Unternehmen haben kann. Unternehmen müssen immer schneller und immer früher mit neuen Ideen und neuem Denken aufwarten. Aber wir haben ein massives Problem: Denn es herrscht nach wie vor die Meinung, dass der kreative Künstler aus einem anderen Stoff geschnitten ist als der normale Mensch. Kreativität wird als etwas Geheimnisvolles gesehen, das schwer zu fassen und nicht erlernbar ist.

Dabei ist Kreativität keine hohe Kunst. Vielmehr geht es darum, dass die Menschen sich wieder zutrauen, ihre eigene Vorstellungskraft zu nutzen. Vielleicht kann nicht jeder Michael Jackson oder Mozart sein, aber jeder kann singen. Wir alle werden kreativ geboren, aber wir verlernen es sehr früh. Dort, wo wir lesen und schreiben lernen, lernen wir nichts weiter als Konformität.

Junge Menschen sprudeln vor Ideen. Aber sobald sie zur Schule gehen, verlieren sie die Freiheit, Dinge zu erkunden, etwas zu riskieren und zu experimentieren. Wir verbringen unsere Kindheit damit, künstliche Fähigkeiten aufzubauen, damit wir zumeist unsinnige Prüfungen bestehen – nicht nur in der Schule, auch im Arbeitsleben. Wir lernen, den Menschen das zu geben, wovon wir glauben, dass sie es von uns erwarten. Wir verbringen unsere Tage in Meetings und reden übers Querdenken und Innovieren. Aber selten machen wir das dann auch tatsächlich.

Ein Unternehmen als ein System, das durch eine routinemäßige Abfolge von Tätigkeiten gekennzeichnet ist, arbeitet gut, wenn es darum geht, in Fabriken einheitliche Objekte zu produzieren. Aber in einer Welt, in der Unternehmen nur existieren, wenn sie von Suchmaschinen gefunden werden, funktioniert dieses System einfach nicht.

Ein Grund dafür, dass im Silicon Valley die wirklich disruptiven Innovationen stattfinden, liegt darin, dass dort vor allem Menschen arbeiten, die nicht systemkonform sind. Mit der Respektlosigkeit der Jugend, die immer noch in ihnen steckt, fordern sie bestehende Strukturen heraus, gehen Risiken ein und kümmern sich nicht darum, was andere Leute denken. Die Welt von heute braucht mehr von diesen Regelbrechern.

Unternehmen wachsen und innovieren also, wenn sie eine bestimmte Fähigkeit von Menschen anzapfen, die jeder von Natur aus mitbringt – die Fähigkeit, kreativ zu sein. Und die Fähigkeit, sich mit anderen Menschen zu verbinden. Empathie bildet in unserer Welt voller Kompliziertheit und Abstraktionen jedoch so etwas wie einen Gegenentwurf.

Empathie ist aber kein neues Phänomen. Der Tante-Emma-Laden hat es noch geschafft, eine persönliche Beziehung zum Kunden aufzubauen, der Supermarkt hat dies verlernt. Stattdessen wird auf Umsätze und Daten geschaut. Es ist oft nicht möglich, Kunden direkt nach ihren Wünschen und Bedürfnissen zu befragen. Um weiter zu wachsen und zu innovieren, müssen Unternehmen aus ihrer Komfortzone hinaustreten und in die Schuhe der (potenziellen) Kunden hineinschlüpfen. Dann eröffnen sie sich neue erfolgreiche Wachstumsmöglichkeiten.

Ich bin der Überzeugung, dass wir gerade am Anfang einer neuen Epoche stehen: des kreativen und empathischen Zeitalters der Menschheit. Wir alle wissen, wie dringend es ein Umdenken braucht – jetzt mehr denn je.

Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten.

Ingrid Gerstbach

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»Die Welt ist kompliziert geworden«

Unternehmen funktionieren heutzutage grundlegend anders als noch vor einigen Jahren. Es hat sich viel verändert, Technologien und Menschen haben sich weiterentwickelt. Denken Sie etwa an die 1990er-Jahre, in denen Sie nur entweder telefonieren oder im Internet surfen konnten. Sie konnten entweder mit Ihrem Kunden sprechen oder ihm eine E-Mail senden. Heutzutage ist es ganz selbstverständlich, beides gleichzeitig auf demselben Gerät zu tun. Das ist nur eines von unzähligen Beispielen. Das Problem aber generell ist, dass wir nicht wissen, wie wir mit der neuen Komplexität, die im Zuge der Veränderungen als normaler Nebeneffekt auftritt, fertigwerden können.

Natürlich gab es auch in der Vergangenheit bereits mehr oder weniger komplexe Systeme. Das Geschäftsleben ist von jeher voller Überraschungen, unerwarteter Ereignisse und unvorhersehbarer Zwischenfälle: eine Maschine, die aus unerfindlichen Gründen ausgefallen ist, eine Gesetzesänderung oder auch die unerwartete Nachfrage nach bestimmten Produkten oder Leistungen. Mir geht es aber um die Komplexität in Unternehmen, die sich deutlich verändert hat.

Vor allem in großen Systemen ist fast alles, womit wir im Alltag zu tun haben, sehr kompliziert geworden: Produkte, die wir entwerfen, Jobs, die wir erledigen, und auch Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten. Stärkster Treiber dieses Anstiegs ist sicherlich die informationstechnologische Revolution der letzten Jahrzehnte. Denn Systeme, die früher noch getrennt voneinander gearbeitet haben, werden jetzt miteinander verbunden und dadurch voneinander abhängig. Sie sind per Definition schon komplexer geworden.

Komplexe Unternehmen sind viel schwerer zu managen, als wenn nur einzelne Probleme komplizierter Natur sind. Denn je komplexer etwas ist, desto diffiziler wird es, Vorhersagen über einen möglichen Ausgang zu treffen – komplexe Systeme reagieren einfach unerwartet und unvorhersehbar. Komplexe Unternehmen sind auch viel schwieriger zu verstehen und zu durchdringen, weil vieles jenseits der menschlichen kognitiven Grenzen liegt. Auch ist das Verhalten eines komplexen Systems in der Vergangenheit ein anderes, als es zukünftig sein wird.

Erschwerend kommt hinzu, dass wir zwar wissen, wie komplex die Strukturen sind und dass Unternehmen etwas ändern müssen, aber dieses Wissen allein reicht nun mal nicht. Fraglich ist zudem, ob es bereits das wirtschaftliche Denken der Manager von heute durchdrungen hat. Denn es ist letztlich dieses Denken, das den Einzug in die Schulen hält, die wiederum die Manager von morgen ausbilden.

Aber sehen wir uns einmal genauer an, wie sich diese neue Komplexität zeigt und wie die daraus entstandenen Probleme gelöst werden können.

Kompliziert versus komplex

Die Adjektive »kompliziert« und »komplex« werden oft mehr oder weniger synonym verwendet. Es ist ein Leichtes, das Komplizierte mit dem Komplexen zu verwechseln. Während im alltäglichen Sprachgebrauch die Unterscheidung nicht so streng genommen wird, ist es aber Pflicht für Manager, den Unterschied zu kennen. Denn es gibt ein böses Erwachen, wenn Sie ein komplexes Unternehmen managen, als wäre es komplizierter Natur!

Bevor wir ins Detail gehen, möchte ich eine kurze und vereinfachte Unterteilung der Begrifflichkeiten vorstellen.

Das einfache System

Einfache Systeme enthalten nur wenige Wechselwirkungen und sind äußerst vorhersehbar. Nehmen Sie zum Beispiel das Scheinwerferlicht: Es ein- und auszuschalten ist die gleiche Aktion, die jedes Mal zum gleichen Ergebnis führt.

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Die Merkmale von einfachen Systemen sind:

Es gibt nur eine kleine Anzahl von Elementen.

Es gibt wenig bis gar keine Wechselwirkung zwischen den Elementen.

Sofern vorhanden, sind die Wechselwirkungen zwischen Elementen sehr gut organisiert.

Die Attribute der Elemente sind vordefiniert.

Gut definierte Vorgaben regeln das Verhalten.

Das System entwickelt sich im Laufe der Zeit nicht weiter.

Eventuelle Subsysteme verfolgen keine eigenen Ziele.

Das System ist nicht von Verhaltensänderungen seiner Mitglieder betroffen.

Das System ist für die Umwelt geschlossen.

Das komplizierte System

Komplizierte Systeme hingegen bestehen aus vielen unterschiedlichen Elementen. Diese arbeiten auf nachvollziehbare Art und Weise. Der Motor eines Autos ist beispielsweise ein kompliziertes System. Wenn er nicht funktioniert, gibt es viele mögliche Ursachen. Normalerweise liegt aber ein bestimmter, erkennbarer und behebbarer Grund dafür vor, warum der Motor nicht anspringt. Es ist durchaus möglich, genaue Vorhersagen darüber zu treffen, wie sich das komplizierte System verhalten wird. Oder ein anderes Beispiel: Das Bauen eines Flugzeugs ist kompliziert, folgt aber vorhersehbaren Schritten.

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Die Merkmale komplizierter Systeme:

Das System wird von zwei oder mehr Faktoren beeinflusst.

Diese Faktoren sind bekannt und beherrschbar.

Die Faktoren stehen nicht in Wechselwirkung zueinander.

Das komplexe System

Im Gegensatz dazu sind komplexe Systeme durch verwobene Elemente charakterisiert, die für sich betrachtet auf strukturierte Weise funktionieren können, die sich jedoch durch Interaktion untereinander ständig gegenseitig beeinflussen. Drei Eigenschaften bestimmen die Komplexität einer Umgebung:

1.Vielfalt: Hier geht es um die Anzahl der möglicherweise interagierenden Elemente.

2.Interdependenz: Dieser Terminus zielt auf die Frage, welche Beziehung zwischen den einzelnen Elementen besteht.

3.Diversität: Mit diesem Begriff wird der eigentliche Grad der Heterogenität beschrieben.

Je größer nun Vielfalt, Interdependenz und Diversität sind, desto größer ist auch die Komplexität. Das Wachstum eines Lebewesens ist zum Beispiel extrem komplex: Es spielen dabei so viele unterschiedliche und voneinander abhängige Elemente eine Rolle, dass die Vorhersehbarkeit begrenzt ist. Die Implementierung eines Design-Thinking-Mindsets in Ihrem Unternehmen hingegen ist meist kompliziert, aber die verschiedenen Prozessschritte, die Methoden und die Auswirkungen lassen sich relativ einfach vorhersagen.

Die Merkmale komplexer Systeme:

Komplexe Systeme bestehen aus einzelnen Elementen, die miteinander in Wechselwirkung stehen.

Schon wenige Wechselwirkungen oder minimale Unterschiede in den Anfangsbedingungen führen oft zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen.

Im Gegensatz zu komplizierten Systemen können komplexe Systeme emergent sein. Das bedeutet, dass sich neue Eigenschaften oder Strukturen innerhalb eines Systems infolge des Zusammenspiels der Elemente bilden.

Wechselwirkungen zwischen den Elementen innerhalb des Systems sind lokal, die Auswirkungen gehen aber in der Regel darüber hinaus.

Komplexe Systeme stehen im Kontakt mit ihrer Umgebung und sind von einem permanenten Durchfluss von Energie abhängig.

Sie bilden selbstständig stabile Strukturen und sind in der Lage, Informationen zu verarbeiten bzw. zu lernen.

Sie haben die Fähigkeit zur inneren Harmonisierung.

Das Verhalten des Systems ist nicht nur vom aktuellen Zustand, sondern auch von der Vorgeschichte des Systems abhängig.

Das System ist unabhängig von den Anfangsbedingungen, das heißt, es hat kein konkretes Ziel oder Vorgehen, das bereits am Anfang feststünde.

Der Unterschied zwischen komplizierten und komplexen Systemen

An dieser Stelle lässt sich also festhalten, dass der Hauptunterschied zwischen komplizierten und komplexen Systemen darin liegt, dass Sie bei Ersteren normalerweise Ergebnisse vorhersagen können, wenn Sie die Ausgangslage kennen, bei Letzteren dagegen nicht. In einem komplexen System können die gleichen Bedingungen zu vollkommen anderen Ergebnissen führen, da die Elemente abhängig von den Wechselwirkungen im System sind. So ist das Auto für sich betrachtet kompliziert, aber das Verhalten der Autofahrer ist ein komplexes System, da die Fahrweise sich ständig ändert – je nach Reaktion auf Wetter, andere Fahrer, Fahrbahn etc. Der Ausgang ist nicht vorhersagbar, weil das System sich kontinuierlich anpasst, sobald sich irgendeine Komponente in Bezug zu einer anderen ändert.

Wir können also komplizierte Systeme ebenso leicht wie einfache Systeme verstehen, wenn wir die Beziehungen zwischen den Teilen identifizieren können. Die Beziehungen untereinander können Sie so aufgliedern, dass letztlich klare, vorhersehbare Interaktionen übrig bleiben. Es ist aber nicht möglich, komplexe Systeme auf diese Weise zu verstehen, da alle Elemente ständig unabhängig voneinander unvorhersehbar interagieren.

Die Probleme der Komplexität

In Unternehmen stellen Probleme, die komplexer Natur sind, Manager vor folgende Aufgaben: Sie müssen Situationen, die unvorhersehbar sind bzw. waren, verstehen und damit umgehen. Denn in jeder komplexen Umgebung haben selbst kleine Entscheidungen überraschende Auswirkungen.

Es ist sehr schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, dass ein einzelner Entscheidungsträger ein komplexes System in seiner Ganzheit erkennt und versteht. Das ist das eigentliche Problem: aus einer großen Zahl von verschiedenen Elementen die unterschiedlichen Beziehungen von einem bestimmten Standpunkt aus nicht nur zu sehen, sondern diese auch zu verstehen.

Ich hatte schon in einigen Beratungen die Ausgangssituation, dass Projekte schiefgelaufen sind, weil die hierarchische Struktur dazu führte, dass die Mitarbeiter mehr oder minder in Silos eingesperrt waren und so wichtige Informationen gar nicht an diejenigen weitergeben konnten, die letztlich die strategischen Entscheidungen trafen. Solche fatalen Situationen, die aufgrund von fehlenden Informationen entstehen, führen in den allermeisten Fällen zu extrem schlechten Entscheidungen, die für das gesamte Unternehmen weitreichende Folgen haben.

Es ist ein Irrglaube, wenn wir meinen, wir würden die Auswirkungen unserer Handlungen bzw. der Handlungen anderer wirklich in ihrer vollen Tragweite verstehen. Die meisten Führungskräfte sind der Meinung, dass sie viele Informationen aufnehmen und daraus sofort die richtigen Schlussfolgerungen ziehen können. Infolgedessen handeln sie oft sehr schnell und nicht genügend überlegt. Wichtige Entscheidungen werden getroffen, ohne die wahrscheinlichen Folgen für das System vollständig verstanden zu haben.

Aber es ist nicht nur so, dass die meisten von uns nicht in der Lage sind, rein kognitiv so viele Informationen aufzunehmen. Selbst wenn wir dieses Potenzial hätten, würden wir spätestens an einer anderen Sache scheitern: nämlich an unserer Konzentration. Studien zeigen, dass Menschen einfach nicht multitaskingfähig sind. Forscher am Institut für Psychiatrie an der Universität London stellten in einer Studie1 mit 1100 Teilnehmern fest, dass Multitasking zu einer stärkeren Abnahme des IQ führte als der Konsum von Marihuana oder Schlafverlust. Natürlich ist die Versuchung, Multitasking zu betreiben, in der heutigen technisierten Welt höher als je zuvor. Und das ist ein großes Problem, denn infolge des Konzentrationsmangels sind wir weniger effizient oder effektiv, als wir uns erhoffen.

Dazu kommt noch, dass es besonders schwierig wird, gute Entscheidungen zu treffen, je seltener bestimmte Ereignisse eintreten. Erst die Wiederholungen ermöglichen das Wissen darum, was genau passiert und inwiefern die einzelnen Elemente das System beeinflussen. So verläuft der Straßenverkehr in der Regel in einem überschaubaren System, das sich kontinuierlich an Veränderungen anpasst. Diese Anpassungsfähigkeit ist nur möglich, weil Menschen im System Muster erkannt haben, die im Laufe der Zeit entstanden sind bzw. die erst dann sichtbar werden, wenn es zu einer anderen Ausführung als der geplanten kommt. Wenn das System nun mit einem seltenen Ereignis konfrontiert wird, wie beispielsweise einer Eruption oder einem Hurrikan an Orten, die sonst nicht mit solchen Phänomenen zu tun haben, ist das System überfordert.

Umgang mit komplexen Systemen

Lassen Sie uns weitere Besonderheiten bei der Analyse von komplexen Situationen näher ansehen.

Prognosetools

Manager, die mit komplexen Systemen konfrontiert sind, können verschiedene Schritte unternehmen, um ihre Vorhersagefähigkeiten zu verbessern. Ein solcher Schritt liegt im Abschied von Prognosetools: Viele analytische Hilfsmittel suggerieren, dass Beobachtungen von Phänomenen unabhängig sind. Das stimmt in gewissen Fällen für einfache bzw. komplizierte Systeme, gilt aber niemals bei komplexen Systemen. Denn gerade in diesen komplexen Systemen sind die einzelnen Elemente stark miteinander verbunden. Ein Beispiel dafür ist der Schmetterlingseffekt: Wenn Sie etwas im Kleinen anstoßen, können Sie so eine Kette von Ereignissen auslösen, an deren Ende eine enorme und meist unvorhersehbare Konsequenz steht.

Nehmen Sie Ausreißer als Hinweise wahr. Während bei alltäglichen Phänomenen und Systemen die Vorhersehbarkeit sehr gut ist, haben komplexe Systeme eine ausgesprochen schlechte Vorhersagbarkeit. So produziert ein komplexes System unerwartete Ergebnisse, die scheinbar aus dem Nichts kommen (wie zum Beispiel eine Massenpanik oder Marktzusammenbrüche auf Kapitalmärkten). In der Medizin gibt es Dutzende gute Beispiele dafür: Nehmen wir mal die Zulassung von neuen Medikamenten. Bei manchen Medikamenten kommt es zu Wechselwirkungen, die Probleme verursachen. Wenn nun klinische Studien einige potenziell schwerwiegende Nebenwirkungen bei einer gewissen Gruppe an Patienten zeigen, bedeutet das nicht automatisch, dass dies beim statistisch durchschnittlichen Patienten ebenso wäre. Die Behandlung von noch weitgehend unerforschten Krankheiten ist ein sehr komplexes System, auf das auch so reagiert werden muss – und auf das nicht die Logik eines komplizierten Systems angewendet werden kann. Komplexe Systeme treffen häufiger auf Ereignisse, die weiter vom Durchschnitt entfernt sind, als wir denken. Analyseprogramme, die Ausreißer nicht beachten bzw. als selten einstufen, verschleiern dadurch auch die vielen Variationen, die es in komplexen Systemen gibt.

In der Wirtschaft findet sich das Problem der Vorhersagbarkeit vor allem beim Kundenverhalten. Oft wird nach Durchschnittsantworten gesucht, auf deren Basis dann Vorhersagen getroffen werden. Dabei wäre mancher Ausreißer interessanter als der Durchschnittsfall (siehe Methode »Extreme User« in Kapitel 4). Bei komplexen Problemen und Herausforderungen, die uns in unserem normalen Alltag sonst nicht begegnen, stoßen wir auch auf ein Verhalten, das nicht »normal« ist. Wie zum Beispiel bei einem Beratungsfall, bei dem ich beobachten konnte, was passiert, wenn auf Probleme mit Panik reagiert wird. Um negative Publicity zu vermeiden, entschied sich der Aufsichtsrat eines großen Unternehmens, aufgetretene Qualitätsprobleme so weit wie möglich zu vertuschen. Ein Fehler, wie sich später gezeigt hat. Denn hätte das Unternehmen verstanden, dass die seinerzeit sichtbaren Qualitätseinbußen auf tiefere Probleme hinwiesen, hätte es das viele Geld, das es in die Vermeidung einer Publikation über dieses Problem gesteckt hat, besser in die Verbesserung investiert und dadurch sogar neue Märkte erschließen können.

Das Verhalten innerhalb eines Systems

Anstatt von Medianen oder anderen für den entsprechenden Kontext irrelevanten Zahlen auszugehen, suchen Sie nach Modellen, die Ihnen einen wirklichen Einblick in das System und die Art und Weise geben, wie die verschiedenen Elemente miteinander interagieren. Beispiele hierfür sind Customer-Relationship-Management-Systeme. Damit können Sie sehen, wie der Kunde auf verschiedene Arten von Werbung reagiert. Wenn Sie solche Systeme nutzen, dann achten Sie vor allem darauf, dass das Prognosetool auch extreme Beispiele mit geringem Wahrscheinlichkeitseintritt und hoher Auswirkung berücksichtigt. So haben Komplexitätsforscher beobachtet, dass jedes Jahr in Kalifornien rund 16 000 kleinere Erdbeben auftreten, aber ein wirklich großes Erdbeben allenfalls alle 150 bis 200 Jahre passiert. Das durchschnittliche Erdbeben ist also nicht sehr gefährlich. Dennoch wäre es ein schlechter Rat, deswegen Bauvorschriften auf das durchschnittliche Erdbeben auszurichten. Derselbe Grundsatz gilt auch im Innovationsmanagement: Was am wichtigsten ist, ist immer das Extreme mit der unwahrscheinlichsten Umsetzung – nicht das Wahrscheinlichste.

Drei Arten von Vorhersagetechniken

Wenn es unmöglich ist, die Zukunft in einem komplexen System genau vorherzusagen, aber Unternehmen trotzdem wissen müssen, welche Entscheidung zukünftig die beste sein wird, was sollen Führungskräfte dann machen? Wie können sie den Spagat zwischen den unwahrscheinlichsten und den wahrscheinlichsten Szenarien schaffen? Wie können sie sich auf einen Weg einigen, ohne zu sehr auf vergangenes Wissen zu setzen?

Ich empfehle Managern, explizit zu erläutern, was sie aus früheren Erfahrungen heraus für sinnvoll erachten und was dieses Mal anders sein sollte. In diesem Kontext lassen sich die Daten nach ihrem Zeithorizont differenzieren:

1.Vergangene Daten darüber, was bereits passiert ist: Die meisten Kennzahlen und Indikatoren fallen in diesen Bereich.

2.Aktuelle Daten darüber, wo Sie gerade stehen: Hier zeigt sich der Raum der verschiedenen Möglichkeiten.

3.Zukünftige, also spekulative Daten darüber, wohin die Dinge gehen könnten und wie das System auf eine Reihe von verschiedenen Möglichkeiten reagieren könnte.

Wenn ein Großteil dieser Informationen nicht zugänglich ist oder mühsam erst zusammengetragen werden muss, ist das ein Warnsignal. Basieren Entscheidungen hauptsächlich auf Indikatoren, die erst aufgedeckt werden müssen, bedeutet dies im Wesentlichen, dass die Zukunft der Vergangenheit entsprechen wird. Zumindest einige Ihrer Daten sollten im vergangenen oder gegenwärtigen Bereich liegen. Denn zukünftige Daten sind per Definition unklar und subjektiv: Die Zukunft ist ja noch nicht passiert. Aber ohne Annahmen und den Mut zu Neuem wird keine Veränderung passieren.

Minimieren Sie das Risiko

Die Minimierung von Risiken ist für jeden, der für ein komplexes System verantwortlich ist, von entscheidender Bedeutung. Das Problem dabei ist, dass herkömmliche Ansätze meistens nicht weit genug greifen. Die Führungskräfte sind noch dabei, zu lernen, nicht in Grenzen zu denken und offen für Neues zu sein. Es geht auch darum, sich vom Zwang genauer Vorhersagen zu verabschieden.

In einer Welt voller Überraschungen sind manchmal die besten Investitionen und Entscheidungen die, die die Bedeutung von Vorhersagen minimieren. Nehmen Sie beispielsweise das Produktdesign. In einem herkömmlichen System müssen Hersteller erraten, welche Funktionen die Kunden zu welchem Preis kaufen werden und welche nicht. Unternehmen gehen oft das hohe Risiko ein, dass sie falsch liegen – vor allem bei komplexen Produkten. Natürlich können Sie diesen Unsicherheitsfaktor teilweise minimieren. Sie können Systeme entwickeln, in denen der Nutzer selbst für seine Entscheidungen verantwortlich ist, also Systeme, die es ihm ermöglichen, die gewünschten Ergebnisse selbst herbeizuführen. Beispiele sind Autos oder auch Schranksysteme, die der Käufer online konfigurieren kann.

Trennung von Elementen

Manchmal können Elemente eines komplexen Systems voneinander getrennt werden, um die möglichen Konsequenzen zu verringern, wenn doch etwas schiefgehen sollte. Durch diese Trennung können Sie Teile eines Unternehmens vor den Risiken eines unerwarteten Ereignisses schützen, aber gleichzeitig mit den anderen Teilen experimentieren.

Die verschiedenen Elemente können aber auch so konstruiert sein, dass sie sich gegenseitig ersetzen, falls ein Element des Systems ausfällt. Das macht es wahrscheinlicher, dass das System zumindest bis zu einem gewissen Grad weiterarbeiten kann, selbst wenn einzelne Elemente gerade nicht funktionieren. In den meisten Fällen sind Trennungen und Duplizierungen von Unternehmensteilen oder Elementen mit zusätzlichen Kosten verbunden, aber die Investition lohnt sich fast immer. Denn auch wenn Sie dadurch externe Ressourcen brauchen, bekommen Sie innerhalb kürzester Zeit Antworten auf Ihre Fragen. So habe ich bei einer Beratung einmal den Fall gehabt, dass mein Kunde ein internes Netzwerk von Partnern hatte, das gut funktioniert hat, insbesondere wenn ein Kunde Anforderungen hatte, die das Unternehmen selbst nicht erfüllen konnte. Dadurch fand einerseits ein reger Austausch statt, und andererseits wurden so Nischen besetzt, die vor allem den Kunden einen deutlichen Mehrwert bei der Zusammenarbeit mit diesem Unternehmen ermöglichten.

Setzen Sie auf Storytelling und Fragen

Ein weiterer Weg der Risikominderung besteht darin, sicherzustellen, dass die Menschen unwahrscheinliche, aber mögliche katastrophale Ereignisse als reale Bedrohung ansehen. Das Teilen von Geschichten über Beinaheunfälle und mögliche Reaktionen auf diese hypothetischen Ereignisse können sehr hilfreich sein.

Was-wäre-wenn-Fragen sind eine großartige Möglichkeit, Szenarien zu entwickeln, die sonst kaum auftauchen. Die meisten Unternehmen, die ich kenne, haben Angst, dass solche Techniken wie das Geschichtenerzählen nicht funktionieren, weil sie eine Fähigkeit erfordern, die die meisten sich selbst und anderen absprechen – nämlich fantasievoll und kreativ zu sein. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Geschichten geben uns vielmehr großartige Einblicke in komplexe Systeme.

Indem wir Maßnahmen ergreifen, um Risiken zu minimieren, durch frühe Fehler lernen und verschiedene Denker zusammenbringen, die kreativ mit Beschränkungen umgehen können, gehen wir die Entscheidungsfindung in unseren komplexen Systemen bewusst an und erhöhen die Erfolgschancen maßgeblich. Und das ist notwendig, wenn Unternehmen erfolgreich und vor allem wettbewerbsfähig sein wollen. Denn nichts hindert Innovation und Kreativität so sehr wie komplizierte Wege. Je komplizierter ein Unternehmen agiert, desto langsamer reagiert es und desto mühsamer und langwieriger sind die Entscheidungsfindungswege.

Das Ergebnis dieser Komplexität

Komplexität verstehen

Auch wenn viele sagen, dass Komplexität als mathematisches Modell gesehen werden kann, empfinde ich es vielmehr als eine Art, über die Welt nachzudenken. Vor über einem Jahrhundert revolutionierte Frederick Winslow Taylor die Arbeit und veränderte die Sichtweise von Managern maßgeblich. Durch die heutigen Erkenntnisse der Kognitionswissenschaft wird das Feld rund um Komplexität erneut aufgerollt und alte Denkmuster werden hinterfragt.

Die Hauptaufgabe besteht darin, den gegenwärtigen und auch den zukünftigen Managern dabei zu helfen, moderne Technologien, komplexe Märkte, kulturelle Veränderungen und die Globalisierung als umfassenden Prozess zu verstehen und vor diesem Hintergrund erfolgreich zu agieren. Es gilt, die Herausforderungen und Möglichkeiten der Komplexität zu bewältigen, mit denen wir mehr und mehr konfrontiert werden.

Manager, die den Prinzipien der Komplexität entsprechend agieren wollen, sind gezwungen, anders zu denken und zu handeln als bisher. Das ist sicherlich nicht einfach, aber unerlässlich.

Angesichts dieser Komplexität stellt sich die Frage, wie Führungskräfte ihre Mitarbeiter effektiv zum Erfolg führen können. Ich habe Ihnen ein paar Ideen aus meiner Praxis mitgebracht, die ich meinen Kunden immer empfehle:

Fördern Sie bewusst die Diskussion. Komplexe Kontexte erfordern wesentlich mehr Kommunikation als jeder andere Bereich. Initiieren Sie Diskussionsrunden, in denen die Menschen innovative Ideen generieren und so die Führungskräfte bei der Entwicklung und Durchführung komplexer Entscheidungen und Strategien unterstützen. Es geht darum, dass Sie Ihre Mitarbeiter dazu ermutigen, bereits bestehende Lösungen zu hinterfragen und neu zu diskutieren, anstatt nach bewährten Verfahren zu arbeiten. In einem Krankenhaus, in dem dort erworbene Infektionen als Problem identifiziert und offen diskutiert werden konnten, brachte allein dieser Ansatz eine Verhaltensänderung, die zu einer Verringerung der nosokomialen Infektionen von bis zu 50 Prozent führte.

Setzen Sie Grenzen. Wir leben in einer Welt, die voller Barrieren und Grenzen ist. Das ist auch gut und wichtig, denn wenn Grenzen gesetzt sind, beginnt das System, sich innerhalb dieser selbst zu regulieren. Das können auch Werteversprechen sein, die unausgesprochen in einem Unternehmen gelten, wie die schnelle Lieferung von Waren und Zufriedenheit der Kunden als oberstes Gebot. Dadurch motivieren sich die Mitarbeiter gegenseitig und achten so auf ihr eigenes Verhalten.

Fördern Sie Heterogenität. Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Perspektiven können in komplexen Zusammenhängen sehr wertvoll sein, insbesondere indem sie die Entstehung von vollkommen neuen Ideen begünstigen. In meinen Workshops fördere ich diese Heterogenität dadurch, dass ich mehrere Teams parallel an demselben Problem arbeiten lasse. Dabei ernennt jedes Team einen Sprecher, der dann vom Tisch der einen Gruppe zum Tisch der anderen Gruppe wechselt. Der Sprecher stellt die Hypothesen und Gedanken seiner eigenen Gruppe vor, während die andere Gruppe schweigend zuhört. Dann wendet sich der Sprecher wieder seiner eigenen Gruppe zu. Jeder Sprecher besucht abwechselnd die anderen Teams, bis das Ende der Ideensession eingeläutet wird. Dieses bewusste Zuhören hilft, die Ideen der anderen besser zu verstehen, offen zu sprechen, die eigenen Ideen beizusteuern und zu erweitern und Kritik nicht persönlich zu nehmen.

Die passende Umgebung schaffen. Da die Ergebnisse in einem komplexen Kontext nicht vorhersehbar sind, müssen sich Führungskräfte auf die Schaffung einer Umgebung konzentrieren, aus der gute Ergebnisse hervorgehen können, anstatt zu versuchen, vorher festgelegte Zielvorstellungen umzusetzen, und dabei unerwartete Möglichkeiten zu verpassen. Vor vielen Jahren hat 3M beispielsweise eine Regel eingeführt, die es Forschern erlaubt, 15 Prozent ihrer Zeit für jedes Projekt zu verwenden, das sie interessiert. Ein Ergebnis dieser Vorgehensweise sind die überaus populären und erfolgreichen Post-it-Haftnotizen.

Entscheidungsfindung in einer komplexen Welt

Stellen Sie sich vor, Sie werden zu einem Tatort gerufen. Vor Ihnen liegen sieben tote Menschen, überall ist Blut. Chaos und Panik, wohin Sie sehen. Was machen Sie? Wo sollen Sie beginnen? Was ist passiert? Wer macht so etwas und warum?

Vermutlich waren es solche Fragen, die dem stellvertretenden Polizeichef, Walter Gasior, am 8. Januar 1993 in Palatine durch den Kopf schossen, als er das Fast-Food-Lokal betrat, in dem zuvor sieben Menschen brutal getötet worden waren.2 Und das für weniger als 2000 Dollar, denn mehr hatten die beiden Attentäter nicht erbeutet. Walter Gasior hatte jedenfalls keine Zeit, sich die passenden Worte zurechtzulegen, er musste schnell handeln und vor allem mehrere Rollen gleichzeitig ausfüllen. Denn er war damals nicht nur als Vertreter der Polizei vor Ort, sondern musste als Sprecher der Polizeiabteilung sowohl den trauernden Familien als auch einer verängstigten Gemeinschaft erklären, was passiert war und wie die Polizei vorgehen würde. Eine weitere Herausforderung waren die zahlreichen Reporter, um die er sich ebenfalls kümmern musste.

Gasior gelang es letztlich aufgrund seiner Erfahrung und seiner Flexibilität, alle Aufgaben erfolgreich zu meistern. Eine Fähigkeit, die viele Unternehmen in turbulenten Zeiten gut brauchen könnten, aber nicht haben. Die gewünschten Ergebnisse bleiben aus, denn es bedarf vorab Entscheidungen, die wiederum eine Vielzahl von anderen Reaktionen auslösen.

In den meisten Unternehmen, in denen ich unterwegs bin, verlassen sich die Führungskräfte viel zu oft auf Ansätze, die in der Vergangenheit bereits gut funktioniert haben. Nur herrschten damals andere Bedingungen. Die Handlungen der Menschen, die im und am Unternehmen arbeiten, sind eben nur zu einem gewissen Maß vorhersagbar. Manches Mal funktionieren die erstbesten Lösungen erstaunlich gut. Aber je komplexer und unkoordinierter die Umstände werden, desto eher braucht es andere Ansätze. Es gibt nun mal keine Einheitslösung.

Vielmehr ist es an der Zeit, dass Unternehmen ihre traditionellen Wege verlassen und damit beginnen, ihren Blick und ihre Entscheidungsfindungsfähigkeiten zu erweitern. Es geht darum, neue Perspektiven zu entwickeln. Dabei hilft es, sich bewusst zu werden, in welchem Kontext das Problem steht, das bearbeitet wird.

Das Cynefin-Framework

Das Cynefin-Framework ist ein Modell, das Probleme, Situationen und Systeme beschreibt. Dieses Framework differenziert zwischen fünf Kontexten: einfach, kompliziert, komplex, chaotisch und verwirrt. Diese Unterscheidung liefert einen Ansatzpunkt dafür, welche Typologie von Erklärungen und / oder Lösungen hilfreich sein kann. Jeder Kontext bzw. Bereich fordert unterschiedliche Aktionen.

Das Wesen der fünf Kontexte macht es besonders schwierig, zu erkennen, wann man sich in welchem Bereich befindet. Das Cynefin-Framework soll Führungskräften als Instrument dienen, um die Dinge aus neuen Blickwinkeln zu betrachten, komplexe Konzepte zu assimilieren und Probleme und Chancen zu identifizieren. Mit diesem Ansatz bekommen Manager ein Modell an die Hand, das ihnen hilft, die interne Kommunikation zu verbessern, indem sie den jeweiligen Kontext, in dem sie und ihr Unternehmen sich gerade befinden, besser erkennen und verstehen können.

Der Begriff »Cynefin«, ausgesprochen ku-nev-in, stammt aus dem Walisischen. Dieses Wort wird »üblicherweise im Deutschen mit ›Lebensraum‹ oder ›Platz‹ übersetzt […], obwohl diese Übersetzung nicht seine volle Bedeutung vermitteln kann. Eine vollständige Übersetzung des Wortes würde aussagen, dass wir alle mehrere Vergangenheiten haben, derer wir nur teilweise bewusst sein können: kulturelle, religiöse, geographische, stammesgeschichtliche usw.«, heißt es auf Wikipedia. »Der Begriff wurde von dem walisischen Gelehrten Dave Snowden gewählt, um die evolutionäre Natur komplexer Systeme zu veranschaulichen, einschließlich ihrer inhärenten Unsicherheit. Der Name ist eine Erinnerung daran, dass alle menschlichen Interaktionen stark von unseren Erfahrungen beeinflusst und häufig ganz davon bestimmt sind, sowohl durch den direkten Einfluss der persönlichen Erfahrung als auch durch kollektive Erfahrung wie Geschichten oder Musik.«

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Differenzierung verschiedener Kontexte

Im Laufe der Zeit hat Snowden das Framework aufgrund von unzähligen verschiedenen Anwendungen weiterentwickelt. So hat beispielsweise die Unterstützung eines Pharmaunternehmens bei der Erarbeitung einer neuen Produktstrategie genauso zur Entwicklung beigetragen wie die Unterstützung einer Regierung bei ihren Bemühungen, Mitarbeiter in die Politikgestaltung miteinzubeziehen.

Das Cynefin-Framework sortiert die Probleme, denen sich die Manager gegenübersehen, in fünf verschiedene Kontexte. Diese sind durch die Art der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung definiert. Vier von diesen Kontexten – der offensichtliche, komplizierte, komplexe und chaotische – geben Leitplanken vor, wie sich Manager in diesen Situationen verhalten und wie sie diese Situation als solche erkennen können. Der fünfte Bereich ist äußerst schwierig zu identifizieren. In diesem regiert die Unordnung. Sie tritt dann ein, wenn alle anderen vier Kontexte nicht passen.

Die Verwendung des Cynefin-Frameworks hilft aber nicht nur, bessere Entscheidungen zu treffen, sondern auch Probleme zu vermeiden, die entstehen, wenn innerhalb eines dieser Kontexte – auch »Domänen« genannt – Fehler entstehen.

Die komplexe Domäne ist in der Geschäftswelt viel verbreiteter, als den meisten Unternehmen bewusst ist. Sie erfordert unterschiedliche und kontraintuitive Antworten. Die Welt ist nun mal die meiste Zeit irrational und vor allem unvorhersehbar. Deswegen braucht es neue Denkweisen, um darauf zu reagieren.

Einfache Kontexte: Die Domäne der Best Practice

Einfache Kontexte zeichnen sich durch Stabilität und klare Ursache-Wirkungs-Beziehungen aus. Sie sind für jeden leicht zu identifizieren, denn die Antworten liegen auf der Hand und müssen in den seltensten Fällen hinterfragt werden. Es ist der Bereich des Altbekannten. Entscheidungen sind klar und können schnell getroffen werden, weil alle Beteiligten ein gleiches Verständnis haben. Es sind Bereiche, die sich wenig bis gar nicht ändern. Typische Probleme sind solche, die Unternehmen beispielsweise bei der Abwicklung eines Auftrags bei einem bestehenden Kunden haben können.

Wenn es sich um einfache Kontexte handelt, gilt es, die Dinge einfach zu handhaben und lediglich deren Umsetzung zu überwachen. Manager sind dann gefordert, die Probleme schnell einzuordnen und darauf zu reagieren. Das heißt, sie bewerten die Fakten der Situation, kategorisieren sie und reagieren aufgrund bewährter und etablierter Praktiken. Stark prozessorientierte Abläufe sind meistens in dieser einfachen Domäne zu finden. Geht etwas schief, kann ein Mitarbeiter ganz einfach das Problem als solches identifizieren, es kategorisieren und entsprechend reagieren.

Sowohl Manager als auch Mitarbeiter haben bei solchen Abläufen zumeist Zugriff auf die notwendigen Informationen. Diese braucht es, um mit der Situation gut umzugehen und die Bewältigung des Problems zu überwachen. Die Richtlinien sind einfach, Entscheidungen können leicht delegiert werden und gewisse Ausführungen sind im Regelfall bereits automatisiert. Die Einhaltung von Best Practices ist in dieser Domäne am sinnvollsten. Es bedarf nicht viel Kommunikation zwischen Managern und Mitarbeitern, da Meinungsverschiedenheiten darüber, was zu tun ist, nur ganz selten sind.

Eine Gefahr bei einfachen Kontexten: Führungskräfte, die unabhängig von der Komplexität der Situation ständig nach Informationen fragen, laufen Gefahr, einen falschen Eindruck von der Problematik zu bekommen. Außerdem kann es passieren, dass eine gewisse Selbstgefälligkeit auftritt, wenn die Dinge scheinbar wie von selbst laufen. Ändert sich nun der Kontext zu einem Zeitpunkt, reagiert der Manager meist zu spät.

Aus diesem Grund verwundert es nicht, dass Snowden deswegen die Kategorie der einfachen Domäne direkt neben der des Chaos platziert. Sein Gedanke dabei ist, dass die häufigsten Einbrüche ins Chaos dann stattfinden, wenn der Erfolg Selbstzufriedenheit erzeugt hat. Diese Verschiebung kann zu einem katastrophalen Scheitern führen, wie es zum Beispiel zu beobachten ist, wenn einst dominante Technologien scheinbar aus dem Nichts durch dynamischere Alternativen ersetzt werden.

Die Lösung liegt darin, dass die Führungskräfte das große Ganze im Blick behalten und so eine Veränderung im Kontext erkennen können. Die meisten Probleme, die in der einfachen Domäne auftreten, können von Mitarbeitern eigenständig gelöst werden. Sie haben dank langjähriger Erfahrung einen tiefen Einblick in die Art und Weise, wie die Arbeit ausgeführt werden sollte. Die Aufgabe der Führungskräfte liegt darin, einen Kommunikationskanal zu schaffen, der frühzeitig warnt und auffällige Entwicklungen anzeigt.

Eine Sache, die es dabei vor allem zu bedenken gilt, ist, dass Best Practice definitionsgemäß bereits in der Vergangenheit praktiziert wurde. Die Verwendung von Best Practices ist in einfachen Kontexten zwar oft die beste Lösung, weil so auch am schnellsten und effektivsten Probleme gelöst werden. Aber dennoch ergeben sich Schwierigkeiten, zum Beispiel wenn die Mitarbeiter keine Möglichkeit haben, den Prozess zu hinterfragen, zu kommunizieren und vor Lösungen zu warnen, die nicht mehr funktionieren. Rückschau in einer komplizierten Welt führt nicht zur Vorschau, deswegen ist eine entsprechende Veränderung des Führungsstils erforderlich.

Komplizierte Kontexte: Die Domäne der Experten

Bei komplizierten Kontexten kann es im Gegensatz zu einfachen Kontexten mehrere richtige Antworten geben. Die Krux liegt darin, dass nicht jeder die klare Beziehung zwischen Ursache und Wirkung sehen kann. Snowden definiert diesen Bereich als den der »bekannten Unbekannten«.

Während Manager in einem einfachen Kontext eine Situation wahrnehmen, kategorisieren und darauf reagieren sollten, müssen sie in einem komplizierten Kontext wahrnehmen, analysieren und reagieren. Dieser Ansatz ist nicht einfach und erfordert oft einiges an Fachwissen: Ein Autofahrer weiß vielleicht, dass mit seinem Auto etwas nicht stimmt, weil die Anzeige das so sagt oder er ein Klopfen wahrnimmt, aber er muss es zu einem Mechaniker bringen, um das tatsächliche Problem analysieren und beheben zu lassen.

Da der komplizierte Kontext die Analyse mehrerer Optionen erfordert, ist es besser, wenn zunächst auch mögliche Ursachen aufgedeckt und besprochen werden, bevor ein bewährtes Verfahren angewandt wird. Zum Beispiel könnte der übliche Ansatz zum Entwickeln eines neuen Produkts die Eigenschaft A über die Eigenschaft B hervorheben und erklären, aber dennoch ist es sinnvoll, eine alternative Eigenschaft C zu entwickeln und zu besprechen, um gezielt zu planen.

Ein anderes Beispiel, das Snowden anführt, ist die Suche nach Öl- oder Mineralvorkommen. Der Aufwand erfordert in der Regel ein Team von Experten. Es ist wichtig, dass mehrere potenzielle Bohrstellen identifiziert werden, da mehr als ein Ort möglicherweise mehr und auch bessere Ergebnisse produzieren wird. Das bedarf allerdings einer genauen und zumeist komplizierten Analyse. Diese Analyse wiederum braucht ein Verständnis der Folgen auf mehreren Ebenen.

Wenn in komplizierten Kontexten die Experten das Feld übernehmen, neigen sie dazu, andere und durchaus innovative Vorschläge von Nicht-Experten zu übersehen oder abzulehnen. Schließlich haben die Experten immens viel Zeit und Energie in den Aufbau ihres Wissens investiert. Doch diese Sturheit kann mitunter zu verpassten Chancen führen.

Verlagert sich allerdings der Kontext, ist ein Zugang zu neuen und anderen Ideen durchaus hilfreich. Ein Manager, der dieses Problem hat, kann also den Experten um Rat fragen, sollte aber gleichzeitig neue Gedanken und Lösungen von anderen begrüßen. In meinem Beratungsalltag habe ich schon erlebt, dass der Portier gewonnen hat, als der Vorstand eines großen Konzerns unternehmensintern zu einem Brainstorming-Prozess für ein neues Produkt aufgerufen hatte. Er wurde sogar für einen internationalen Preis vorgeschlagen.

Ein weiteres potenzielles Hindernis ist die Paralyse durch zu viel Analyse. Dabei wird eine Situation so intensiv analysiert, dass eine Entscheidung hinausgezögert oder gar ganz verhindert wird. Auf der Suche nach der perfekten Lösung wird eine mögliche Entscheidung durch den Betroffenen als zu kompliziert bzw. zu umfangreich angesehen.

Das Arbeiten in unbekannten Domänen kann Managern und Experten die Augen öffnen und zu kreativeren Entscheidungen führen. Zum Beispiel habe ich für ein Projekt eine Woche lang Marketingspezialisten in mehreren medizinischen Forschungsumgebungen eingesetzt. Die Umgebungen waren ungewohnt und herausfordernd, hatten aber trotzdem Ähnlichkeit mit dem gewöhnlichen Einsatzgebiet: In beiden Fällen ging es darum, mit einer großen Menge an Daten zu hantieren. Sowohl in der Medizin als auch im Marketing wird viel mit Langzeitwerten gearbeitet. Es werden etliche Befragungen, Untersuchungen, Beobachtungen etc. vorgenommen, um möglichst genaue Aussagen treffen zu können. Die Marketingspezialisten sollten verschiedene Trends und Signale am Markt identifizieren. Je länger die Experten in diesem Bereich arbeiteten, desto mehr Parallelen fanden sie. So war zum Beispiel der Umgang mit Endkunden ein ähnlicher, ebenso der Prozess der Erforschung von neuen Trends. Diese Übung half der Marketinggruppe zu lernen, wie sie einen möglichen Verlust von Loyalität rasch erkennen und gezielt Maßnahmen ergreifen kann, bevor ein wichtiger Kunde zu einem Konkurrenten wechselt. Durch die Verbesserung ihrer Strategie dank des neuen Wissens konnten die Marketingleute weitaus erfolgreicher agieren und die Kundenzufriedenheit steigern.