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Dietmar Krug

Die Verwechslung

Roman

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www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1258-0
eISBN 978-3-7013-6258-5

© 2018 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Inhalt

Der Buchstabe

Der Kaktus

Die Lesung

Der Panther

Der Hahn

Die Sau

Das Training

Der Analytiker

Der Blick

Der Prozess

Die Kopfnuss

Der Schweiß

Die Samenspende

Der Flirt

Die Manndeckung

Die Verstümmelung

Die Nähe

Die Überraschung

Epilog

Der Buchstabe

Er wusste nicht, wie lange er schon wach lag. Mit geschlossenen Augen versuchte er, seinen Atem dem Ticken des Weckers anzupassen, um ruhiger zu werden. Neben sich hörte er die regelmäßigen Atemzüge seiner Frau, und er begann, sie um ihren Schlaf zu beneiden. Er zog sich das Betttuch vom Körper, Schweiß hatte sich auf seinem Brustbein gesammelt. Durch das geöffnete Schlafzimmerfenster drang die kühle Luft einer windstillen Frühlingsnacht. Der nahe Wald sandte Feuchte aus, aus der Ferne waren die Geräusche der Stadt zu hören.

Schließlich öffnete er die Augen und überließ sich seinen Gedanken, die in immer neuen quälenden Kreisen vergeblich versuchten, ein keimendes Unbehagen zu unterdrücken. Und obwohl er wusste, dass es zu nichts führen würde, ging er das Ganze noch einmal durch. Was drohte ihm jetzt eigentlich? Waren seine Ängste nicht haltlos übertrieben? Das schlimmste Szenario war doch folgendes: Ein Gericht würde die weitere Veröffentlichung seines soeben erschienenen Romans per einstweiliger Verfügung verbieten. Dann würde er halt mit offenen Karten spielen, seinen Fehler zugeben, die falsche Anschuldigung öffentlich aus der Welt räumen und den Ruf des Mannes, den er grundlos in den Dreck gezogen hatte, wiederherstellen. Aber würde das ausreichen? Könnten die Kläger den Verlag am Ende zwingen, die gesamte Auflage einzustampfen? Er nahm sich vor, gleich am nächsten Morgen seinen Verleger anzurufen, um ihm seinen fatalen Irrtum mitzuteilen und sich gemeinsam mit ihm auf das Kommende einzustellen. Der Name des Mannes, dem er in seinem Roman eine brutale Gewalttat an einem Kind untergeschoben hatte, kam nur in einer Szene vor, man könnte ihn zur Not mit ein paar Schwärzungen tilgen. Die Auflage war zwar hoch, weil der Verlag auf seine Popularität als Talkshow-Moderator gesetzt hatte. Aber ein paar Studenten könnten eine solche Tilgungsarbeit in einigen Tagen erledigen.

Er wälzte sich auf die Seite und atmete mehrmals tief ein und aus. Lassen Sie Ihre Gedanken ziehen, hatte sein Arzt ihm gesagt, wie Wolken am Himmel. Es gelang ihm einige Minuten lang, seine Lider begannen bereits schwer zu werden. Doch die Unruhe setzte sich durch. Was, wenn die Kläger gerade wegen seiner Popularität alle Hebel in Bewegung setzten und mehr wollten, seine völlige Vernichtung als Autor, als öffentliche Person? Der Mann, den er beschuldigt hatte, war ein Geistlicher, ein Ordensmann, die katholische Kirche hatte die Mittel, um einen langen Prozess durchzustehen. Aber wäre die Kirche überhaupt interessiert an einem solchen Aufsehen?

Mit einem langen Ausatmen, fast schon einem leisen Seufzer, setzte er sich auf und lauschte noch einmal den ruhigen Atemzügen seiner Frau. Behutsam streckte er seine Hand aus, fühlte die warme Haut ihres Rückens. Dann stand er auf und verließ so lautlos wie möglich den Raum. Im Flur blieb er kurz unschlüssig stehen, schließlich ging er in sein Arbeitszimmer am anderen Ende des Korridors und nahm sein Laptop vom Schreibtisch. Auf Zehenspitzen stieg er damit die Treppe ins Erdgeschoss hinab und ging in die Küche. Er stellte das Laptop auf den Tisch und öffnete den Kühlschrank, das Licht warf einen länglichen Schein in den Raum, die plötzliche Helligkeit blendete ihn. Mit zusammengekniffenen Augen nahm er ein Bier aus dem Türfach. Kurz hielt er die Flasche an seine Wange, spürte die Kühle des Glases. Dann stellte er sie zurück und schlug die Tür mit einem Geräusch zu, das ihn erschreckte. Mit angehaltenem Atem lauschte er ins Haus hinein. Hatte er seine Frau geweckt? Wollte er sie am Ende aufwecken?

Er strich sich mit der Hand über die Stirn und rekapitulierte die fatale Geschichte noch einmal in Gedanken. Bemerkt hatte er seinen Irrtum, als er eine E-Mail an seine ehemaligen Mitschüler schreiben wollte, mit denen er vor über dreißig Jahren in Haus Birkenhain, einem Ordensgymnasium in seiner Heimatprovinz, das Abitur gemacht hatte. Er wollte sie zu einer Lesung aus seinem Roman einladen, die er in zwei Wochen an ihrer ehemaligen Schule haben würde.

Er hatte lange an der Einladungsmail gefeilt, immer wieder Formulierungen geändert, Wörter ersetzt. Es hatte ihn in eine überraschende Erregung versetzt, den Roman ankündigen zu können. Die meisten seiner ehemaligen Mitschüler hatten gewiss mitbekommen, dass aus ihm ein bekannter Talkmaster geworden war, aber der Roman erfüllte ihn doch mit einem besonderen Stolz. Er würde nach all den Jahren als gemachter Mann in seine Heimatwelt zurückkehren. Der Ausdruck „gemachter Mann“ erschien ihm seltsam, gab es eigentlich auch eine „gemachte Frau“? Er machte sich eine Notiz in einem Heft, das er für solche Einfälle immer auf dem Schreibtisch bereitliegen hatte. Er wollte die Mail schon abschicken, doch dann fügte er, beschwingt von einem plötzlichen Hochgefühl, noch hinzu: „Wenn euch im Roman die Schule und die beschriebenen Lehrer bekannt vorkommen, dann ist das kein Zufall … Übrigens habe ich die Namen aller real existierenden Figuren geändert, bis auf eine einzige Ausnahme: Pater Spelthan. Sobald ihr die Szene lest, in der er seinen Auftritt hat, werdet ihr wissen, warum.“

Erneut zögerte er vor dem Abschicken und las die Zeilen noch einmal. Hatte er den Namen des Paters richtig geschrieben? Enthielt er ein H oder zwei, wie ein Hahn? Er stand auf und nahm seinen Roman aus dem Wandregal seines Arbeitszimmers. Die betreffende Stelle war rasch gefunden, er hatte ein rosafarbenes Post-it auf die Seite geklebt. Er fragte sich, wie seine ehemaligen Mitschüler die Szene wohl aufnehmen würden.

Burkhard ließ seinen Blick über die Bankreihen schweifen. Eine Reihe hinter dem Platz, auf dem er für gewöhnlich saß, wenn er nicht ministrierte, stand Günter. Er hatte den Unterkiefer leicht vorgeschoben und biss dabei die Zähne aufeinander – eine Mimik, die Burkhard gelegentlich imitierte, weil sie ihm respekteinflößend vorkam. Nur ein einziges Mal hatte Burkhard gesehen, wie dieser kraftstrotzende Unterkiefer plötzlich seine Haltung verlor. Die beiden Jungen besuchten inzwischen dasselbe Gymnasium, Günters Klassenraum befand sich im gleichen Trakt, nur eine Etage tiefer. In einer Pause stand Günter, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, im Flur vor seiner Klasse, ein Bein angewinkelt, so dass seine Fußsohle die geweißte Wand berührte. Während er mit gewohnt kühner Kieferhaltung auf das Ende der Pause wartete, kam plötzlich Pater Spelthan um die Ecke, ein Latein- und Religionslehrer, der sich jedoch in erster Linie um administrative Aufgaben der Schule und des Ordens kümmerte. Pater Spelthan war ein kleiner und gedrungener Mann mit einer ungesund aussehenden roten Gesichtsfarbe. Er schien ständig in Eile zu sein, der trippelnde Gang seiner kurzen Beine versetzte seinen Oberkörper in eine leichte Pendelbewegung, die unterstützt wurde durch rhythmische, ruckartige Bewegungen seiner rechten Hand, in der er stets eine brennende Zigarre hielt.

Raum greifend und Rauchwolken verbreitend, hastete er über den Flur. Als er an der Tür von Günters Klassenzimmer vorbeiging, registrierte er aus den Winkeln seiner durch eine Brille verkleinerten Augen den an der Wand lehnenden Schüler. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen und auch nur den Kopf in Günters Richtung zu wenden, schlug der Pater dem Jungen völlig überraschend ins Gesicht. Obwohl er mit der flachen Hand zugelangt hatte, erzeugte der Schlag nicht das hell klatschende Geräusch einer gewöhnlichen Ohrfeige, sondern eher den dumpfen Klang eines Fausthiebs. Die Wucht des völlig ansatzlos erfolgten Schlags riss Günters Kopf zur Seite. Jetzt erst verlangsamte der Pater seinen Gang, drehte sich zu dem Gezüchtigten um und sagte, während er mit der Schlaghand auf Günters Fuß deutete, der immer noch die Wand berührte:

– Du weißt, warum.

Darauf setzte er sich gleich wieder in Bewegung und bog hastig pendelnd und rauchend um die Ecke. Einige Schüler, die Zeugen der Szene geworden waren, schauten Günter schweigend an. Während er verlegen grinste, füllten Tränen seine Augen. Wenn er sich nun dem aufkeimenden Gefühl der Verlassenheit, der Empörung oder auch nur dem körperlichen Schmerz in seinem Gesicht einen Augenblick länger hingegeben hätte, dann wären ihm die Tränen in Bächen über die Wangen gelaufen. Doch mit einer sichtbaren Anstrengung schob Günter langsam wieder das Kinn nach vorne und pumpte mit dieser Bewegung die Tränen aus den Augen zurück ins Innere seines Schädels. Er sagte kein Wort und blieb an der Wand stehen, als sei nichts geschehen – nun allerdings mit beiden Füßen auf dem Boden.

Er hatte Spelthan also mit einem H geschrieben. Er erinnerte sich, dass er bei der Überarbeitung seines Romans bei der Spelthan-Szene lange innegehalten hatte. Wie allen real existierenden Personen hatte er ursprünglich auch dem Pater einen fiktiven Namen gegeben. Doch am Ende zog er die Mundwinkel nach unten, atmete zweimal heftig ein und aus und sagte laut vor sich hin: „Und du stehst mit deinem Namen dafür ein, du Drecksau.“ Und so hatte er Spelthan seinen Namen gelassen.

Ein letztes Mal noch las er die E-Mail an seine ehemaligen Mitschüler durch, prüfte, ob sich kein Tippfehler eingeschlichen hatte, und wieder blieb er beim Lesen an dem Namen des Paters hängen. Vielleicht hatte er ihn in seinem Roman ja falsch geschrieben, womöglich fehlte doch noch ein H. Um sicherzugehen, öffnete er die Google-Seite und tippte in die Suchmaske: Pater Spelthan, Haus Birkenhain.

Er stieß auf eine Homepage des Franz-von-Sales-Ordens, dem Träger seines Gymnasiums. Unter der Rubrik „Verstorbene Sales-Oblaten“ fand er eine kurze biografische Notiz für einen „Pater Heinrich Spelthahn“, der von 1951 bis 1975 Lehrer am Gymnasium gewesen war. Also doch ein Hahn. Der Name war ein blau eingefärbter Link, er klickte ihn an, und ein Foto ging auf. Das Bild eines etwa sechzigjährigen Mannes erschien. Er hatte eine hohe Stirn, das Haar war bereits bis zum Hinterkopf zurückgewichen, sein längliches Gesicht mit der schmalen, leicht gebogenen Nase über dem Mund mit den dünnen Lippen hatte etwas Vogelhaftes. Die dunklen Augen hinter der großen, viereckigen Brille wirkten südländisch und hatten einen leicht melancholischen Ausdruck.

Theves starrte auf das Bild und spürte, wie sein Mund trocken wurde. Er wusste sofort: Er war es nicht. Das war nicht der Mann, der den Jungen geschlagen hatte, er hatte dem prügelnden Pater einen falschen Namen gegeben. Und noch während er kopfschüttelnd das Foto betrachtete, wusste er plötzlich, dass es diesen realen Pater Spelthahn auf dem Foto an seiner Schule gegeben hatte, natürlich, er kannte ihn, er hatte nur bis jetzt nicht mehr an ihn gedacht. Eine Erinnerung tauchte auf. Er sah Pater Spelthahn am Ende jenes Gangs, auf dem der Schüler von dem anderen Pater, dessen Namen er in Wahrheit gar nicht kannte, geschlagen worden war. Er sah den echten Spelthahn in seiner Erinnerung nicht wirklich, er hatte nur ein vages Bild von ihm, eine schwarz gekleidete Gestalt am Ende eines mit gesprenkelten Steinfliesen gedeckten Gangs, in einem kleinen Foyer, das zum Sekretariat der Schule führte. Warmes Sonnenlicht fiel durch ein großes Fenster, das den Blick auf einen begrünten Innenhof mit Springbrunnen freigab. Pater Spelthahn stand da, in einem Lichtschein, so blendend hell im Kontrast zu dem weit schwächer beleuchteten Flur, dass man die Augen zu einem schmalen Schlitz verengen musste. Die Gestalt des Paters wurde von hinten beschienen, eine schlanke, gesichtslose Silhouette, deren Konturen zu verschwimmen schienen in einem Licht, das mehr verschleierte als erhellte. Theves wusste nicht, was der Pater in seiner Erinnerung gerade machte, er war einfach nur da, ein wichtiger und überaus beliebter Mann in der Schule.

Sobald die Erinnerung verblasste, war die Unruhe umso stärker zurückgekommen. Theves hatte das Foto des Paters lange angestarrt, als könnte es ihm eine Antwort auf seine drängendste Frage geben: Wie hatte ihm das nur passieren können? Warum hatte er den Namen verwechselt, und wieso hatte er dem prügelnden Pater ausgerechnet den Namen Spelthan gegeben? Und wer war der Pater, der den Jungen wirklich geschlagen hatte?

Und diese Fragen quälten ihn auch jetzt wieder mit frischer Wucht, als er mitten in der Nacht in der Küche stand und kopfschüttelnd ins Leere starrte. Theves öffnete den Kühlschrank wieder und nahm die Bierflasche, die er eben erst hineingestellt hatte, erneut heraus. Er löste den magnetischen Flaschenöffner von der Metalltür und setzte ihn an den Hals der Flasche, während er den Kühlschrank mit einem kräftigen Stoß seines Ellbogens schloss. Im Inneren klirrten die Flaschen, die im Türfach standen. Dann kramte er so lange in einer Schublade des Küchentischs herum, bis er eine Schachtel Camel und Streichhölzer fand. Während er sich eine Zigarette anzündete, hörte er, wie die Toilettenspülung betätigt wurde. Das Licht ging an, seine Frau erschien, mit vom Schlaf verengten Augen. Ihr Haar war zerzaust, sie hatte ein Sweatshirt übergestreift, darunter schimmerten ihre nackten langen Beine weiß im Neonlicht der Herdbeleuchtung.

„Frank, was machst du hier?“

„Ich kann nicht schlafen.“

„Na, dann sind wir ja schon zwei.“

„Du kannst auch nicht schlafen?“

„Verarschst du mich? Du hast mich geweckt mit deinem Geklapper. Ich hab keine Lust, morgen Früh vor meinem Klienten zu sitzen und permanent gegen ein Gähnen anzukämpfen.“

Sie überkreuzte die Arme vor ihrem Oberkörper und blinzelte ihn an.

„Wieso trinkst du mitten in der Nacht ein Bier?“

Er schnippte die Asche von seiner Zigarette und sagte, den Blick auf den Tisch gerichtet:

„Mir ist was Komisches passiert.“

Andrea wartete schweigend ab.

„Erinnerst du dich noch an die Figur des Pater Spelthan in meinem Roman? Er ist die einzige Figur im Buch, deren Namen ich nicht geändert habe. Zumindest hab ich das bis jetzt geglaubt.“

„Was heißt das?“

„Er ist es nicht. Der Kerl hieß nicht so. Ich habe ihn gegoogelt, und der Spelthahn, den ich gefunden hab, der war’s nicht.“

Eine steile Falte bildete sich zwischen Andreas Augen.

„Ich versteh kein Wort. Du hast bei Google gefunden, dass der Pater den Jungen nicht geschlagen hat?“

Er lachte kurz und spürte eine wachsende Anspannung. Er klappte das Laptop auf und zeigte ihr das Foto, das er gefunden hatte.

„Das ist der wirkliche Pater Spelthahn. Und der war’s nicht. Der Kerl, der den Jungen geschlagen hat, sah ganz anders aus.“

Andrea beugte sich zögerlich vor und betrachtete das Foto.

„Der sieht irgendwie nett aus. Und wer war jetzt der Schläger?“

„Ich hab nicht die geringste Ahnung.“

Sie legte die Stirn in Falten, ihre Stimme hatte immer noch einen widerwilligen Ton, aber er spürte, dass er ihr Interesse geweckt hatte.

„Warum hast du den Kerl denn eigentlich gegoogelt?“

Er erzählte ihr von seinem Schreiben an seine ehemaligen Mitschüler.

„Du überprüfst die Schreibweise des Namens erst, wenn du denen eine Mail schreibst, aber beim Lektorat deines Buches tust du das nicht? Ausgerechnet du zwanghafter Perfektionist?“

„Ich hab überhaupt nicht darüber nachgedacht, wie man den schreibt, und in einem Roman ist das doch wohl scheißegal.“

„Ich dachte, du wolltest ihm seinen richtigen Namen lassen.“

Theves schnaufte und klappte das Laptop so heftig zu, dass ein satt klappendes Geräusch entstand.

Andrea verdrehte die Augen.

„Deine Fans würden staunen, wenn sie einmal sehen könnten, wie leicht der souveräne Talkmaster aus der Fassung zu bringen ist.“

Er wischte mit der Handfläche über den Tisch und schüttelte den Kopf.

„Ich fass es nicht, dass mir das passiert ist. Was ist, wenn mich jemand wegen Verleumdung verklagt?“

„Und wer sollte das tun, bitte? Pfarrer haben in der Regel keine Nachkommen, die den Ruf ihres Vaters reinwaschen wollen.“

„Aber es gibt einen Orden, der sich betroffen fühlen könnte.“

„Na klar, die werden sicher gleich eine Bannbulle erlassen: Auf den Scheiterhaufen mit diesem Theves! Falsch Zeugnis hat er abgelegt. Der Prügelpater in seinem Buch war gar nicht Pater Spelthahn, sondern ein ganz anderer Folterknecht aus unserer Runde.“

Theves lachte, und da er eigentlich gar nicht lachen wollte, entkam ihm ein leises Prusten. Er sah den Spott in den Augen seiner Frau und spürte, wie sich seine Anspannung zu lösen begann.

Als sie an ihm vorbeiging, fasste er sie beim Arm und zog sie nah zu sich heran, um ihren warmem Geruch nach Körper und Schlaf einzusaugen.

Sie entwand sich seinem Griff und sagte mit einem Gähnen:

„Du solltest auch ins Bett gehen. Sonst muss Gabi dir morgen wieder einen Zentimeter Make-up unter die Augen spachteln, damit man die dunklen Ränder nicht sieht.“

Theves blieb noch am Küchentisch sitzen, bis er sein Bier ausgetrunken hatte. Dann klappte er sein Laptop wieder auf und rief seine E-Mails ab. Rund zwanzig neue Nachrichten waren in seinem Postfach, eine war mit der Prioritätsstufe „hoch“ gekennzeichnet, im Betreff stand nur ein Wort: „KORREKTUR!!!“. Die Mail war von Helmut Sanders, einem Deutschlehrer an seinem ehemaligen Gymnasium, der seine dortige Romanlesung organisiert hatte. Vor einigen Tagen hatte er ein Telefonat mit ihm geführt, das länger als geplant ausgefallen war. Sanders hatte ein Jahr, nachdem Theves Abitur gemacht hatte, am Gymnasium zu arbeiten begonnen. Sie waren sich am Telefon auf Anhieb sympathisch gewesen und hatten ausgiebig Anekdoten über die Schule ausgetauscht. Schließlich hatte Sanders ihn gefragt, wer sein Klassenlehrer gewesen sei.

„Pater Palm, die ersten vier Jahre.“

„Echt, Pater Palm?“, hatte Sanders gesagt, „Der war doch in einen schweren Missbrauchsskandal verwickelt. Das ist sogar vor Gericht gelandet.“

„Was, der Palm? Davon hab ich nie was gehört.“

Theves erinnerte sich an seine letzte Begegnung mit dem Pater. Er war inzwischen pensioniert, und obwohl man ihm ein Raucherbein amputiert hatte, machte er immer noch seinen täglichen Spaziergang über das Schulgelände. Theves stand bereits kurz vor dem Abitur, fast fünf Jahre war es her, seit er in Palms Latein- und Religionsstunde gesessen hatte. Er war auf seinen ehemaligen Lehrer zugegangen und hatte ihn begrüßt. Der Pater stützte den rechten Ellbogen auf den Griff seiner Krücke und ergriff Theves’ Rechte. Dann zog er die Hand des Jungen mit sanftem Druck zu seiner linken Hand, die den Griff der zweiten Krücke umklammert hielt. Mit einer geschickten Bewegung stützte er auch den anderen Ellbogen auf die Krücke, so dass er in der Lage war, die Rechte des Jungen für einen Moment in beiden Händen zu halten. So hatte er sich in seiner Zeit als Klassenlehrer immer von einigen seiner Schüler verabschiedet. Er blickte Theves aufmerksam an und schien für einen Moment konzentriert zu überlegen. Dann sagte er nur: „Frank.“

„Sind Sie noch dran?“

Theves schreckte aus seinen Gedanken auf.

„Ich fass’ es nicht, Pater Palm und Missbrauch? Sind Sie sicher?“

„Ich denk schon. Ich glaube, der ist sogar später ermordet worden.“

„Was? Von wem?“

„Keine Ahnung, ist schon über zwanzig Jahre her. Ich weiß auch nichts Genaues. Aber ich hab die Zeitungsartikel von damals sicher noch in einem Ordner. Ich schau lieber vorher nach, bevor ich Ihnen Blödsinn erzähle.“

Theves öffnete Sanders E-Mail, sie enthielt nur zwei Zeilen: „KORREKTUR!!! Der gewaltsam zu Tode gekommene Ordensgeistliche war nicht Pater Palm, sondern Pater Heinrich Spelthahn.“

Der Kaktus

Theves schloss die Augen, atmete tief durch und blieb einige Minuten regungslos an seinem Schreibtisch sitzen. Für gewöhnlich fand er auf diese Weise zu der Konzentration, die er zum Arbeiten brauchte, aber diesmal wollten sich seine Gedanken einfach nicht zu Ideen ordnen. Er unterdrückte eine aufkeimende Nervosität, immerhin war der grobe Rahmen für die nächste Talkshow geplant, den Rest würde er improvisieren. Jetzt war nur noch die Strategie für die Sendung in der übernächsten Woche zu entwickeln, dann konnte er beruhigt die Pause von mehreren Tagen einlegen, die er für die Reise in seine Heimat und für die Lesung an der Schule veranschlagt hatte.

Er stand auf, blickte kurz aus dem Fenster seines Arbeitszimmers. Die blühenden Forsythien neben der Terrasse leuchteten gelb. Etwas zu schwungvoll setzte er sich wieder an den Schreibtisch. Gegen seine Gewohnheit und eiserne Regel öffnete er jetzt schon, noch vor dem Mittagessen, sein Mailprogramm. Er überflog den Posteingang, wieder keine Nachricht aus seiner Schulwelt, weder von seinen ehemaligen Mitschülern noch von den Lehrern. Obwohl er den expliziten Hinweis auf Pater Spelthahn aus der Mail an seine Schulkollegen wieder gelöscht hatte, nachdem ihm seine Namensverwechslung bewusst geworden war, hatte er fest damit gerechnet, dass jemand ihn auf seinen Irrtum aufmerksam machen, ihm womöglich gar den wahren Namen des Prügelpaters mitteilen würde. Schließlich war die fehlende Ähnlichkeit der Romanfigur mit dem echten Pater Spelthahn gar zu augenscheinlich. Aber nichts dergleichen war geschehen, er hatte zwar ein paar Reaktionen auf seinen Roman bekommen, einige erfreulich Persönliche waren darunter, aber niemand hatte die Spelthahn-Szene erwähnt.

Er schloss das Mailprogramm wieder und öffnete das Foto von Pater Spelthahn, das er inzwischen auf seinem Desktop gespeichert hatte. Er versuchte in dem Gesicht das zu finden, was seine Frau als „irgendwie nett“ empfunden hatte. Es gelang ihm nicht wirklich, der melancholische Ausdruck in den dunklen Augen wollte nicht recht zu dem leicht angespannten Mund mit den feinen, schmalen Lippen passen. Sein Handy vibrierte, er hatte es auf lautlos gestellt und hätte es unter normalen Umständen ignoriert, nun aber war er beinahe erleichtert über die Unterbrechung. Obwohl das Display ihm anzeigte, dass Castorp, sein Programmleiter, anrief, meldete er sich förmlich mit seinem Nachnamen, wie in den Zeiten, als jeder Anrufer sich nur mit einem anonymen Klingeln ankündigen konnte.

„Glückwunsch zum Giftigen Kaktus“, sagte Castorp.

„Zum was?“

„Du kennst den Giftigen Kaktus nicht? Mit ck und ss.“

„Wovon redest du?“

„Okay, ck und ss sind ein Scherz. Der Giftige Kaktus ist der Preis der Pink Panthers.“

„Wer sind die Pink Panthers?“

„Das ist eine ziemlich umtriebige Homo-Community, die vergeben jährlich einen Preis für die krasseste schwulenfeindliche Äußerung.“

„Und womit hab ich mir den verdient?“

„Schau es dir an, ich hab dir den Link zur Begründung der Jury gemailt.“

Castorp beendete wie immer das Gespräch, ohne sich zu verabschieden. Theves öffnete sein Mailprogramm wieder und klickte auf den Link, den Castorp ihm geschickt hatte. Eine Seite mit zartrosa Hintergrund ging auf, in ihrem Zentrum ein Foto von Theves, an der Stelle seiner Nase wuchs ihm ein giftgrüner, stacheliger Kaktus aus dem Gesicht, er hatte die Form eines erigierten Phallus. Unter der Überschrift „Schwule machen Mädchen krank“ stand:

„Der diesjährige Giftige Kaktus geht an ein wandelndes Klischee eines Hetero-Rüden: Frank Theves. In seiner Fernsehsendung ‚Theves Talk‘ hat er die Verantwortlichen für das Elend aller magersüchtigen Mädchen ausgemacht: die Schwulen. Was folgt als Nächstes? Schuld am Klimawandel wegen hohen Latexverbrauchs? Hier sein Schwulen-Bashing.“

Theves klickte auf das Wort „Bashing“, das giftgrün eingefärbt war. Ein neues Fenster öffnete sich, ein Ausschnitt aus einer Talkshow vom letzten Monat. Das Erste, was er sah, war sein Gesicht in Großaufnahme, und obwohl er inzwischen seit Jahren gewohnt war, sich selbst auf einem Bildschirm zu sehen, befiel ihn wieder dieses befremdende Unbehagen bei dem Anblick, der so anders wirkte als der gewöhnliche Blick in einen Spiegel, bei dem man selbst Herr seiner Mienen und Blickrichtungen ist. Er erinnerte sich noch gut daran, als er sich zum ersten Mal so gesehen hatte. Er war entsetzt gewesen, weil das, was er sah, so gar nicht übereinstimmte mit dem Bild, das er von sich selbst hatte. Der verfremdende Effekt wurde noch verstärkt, weil er während der gesamten Sendung eine verkrampfte Haltung angenommen hatte, nicht so sehr wegen der Aufregung einer Live-Sendung, sondern weil er unentwegt den kleinen schwarzen Kasten an seinem Rücken spürte, mit dem das an seinem Jackett angebrachte Mikrofon verkabelt war. Niemand aus der Regie hatte ihm gesagt, dass man sich mit dem Gerät durchaus frei bewegen kann. So saß er ständig gerade und ein wenig steif ans Polster gelehnt da, wodurch sein Kopf leicht in Richtung seiner Brust gedrückt wurde und der Eindruck entstand, als habe er den Ansatz eines Doppelkinns. Das hatte er bald gelernt, jetzt war seine Haltung entspannt, sein Kinn wirkte auf dem Filmausschnitt ausgeprägt und sogar ein wenig kampflustig nach vorne geschoben. Er nahm sich vor, noch einmal ein ernstes Wort mit der Visagistin zu reden, die für seinen Geschmack wieder zu viel Make-up aufgetragen hatte, was seinem Gesicht zwar jede Unreinheit ersparte, ihm aber auch etwas Maskenhaftes verlieh.

Die Pink Panthers hatten für den Beginn der Sequenz eine Einstellung gewählt, die auch die Regie gerne einfing. Er saß da, hörte seinem Gegenüber aufmerksam zu, doch in seinem Blick lag etwas Skeptisch-Spöttisches, das verriet, dass er das Gesagte in Gedanken bereits nach einer Möglichkeit abklopfte, dem Ganzen eine überraschende Wendung zu geben. Sein Gast war diesmal eine junge Journalistin, die soeben ein Buch über magersüchtige Mädchen veröffentlicht hatte. Das Gespräch war eine Weile in den üblichen Mustern aus Betroffenheit und Analyse dahingedümpelt, dann war die Rede auf die vielen mageren Models gekommen, die eine fatale Vorbildwirkung hätten. Er hatte die Journalistin gefragt, wie sie es sich erkläre, dass diese Models alle so aussähen, als müssten sie augenblicklich künstlich ernährt werden, und sie erzählte etwas von Kontrollzwängen und dem Wandel des Schönheitsideals. Dann hatte er eine Pause gemacht, die bei ihm stets einem spontanen Themenwechsel vorausging, er hatte den Kopf für einen Moment leicht schräg gelegt und gesagt:

„Ich habe eine kleine Umfrage unter meinen männlichen Freunden und Bekannten gemacht. Mit dem Ergebnis: Bei kaum jemandem lösen diese halb verhungerten Mädchen erotische Regungen oder Wohlgefallen aus. Alle mögen Frauen mit der berühmten geschwungenen S-Kurve, mit mehr oder weniger ausgeprägten Rundungen, weibliche Weichheit eben. Ich kenne persönlich nur zwei Männer, die magere Frauen mögen, der eine ist bi-, der andere asexuell.“

Ein Lachen aus dem Zuschauerraum war zu hören, die Kamera zoomte auf das Gesicht der Journalistin, ein leichtes Zucken umspielte ihren Mundwinkel, während sie kurz ins Publikum schaute.

„Nun, ich glaube nicht, dass das alles nur eine Frage männlicher Erotik ist.“

„Nicht?“ Er lehnte sich zurück. „Aber wem sollen diese mageren Frauen denn dann gefallen?“

„In der Modebranche herrscht halt eine ganz eigene Ästhetik“, sagte sie und spitzte die Lippen.

Da war er wieder, der spöttische Ausdruck in seinem Gesicht, schwankend zwischen Schalk und Arroganz, die Bildregie hatte ihn als Close-up eingefangen. Dann sagte er:

„Hängt dieser Magerwahn womöglich einfach damit zusammen, dass alle berühmten Couturiers, all die Joops, Lagerfelds, Gaultiers, Galinaos, Dolces und Gabbanas sämtlich schwul sind?“

Die Kamera schwenkte zur Journalistin, Nahaufnahme, wieder das Zucken um den Mundwinkel, stärker diesmal, und erneut der fahrige Seitenblick ins Publikum, das völlig ruhig war. Ihre Stimme klang leicht brüchig, als sie antwortete:

„Tut mir leid, den Zusammenhang sehe ich nicht.“

Er beugte sich vor.

„Alles, was nach Frau aussieht, wird weggehungert, und zwar so radikal wie möglich. Lauter schmale Hüften und flache Brüste und Oberschenkel, zwischen denen man einen Tennisball hindurchwerfen könnte.“

„Ich verstehe nicht, was das mit Homosexualität zu tun haben soll“, sagte sie.

„Na ja. Vielleicht sollen die Models ja gar keine Frauen verkörpern. Sie sehen doch aus wie die stilisierten Leiber von dünnen, langgliedrigen Knaben. Und wer steht auf zarte, hochgewachsene Jünglinge mit femininen Gesichtern?“

Die letzte Einstellung war das Bild der Journalistin, wie sie mit zusammengekniffenen Lippen weit ins Polster des roten Sofas zurückwich. Dann stoppte der Filmausschnitt, und das Foto von Theves’ Gesicht mit der giftgrünen Kaktusnase tauchte wieder auf.

Theves saß eine Weile da und betrachtet das Bild. Dann rief er Castorp an, er meldete sich nach dem ersten Läuten.

„Wie die Nase des Mannes, so sein Johannes.“

„Was sagst du dazu?“

„Viel Feind, viel Ehr’, ohne Preis kein Scheiß, gratuliere!“

„Und wie reagieren wir darauf?“

„Na, wie wohl?“, sagte Castorp, „Wir holen uns den Panther in die Höhle des Löwen.“

„Du glaubst, einer von denen kommt in meine Show?“

„Ich kenne den Vorsitzenden. Glaub mir, er wird kommen.“

„Ich weiß nicht. Wir riskieren Beifall von falscher Seite.“

„Seit wann kratzt dich das denn?“

Theves klappte das Notebook zu, das immer noch sein Gesicht mit der Kaktusnase zeigte.

„Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache. Warum sollten wir auf den Schwulen rumhacken? Es ist noch nicht lange her, da sind die im Knast gelandet, wenn man sie beim Händchenhalten erwischt hat.“

„Du wirst auf niemandem rumhacken. Du reitest nur ein wenig auf der heiligen Kuh rum, die unsere Tugendwächter vors rosa Gehege gezerrt haben. Solche Ritte sind doch deine Spezialität. Und sie bringen Quote.“

Das Notebook unter den Arm geklemmt, verließ Theves das Arbeitszimmer und stieg die geländerlose, hölzerne Treppe in den unteren Teil des Hauses hinab, in dem Andrea ihre Therapiepraxis hatte. Im Flur hörte er am Klappern des Geschirrs, dass seine Frau in der Küche bereits mit der Vorbereitung des gemeinsamen Mittagessens begonnen hatte. Es war ein tägliches Ritual, auf das sie beide großen Wert legten. Er stellte das Notebook auf die Ablage unter der Garderobe und ging in die Küche.

Andrea begrüßte ihn einsilbig, ohne von dem Holzbrett aufzublicken, auf dem sie gerade eine Zwiebel in Würfel schnitt. Sie hatte ihr halblang gehaltenes, volles Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und trug zur Jeans ein graues T-Shirt, von dem er wusste, dass sie es soeben erst gegen eine elegante Bluse getauscht hatte, damit sie nicht nach Zwiebeln riechend vor ihrem nächsten Klienten sitzen würde. Er betrachtete sie kurz von der Seite, sah ihre Bewegungen, die ihm so vertraut waren, die Art, wie sie mit Daumen und Zeigefinger die Zwiebel hielt, während sie mit schnellen, präzisen Schnitten gleich große Würfel erzeugte.

„Soll ich schon mal den Salat waschen?“

Sie zuckte mit den Schultern.

Eine Weile arbeiteten sie schweigend nebeneinander, in schwer und dumpf lastender Stille. Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln, sie schien konzentriert ihre Schnittarbeit zu verrichten, aber er wusste genau, dass sie sein verstohlenes Spähen zur Kenntnis nahm. Er versuchte, die Stille zu ignorieren, weigerte sich so lange, die Initiative zu ergreifen, bis er es nicht mehr aushielt.

„Was ist los?“

Sie schob mit der Rückseite der Klinge die Zwiebel vom Brett in eine Pfanne mit heißem Olivenöl und hob die Stimme, um gegen das Zischen anzukommen.

„Was soll los sein?“

Er unterdrückte den Impuls, laut zu werden oder den Salat gegen die Küchenwand zu schleudern, und wartete schwer atmend ab. Während sie in den schmorenden Zwiebeln rührte, sagte sie:

„Na, zu viel geraucht?“

„Was?“

„Du atmest ziemlich laut.“

Er warf den Salat in das Abwaschbecken und wandte sich ihr mit einem Ruck seines Oberkörpers zu. Einen Moment sah er den Anflug von Genugtuung auf ihrem Gesicht, bevor sie mit scharfer Stimme sagte:

„Wir wollten schon vor einer halben Stunde mit dem Kochen beginnen. Und zwar gemeinsam.“

„Ich hatte noch ein wichtiges Gespräch mit Castorp.“

Jetzt war sie es, die den Löffel auf die Ablage warf.

„Du hast nie einfach nur ein Gespräch, du hast immer ein wichtiges Gespräch.“

„Es war wirklich wichtig.“

„Ist meine Arbeit weniger wichtig? In einer Stunde habe ich den nächsten Klienten und ich hab die Notizen von der letzten Sitzung noch nicht fertig ausgewertet.“

Er verspürte erneut einen starken Drang, laut zu werden, unterdrückte ihn aber, weil er wusste, dass er dann bis zum Abend keine Gelegenheit mehr haben würde, ihr vom Giftigen Kaktus zu erzählen. Auch war ihm bewusst, dass er sich auf heiklem Terrain bewegte. Solche Streite begleiteten ihre Beziehung schon, seit er zum ersten Mal an Familienfeiern bei seinen Schwiegereltern teilgenommen hatte. Die Mittag- und Abendessen verliefen dort nach dem immergleichen Ritual: Andrea bereitete mit ihrer Mutter und seiner Schwägerin die Mahlzeit, während er mit Andreas beiden Brüdern im Esszimmer wartete. Nach dem Essen half er kurz beim Abräumen des Geschirrs und rauchte dann mit seinen Schwägern eine Zigarette, bis das Dessert serviert wurde. Und während die Frauen Kaffee kochten, erledigten sie nebenbei den Abwasch. Es hatte nach solchen Besuchen stets eine Anspannung zwischen ihm und Andrea geherrscht, die er sich nicht wirklich erklären konnte, oft gab es Streit, über dessen Anlass sie sich nie einig wurden. Bis sie ihm einmal nach einer fast geleerten Flasche Wein mit glänzenden Augen und vor Zorn gerötetem Gesicht gestanden hatte, wie sehr es sie kränke, dass er ihr bei den Familienfesten nie beim Kochen oder zumindest beim Abwasch helfe. Beflügelt vom Bier und angestachelt durch seine ohnehin stark ausgeprägte Streitlust, hatte er den Ball an sie zurückgespielt. „Warum bittest du denn nie jemanden um Unterstützung, sondern erledigst alles wie eine schweigende Märtyrerin?“, hatte er gefragt, und sie hatte fast geschrien: „Weil es bei meinen Brüdern völlig sinnlos ist und weil ich von dir erwarte, dass du es von selbst tust.“ Von da an half er bei Familienfeiern gelegentlich beim Abwasch, doch allzu oft ließ ihn etwas in trotziger Passivität verharren, eine wirkmächtige Renitenz gegen besseres Wissen, und nicht zuletzt das Gefühl, mit dem Geschirrtuch in der Hand vor den Brüdern eine alberne Pose einzunehmen.

Über eines waren sie sich aber bald einig geworden: dass in ihrem gemeinsamen Leben strenge Gerechtigkeit in diesen Dingen herrschen sollte. So hatte er nun, während seine Frau in vorwurfsvollem Schweigen neben ihm die Zwiebel im heißen Öl rührte, einen Anflug von schlechtem Gewissen, da sie aufgrund seiner Verspätung einen Teil seiner Arbeit hatte verrichten müssen. Doch selbst jetzt war er nicht in der Lage, die Sache mit einer klaren, reuigen Entschuldigung aus der Welt zu schaffen. Sie musste doch wissen, dass ein solches Versäumnis nur reale, praktische Gründe haben konnte und kein Rückfall war in Zeiten, in denen er allenfalls bequeme Gleichgültigkeit für die Belange der Emanzipation hegte! Aber er wusste, dass er früher oder später einlenken musste, denn Andrea würde es gewiss nicht tun, und er brauchte dringend ihr offenes Ohr. Als er sie kurz von der Seite betrachtete, ihr feines, weiches Profil sah und ihre langen dunklen Wimpern über den blauen Augen, die jetzt mit so viel bitterem Ernst auf die Pfanne gerichtet waren, da spürte er plötzlich eine Sehnsucht nach ihr, nach ihrer Nähe und nach einem Ende dieser eingegrabenen Entzweiung. Er wusste, dass nur eine echte Entschuldigung die Situation entschärfen konnte, und diesmal durfte er nicht die Bedeutung von Castorps Anruf betonen, die Karte seiner wichtigen Belange hatte er zu oft gespielt. Doch noch während er schweigend den Salat zerpflückte und an einer Entschuldigung feilte, baute sich in ihm ein Gefühl auf, das seine Pläne zunichtemachte. Etwas in ihm wehrte sich mit Macht gegen das Eingeständnis, dass er im Unrecht war. Denn im Unrecht zu sein hätte ihn in einen Menschen verwandelt, der er ganz einfach nicht sein wollte.

Er wartete einige Minuten ab und ließ die Wucht der Welle in ihm verebben. Dann streichelte er Andrea sanft über den Rücken und knuffte sie leicht mit dem Ellbogen.

„Ich hab einen Kaktus gewonnen.“

Sie runzelte die Stirn und schwieg weiter.

„Den Giftigen Kaktus.“

„Da schau an. Da bist du in keiner guten Gesellschaft.“

Er war erleichtert, eine Antwort war ein Anfang.

„Du kennst das Ding?“

Sie nickte.

„Willst du den Film mit der Begründung der Jury sehen?“

Jetzt spürte er, dass er ihr Interesse geweckt hatte, auch wenn sie es nicht wirklich zeigte.

Er ging in den Flur, holte das Notebook und klappte es auf dem Küchentisch auf. Es erschien wieder sein Gesicht mit dem Kaktus an der Stelle der Nase.

„Na, wie steht mir das Ding?“

Sie lachte verhalten, wider Willen, aber sie lachte.

Dann startete er den Film, doch er stoppte ihn gleich wieder, als sein Gesicht in Großaufnahme erschien, mit dem Blick, den die Bildregie so gern einfing.

„Findest du, dass ich zu viel Make-up drauf hab?“

„Du siehst aus wie alle, die im Fernsehen auftreten.“

„Und wirkt mein Blick da irgendwie … überheblich oder so?“

„Ich kenne den Blick. Dann weiß ich, jetzt wird’s ernst.“

Er konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.

„Da grinst er, frag doch nicht so kokett!“, sagte sie, und am Klang ihrer Stimme spürte er, dass eine erwachsene Kampflust die Oberhand gewann über ihre alte kindliche Empörung. Er spielte den Filmausschnitt ab.

Als das Video sich dem Ende näherte, war Andrea es, die schmunzelte.

„Das mit dem Tennisball, der zwischen die Schenkel passt, hättest du dir sparen können.“

„Wieso?“

„Es widerspricht deiner eigenen Maxime: Weniger ist mehr.“

„Und sonst?“ In seinem Ton lag ein Anflug von Gereiztheit.

„Na ja, ich hätte an Stelle der Frau gefragt, warum die Heteros sich von den Schwulen das Schönheitsideal vorschreiben lassen.“

„Das konnte sie nicht fragen. Denn dann hätte sie indirekt zugegeben, dass an meiner These was dran ist. Und das ist für sie tabu, zumal vor der Kamera.“

„Und was hättest du geantwortet, wenn sie es gefragt hätte?“

„Ich hätte gesagt: Weil die schwule Ästhetik zufällig auf einer allmächtigen Welle des Zeitgeists reiten kann. Die Frau ohne Rundungen führt nur grotesk vor Augen, was sich alle wünschen: die grenzenlose Verfügbarkeit über den menschlichen Körper, haar- und geruchlos soll er sein, verformbar nach Belieben. Es ist die Verleugnung, dass dem Menschen etwas Naturwüchsiges anhaftet.“

Sie gab klein geschnittenes Gemüse zu den Zwiebeln, er sah, dass sie konzentriert nachdachte, und ließ ihr Zeit für ihre Antwort.

„Vielleicht kannst du froh sein, dass die Frau die Frage nicht gestellt hat.“

„Warum?“

„Weil du mit deiner Antwort die ganze Schwulenszene gegen dich aufgebracht hättest, samt all ihrer Sympathisanten. Du hättest sie von Trendsettern zu nützlichen Idioten degradiert.“

„Sie fördern einen Irrsinn, der Tausende junger Mädels in die Magersucht treibt, und fühlen sich noch trendy und sexy dabei.“

„Hättest du das auch in deiner Sendung gesagt?“

„So wohl kaum.“

„Siehst du. Und noch etwas: Du pochst darauf, dass der Mensch etwas Naturwüchsiges ist.“

„Und?“

„Naturwüchsig. Wenn du das Wort in dem Kontext verwendest, steckst du sofort in der Teufelsküche des Biologismus. Überleg dir gut, ob du das willst. Aber ich fürchte, du fühlst dich im Schwefeldampf einfach wohl.“

Eine Weile herrschte ein Schweigen zwischen ihnen, in dem jeder seinen Gedanken nachhing, während sie in eingespielter Routine das Essen zubereiteten. Als sie bereits am Tisch saßen, fragte sie:

„Freust du dich eigentlich auf deine Lesung an deiner alten Schule?“

Er kaute langsam seinen Mund leer, bevor er antwortete:

„Ich weiß nicht recht. Seltsam, dass niemand auf die Spelthahn-Verwechslung reagiert hat.“

„Du bist schon komisch. Erst machst du dir ins Hemd, dass die Sache üble Konsequenzen haben könnte, und jetzt bist du argwöhnisch, weil nichts passiert. Wirst du die Spelthahn-Stelle lesen?“

„Ich werd’ doch keine schlafenden Hunde wecken.“

Er goss zu viel Olivenöl in den Salat, weil er nicht konzentriert bei der Sache war.

„Ich hab übrigens ein bisschen recherchiert, was damals in dem Pfarrhaus passiert ist, warum der Spelthahn ermordet worden ist.“

„Und?“

„Noch weiß ich nichts Genaues. Ich hab in dem Pfarrbüro angerufen, wo er zuletzt Priester war. Die haben total gemauert: Sie wüssten nichts, und alle, die etwas gewusst hätten, seien schon tot. Dann hab ich mit dem Gemeindeamt Kontakt aufgenommen, die haben mir die Nummer von einem pensionierten Stadtarchivar gegeben. Er meinte, damals ist in der Lokalpresse groß berichtet worden. Er hat alle Artikel gesammelt und will sie mir schicken.“

„Und hat er was zu der Sache gesagt?“, fragte Andrea, ohne einen leeren Mund abzuwarten.

„Nur so viel“, sagte Theves und er imitierte den regionalen Singsang seiner Kindheitswelt: ‚Das mit dem Spelthahn war eine schlimme Kiste, da war was Homosexuelles am Laufen, das war ein Rachemord aus Eifersucht.‘“

Andrea sah ihn eine Weile an, mit einem Blick, der verriet, dass ihr professionelles Interesse geweckt war.

„Das hat er gesagt?“

Theves nickte.

„Komischer Zufall. Du bekommst den Kaktus von der Schwulenszene und kriegst die Panik wegen diesem Spelthahn, der nach einem schwulen Eifersuchtsdrama umgebracht wird.“

Theves legte die Gabel auf den Tisch und löste den Rücken von der Stuhllehne.

„Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Den Kaktus hab ich gekriegt, da wusste ich noch gar nichts von dem ganzen Spelthahn-Drama.“

Andrea zuckte mit den Schultern und steckte sich ein Stück Kartoffel in den Mund, ohne den Blick von ihm abzuwenden.

Nach dem Essen ging er ins Schlafzimmer, wo er Hemd und Hose gegen T-Shirt und Shorts tauschte. Mit federnden Schritten stieg er die Kellertreppe hinab und betrat einen Raum, der mit Aktenschränken und Kartons vollgestellt war. Für einen Moment genoss er die leicht modrige Kühle des Kellers. An einer Wand stand eine gepolsterte Bank unter einem metallenen Gestell mit einer aufliegenden Langhantel, an beiden Seiten beschwert mit jeweils drei schwarzen Stahlscheiben von unterschiedlicher Stärke. Er machte einige Dehnübungen für Arme und Schultern, dann legte er sich rücklings auf die Bank. Als er die Hantel an den geriffelten Haltegriffen emporwuchtete, stieß er laut die Luft aus. Langsam ließ er die Stange bis kurz über seine Brust sinken, dann stemmte er sie mit einem lauten Zischen in die Höhe, wieder und wieder, bis er spürte, dass seine Arme schwer wurden und zu zittern begannen. Nach einer kurzen Verschnaufpause wiederholte er die Prozedur, so oft, bis er die Hantel am Ende nur mit Mühe und wackligen Armen zurück in die Halterung legen konnte. Keuchend blieb er auf der Bank liegen, seine Arme fühlten sich taub an, das T-Shirt klebte am Rücken auf dem Kunststoffbezug. Als sein Atem sich halbwegs beruhigt hatte, zog er sein nasses T-Shirt aus und öffnete einen alten Kleiderschrank im hinteren Teil des Raums. An der Innenseite der Tür war ein mannshoher Spiegel angebracht. Sein gerötetes, schweißnasses Gesicht blickte ihm entgegen. Er wich seinem eigenen Blick aus, stellte sich leicht seitlich und betrachtete seinen behaarten Brustkorb, der sich in erhöhter Frequenz hob und senkte. Die Brustmuskeln waren angeschwollen, er fuhr mit der Hand über die linke Brust, drückte fest zu und fühlte über der Härte eine leichte Weichheit. Er nahm sich vor, ausdauernder und härter zu trainieren.

Die Lesung