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Widmungen

Großen Dank möchte ich Frau Barbara Fleckl und

Frau Dr. Theresa Wahl-Weghofer aussprechen,

die das Romankonzept unermüdlich immer und immer wieder

auf Schlüssigkeit und Konkludenz überprüft haben.

Besonderen Dank möchte ich meiner Frau Susanne aussprechen,

die mich in diesem Romankonzept bestärkt hat

und bis zur Endfertigung die treibende Kraft dahinter war,

ohne die ich die Geduld und Ausdauer kaum finden hätte können.

DANKE

Wolfgang Grin

Flug MH370

Tagebuch der Apokalypse

© 2018 Wolfgang Grin

Erste Auflage

Autor: Wolfgang Grin

Umschlaggestaltung, Illustration: Wolfgang Grin

Lektorat, Korrektorat: Susanne Grin

Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel GmbH

ISBN: 978-3-99070-582-7

ISBN: 978-3-99070-583-4 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

Spandau, Berlin-
8. März 1965 / 10:00 a.m. MEZ

Washington D.C. USA, Weißes Haus-
8. März 2014 / 3:40 a.m. CT

Islamabad, Pakistan-
4. Oktober 2013 / 8:00 a.m. PKT

Kuala Lumpur, Malaysien-
7. März 2014 / 7:00 p.m. ST

Faridar, Bergmassiv in Afghanistan-
5. Oktober 2013 / 5:00 p.m. AFT

Kuala Lumpur, Malaysien-
7. März 2014 / 8:30 p.m. ST

Wien, Österreich-
17. Oktober 2013 / 9:55 a.m. CET

Damaskus, Syrien-
2. November 2013 / 4:30 p.m. MD

Faridar, Bergmassiv in Afghanistan-
5. Oktober 2013 / 5:00 p.m. AFT

Damaskus, Syrien-
2. November 2013 / 6:30 p.m. MD

Faridar, Bergmassiv, Afghanistan-
5. Oktober 2013 / 9:00 p.m. AFT

Schwechat, Österreich, Vienna International Airport-
16. Oktober 2013 / 6:55 a.m. CET

Köln, Deutschland-
24. Dezember 2013 / 5:00 p.m. MEZ

Über dem südchinesischen Meer
8. März 2014 / 12:46 p.m. ST

Marquadah, Syrien-
6. März 2014 / 4:30 p.m. MD

Köln, Deutschland, Neusser Straße-
24. Dezember 2013 / 11:00 p.m. CET

New York, USA-
12. Oktober 2013 / 8:00 a.m. ET

Suruc, Osttürkei-
28. Dezember 2013 / 8:00 a.m. EET

New York, USA-
12. Oktober 2013 / 11:00 a.m. ET

Kuala Lumpur, Malaysien
8. März 2014 / 7:15 a.m. ST

New York, USA-
28. Oktober 2013 / 11:00 a.m. ET

Wien, Österreich-
24. Oktober 2013 / 11:10 a.m. CET

Über dem Südchinesischen Meer
8. März 2014 / 1.30 a.m. ST

New York, USA-
2. November 2013 / 9:30 a.m. ET

Suruc, Osttürkei-
28. Dezember 2013 / 11:30 a.m. ET

Pullach an der Isar, Deutschland-
6. Januar 2014, 8:20 a.m. CET

New York, USA-
11. Januar 2014 / 11:30 a.m. ET

Über dem Südchinesischen Meer-
8. März 2014 / 3:30 a.m. ST

Schwechat bei Wien, Österreich-
28. Oktober 2013 / 9:20 a.m. CET

Sinjar, Irak-
9. März 2014 / 6:50 a.m. UTC+3

Washington D.C., USA, Weißes Haus
8. März 2014 / 5:20 a.m. CT

Östlich von Sinjar, Irak-
9. März 2014 / 11:10 a.m. UTC+3

Pullach an der Isar, Deutschland-
9. März 2014 /5:10 a.m. CET

New York, USA,-
9. März 2014 / 9:20 p.m. ET

Faridar, Afghanistan-
9. März 2014 / 4:10 p.m. AFT

Washington D.C., USA, Weißes Haus-
9. März 2014 / 12:10 p.m. CT

Berlin, Deutschland-
9. März 2014 / 7:10 a.m. CET

Östlich von Sinjar, Irak-
9. März 2014 / 5:50 p.m. UTC+3

Östlich von Sinjar, Irak-
9. März 2014 / 6:20 p.m. UTC+3

Pullach an der Isar, Deutschland-
9. März 2014 / 3:20 p.m. CET

Washington D.C., USA, Weißes Haus-
9. März 2014 / 15:10 p.m. CT

Sinjar, Irak-
10. März 2014 / 3:40 a.m. UTC+3

Östlich von Sinjar, Irak (1)-
10. März 2014 / 4:10 a.m. UTC+3

Östlich von Sinjar, Irak (2)-
10. März 2014 / 4:10 a.m. UTC+3

Östlich von Sinjar, Irak(3)-
10. März 2014 / 4:10 a.m. UTC+3

Arusha, Tansania,
11. März 2014 / 7:30 a.m. EAT

Östlich von Sinjar, Irak-
10. März 2014 / 5:20 p.m. UTC+2

Washington D.C., USA, Weißes Haus-
9. März 2014 / 16:20 p.m. CT

Westlich von Erbil, Irak-
10. März 2014 / 9:50 a.m. UTC+3

Westlich von Minsk, Belarus-
10. März 2014, 3:20 p.m. EET

Nördlich von Mosul, Irak-
10. März 2014 / 7:50 a.m. UTC+3

Erbil, Irak-
10. März 2014 / 5:50 p.m. UTC+3

Bagdad, Irak-
10. März 2014 / 1:40 p.m. UTC+3

Vienna International Airport, Österreich-
11. März 2014 / 4:52 p.m. CET

… Jahre später, Paris, Frankreich, im Frühling

P R O L O G

Spandau, Berlin

8. März 1965 / 10:00 a.m. MEZ

Franz Josef war spät dran. Das war absolut untypisch für ihn, da er für gewöhnlich ein sehr ordentlicher und pünktlicher Mensch war, aber der Verkehr hinaus aus Berlin war um diese Uhrzeit sehr schleppend. Knapp vor zehn Uhr zeigten die Zeiger seiner Armbanduhr, als sein Wagen in die Einfahrt des Filmgeländes der Central Cinema Company – kurz CCC – einbog. Niemand am Gelände – auch nicht der Portier am Schranken – hatte etwas dagegen, dass er mit seinem Wagen bis zum Haupteingang des Verwaltungsgebäudes vorfuhr. Er war hier praktisch zu Hause. Als international angesehener Filmregisseur war das Filmstudio der CCC in Spandau gleichsam zu seinem zweiten Zuhause geworden und nahezu jeder hier am Set wusste, wer er war.

Tatsächlich ging es heute aber nicht um Drehaufnahmen, sondern um eine Besprechung zu seinem nächsten Film, denn obwohl über die meisten Einzelheiten schon weitgehendes Einvernehmen mit den Produzenten bestand, gab es doch noch einige wichtige Detailfragen zu erörtern. Die weiblichen Nebenrollen waren noch strittig, ebenso wie der Drehort für die Außenaufnahmen. Außerdem drängte die Zeit, denn schon bald sollte Drehbeginn sein und dies verlangte einen Abschluss der Planung und Vorbereitung.

Franz Josef übergab seinen dicken Pelzmantel der Sekretärin im Entree der Direktion und trat in den großzügigen Besprechungsraum der ehemaligen Pulverfabrik ein. Das weiträumige Büro war mit dunklem Holz getäfelt und vor den bodentiefen Fenstern hingen schwere Samtvorhänge. Eine ausladende, dunkle Ledersitzgruppe im englischen Herrenhausstil zierte den Mittelpunkt des Raumes und obwohl es ein sonniger Märztag war, brannten an der Decke die Lüster. Artur Brauner stand, als Hausherr mit Zigarre, hinter einem der schweren Lederfauteuils. Vor ihm saß sein Co-Produzent Eberhard Meixner. Auf der weiträumigen Sitzgruppe verteilten sich mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Produktionsstabes sowie Raimund Rosenberger, der bekannte Filmkomponist. Abseits am Fenster lehnte mit einem Glas in der Hand ein blonder, athletisch wirkender Mitdreißiger, der das Treiben jenseits bei den Filmbaracken aus gemütlicher Distanz beobachtete. Es waren die Vorbereitungen zum Film „Die weiße Hölle von Manitoba“ und die Figur am Fenster war Lex Barker. Er zählte zu den Fixpunkten im gegenwärtigen Filmprojekt und konnte deshalb der kommenden Diskussion gelassen beiwohnen.

„Guten Morgen, meine Herren“, grüßte Franz Josef in die Runde, ohne die anwesenden Damen eines Extragrußes zu bedenken. „Guten Morgen“, erwiderte Meixner, der schon seit Minuten mit einem Löffel in seiner Kaffeeschale rührte. „Wir sind jetzt vollständig und wenn du – Artur – es erlaubst, darf ich beginnen.“ Meixner stand auf und machte einige Schritte in die Mitte des Saales. “Für die Rolle des Machredsch von Mossul konnten wir Djordje Nenadovic gewinnen. Ich glaube, wir waren uns alle einig, dass er die Idealbesetzung ist und wir haben in der Vergangenheit immer sehr gut mit ihm zusammengearbeitet. Was sagst du, Alex?“

Alexander Crichlow Barker, wie Lex Barker mit bürgerlichem Namen hieß, nickte zustimmend vom Fenster. Er sprach für einen Amerikaner auffallend gut Deutsch und hatte deshalb kein Problem, der Unterhaltung zu folgen. Immerhin war er auch nach Deutschland gekommen, um zwei Schallplatten mit Martin Böttcher aufzunehmen.

„Bei der Rolle der Ingdscha sind wir uns noch nicht einig. Die Probeaufnahmen mit Maria Versini hast du gesehen, Franz Josef?“

„Habe ich. Sie war ja auch als Nscho-tschi ideal. Soll mir recht sein“, erwiderte Franz Josef, der es sich mittlerweile am gegenüberliegenden Ende in einem Fauteuil bequem gemacht hatte.

„Gut“, fuhr Raimund fort. „dann ist die Besetzungsliste im Wesentlichen fertig. Dann gibt es lediglich noch eine Kleinigkeit!“

Im Raum wurde es still. Jeder wusste, dass eine solche Ankündigung in Wahrheit etwas sehr Wichtiges und Essentielles betreffen musste. Schweigen erfüllte das Büro der CCC-Filmproduktion. Keiner der untergeordneten Anwesenden wagte es, aufzublicken. Franz Josef schaute fragend in die Runde.

„Wir drehen in Andalusien“, durchbrach Artur Brauner die Stille. „Tut mir leid, Franz Josef, aber es ist eine Frage des Budgets. Wir haben es durchgerechnet. Das Filmset in der Türkei kostet uns fast das Doppelte, während wir in Spanien fast alles fertig vorfinden.“

„Artur! Das kannst du nicht machen. Die Landschaft ist einzigartig. Jeder Karl-May Leser würde den Unterschied sofort merken. Der Film wird in die Geschichte eingehen und man kann nicht einfach den Handlungsort auswechseln!“ schrie Franz Josef entrüstet.

„Nicht den Handlungsort! Den Drehort! Niemand wird den Unterschied erkennen. Berge sind Berge und Steine sind Steine“, entgegnete Artur.

„Spanien ist nicht Kurdistan! Karl May hat nicht umsonst diesen Ort gewählt.“

„Schwachsinn“, meldete sich Eberhard Meixner zu Wort. „Karl May war nie außerhalb Europas. Der kannte Kurdistan überhaupt nicht.“

„Und was ist mit Mosul?“, fragte Franz Josef, „schließlich spielt ein Teil des Drehbuches dort.“

„Bauen wir unten im Studio auf. Ist kein Problem und deutlich billiger“, antwortete Meixner.

„Dann könnt ihr ja den Film gleich `Durchs wilde Andalusien´ nennen“, spottete Franz Josef.

„Quatsch“, unterbrach Artur mit dem Ansinnen, die Diskussion zu beenden. “`Durchs wilde Kurdistan´ wird auch so ein Kassenschlager werden und die halbe Welt kennt sowieso kein Kurdistan. In fünfzig Jahren wird diese Wüste sowieso nur durch unseren Film in den Geschichtsbüchern zu finden sein. Wenn überhaupt.“

Artur Brauner konnte nicht wissen, wie falsch er mit seiner Einschätzung liegen würde. Doch der mehrfach international ausgezeichnete Filmproduzent und Oscar-Preisträger würde im hohen Alter noch erleben, wie sich sein Filmtitel `Durchs wilde Kurdistan´ in ganz anderer Art und Weise traurig bewahrheiten würde.

Washington D.C. USA, Weißes Haus

8. März 2014 / 3:40 a.m. CT

Soll das heißen, das Flugzeug ist einfach verschwunden? Ein Großraumjet mit 227 Passagieren? Einfach so?“

Das Unfassbare stand ihr ins Gesicht geschrieben, als Julia O´Neil vom United States Secret Service eiligen Schrittes über den Parkplatz hinter dem Weißen Haus zum Eingang des Westflügels eilte. Trotz der unchristlichen Zeit war sie sofort hell wach, als sie den Anruf aus dem Büro erhielt. Der Weg von ihrem Apartment wenige Blocks entfernt am Potomac war zu dieser Zeit in wenigen Minuten zurückgelegt und so brauchte sie knapp weniger als zwanzig Minuten, bis sie in die Einfahrt des Mitarbeiterparkplatzes in der Pennsylvania Avenue 1600 einbog und auf den für sie persönlich reservierten Parkplatz einparkte. Ja, sie hatte es weit gebracht. Vom Special Agent bis zur Leiterin des Secret Service. Der Parkplatz im Weißen Haus war nur ein kleines Zeichen ihres Status, welcher für Normalsterbliche kaum zu erahnen war. Sie hatte in ihrer Position uneingeschränkten Zugang zu allen Teilen und Bereichen dieses historischen Gebäudes und wenngleich sie an ihrem Jackett ebenso wie alle anderen Mitarbeiter im Weißen Haus ihren Ausweis trug, der sie als Spitzenbeamtin auszeichnete, bedurfte sie ihn im Alltag in Wahrheit nie. Auch jetzt wurde sie vom Wachpersonal an der Einfahrt gleich durchgewinkt ohne lange Kontrolle, die eigentlich trotzdem hätte erfolgen müssen, auch wenn Stewart Ferguson sie schon auf der anderen Seite der Einfahrt erwartete. Sie würde sich über diese unentschuldbare Nachlässigkeit bei ihrem nächsten Sicherheitsbriefing mit Nachdruck darüber auslassen, doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Jetzt ahnte Julia den Beginn einer unfassbaren Krise, die dieses Land und vielleicht die ganze Welt in ihren Würgegriff nehmen würde.

Julia lief es kalt über den Rücken, als sie mit Ferguson im Schlepptau über den Kies den kleinen Seiteneingang am Westflügel des Weißen Hauses erreichte. Sie wusste nicht, ob dies am Nachtfrost dieses frühen Märztages lag, oder an der ungeheuren Botschaft, mit der sie Ferguson informierte. „In zehn Minuten sitze ich mit den leitenden Geheimdienstbeamten hier im Keller im Situation Room, um den Präsidenten über die Lage zu informieren. Sie haben also zehn Minuten, um mir Informationen darüber zu geben, was da am anderen Ende der Welt geschehen ist.“

Julia winkte mit der rechten Hand an der Sicherheitskontrolle und wartete mit Ferguson, durch die Sicherheitsschleuse Eintritt zu erhalten. Man merkte, dass um diese Uhrzeit nicht mit einer großen Zusammenkunft gerechnet wurde, aber vom Parkplatz her hörte man schon weitere Limousinen zufahren und einparken. Bald würde es hier von Agenten und leitenden Beamten wimmeln. Julia war froh, unter den ersten zu sein, denn sie hasste es, völlig unbeleckt vor dem Präsidenten zu sitzen und sich irgendeinen Bullshit von NSA oder CSI anzuhören.

Gerade in den ersten Stunden, wenn die Information in einer Krise noch sehr dünn ist, zahlt es sich, aus zu den Gutinformierten zu gehören. Das wollte Julia heute genauso halten.

Julia O`Neil und Stewart Ferguson erreichten die Treppe zum Souterrain des Westflügels, in dem sich der geschichtsträchtige Situation Room befindet.

Julia steuerte zielsicher eines der kleinen, offenstehenden Büros an, die um diese Tageszeit für gewöhnlich unbesetzt sind. Neben der Tür hielt sie inne und wandte sich dem Kaffeeautomaten zu, der leise, aber monoton mit einem tiefen Brummen seine Bereitschaft verkündet. Auch Ferguson blieb stehen und kramte in seiner Sakkotasche nach einem Quarter. Nacheinander füllten sich beide einen großen Pappbecher mit schwarzem, dampfendem Kaffee, der sein koffeinhaltiges Versprechen in wenigen Momenten einlösen würde. Ohne auf die mittlerweile weiter eintreffenden Mitarbeiter zu achten, betrat Julia das verwaiste, noch im Halbdunkel liegende Büro, setzte sich auf eine Ecke der Ledercouch, stützte ihre Ellbögen auf ihre Knie und klammerte sich an den Becher mit dem heißen Getränk. Ferguson blieb stehen, lehnte sich aber merklich müde an die gegenüberliegende Wand und wartete bis seine Chefin bereit war den vollen Umfang der Geschehnisse entgegen zu nehmen.

„Also, Ferguson“, begann Julia, als sie an ihrem Kaffee genippt hatte. „Geben Sie mir einen kurzen zeitlichen Ablauf der Geschehnisse. Vorweg aber: wissen wir, wo das Flugzeug und die 227 Passagiere jetzt sind?“

Ferguson, ein gutaussehender Mitdreißiger im grauen Geschäftsanzug, nahm einen großen Schluck Kaffee, blickte auf und seufzte: “Nun, die NRC hat selbstverständlich Satellitenaufzeichnungen aus der Region und wir konnten zwei weitere unserer Satelliten in Position bringen, bevor noch MH370 herunterkam. Über die Qualität dieser Bilder werden Sie sicher in wenigen Minuten im Situation Room in Kenntnis gesetzt.“

„Wer weiß alles von dem Ort, wo die Maschine jetzt ist?“, unterbrach ihn Julia und blickte voller Sorge auf. „Wir gehen davon aus, dass alle großen Geheimdienste mit eigener Satellitenaufklärung den gleichen Wissensstand haben. Also die Russen, die Chinesen, die Israelis, aber auch Indien und natürlich Großbritannien und Frankreich. Wir glauben aber, dass sie auch alle still halten werden.“

„Das hat Priorität“, sagte Julia, und machte einen großen Schluck aus ihrem Becher, schloss die Augen und legte ihren Kopf in den Nacken: „Es darf nichts davon an die Öffentlichkeit kommen. Vorerst zumindest, bis wir die Lage besser einschätzen können. Hoffentlich ist es dafür nicht schon zu spät.“

Julia atmete tief durch, versuchte sich durchzustrecken. Vor ihren geschlossenen Augen konnte sie sich ausmalen, wie Panik das Land ergreifen würde. Die Börsen würden einbrechen und das nicht nur auf dieser Seite des Atlantik.

„Fangen Sie vom Anfang an. Wo ist dieses Flugzeug nochmal gestartet. Kuala Lumpur?“

„Ja, in Malaysien mit Kurs auf Peking vor etwas mehr als zwölf Stunden.“

Islamabad, Pakistan

4. Oktober 2013 / 8:00 a.m. PKT

Kaum war das Flugzeug auf dem Vorfeld ausgerollt und die Türe geöffnet, war er wieder da. Der Gestank nach Armut und Elend. Eine Ausdünstung, die sich tief bis in die hintersten Hirnwindungen von Joes Gedächtnis gebrannt hatte. Die Passagiere der Businessclass rappelten sich langsam auf mit einer Mischung aus Argwohn und Unbehagen gegenüber der heißen Luft, die durch die offene Kabinentür einströmte. Waren es nur die Spuren des nächtlichen Langstreckenfluges, die einen den Schweiß auf der Stirn aufsteigen ließen oder doch die Hitze, die sich erbarmungslos in Windeseile breit machte. Es war knapp nach acht Uhr morgens und die gleißende Luft auf dem Vorfeld des Islamabad International Airport betrug mit Garantie schon mehr als achtunddreißig Grad Celsius. Joe schnappte sich seine Lederjacke aus dem Gepäcksfach über seinem Sitz und versuchte, sich im Mittelgang der Maschine aufzurichten. Auch das noch, dachte er, als er merkte, dass das Hauptgebäude weit von der Maschine entfernt war. Also runter die Gangway und zu Fuß über das Flugfeld, resignierte Joe beim Anblick des grauen Asphalts durch das ovale Kabinenfenster.

Langsam pressten sich die Passagiere durch die Flugzeugkabine wie durch einen Schlauch zum Ausgang. Die meisten waren Franzosen und Briten, die es geschäftlich in diesen Hinterhof der Welt verschlagen hat. Freilich waren auch Pakistani darunter, aber diese stellten eindeutig die Ausnahme dar. So wie Joe, dem es in diesem Moment bewusst wurde, dass er eigentlich einer von ihnen ist. Nein - gewesen war.

Seinerzeit.

Fünf Jahre ist es her, als Joe das Land verlassen hatte, um die Zukunft im Westen zu suchen. Eine Zeit, die für einen Pakistani ganz und gar nicht einfach gewesen war. Die Narben von 9/11 machten ihm ein Leben in den USA fast unmöglich. Da halfen ihm die Empfehlungen der Economic School of Islamabad, wo er seinen Abschluss gemacht hatte, überhaupt nichts. Ein Moslem, der für eine Green-Card in den USA ansuchte, war fast eine Amtsbeleidigung. Aussichtslos war sein Wunsch, ins Mekka der Wirtschaft zu pilgern, wären da nicht sie gewesen, die sich aus unbegreiflichen Gründen für ihn einsetzten.

Sie hatten den Einfluss und die Verbindungen zu den entscheidenden Stellen in Washington, um seinen Aufenthalt zu arrangieren. Sie standen eines Tages auf der Universität und sprachen ihn an: „Yusuf, du bist mit großem Geschick in der Kunst des Handels von Allah beschenkt worden. Dieses Geschenk verpflichtet dich, große Aufgaben für unser Volk zu bewältigen. Wir würden uns wünschen, wenn du dafür unsere Hilfe annehmen könntest. Lass uns dir deinen Weg ebnen“. Während Joe die Treppen der Gangway aus der Boeing 747 steigt, kommt ihm die Begegnung von damals wie eine Geschichte aus einem arabischen Märchen vor. Er war damals so perplex und so sehr von dem sich öffnenden Lebensweg geblendet, dass er keinesfalls auf die Idee kam, das ihm angebotene Stipendium zu hinterfragen. Ja, Yusuf war wahrscheinlich wirklich der Beste, er war von Allah beschenkt und deshalb musste ihn sein Weg an die Leonard Stern School of Business der Universität New York führen. Das war ihm damals völlig klar und eigentlich fing Joe erst vor wenigen Wochen an, die Begebenheit von damals zu hinterfragen. Während Joe dem Menschentross über das Flugfeld in die Ankunftshalle folgte, erinnerte er sich, wie er damals genau hier von seinen Gönnern verabschiedet wurde. „Yusuf, vergiss dein Volk und deinen Glauben nicht, auch wenn du in der Fremde leben wirst“, gaben sie ihm auf den Weg. Plötzlich war die Einreise in die Vereinigten Staaten und die Aufenthaltsberechtigung kein Problem. Zumindest für zwei Semester an der Universität. Aber das Ausmaß der Fremde erkannte er erst nach einiger Zeit. Ein Moslem, ein Pakistani, war in der Zeit nach 9/11 ein Aussätziger in New York. Leichter wäre es für einen Leprakranken gewesen, unerkannt in der Modelszene zu reüssieren. Die Anfeindungen am Campus waren unerträglich. War es sein Englisch, war es seine Kleidung, war es sein Aussehen, das es ihm unmöglich machte, einen Aushilfsjob anzunehmen.

Ein ganzes Jahr hungerte er sich mit gelegentlichen Vierzig-Dollar-Jobs bei Merrill Lynch durch, indem er Ölförderberichte aus Kuwait ins Englische übersetzte.

Und dann die eigentliche Wende.

Mark, ein Investmentbroker aus der East-Asia Investment Abteilung, sprach ihn an, um ihn für die Kundenbetreuung der arabischen Klienten zu gewinnen. Yusuf änderte seinen Namen auf Joseph um, um in einer arabischkritischen Kultur wieder Fuß in der Gesellschaft fassen zu können. Das Blatt wendete sich tatsächlich und Joe assimilierte sich allmählich in die oberflächliche New Yorker Yuppie Szene. Auch änderte sich sein Alltag zunehmend. Statt die Uni zu besuchen, ließ er sich nun von seinen regelmäßigen Einkommen bestechen und frequentierte häufig die Studentencafés um den Washington Square herum. Freilich, große Sprünge konnte er sich nicht leisten und obwohl Joe versuchte, sich in die typische amerikanische Studentenszene einzufügen, unterschied ihn doch einiges sehr nachhaltig. Während die meisten seiner Kommilitonen in Wohngemeinschaften in der Bronx oder in New Jersey wohnten und jeden Tag mit der Fähre oder der Subway nach Manhattan kamen, wohnte er in Manhattan selbst. Die Adresse 46E verschleierte allerdings gewaltig, um welches Kellerloch es sich in Wahrheit handelte. Dieses Einzimmerapartment im Souterrains eines baufälligen Wohnblockes in der 46. Straße in der Nähe des East Rivers war mehr oder weniger ein Zufallsfund am Schwarzen Brett der Uni. Der Vorteil für Joe: er konnte sogar zu Fuß auf die Uni laufen und das Geld für die Sub sparen. Dienstag und Donnerstag übersetzte er in einem Büro von Merrill Lynch, welches nur zehn Minuten von der Uni entfernt war. Der Job fiel Joe leicht, nicht nur wegen seiner Arabischkenntnisse, sondern auch wegen der typisch immer wiederkehrenden Formulierungen, wenn es um Erklärungen über Förderprobleme ging. Die wenigen Fälle, in denen die Formulierung deutlich vom gewohnten Stil abwich, kommentierte Joe in Klammer mit seinen eigenen Worten. Das muss man etwa so verstehen: „Schlechte Wetterbedingungen verzögern zur Zeit die vorgesehene Pipelineverlegung von X nach Y.“ Eine typische Passage in zahlreichen Berichten, die manchmal jedoch so formuliert wurde: „Die Unvorhersehbarkeit der Wüste verzögert zur Zeit die Pipelineverlegung von X nach Y“. Der feine Unterschied im Arabischen deutete dem Kundigen ganz andere Probleme als etwa einen Wüstensturm an.

Streitereien und Probleme mit Beduinen, lokale territoriale Ansprüche von Nomaden oder einfach nur Geschäftemacherei entlang der Pipelineroute, die für gewöhnlich für den Unternehmer immer mit Kosten verbunden sind. Die persönlichen Anmerkungen von Joe zu seinen Übersetzungen waren – wenn man sie richtig zu deuten wusste – Gold wert. Man konnte vorzeitig erhebliche und kostspielige Probleme herauslesen und gegebenenfalls von dem einen oder dem anderen Projekt die Finger lassen. Zu dieser Zeit war sich Joe dem Wert seiner Kommentare überhaupt nicht bewusst. Auch noch nicht, als ihn eines Tages ein Ruben Rubinowitz in der Mittagspause in Battery Park ansprach. „Mr. Burian, Mr. Joseph Burian“, sprach ihn Rubinowitz damals mit einer Vertrautheit an, als würde er ihn seit Kindheit kennen. „Sie arbeiten doch bei Merrill Lynch. Möchten sie nicht zu uns wechseln?“, fragte er ihn unvermittelt und hielt ihm seine Visitenkarte unter die Nase. Ruben Rubinowitz – Investmentbanking – Salomon Bros. Joe musste wohl wie ein Kamel auf einem Flughafen ausgesehen haben, denn Rubinowitz sah ihm die Verblüffung an und setzte deshalb fort: „Freunde haben mir erzählt, dass sie für uns gute Dienste erbringen könnten. Wir von Salomon Bros. wissen außergewöhnliche Fähigkeiten und Engagement zu schätzen. Sind Sie mit zweiundvierzigtausend einverstanden?“

Ein rüder Stoß von einem Aktenkoffer in Joes linke Niere weckte ihn aus seinen Gedanken. Die Menschenmenge, die schnellen Schrittes über das von erbarmungsloser Hitze heimgesuchte Flugfeld eilte, drängte ihn nun in die gerade mal zwei Meter breite Glastür, die die Verbindung zum Inneren des Flughafengebäudes herstellte. Die Karawane von Passagieren kam abrupt zum Stillstand, da unmittelbar hinter der Glastür die Passkontrolle begann. Trotzdem drängte der hintere Teil der Menschentraube fortwährend weiter, um in den klimatisierten Bauch des Gebäudes zu kommen. Joe suchte seinen Pass aus der linken Jackentasche und überblätterte die ersten beiden Seiten, so dass er gleich die Identifizierungsseite vorzeigen konnte. Wenig Ähnlichkeit hatte auf dem Foto dieser Mann mit Bart, der sich Yusuf Mashi Burian nannte, mit Joe und doch waren beide ein und dieselbe Person. Der Unterschied hätte trotzdem nicht größer sein können.

Kuala Lumpur, Malaysien

7. März 2014 / 7:00 p.m. ST

Zaharie Ahmad Shah machte sich durch den Abendverkehr der Hauptstadt auf den Weg. Um diese Uhrzeit würde er knapp fünfzig Minuten über die Autobahn für die knapp vierzig Kilometer nach Sepang brauchen. Wenn er es erst einmal auf die Autobahn geschafft hatte, dann ging es flott dahin, doch noch steckte er im dichten innerstädtischen Abendverkehr. Kuala Lumpur unterscheidet sich diesbezüglich in keiner Weise von anderen Millionenstädten und Metropolen. Von der schlammigen Flussmündung, was die wörtliche Übersetzung von Kuala Lumpur bedeutet, war längst eine moderne Großstadt geworden, die mehr als eineinhalb Millionen Einwohner zählt. Das ist freilich für eine asiatische Metropole nicht viel, aber das moderate Wachstum ermöglichte den Stadtplanern und Verkehrsplanern Schritt zu halten. Auf diese Weise hatte die Stadt nicht nur Wolkenkratzer wie die Petronas Twintowers erhalten, sondern auch ein modernes und effizientes Straßennetz. Nur im Kern, wo die Gassen noch historisch gerademal Eselsbreite hatten, die Händler wie vor Hunderten Jahren ihre Waren feilboten und Touristen wie Insekten in einem Bau drängten, war mit dem Auto kein Vorankommen möglich. Zaharie liebte die Altstadt. Er war mit seinem Herz hier tief verwurzelt und würde niemals seine Heimat für längere Zeit verlassen wollen. Die Neugierde nach der Fremde und der Geist der frühen Seefahrer steckten aber dennoch in ihm. Seine Freunde und jene, die ihn gut kannten, wunderte es deshalb nicht, dass er es bis zum Kapitän geschafft hatte – Herr über ein Schiff.

Allerdings kreuzte Zaharie nicht über die Ozeane, sondern war Pilot bei der staatlichen Fluglinie Malaysia Airways und sein Schiff war ein Luftschiff – ein Flugzeug. Mit knapp 53 Jahren zählte er zu älteren und sehr erfahrenen Piloten und so wunderte es nicht, dass er einer der wenigen Piloten bei Malaysia war, die auch die Zulassung für die Boeing Tripple Seven hatte, von denen dreizehn Stück im Einsatz sind. Die Leidenschaft zum Fliegen wurde aber mit zunehmendem Alter sogar noch intensiver. Zaharie arbeitete gerne für Malaysia, nicht zuletzt, weil er in der Entwicklung dieses Unternehmens auch ein bisschen einen Spiegel seines Lebensweges sah. Nach der Selbstständigkeit Singapurs begann ein atemberaubender wirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Aufstieg Malaysiens. Dazu gehörte auch die Gründung einer vorerst staatlichen Luftlinie, die nicht nur das junge Land mit der Welt verband, sondern auch den Freigeist der jungen Demokratie hinaustrug. In einer stark vom Islam geprägten Region ging Malaysien von Beginn an einen Weg der Offenheit und Toleranz.

Nach knapp zwanzig Minuten hatte Zaharie es auf die Auffahrt zur Autobahn nach Sepang, wo Kuala Lumpurs internationaler Flughafen liegt, geschafft. Den Rest der Strecke könnte er heute sogar noch unter der Zeit zurücklegen, die er für gewöhnlich dafür rechnen musste. Es würde also noch genug Zeit bleiben, nach dem Briefing mit seinen Kollegen eine Kleinigkeit essen zu gehen, denn vor der Abfahrt blieb ihm keine Zeit mehr übrig. Heute war er seit den Morgenstunden ein Getriebener gewesen. In der Früh auf die Bank, dann die Enkelin von der Schule abgeholt, die Putzerei, seine Nachbarin wegen der Post,… Schlussendlich packte er seinen Pilotenkoffer mit den notwendigsten Gepäckstücken. Viel war es ohnehin nicht, da er in drei Tagen wieder zu Hause sein würde.

In der Abenddämmerung erreichte Zaharie die Ausfahrt des Airports, ließ Ankunft und Abflug links liegen und steuerte zielsicher das Crewgebäude an. Die wenigen Wolken am Himmel schimmerten in tiefem Gold, während dunkle Schatten am Boden Besitz von der Skyline ergriffen. Der Abend brach an. Das Wetter könnte besser nicht sein und auch die Wettervorhersage für seine Flugstrecke, die ihn in dieser Nacht nach Norden führen würde, war unspektakulär. Es würde ein ruhiger Nachtflug nach Peking werden.

Zaharie parkte seinen Honda auf dem riesigen Mitarbeiterparkplatz seiner Airline, stieg aus, strich sich seine blaue Pilotenuniform glatt, nahm Koffer und Kappe aus dem Kofferraum und machte sich, nachdem er den Wagen nochmals mit einem prüfenden Blick versah, auf den Weg zum Crewgebäude. Dieses lag auf den meisten großen Flughäfen der Welt abseits der Ab- und Ankunftsbereiche und die letzte Wegstrecke würde ihn und seine Kollegen ein Minivan führen. Zaharie betrat das Gebäude über ein paar Stufen, musste aber unmittelbar nach dem Eingang innehalten, um seinen Sicherheitsausweis zu suchen. Wenngleich ihn seine Uniform als Kapitän auswies und auch einige Leute ihn an der Sicherheitsschleuse persönlich kannten, war das Vorlegen seines Ausweises Vorschrift. Verständlich, denn mit dem Durchschreiten dieser Sicherheitskontrolle betrat er einen Bereich, zu dem Fremde und Unbefugte keinen Zutritt hatten. Er betrat eine kleine, aber andersartige Welt, in der die Luft der weiten Welt schon zu erahnen war.

Knapp acht Uhr. Mehr als in der Zeit, dachte Zaharie. Da werden sich auch noch eine Tasse Kaffee und die Zeitung von morgen ausgehen.

Faridar, Bergmassiv in Afghanistan

5. Oktober 2013 / 5:00 p.m. AFT

Schon kurze Zeit, nachdem die Sonne über den Horizont gestiegen war, verwandelte sie dieses Tal in eine glühende, karge Bratpfanne. Die spärliche Vegetation, die gelernt hatte, zwischen den schroffen Felsspalten zu überleben, bot kaum Schutz von den mörderischen Sonnenstrahlen. Die wenigen Wasserstellen, die dennoch ein Überleben in dieser unwirtlichen Gegend ermöglichten, blieben einem Fremden verborgen und bis auf wenige kreisende Raubvögel schien das Leben in dieser Einöde einem sowieso den Rücken zugekehrt zu haben. Mit viel Phantasie und gutem Willen, sowie einen Adlerblick vorausgesetzt, konnte man am gegenüberliegenden Berghang etwas erkennen, dass man mit einem schmalen Pfad in Verbindung bringen konnte. Vielleicht hatten hier einmal Menschen gelebt, vielleicht waren hier Beduinen durchgezogen oder hatten hier ein Lager aufgestellt.

Vielleicht war der Pfad aus dieser Zeit, denn man konnte sich kaum vorstellen, dass er auch noch heute von Bedeutung war. Das sollte sich aber noch als Irrtum herausstellen, denn ganz so verlassen, ganz so tot war die Landschaft hier im Grenzgebiet zwischen Iran, Afghanistan und Pakistan nicht, wie man glauben mochte. Auch wenn hier Hunderte Kilometer im Umkreis keine Straße und kein Ort in unserem gewohnten Verständnis zu finden war, so hatten die Extreme der Natur keine Chance, die Menschen von hier zu vertreiben. Hirten und vereinzelt Bauern trotzten der Natur, wenngleich nicht absehbar war, wer von beiden den Kampf langfristig gewinnen wird. Kein Tourist, kein Beamter, kein Fremder würde diese Gegend betreten, in der es außer Stein und Sand kaum etwas zu holen gab. Auch waren die nachbarschaftlichen Beziehungen der hier zusammenstoßenden Länder zu keiner

Zeit von Bedeutung, auf dass dieser Flecken Erde verkehrsmäßig an Bedeutung gewann. Das erklärte sich aber schon einfach aus der Topographie.

Das sich hier erhebende Gebirge zieht weit nach Norden, bis es im Hindukusch den Anschluss ans Dach der Welt gewinnt. Eine ungastliche Landschaft, die schon immer die Kulturen und Völker getrennt hatte. Die Paschtunen, die letztendlich diesem Landstrich ihre Identität verliehen, hatten in der Geschichte immer wieder Probleme, diesem lebensfeindlichen Raum eine eigene Identität zu geben. Einerseits versuchten sie sich von den Persern im Westen abzugrenzen, andererseits versuchten sie sich aus der Umklammerung der Briten zu befreien, die aus dem im Osten befindlichen Indien anrückten. Ein Land an der Grenze, wobei man nicht umhin kam zu meinen, die Grenzen der Zivilisation liegen schon weit zurück – hier befindet man sich längst in einer Art Niemandsland.

Faridar, wie es die Einheimischen nannten. Niemandsland!

Und doch liegt auch in diesem Landstrich ein Potenzial. Dieser Hinterhof der Zivilisation, dieser lebensfeindliche Raum wurde frühzeitig Heimat jener, die das Licht der Weltöffentlichkeit scheuten. Die Wege und Pfade wurden nicht zu Verkehrsadern für Wirtschaft und Industrie, sondern zu unbehelligten Verbindungen für Schmuggler und jene Menschen, die nicht gerne mit Pass und Ausweis an einem Grenzposten vorsprechen. Opium wurde hier aus dem indischen Raum in den Westen gebracht, wo es über die nicht allzu ferne Türkei auch schnell in Europa war. Zur Zeit des kalten Krieges, wo offizielle und inoffizielle Handelswege durch die Sowjetunion undenkbar waren, entstand hier in diesem Dreiländereck eine neue Bedeutung. Mit dem Ende der russischen Großmacht im Norden kam aber eine Wende in dieses Land. Die Taliban übernahmen politische und religiöse Verantwortung für die Zukunft des Landes und prägten mit ihren streng islamischen Sitten und Geboten die hier sesshafte Gesellschaft.

Sieht man sich jetzt in den Morgenstunden in diesem kargen Landstrich um, so könnte man glauben, dass selbst einer so extremen Bewegung wie die Taliban ein nennenswerter Einfluss auf Land und Leute nicht gelingen mag, aber dies ist ein Irrtum. So einsam und verlassen ist diese Gegend gar nicht. Was das Auge nicht zu erkennen vermag, liegt im Untergrund oder dahinter im Fels verborgen. Der schmale ausgetretene Pfad auf der gegenüberliegenden Seite des Tals zieht sich weit nach Norden zum Khaiberpass und dem angrenzenden Pakistan. Die zahlreichen Fuß- und Pferdespuren zeugen doch von einer regen Frequenz – allein, jetzt ist nichts zu sehen. Jene, die hier durchziehen, tun dies für gewöhnlich des Nächtens. Zum einen ist dann im Sommer die Temperatur erträglich, zum anderen legen die meisten, die diese Wege benutzen, nicht viel Wert darauf, gesehen oder gar erkannt zu werden. Jetzt bei Tageslicht wirkt daher der Landstrich ausgestorben. Der nächste nennenswerte Ort ist Gardez und selbst als guter Reiter nicht vor Sonnenuntergang zu erreichen. In einem Land, dessen Eisenbahnnetz gerademal siebenundzwanzig Kilometer umfasst, eine Weltreise von der Zivilisation entfernt.

Selbst mit moderner Navigation hätte man dieses Lager der Al-Qaida in diesem Tal hier nicht gefunden. Im Fels getarnt, zeugen gerade mal ein paar Höhleneingänge von einer Welt, die sich dem Auge des Beobachters entzieht. Tief im Bauch des Bergmassives beginnt dann eine völlig andere Welt, die man hier in der Natur nicht für möglich gehalten hätte. Die Satellitenantennen und die beiden Hubschrauber würde man als Fremder nie finden, denn deren Tarnung war so vollkommen, dass selbst ein Eingeweihter Mühe hätte, sie von diesem Aussichtspunkt ausfindig zu machen.

Mit stetigem Lauf bewegt sich die Sonnenglut über das Firmament und beschreibt so den Tagesverlauf. Weder Mensch noch Tier wagen sich in das Blickfeld dieses Talabschnittes und wären da nicht ab und zu Insekten, die nach dem Schweiß lechzen – man könnte glauben man befindet sich in einem Foto. Erst in den frühen Abendstunden wird es erträglicher. Die Sicht wird klarer, nachdem die gleißende Sonne die Erde nicht mehr so aufheizen kann und das Auge erreicht problemlos den Horizont weit im Norden. Gut und gern an die fünfundzwanzig bis dreißig Meilen werden es sein, die dem Betrachter wie eine Landkarte dargeboten werden und wäre man nur hoch genug, vielleicht könnte man dann auch Gardez dort hinter den Bergen erahnen. Etwa dort muss die Stadt liegen, die sicher nicht mehr als fünfhundert Einwohner hat. Vielleicht sind es aber doch deutlich mehr; so genau kann das hier niemand sagen, denn eine amtliche Volkszählung gibt es seit der Zeit der Briten nicht mehr. Etwa dort, wo man mit viel Phantasie eine vage Staubwolke im ausgetrockneten Flussbett zu erkennen glaubt, muss der Weg in die Zivilisation führen. Andererseits hat Gardez mit der Zivilisation so viel zu tun wie ein Sumpfloch mit einer Wäscherei. Die urbanen Elemente in Gardez beschränken sich auf eine Schotterstraße, um die herum ohne erkennbare Ordnung lehmgedeckte Steinhütten liegen. Die Bewohner leben hier von der Viehzucht, die dieses karge Land hier zulässt und von dem, das Reisende auf diesem Weg zurücklassen und manchmal auch freiwillig geben.

Mittlerweile konnte man die Staubwolke im Wadi nicht mehr für eine optische Täuschung halten. Dort bewegt sich irgendetwas ganz langsam; vielleicht ist es aber nur so weit weg, dass die Staubwolke so statisch wirkt. Auf der anderen Seite, selbst wenn dort ein Reiter oder ein Jeep unterwegs war, konnte er auf diesem Weg kaum viel schneller als mit Schrittgeschwindigkeit vorankommen. Anbetracht der sich dem Horizont im Westen nähernden Sonne konnte ein Reisender kaum mehr bei Tageslicht eine befestigte Behausung erreichen. Die Vermutung liegt deshalb nahe, dass - wer immer dort unten im Tal unterwegs ist - die Vorzüge der Nacht in dieser Gegend kannte und ganz und gar nicht rechtzeitig nach Gardez zurückkehren möchte. Mittlerweile führte die sich rot färbende Abendsonne zu einer längst überfälligen Abkühlung der flimmernden Luft, obwohl der lange Schatten der bergigen Landschaft den Wadi schon in Dunkelheit hüllt. Die ersten Sterne, die ein Astronomiekundiger als das Sternbild des Steinbocks zu deuten wüsste, kündigen die aufziehende Nacht an. Es sind jene Sterne, die seit Tausenden Jahren den Reisenden in dieser Gegend den Weg wiesen und noch heute den hier lebenden Bauern zur Orientierung dienen. Der statische Punkt unter der Staubwolke hat sich mittlerweile zu zwei gut erkennbaren Lichtern gewandelt, die langsam, aber merklich den Taleinschnitt hinaufkamen. Die Sterne als Wegweiser brauchen dieser Lichter wohl kaum. Mehr und mehr sind trotz der aufkommenden Dunkelheit die Umrisse zweier Fahrzeuge zu erkennen, die, wenn sie das Tempo halten können, bei Einbruch der Dämmerung die Anhöhe hier erreichen können. Hätte man ein Fernrohr, dann wäre das Staunen nicht minder. Vieles hätte man hier im Bergland Afghanistans erwartet, aber wohl kaum zwei BMW X5, die im Konvoi den Weg allmählich zurücklegen. Dass die Fahrer sich weniger auf die Sterne als auf ihr GPS verlassen, liegt auf der Hand, doch ihr Ziel wussten dennoch nur sie und kein Satellit. Offenbar liegt dieses aber hier oben nahe dem Bergsattel, wo die Höhlen nun in der um sich greifenden Dunkelheit nicht mehr auszumachen sind. Die hellen Xenonscheinwerfer, die die Felswände ab und an fahl erleuchteten, näherten sich dem Ort, der schon bei Tageslicht nicht als Unterschlupf zu erkennen war. Näher und näher, bis sie in einer der dunklen Öffnungen im Felsmassiv verschluckt wurden. Auch der mittlerweile unverkennbare Klang der beiden Sechszylindermotoren verstummte und die Nacht ergriff wieder die gewohnte Herrschaft über diesen Erdfleck.

Wäre man nicht Zeuge gewesen, es wäre nie passiert.

Kuala Lumpur, Malaysien

7. März 2014 / 8:30 p.m. ST

Zaharie Ahmad Shah betrat bewaffnet mit einem Pappbecher voll heißen Kaffees in der linken Hand in den Briefingroom von Malaysia Airways. Gezielt steuerte er die Tafel mit den heutigen Flügen an der Wand des Instruktionsraumes an. Das Wichtigste war der Wetterbericht und der hatte sich zum Glück seit Mittag nicht geändert. Es würde eine ruhige klare Nacht werden. Die wenigen Wolkenformationen, die Zaharie auf den Satellitenkarten sah, konnten sein Interesse nicht länger fesseln, sodass seine Aufmerksamkeit der Zusammenstellung der Crew galt.

„Fariq Abdul Hamid? Sieh einer an“, dachte sich Zaharie. „Obwohl Zaharie in der Firma zu den Altgedienten gehörte und auch Fariq schon einige Jahre der Airline angehörte, hatten sie sich noch nie persönlich kennengelernt. Fariq flog hauptsächlich Kurzstrecken – sogenannte Tagesrandverbindungen – und konnte meistens am Abend wieder zu Hause sein. Intern waren diese Strecken sehr beliebt, da die Arbeitszeiten familienfreundlich waren. Zaharie hingegen konnte nicht weit genug wegfliegen. Weiter, größer und länger war seine Devise im Job und so ergab es sich, noch nicht mit Fariq zusammengekommen zu sein. Allerdings war Fariq unter seinen Kollegen als besonnen, erfahren und umsichtig bekannt.

Früher, dachte Zaharie, in den Anfängen der Malaysia Airline, war das Unternehmen noch so klein, dass jeder jeden kannte. Wie in einer großen Familie. Zu Beginn, und das wusste Zaharie nur vom Hörensagen, kannten seine Kollegen sogar alle Flugbegleiterinnen. Das war freilich bei dem schnellen Wachstum des Unternehmens bald nicht mehr möglich. Und heute, dachte Zaharie weiter, kennt man nicht einmal alle Pilotenkollegen mehr persönlich.

Sinta, Dian und Joyah kamen durch die betriebsame Lounge auf Zaharie zu. Er kannte die Frauen, wenn auch nur flüchtig, da sie häufig dieselben Routen wie er als Flugbegleiterinnen flogen. Dian war die Älteste und somit meist Chef du Cabin. Sie ergriff auch jetzt die Initiative, indem sie den anderen voranging, um Zaharie zu begrüßen. Zaharie reichte ihnen allen in der Reihenfolge ihrer Hierarchie die Hand zum Gruß und gerade, als er damit fertig war, einige Höflichkeitsfloskeln zu murmeln, kam aufgeregt aus der Menge Aisha, die Jüngste. „Ich weiß, ich bin etwas spät“, entschuldigte sie sich, „aber mein Freund hat mich hergebracht und es war ein irrer Verkehr auf der Autobahn“. „Kein Grund zur Sorge“, winkte Zaharie mit einer ruhigen, väterlichen Geste ab. „Es fehlt auch noch unser Vize.“ „Wer fliegt heute mit Ihnen, Zaharie?“, fragte Dian. „Fariq Abdul Hamid“, antwortete er. „Das heißt, wir feiern heute eine Premiere.“ „Wieso Premiere?“, fragte Dian. „Soweit ich weiß, ist Fariq doch schon seit einigen Jahren bei uns, wenngleich ich nie unter ihm geflogen bin.“ „Sehen Sie, Dian, ich bin auch noch nie mit ihm zusammengekommen. Also ist das so gesehen heute eine Premiere.“

„Ich höre von einer Premiere“, erklang eine sonore Stimme hinter den vier Frauen. „MH37? Kapitän Fariq Abdul Hamid meldet sich bereit. Ich fliege heute unter Ihnen, Kapitän Shah.“

Der braungebrannte Mitvierziger schüttelte allen Anwesenden die Hand. Als er die Runde durch war, hob Zaharie seinen Pilotenkoffer auf, der neben ihm am Boden stand und sagte: “Wir sind komplett. Dann wollen wir uns mal auf den Weg machen.“ Dieser Weg führte die Gruppe aus dem Gebäude hinaus, wobei sie den Sicherheitsbereich nicht mehr verlassen konnten. Die dem Parkplatz entgegengewandte Seite, auf der sie sich jetzt befanden, hatte schon direkte Verbindung mit dem Flughafenareal. Zwar musste die Crew ebenso wie alle anderen Passagiere die Sicherheitskontrolle am Check-in passieren, aber der Weg dorthin, den sie mit einem Minivan zurücklegen würden, war in diesem gesperrten Bereich ungleich flotter zurückzulegen. Lediglich acht Minuten brauchten sie, um den Abflugbereich des Flughafens zu erreichen. Und sie waren nicht die einzigen. Dicht hinter ihnen kam schon der nächste Kleinbus, um Personal vom Crewgebäude zu chauffieren. Als die Gruppe die Abflughalle betrat, tauchten sie in einen Wirrwarr aus Stimmen und Sprachen ein.

KLIA, wie das Kurzzeichen des Kuala Lumpur International Flughafens lautet, unterscheidet sich hinsichtlich Betriebsamkeit und Größe in keiner Weise von jenen anderer Großstädte. Einmal im Bauch des Gebäudes ist es schwer zu sagen, wo in der Welt man sich befindet. Die Globalisierung hat auch in diesem Bereich wenig Platz für Individualismus gelassen. Die zahlreichen Geschäfte, Restaurants und Shops gehörten schon lange weltweit immer den gleichen Ketten an und nachdem Englisch sich zur zentralen Sprache im Reiseverkehr entwickelt hat, erinnert wenig an den wahren Ort. Sicherheitsvorgaben und Standards tun ihr übriges und führen dazu, dass auch die Besucherwege nach gleichen Gesetzen durch das Gebäude führen.

Als Zaharie, Fariq, Sinta, Dian und Joyah an der Sicherheitskontrolle der Abflughalle ankamen, fühlte man den Hochbetrieb des Flughafens. In den Abendstunden war besonders viel los, da zu diesen Stunden auch viele Flüge nach Europa abgefertigt wurden. Das führte zu teils langen Menschenschlangen vor der Sicherheitskontrolle, die so manchen Reisenden Fassung und guten Ton verlieren ließen. Vielflieger wussten, dass sie um diese Uhrzeit gut und gern eine halbe Stunde mehr einrechnen mussten. Für die Crew von MH370 galt dies freilich nicht. Wie alle Crewmitglieder gab es für sie eine eigene Abfertigung und an dieser gab es praktisch keine Wartezeit. Für Zaharie und seine Kollegen war diese Angelegenheit in wenigen Minuten erledigt, auch wenn sie sich hinter einer Crew aus Deutschland anstellen mussten. Die kleine Gruppe schnappte ihr Handgepäck und machte sich geradewegs auf zu Gate 82.