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SEBASTIJAN PREGELJ

Chronik des Vergessens

Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler

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Die Übersetzung dieses Werkes wurde gefördert durch die
Slowenische Buchagentur JAK sowie durch ein Arbeitsstipendium
der Kunstsektion des Bundeskanzleramtes Österreich.

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Titel der Originalausgabe: Kronika pozabljana

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DRAVA VERLAG • ZALOŽBA DRAVA GMBH
9020 Klagenfurt/Celovec, Gabelsbergerstraße 5
Telefon +43(0)463 501099
office@drava.at
www.drava.at

Copyright © dieser Aussgabe 2017 bei Drava Verlag
Klagenfurt/Celovec
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten

ISBN 978-3-85435-835-0
eISBN 978-3-85435-860-2

Am Ende geht es sich immer irgendwie aus.
Am Ende wird immer irgendwie alles gut.

Inhalt

Teil 1:

Eine seltsame Gesellschaft

Teil 2:

Erinnerungen sind nur ein Spiel, meistens ein harmloses

Alle Fenster in meinem Leben sind nach Osten rausgegangen

Die leere Bank wird mich immer an den Mann erinnern, mit dem ich nichts zu tun hatte

Die andere Welt wird dieser immer ähnlicher

Bevor ich vergesse, wer ich bin, bedecken graue Wolken die Sonne

Auf der sicheren Seite

Wenn ich mein Leben noch einmal neu leben könnte

Die Stille, die aus der Nachbarwohnung kommt, ist beruhigend

Hier mit mir

Solange du bereit bist, noch ein wenig zu spielen und die alten Tricks anzuwenden

Einen Moment lang empfinde ich Zufriedenheit und ein wonniges Prickeln

Am Ende sind wir alle Apostel

Jede Nacht wache ich schweißgebadet und angepinkelt auf

Der tote Posten ist nicht dazu da, dass man lebend an ihm vorbeikommt

Aida hat ihn gesehen, und ich begreife alles

Du hast immer gesagt, dass im Mut die Rettung sei

Teil 3:

Wir zwei sind zufrieden, wir zwei sind glücklich

Du musst gehen, solange die Leute noch von dir wissen

Der Blumengarten

Der schwarze Springer

Ich schaue das Licht an, das durchs Fenster fällt

Sternenstaub

Teil 4:

Du bist das Leben, wie es ist

Teil 1

EINE SELTSAME GESELLSCHAFT

Eine seltsame Gesellschaft hat sich da auf meinem Begräbnis eingefunden. Man sieht schon von Weitem, dass die Leute nicht zusammengehören. Oder doch. Vielleicht gehören sie gerade wegen ihrer Verschiedenheit zusammen. Ich weiß nicht. Eine bunte Gesellschaft, nicht mehr als zwanzig Leute, im Halbkreis. Vor ihnen das offene Grab, in einer Betonnische steht die Urne. In der Urne ist ein bisschen Asche. Mehr ist von mir nicht übrig.

Die Leute, die hier zusammengekommen sind, waren mir lieb. Jeden Einzelnen von ihnen habe ich auf meine Art geliebt. Einige habe ich lange gekannt, andere nur kurz. Aber die Dauer hat nicht viel zu bedeuten.

Ganz vorn steht Konstanca. Die große, schöne Frau in dem schwarzen Mantel, der mitten am Tag, wenn die Temperatur noch immer auf fünfundzwanzig Grad und mehr steigt, viel zu warm wäre, ihr in der Früh aber gute Dienste leistet. In der rechten Hand hält sie ein Spitzentuch, mit dem sie sich die Tränen abwischt. Ab und zu starrt sie in den Himmel, als würden ihre Augen mich irgendwo da oben suchen. Dann senkt sie den Blick und schaut wieder zu Boden.

Neben ihr steht Rina, ihre Tochter. Sie ist hier, weil sie nicht will, dass ihre Mutter an diesem Tag allein ist. Sie hat Angst um sie. Sie denkt sich, dass der Verlust und die Leere, die ich hinterlassen habe, für sie nichts Gutes bedeuten. Viel hatte ihr die Mutter in den letzten Monaten über mich, über uns, über unsere Pläne erzählt. Rina nahm das nicht ganz ernst. Sie sagte aber nichts, machte nicht einmal eine Andeutung, dass ihr das, was die Mutter erzählte, kaum glaubhaft erschien. Sie war froh, als die Mutter in ihrem Alter jemanden kennenlernte. Sie war froh, dass sie im Heim einen neuen Freund gefunden hatte und nicht die Zeit haben würde, sich in die Vergangenheit zu flüchten. Bevor Konstanca einzog, machte sich Rina Sorgen, wie ihre Mutter das neue Zuhause annehmen würde, und das, obwohl sie zigmal darüber gesprochen hatten und sich einig waren, dass es anders nicht ging. Außerdem war Konstanca gesund und bei Kräften, nur das Gedächtnis ließ langsam etwas nach, nebst den Beschwerden, die mit dem Alter einhergehen und die nichts Besonderes sind, wenn man sich damit abfindet. Rina machte sich vor allem Sorgen, dass ihre Mutter hier nicht den richtigen Umgang haben würde, dass sie sich aus den Leuten nichts machen und daher mehr oder weniger allein und einsam sein würde. Sie hatte Angst, dass sie sich einkapseln und langsam in ihren Erinnerungen verlieren würde. Dann aber zeigte sich, dass die Angst unbegründet war. Konstanca fand neue Freunde und sie hatte immer weniger Zeit. Schließlich sah sie sogar während Rinas Besuchen auf die Uhr. Wenn Rina sie fragte, ob sie es eilig hätte, verneinte sie und bat sie im selben Atemzug, noch zu bleiben. Rina verstand, sie musste fast lachen. Sie war glücklich und ohne Sorgen.

Nun sind die Sorgen und Ängste wieder zurück. Rina fühlt, wie sie sich um ihren Hals winden und das Rückgrat hinunterwandern, bis zum Becken und dann die Beine hinunter, bis in die Sohlen. Trotzdem wird sie nie etwas sagen. Sie wird lieber längere Besuche einplanen, wird lieber versuchen, ihre Mutter aufzuheitern oder wenigstens mit ihren Erzählungen abzulenken.

Ein paar Schritte weiter steht Adam. Als ich ihn kennengelernt habe, war er Praktikant, jetzt leitet er eine Anwaltskanzlei. Adam liebe ich wie meinen Sohn. Adam sieht öfter einmal zu Rina hinüber. Er will wissen, wer diese Frau ist, obwohl er es in Wahrheit weiß. Sie gefällt ihm.

Zwischen Adam und Rina steht eine Gruppe alter Leute. Vorn der kahlköpfige Maks im grünen Trainingsanzug, das Schachspiel unterm Arm. Er murmelt, dass wir fallen würden wie die Figuren. Eine miese Partie. Aber aufgeben kommt nicht in Frage, sagt er sich entschlossen. Neben ihm steht Franc, der so etwas wie der Gehilfe des Hausmeisters ist. Franc ist mit den Gedanken ständig bei den Dingen, die im Heim zu erledigen sind. Zu tun gibt’s genug. Er hofft, dass das Begräbnis nicht zu lange dauern wird. Er hofft, dass man ihn nach dem Begräbnis nicht drängen wird, auf einen Kaffee mitzugehen. Einen Kaffee würde er zwar wollen, aber nicht am Imbissstand am städtischen Friedhof. Hier riecht er nach Chrysanthemen und schmeckt nach Tod. Irgendwann mittendrin knurrt ihm der Magen. Er hat Hunger. Das Bestattungsunternehmen, denkt er, hat nichts für die Lebenden übrig, sondern hat nur die Toten im Sinn. Wenn es für die Lebenden etwas übrighätte, würde es die Begräbnisse nicht so früh ansetzen. Wie soll sich da das Frühstück ausgehen?

Neben Franc steht Bernard, der Maler, der eben die Idee hat, seinem Werk einen neuen Zyklus mit Titel: Wir sind hier. Wir leben hinzuzufügen. Man kann sich dem Tod widersetzen, überlegt er. Man braucht sich nur uns anzuschauen! Er spürt einen Kitzel in der Brust, in seinen Fingern kribbelt es leicht. Am liebsten würde er zum Heim laufen, einen Karton auf die Staffelei stellen und sofort mit dem Malen beginnen. Er würde die Gesichter lebender Menschen malen. Natürlich gewinnt der Tod am Ende, gesteht er sich ein, aber bis dahin kann ich noch viele Lebende malen. Und die Bilder werden bleiben und bezeugen, dass es uns einmal gegeben hat.

Neben Bernard steht die diensthabende Schwester, die an diesem Morgen als Begleiterin abgestellt worden ist. Ich sehe sie zum ersten Mal. Ich weiß nicht, wie sie heißt. Sie wirkt freundlich und geduldig. Hinter der Schwester stehen noch ein paar Leute. Sie halten sich eher im Hintergrund, weil ihnen der Tod an der Grube zu nahe wäre.

Links von der Grube steht Musa aus dem Sudan, der Koch, der sagt, dass es am Ende schon lecker sei, etwas auf dem Teller zu haben, und dass die Liebe überall gleich schmecke. Neben ihm steht Rabia aus Pakistan. Tränenspuren glänzen auf ihren Wangen. Links von ihr steht Makemba Alisa aus der Zentralafrikanischen Republik. Makemba Alisa schluckt ihre Tränen hinunter. Nach einer Weile sucht sie mit der Rechten behutsam Rabias Hand. Die beiden Frauen halten einander, als gäbe ihnen das Mut und Kraft.

Hinter Makemba steht Joseph, der Filipino, der vor Tagen den Fernseher repariert hat. Der Fernseher ist alt, aber er hat lange tadellos funktioniert. Musa hat sich jeden Abend, wenn die letzte Tür zu und der Trubel vorbei war, vor den Fernseher gesetzt und Kochsendungen geschaut. Bis spät in die Nacht. Er hat sich nicht genug wundern können, wie viele solche Sendungen es gibt. Er war von den Kanälen begeistert, auf denen verschiedene Meisterköche von überall auf der Welt den ganzen Tag nur kochen. Als der Fernseher kaputtgegangen ist, war Musa ganz außer sich. Auch wenn er zu niemandem gesagt hat, dass er den Fernseher vermisst, haben wir es alle gewusst. Sein Blick war wehmütig, seine Worte spärlich und mager. Sogar sein Essen schmeckte anders, es war auf einmal herb. Franc und Joseph machten den Fernseher einmal auf und sahen sich sein Innenleben an. Joseph suchte erst mal im Internet die Schaltpläne heraus, dann fand er noch ein Geschäft, das Ersatzteile verkaufte, und bestellte sie. Nach gut einer Woche brachte der Briefträger ein handliches Paket. Jetzt, wo der Fernseher repariert ist, schaut Musa wieder am Abend und bis spät in die Nacht seine Kochsendungen.

Neben Joseph steht Luminiţa. Luminiţa kommt aus Rumänien. Sie gilt als vermisst. Sie hat nichts unternommen, damit die Ämter das anders sehen. Sie hat mir gesagt, dass sie daran nichts ändern will, schon gar nicht jetzt, wo sie nach langer Zeit wieder leichter atmet und denkt und sich nach Langem wieder lebendig fühlt. Sie hat mir gesagt, dass sie sich fühlt, als hätte sie alles, was sie bedrückt hat, in einen großen Koffer gegeben und diesen in einem Schließfach am Bahnhof gelassen, den Schlüssel aber von der Brücke, die die vier grünen Drachen bewachen, in den Fluss geworfen, wo ihn ein Fisch verschluckt hat, der später von einem größeren Fisch gefressen worden ist, und dieser wieder von einem größeren und so weiter, aus dem Fluss ins Meer und in den Ozean. Luminiţa hält in der rechten Hand einen Strauß Sommerblumen, den sie in der Früh auf der Wiese hinter dem Heim gepflückt hat. Vom langen Halten tut ihr das Handgelenk weh.

Neben Luminiţa steht Vesna, die Sozialarbeiterin, die aus der Zentrale zu uns gekommen ist. Die junge Frau, sie ist nicht einmal fünfundzwanzig und dem Anschein nach sogar noch jünger, hat das Gesicht und den Körper eines Kindes. Mitten im Gesicht ihre großen, erschreckten Augen, Rehaugen gleich. Sie hat vor Monaten ihr Studium abgeschlossen. Weil sie aber wie die meisten jungen Leute keine Arbeit bekommt, arbeitet sie ehrenamtlich. Sie hofft, auf diese Weise Erfahrungen zu sammeln und vielleicht irgendwann später die Chance auf eine richtige Stelle zu bekommen. Vesna und Luminiţa sind sich in den letzten Wochen nähergekommen. Vesna scheint mir weniger schüchtern zu sein, und Luminiţa habe ich hin und wieder lachen gesehen. Vesna muss dringend aufs Klo. Sie überlegt, ob sie sich eine Blasenentzündung geholt hat. Bevor sie aus dem Heim gegangen ist, war sie auf dem Klo, und jetzt drückt es schon wieder. Wie blöd. Wo soll sie zwischen diesen Gräbern eine Toilette finden?

Etwas abseits von den Übrigen steht ein junger Mann. Er steht eine Weile, dann spaziert er zur nächstgelegenen Bank und setzt sich. Von dort aus sieht er sich die versammelte Menge an. Wenn Aida, die Putzfrau, auf dem Begräbnis wäre, würde sie sich an ihn erinnern, sie hat ihn zumindest das eine Mal in der Früh von mir weggesehen sehen. Wer er ist, weiß sie nicht. Ich habe es ihr nicht gesagt. Ich weiß nicht einmal selbst, wer er ist. Der Mann sieht zufrieden aus. Er denkt sich, dass am Ende alles irgendwie ist, wie es sein soll, und dass sich wieder einmal alles irgendwie ausgeht.

Als aus den Lautsprechern die Trauermusik ertönt, kommen die Gedanken ins Stocken. Alle schauen vor sich hin, alle warten darauf, was nun kommt. Einer der vier Uniformierten, die am Grab stehen, geht ans Mikrophon und sagt ein paar offizielle Worte. Dann überfliegt er mit einem Blick die Anwesenden, wie um zu testen, ob noch jemand etwas sagen will. In Gedanken zählt er bis dreißig. Weil niemand hervortritt, wendet er sich den Männern am Grab zu. Auf ein Zeichen hin stellen sie sich neben ihn. Sie stehen ruhig da. Einer von ihnen hält eine Holzstange mit der Staatsfahne, die er ein paarmal über dem offenen Grab hin und her schwenkt. Dann wickelt er die Fahne auf die Stange, und die Männer gehen ab.

Die Leute, die hier zusammengekommen sind, blicken noch ein paar Sekunden schweigend vor sich hin. Jeder überlegt für sich, ob jetzt Schluss ist und ob sie jetzt gehen können, oder ob sie aus Höflichkeit noch ein wenig stehenbleiben müssen.

Die alten Leute treten von einem Fuß auf den andern, als würde durch die Schuhe die Kälte eindringen, in Wahrheit ist es die Angst. An diesem Morgen ist der Tod nicht zu ihnen gekommen, aber sie sind von sich aus in seinen Garten gegangen, als forderten sie ihn heraus, als wären sie gekommen, um ihn zu bitten, kurz noch woanders reinzuschauen. Hauptsächlich denken sie sich, dass es mir gut geht, weil ich es hinter mir habe. Die Leute fürchten sich nicht vor dem Tod, sie fürchten sich vor dem Schmerz in den letzten Augenblicken. Und sie haben Angst, weil sie nicht wissen, wohin sie gehen und was sie dort erwartet, wenn es ein Dort überhaupt gibt; und wenn nicht, was eben stattdessen sein wird. Mir, der ich die Schwelle zwischen hier und dort überschritten habe, geht es ihrer Meinung nach gut, den Umständen entsprechend. Außerdem habe ich Glück gehabt. Ich bin im Schlaf gestorben. Die Leute wünschen sich, im Schlaf zu sterben, auch wenn es für die meisten beim Wunsch bleibt.

Auch Makemba Alisa, Rabia, Musa, Luminiţa und Joseph treten von einem Fuß auf den andern; auch sie lässt die Morgenkälte zittern.

Einzig Konstanca steht ruhig und bewegt sich nicht. Rina steht geduldig neben ihr und wartet. Adam sieht hin und wieder zu den beiden hinüber. Er ist entschlossen, hinzugehen, Konstanca zu begrüßen und die Frau, die bei ihr ist, kennenzulernen, aber nicht jetzt. Er muss noch ein wenig warten.

Teil 2

ERINNERUNGEN SIND NUR EIN SPIEL, MEISTENS EIN HARMLOSES

Vor Tagen bin ich achtzig geworden.

Achtzig Jahre sind eine lange Zeit, fast zu lang für einen einzelnen Menschen, und zu lang für einen einsamen Menschen. Im Grunde war ich all die Jahre nicht allein, und auch nicht einsam, ich war ja von Menschen umgeben, die ich mochte. Jetzt, wo die meisten dieser Menschen nicht mehr sind, weil sie dort sind, wo auch ich bald hingehen werde, bin ich vor allem von Erinnerungen umgeben.

Ich habe Erinnerungen aller Art. Ihr Gemeinsames ist, dass sie mit den Jahren begonnen haben, ihre Formen und Farben zu verändern, wie Glas, das von Zeit zu Zeit eingeschmolzen wird, sich verformt und dann rasch wieder aushärtet. Es kommt vor, dass sie mich einen Moment lang verlassen, aber schon im nächsten Moment sind sie wieder da. In anderer Form, aber es sind meine. Alles ist ein Spiel.

Das Leben ist nicht schlecht. Ganz im Gegenteil, ich habe noch nie so viele Annehmlichkeiten und Luxus genossen. In der betreuten Einzimmerwohnung, die hell und groß ist, brennt immer das Licht. Ich kann die Helligkeit regulieren, ganz abdrehen kann ich wegen der Sicherheit nicht. Ich habe einen kleinen Kühlschrank, in dem kleine Imbisse liegen, Seniorenportionen, das Wasser aus dem Wasserhahn ist gut. Wenn die Temperatur in der Wohnung auf weniger als einundzwanzig Grad fällt, werden die Heizkörper warm, und wenn sie auf über achtundzwanzig Grad steigt, schaltet sich die Kühlung ein. Ich habe auch ein Telefon mit einer Notruftaste, aber ich verwende es nicht. Was ich verwende, ist der Fernseher und der Radioapparat. Die Wohnung hat einen kleinen Balkon, einer hat dort bequem Platz, zwei vielleicht, wenn sie zusammenrücken. Auf dem Balkon putze ich die Schuhe.

Jeden Tag um halb eins bringen sie mir das Essen. Das Menü ist eine Woche im Voraus bekannt, aber es macht mir keine Freude. Ich habe mich im Leben trotz zeitweisen Mangels und Hungers an allem überessen. Außerdem schmeckt alles gleich, als würden sie unten in der Küche für jedes Gericht dieselbe Gewürzmischung verwenden. Das heißt aber nicht, dass ich nicht dankbar bin. Ich esse immer auf, was sie mir bringen. Vielleicht esse ich nicht ganz auf, aber ich esse. Für die, die das möchten, wird in der Wohnung aufgedeckt, für die übrigen im Speisesaal. Im Gemeinschaftsraum esse ich nicht gern. Ich mag das Schmatzen, das Räuspern und das Besteckklappern nicht. Ich kann den Geruch von Essen, vermischt mit dem Geruch nach desinfizierten und ausgewaschenen Kleidern, nach Urin und alten, gebrechlichen Körpern, nicht ausstehen. Das nimmt mir noch das bisschen Appetit, das ich habe. Gefrühstückt wird, abgesehen von den Kranken, im Speisesaal. Ich habe keine andere Wahl, als mit allen zusammen zu essen. Abendessen gibt es für mich schon seit Jahren keines. Für gewöhnlich trinke ich einen Tee, manchmal esse ich ein Kompott. Das ist alles.

Jeden Tag leert mir die Putzfrau den Abfalleimer aus und wischt, wenn gewischt werden muss. Zweimal in der Woche holen sie meine Schmutzwäsche und bringen sie frisch gewaschen und gebügelt wieder. Einmal in der Woche überziehen sie mir das Bett. Jeden ersten Dienstag im Monat besucht mich die Ärztin. Normalerweise sage ich, dass ich mich gut fühle und dass alles in Ordnung ist. Nur wenn ich wirklich Probleme habe, bitte ich sie um Hilfe. Aber das ist fast nie der Fall, denn im Gegensatz zu den meisten hier gedulde ich mich lieber ein bisschen. Die Leute jammern ununterbrochen, dass ihnen der Darmausgang wehtut und dass es im Bauch zwickt, dass der Kopf zittert, dass sie schnell außer Atem sind und ihr Herz bei der kleinsten Anstrengung schlägt wie verrückt, sodass ihnen schwindlig wird und sie das Gefühl haben, gleich in Ohnmacht zu fallen. Wie soll’s ihnen schon gehen?! Möchten sie sich fühlen wie mit zwanzig, dreißig?! Möchten sie sich wie Vierzig-, Fünfzigjährige fühlen? Das sind bloß lästige, verwöhnte Greise.

Trotz meiner hartnäckigen Beteuerungen, dass es mir gut geht, misst mir die Ärztin jedes Mal, wenn sie kommt, den Blutdruck. Sie sagt, es kann nicht schaden. Jedes halbe Jahr habe ich eine Kontrolluntersuchung. Sie nehmen mir Blut und Wasser ab. Die Ärzte sind mit den Befunden zufrieden. Sie sagen, dass es nicht besser sein könnte. Ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt, denn ich fühle mich immer schwächer. Aber ich verstehe. Das Alter.

Der Block, in dem ich wohne, hat einen Lift, der breit genug für zwei Rollstühle und tief genug für ein Rollbett und einen Begleiter ist. Im Erdgeschoß ist ein kleiner Kiosk. Hinter dem Gebäude ist ein eingezäunter Park, in dem Bänke stehen. Einen halben Tag sind die einen in der Sonne und die andern im Schatten, dann dreht sich das um. Nicht weit von den Bänken sind Vogelhäuser, in denen Spatzen und Meisen herumhüpfen, darunter wanken Tauben, die ihre Zufriedenheit und Unzufriedenheit hinausgurren, wie eh und je.

Mitten im Park ist ein Fischteich mit kleinen Goldfischen und Schildkröten, und dahinter ein Pavillon. Vielleicht hat es früher einmal im Pavillon Platzkonzerte gegeben, vielleicht haben die, die dazu noch imstande waren, jeden Samstag- oder Sonntagvormittag hier getanzt, und die Übrigen haben ihnen zugeschaut. Ich habe noch nichts dergleichen erlebt. Und wenn in den letzten Jahren so etwas stattgefunden haben sollte, wüsste ich es, weil es mir die, die länger hier wohnen, gesagt hätten. Doch niemand hat mir etwas in diese Richtung gesagt. Vielleicht auch deshalb, weil ich nicht gefragt habe. Ich habe nicht gefragt, weil es sich nicht ergeben hat. Mit den Leuten hier habe ich nicht mehr den Umgang, den es bräuchte.

Mit den Leuten hier habe ich vor allem deshalb keinen Umgang, weil ihre Geschichten alle gleich langweilig sind und weil ihre Angst vor dem Tod so laut ist, dass sie die anderen Gedanken übertönt. Sie reden, als wären sie Klone eines einzigen Menschen mit einer langweiligen Vergangenheit, der das Jetzt nicht spürt und sich vor der Zukunft fürchtet, weil er weiß, dass nicht mehr viel davon übrig ist. Die Angst lähmt ihren Verstand und manchmal sogar ihren Körper. Die Gespräche wirken wie eine Theateraufführung, in der die Schauspieler sich so in ihre Rollen hineinversetzt haben, dass sie nicht mehr wissen, dass es Theater ist. Sie halten alles für echt.

Über die Toten reden sie, als würden sie noch immer leben, als wären sie nur eine Weile fort und müssten irgendwann wiederkommen. Nur, wohin sollen sie gegangen sein? Ans Meer? In die Berge? Zu ihren Angehörigen, die die ganzen Jahre über nicht einmal zu Besuch gekommen sind, sich nur hie und da mit einer Ansichtskarte mit schönen Grüßen oder einem Geburtstagsbillett und einem Neujahrsgruß an sie erinnert haben, und jetzt, wo die erschöpften Greise aufgehört haben, ihre Ausscheidungen zu kontrollieren und der Schmerz ihren Verstand verkrüppelt hat, sollen sie es sich anders überlegt und sich entschlossen haben, sie zu sich nehmen? Das ist wohl nicht anzunehmen. Aber meine Mitbewohner glauben lieber das, als sich einzugestehen, dass die, die gegangen sind, nicht wiederkommen werden, weil Tote halt nicht wiederkommen. Außerdem würde ich gern wissen, wo Platz für sie wäre, wenn zufällig mal wirklich einer zurückkommen sollte. Ihre Betten sind spätestens in einer Woche belegt. Ihre Schränke werden ausgeräumt, desinfiziert und schon bald mit den Sachen gefüllt, die die neuen Bewohner bringen. Hin und wieder bleibt etwas von ihnen zurück. Manchmal eine Wanduhr, manchmal eine Topfpflanze, die gerade blüht und die wegzuschmeißen schade wäre, manchmal ein Kalender, an dem ein paar Blätter noch nicht abgerissen sind. Im Wesentlichen aber bleibt von den Bewohnern, die weggehen, nichts übrig. So sieht es bei uns aus.

Achtzig Jahre sind eine lange Zeit, darum kann ich sagen, dass das Leben noch nie besser war. Ich habe den Krieg überlebt, in dem Millionen gestorben sind. Ich habe ihn überlebt, weil ich zum Einrücken zu jung war und weil ich nicht in Häuser geflüchtet bin, die von Bomben getroffen wurden. Ich habe eine Hungersnot überlebt, damals ist nicht mal Gras gewachsen. Die Leute haben im Herbst zuerst die Halme und im Winter dann noch die Wurzeln gegessen. Ich bin auf der anderen Seite des Stacheldrahts geblieben. Ich habe die Epidemie mit der im Labor entwickelten Krankheit überlebt, vor allem, weil ich kein fremdes Blut gebraucht und zu keiner Risikogruppe gehört habe. Ich habe Erdbeben und Überschwemmungen überlebt. Ich war gerade woanders. Ich habe Unglücke überlebt, weil ich keine abgestürzten Flugzeuge, keine entgleisten Züge und keine gesunkenen Schiffe bestiegen habe. Ich habe alle möglichen Krankheiten, die vom Tier auf den Menschen übertragen wurden, und die tödlichen Bakterien, mit denen das Gemüse vergiftet war, überlebt. Ich habe Glück gehabt und nicht das Fleisch dieser Kühe und Schweine und Enten und Zucchini und Gurken gegessen. Ich habe Terroranschläge überlebt. Sie sind woanders passiert. Und manchmal kommt es mir vor, als ob ich mich selbst überlebt habe.

Muss ich dafür dankbar sein? Viele Bewohner haben auf den Wänden und Tischen kleine Bilder, Ikonen, Kruzifixe, Kerzenleuchter, Zimmeraltäre, heilige Bücher, von denen einige von links nach rechts, andere von rechts nach links und wieder andere von oben nach unten gelesen werden; sie haben Gebetsteppiche, rituelle Gefäße und Weihrauch. Mehrmals am Tag bedanken sie sich für alles, was sie hatten, und für alles, was sie haben, sie bedanken sich für die unendliche Liebe, und im selben Atemzug bitten sie um Erbarmen. Wer vertraut, bittet nicht um Erbarmen. Wer vertraut, der bittet nicht für sich, sondern für andere, damit auch sie Vertrauen fassen mögen. Denke ich jedenfalls.

Manchmal finde ich, dass ihre tägliche Beterei sie nicht zu besseren Menschen macht, sondern zu schlechteren. Die Bosheit ist nicht mit dem Alter gekommen. Sie tragen sie von jeher in sich und waren nicht in der Lage oder willens, sie loszuwerden. Kein Gebet hat gefruchtet. Vielleicht waren die Bitten nicht innig genug. Vielleicht denken sie, dass alles, was in den Büchern steht, die sie küssen, bevor sie sie aufschlagen, für die andern gilt, während für sie nur die Zeilen gelten, die ihnen zusagen. Vielleicht denken sie, dass es reicht, zu reden und nicht auch zu tun, was recht ist. Ich weiß nicht. Ich will sie nicht verurteilen. Ich weiß aber, dass ihnen die Bosheit im Alter irgendwann von der Zunge rinnt und unter den Nägeln hervorzusickern beginnt. Aber mit ihnen gebe ich mich nicht ab. Ich lasse sie in Frieden und hoffe, dass auch sie mich in Frieden lassen.

Im Keller des Gebäudes sind drei Gebetsräume. Jeden Tag kommen die verschiedenen Seelsorger. Sie trösten und ermutigen, salben und begleiten die Gehenden. Ich würde gern hören, was sie morgens und abends erbitten, wenn sie allein sind, und was sie erbitten werden, wenn sie erst einmal in unserer Haut stecken. Oder ist ihr Vertrauen wirklich so groß, dass sie weder jetzt noch dann für sich bitten werden? Ich werde das natürlich nie erfahren, aber es interessiert mich, so wie mich noch andere Dinge interessieren.

Mich interessiert die Zukunft. Ich würde gern die Tür zwischen dem Jetzt und dem Dann einen Spaltbreit aufmachen und in die Zukunft schielen – nur so lange, bis ich sehe, ob die Menschen in der Zukunft glücklicher sind als wir. Mich interessiert, ob für die Kinder das Gras nach der Mahd auf die gleiche Art riecht wie damals für uns, ob sie die Bläschen sehen, die sich während eines Sommerregens in den Pfützen bilden, oder ob sie auf ihren Gesichtern die Sonne spüren und den besonderen Geruch nach verbrannter Haut empfinden, den sie erst gar nicht wahrnehmen, der aber später in der Erinnerung immer stärker wird, wenn sie sich immer mehr nach der Zeit sehnen werden, die hinter ihnen liegt, obwohl es ihnen nicht schlecht geht. Mich interessiert, wo sie hineinwachsen werden, was sie tun und wie sie leben werden. Werden sie ein schöneres Leben haben als wir? Werden sie teilen können? Werden sie geben können? Ich weiß nicht. Ich wünsche ihnen aber, dass die Welt dann besser und schöner ist.

Ich brauche keine Antworten, um glücklich zu sein. Die Welt scheint besser zu werden. Vielleicht nur in meinen Vorstellungen und Vergleichen. Aber wenn mich jemand fragte, ob die Welt besser wird, würde ich ja sagen. Weil ich es glaube.

Meine Augen haben genug Entsetzliches gesehen, um blind zu werden. Meine Ohren haben genug Schreckliches gehört, um taub zu werden. Ich wurde verschont, vielleicht nur, um Zeuge zu sein. Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass ich begonnen habe, die Dinge zu vergessen.

Das Vergessen hat mir zuerst Angst gemacht. Bei der Verkäuferin im Kiosk bestellte ich ein dickes Heft mit steifem Einband. Als ich es bekam, fing ich an, meine Erinnerungen aufzuschreiben. Als ich am nächsten Tag las, was ich geschrieben hatte, wurde ich das Gefühl nicht los, die Erinnerungen von jemand anderem zu lesen. Ich schrieb sie noch einmal auf. Und als ich sie am dritten Tag las, kamen sie mir um nichts eigener vor.