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Maera Nyght

Die Tochter des Sturms 1 - Erwachen

Fantasy Liebesroman





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Titelseite

 

Die Tochter des Sturms

1: Erwachen

von Maera Nyght, 2013

Widmung

 

Für alle, die Bücher lieben: Ich hoffe, meins wird euch in seine Welt entführen.

 

Besonders für meine selbstgewählte Familie.

 

 

 

 

Prolog: Baumflüstern

 

„Und in jener Nacht wird ein neuer Stern am Himmel aufgehen,

er wird erhellen die Dunkelheit,

und das, was in ihr verborgen.

Die Dunkelheit wird ein Licht hervorbringen:

strahlend hell, einzigartig und doch gleich,

und das, was aus der Auseinandersetzung, die entbrennen wird,

wenn sie sich zu erkennen gibt, hervorgeht,

wird unsere Welt verändern und auch andere Welten berühren.

 

Durch einen Zufall in unserer Welt, in die sie doch gehört,

an ihrer Seite ein Krieger, der für sie die Welt niederbrennen würde,

wird sie uns Dinge zeigen, die wir noch nie gesehen,

Dinge vermögen, die wir uns nicht vorstellen

und über Wissen verfügen, das sogar den Alten verwehrt bleibt.

Mögen die Götter ihr beistehen und sie in ihren Reihen willkommen heißen.“

 

Er starrte den Baum der Weisheit an. Im Garten war es dunkel, doch er rührte sich nicht.

Gerade hatten die Blätter, die seit Jahrtausenden im Wind raschelten, ihm eine Prophezeiung zugewispert, die die Welt verändern würde.

Wie lange war es her, seit sie überhaupt gesprochen hatten?

Wie lange, dass sie eine Prophezeiung hatten verlauten lassen?

Wieso taten sie es nun?

Ein Blitz erhellte die Nacht. Für ein paar Sekunden nur war alles gleißend hell, bevor die Dunkelheit erneut niedersank.

Er wusste, was es bedeutete.

Die Welt im Schatten würde sich verändern. Erschüttert werden. Durch sie.

Er war nicht sicher, wer damit gemeint war, aber er wusste, was alle vermuten würden.

Über ihm braute sich ein Unwetter zusammen.

Sie würden es erfahren. Die Prophezeiung ließ sich nicht verbergen. Nicht, wenn sie von diesem Baum stammte. Er hörte bereits, wie der Wind zu flüstern begann. Jeder, der sich darauf verstand ihm seine Geschichten zu entlocken, würde es erfahren.

Jeder.

Und die mächtigeren Sensitiven würden es träumen und so würden auch die, die diese Gabe nicht beherrschten, davon hören können.

Als der erste Donner über den Himmel rollte und die Ladung in der Luft schlagartig anstieg, traf er seine Entscheidung.

Sie würde sicher sein, solange er dafür sorgen konnte.

Sie würde von anderen beschützt werden und im Verborgenen bleiben, bis es so weit war. Und wenn sie es war, würde sie die Dunkelheit erhellen. Und er würde ihr beistehen, so gut er konnte.

Sein Wutschrei darüber, was diese Entscheidung bedeutete, verlor sich in seinem Sturm.

 

 

Teil 1

 

Es ist besser,

ein einziges kleines Licht anzuzünden,

als die Dunkelheit zu verfluchen.

 -Konfuzius

 

(Quelle: http://www.poeteus.de)

 

 

 

1: Präsentierteller

 

 Eigentlich sollte ich gar nicht hier sein. Dies war meine Stadt, doch um diese Uhrzeit noch draußen zu sein, war dumm. …Schön, eigentlich war die Uhrzeit auch nicht das Problem. Ebenso wenig war es die Dunkelheit, die mit der Zeit kam. Oder dass ich in ihrem alles-andere-als-schützenden ‚Mantel‘ durch die Straßen wanderte.

Unter normalen Umständen hätte mir das nichts ausgemacht.

Doch heute war meine Haltung angespannt, meine Schritte trugen mich schnell, zu schnell, die Straße entlang. Sie verrieten meine Unsicherheit und ich brachte nicht die Energie auf, sie davon abzuhalten. Weil ich es noch dazu eilig hatte.

Es war ein stiller, nebliger Abend, erst zwanzig Uhr zwar, jedoch schon so dunkel wie in den dunkelsten Winternächten. Nur, dass nicht Winter war.

Ich versuchte, meine Gedanken zu beruhigen. Immerhin war ich auf den Straßen Chicagos aufgewachsen, fand meinen Weg mit traumwandlerischer Sicherheit und kannte andere Dinge als bloße – heute durch die Stellung irgendeines Planeten bedingte ungewöhnlich früh eingetretene – Dunkelheit, die es sich zu fürchten lohnte.

Dennoch, meine Nerven blieben bis zum Zerreißen gespannt. Es war ein ziemlich beklemmendes und noch dazu ungewohntes Gefühl.

Sei nicht so ein Angsthase!“, schalt ich mich selbst in Gedanken.

Das beklemmende Gefühl blieb. Wäre auch seltsam gewesen, wenn das geholfen hätte.

Es war, was neuerdings mit dem Einbruch der Dunkelheit kam, das in mir dieses beklemmende Gefühl verursachte. Was auch die anderen Leute veranlasste, schon jetzt nicht mehr draußen unterwegs zu sein, zumindest nicht zu Fuß, und nach der Arbeit zuhause zu bleiben, wenn es irgendwie möglich war.

Und natürlich muss ich da erst recht losstiefeln“, dachte ich gedanklich über mich selbst seufzend. Denn die Schuld daran, dass ich mich nun so unwohl fühlen musste, lag natürlich größtenteils bei mir. Dafür, dass seit einiger Zeit ein mysteriöser Mörder sein Unwesen in Chicagos Straßen trieb, konnte mich allerdings niemand verantwortlich machen.

In den letzten zwei Wochen hatte es zehn Morde gegeben, die diesem Mörder zugeschrieben wurden. Das konnte auch jemand Toughes wie mich durchaus beunruhigen.

Vor allem, weil die zehn Morde keinerlei Muster aufzuweisen schienen.

Der erste Tote war ein Mann Mitte vierzig aus der Mittelschicht gewesen. Man hatte ihn in seinem eigenen Vorgarten gefunden, neben ihm ein Rechen. Nachbarn erzählten den Medien später, dass der Naturbegeisterte oft noch spät abends, wenn er nach Hause kam, zur Gartenarbeit geschritten war.

Die nächste Leiche war nur einen Tag später entdeckt worden –Anne, ein Mädchen, das ich flüchtig aus der Schule gekannt hatte. Wir hatten zusammen Physik gehabt und, wenn es zu langweilig geworden war, miteinander gequatscht, ohne dabei je erwischt zu werden.

Sie war total in Ordnung gewesen, sogar ziemlich beliebt wegen ihres guten Aussehens, der reichen Eltern und ihrer Mitgliedschaft im Cheerleader Team.

Dass sie zum Hofstaat der Queens gehört hatte, hatte man ihr gar nicht angemerkt, wenn man sie allein traf.

Ich hatte sie immer für oberflächlich gehalten, eine typische, dumme, blonde Cheerleader-Puppe, deren größtes Problem ein abgebrochener Nagel war. Anfangs hatte ich mich deshalb gewundert, dass sie überhaupt mit mir sprach, dann jedoch festgestellt, dass sie okay war.

Unsere Bekanntschaft war nie über die Physikstunden hinausgewachsen, aber wir hatten uns immer zugelächelt, wenn wir uns auf dem Flur begegneten: sie in tollen Klamotten mit einer Schar anderer Beliebten um sich herum, ich allein und mit der Menge verschmelzend, wie es typisch für mich war.

Den Gerüchten zufolge war Anne spät noch in der Disco gewesen, wo sie sich kurz vor Mitternacht von ihren Freunden verabschiedet hatte um nach Hause zu gehen und nie dort anzukommen.

– Dabei wusste doch jeder, dass man sich nach der Disco besser nach Hause begleiten lassen sollte… – Man fand sie in einer Seitengasse.

Die nächsten zwei Opfer ließen nicht lange auf sich warten, es waren zwei Mädchen in Grundschulalter gewesen, die noch nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße gespielt hatten.

Danach hatte es ein älteres Ehepaar erwischt, das spät noch im Millennium-Park spazieren gegangen war.

Ab da hatten die Medien begonnen, über einen Täter zu sprechen, der Dunkelheit zur einzigen Voraussetzung seiner Morde machte und ansonsten wahllos zuschlug.

Über die nächsten vier Opfer wusste ich nichts, nur, dass sie eben alle ermordet worden waren.

…Sämtliche bisherigen Morde waren nach Einbruch der Dunkelheit ausgeführt worden, so Gerüchteküche und Medienberichte.

Darum war ich nun die einzige Person auf der mäßig erleuchteten Straße.

Kopfschüttelnd startete ich einen Versuch, mich von den Gedanken, die mich nur noch mehr aus der Ruhe bringen konnten, abzulenken und das Positive zu sehen.

Es dauerte nicht lange, bis ich etwas Entsprechendes gefunden hatte. Nämlich die Tatsache, dass immer mehr Hunde, auch ältere und größere, aus dem Tierheim adoptiert wurden, weil sie den Leuten ein Gefühl von Sicherheit gaben. Diese Zeitungsmeldung konnte ich sogar bestätigen, schließlich arbeitete ich ab und zu im örtlichen Tierheim. „Na bitte, man muss nur positiv denken wollen, schon klappt es.“ …Oder auch nicht, denn beim Stichwort ‚Artikel‘ fiel mir auf der Stelle ein anderer ein, der erst neulich in der Zeitung gestanden und genau das Thema behandelt hatte, von dem ich eigentlich hatte wegkommen wollen:

 

„Seit zwei Wochen wird Chicago nun schon von einem unbekannten Mörder heimgesucht, der die Anwohner in Angst und Schrecken versetzt, sowie dem Tourismus zuzusetzen beginnt.

Die Polizei hat bis jetzt keinerlei Kommentar zu den Vorkommnissen abgegeben, doch so viel ist bekannt: Bis jetzt wurden zehn Personen aus verschiedenen sozialen Schichten und Stadtteilen ohne ersichtlichen Grund oder Zusammenhang getötet.

An den Tatorten waren keinerlei Spuren zu finden, die auf den Mörder oder sein Motiv hinweisen würden. Die Bevölkerung spricht bereits von einem Mörder mit übernatürlichen Kräften und übersinnlichen Fähigkeiten. Bis jetzt gelten fünf weitere Personen als vermisst.

Sachdienliche Hinweise bitte an die Polizeihauptdienststelle Chicago.“

 

 

Das mit den übernatürlichen Kräften und übersinnlichen Fähigkeiten bezweifelte ich zwar. Trotzdem hörte sich das Ganze schon seltsam und definitiv nicht gut an.

Ob bereits weitere Personen verschwunden waren?

…Sicher, es würde in der Zeitung stehen, wenn irgendein Typ mit Bürojob aus der Mittelschicht verschwinden würde; aber es gab in Chicago, wie in jeder anderen Großstadt, auch Leute, die niemand vermissen würde. Leute ohne Job, oder die zuhause arbeiteten und über kein gut funktionierendes soziales Netzwerk verfügten –oder über Mitmenschen, die sich für ihr Schicksal, ihren Verbleib interessierten.

Mitglieder von gewissen Gangs, Einwohner der Viertel mit schlechtem Ruf und hoher Kriminalitätsrate, Obdachlose… kurz: Leute, deren Existenz die Durchschnittsmenschen und hohen Tiere gern ignorierten und oft vergaßen.

Leute, die niemanden kümmerten.

Zu denen ich in einer anderen Zeit ebenfalls gezäh- Krumms.

Das Scheppern, das von irgendwo hinter mir gekommen war, riss mich aus meinen –zugegebener Maßen ziemlich dunklen – Gedanken und ließ mich zusammenzucken.

Was war das?!“

Meine Nackenhaare stellten sich auf, aber ich drehte mich nicht um und blieb nicht stehen. Vielleicht machte ich Wirbel um nichts, schließlich konnte das auch eine streunende Katze, ein Hund oder meinetwegen auch eine Ratte gewesen sein.

So oder so, meine Instinkte, die jeder, der einmal auf diesen Straßen gelebt hat, automatisch entwickelt, waren erwacht.

Leos Stimme hallte in meinem Kopf, eindringlich erklärte er mir die Grundregeln zum Überleben auf der Straße. „Wenn du ein Geräusch hörst, bleib nicht stehen. Das kann deinen Tod bedeuten. Unauffälligkeit heißt Überleben. Niemand achtet auf Leute wie uns, solange wir uns so benehmen, wie man es von uns erwartet.

Du musst deine Umgebung kennen und jederzeit auf Gefahr gefasst sein. Fluchtwege, sichere Verstecke, öffentliche Orte; du musst einen Stadtplan im Kopf haben.

Lerne, die Leute einzuschätzen. Du musst lernen, zu erkennen, ob jemand harmlos oder gefährlich ist, Absichten sind bezeichnend.

Lerne, mit deiner Umgebung zu verschmelzen und sei um Gottes Willen immer aufmerksam!“

Nun, die Unauffälligkeit konnte ich vergessen, so als einzige Person auf der Straße.

Um genau solch einer Situation zu entgehen, hatte ich so oft wie möglich Wege durch Gassen genommen, aber diese Straße hatte ich entlang gemusst. Außer ich hätte einen Umweg durch die Gassen genommen, aber der hätte mich eine halbe Stunde gekostet.

„…Meine Prioritäten.“

Doch auch in den Gassen fiel ich schließlich auf.

Allerdings wäre das immer noch besser als hier auf dem Präsentierteller“, dachte ich.

Ganz toll. Das kommt davon, wenn man sich an das Gefühl von Sicherheit gewöhnt“, stichelte mein Unterbewusstsein.

Ich konnte ihm nicht wiedersprechen. Stattdessen beschleunigte ich meine Schritte zusätzlich, senkte den Kopf und beobachtete aus den Augenwinkeln meine Umgebung so gut ich konnte. Im Moment befand ich mich im Schatten zwischen zwei Straßenlaternen. Eine davon flackerte und ließ die Schatten immer wieder wachsen und schrumpfen.

Das ist definitiv total klischeehaft“, dachte ich, wobei mir klar war, dass ich mich, sobald ich mich in den Lichtbereich der nächsten Laterne begab, sogar noch mehr auf den Präsentierteller manövrierte.

So, als würde ich genau zur Mitte des besagten Tellers spazieren, mich auf die Zehenspitzen stellen, winken und dazu rufen: Hier bin ich! Hierher! Siehst du mich?! Ich bin ganz allein in einer spärlich beleuchteten Straße und kein Zeuge weit und breit!“

Um das Bild, das in meinem Kopf entstanden war, zu vertreiben, biss ich mir von innen leicht auf die Wange und spannte mich sogar noch mehr an, als ich im Licht der vor sich hin flackernden Laterne einen huschenden Schatten zu sehen glaubte.

Shit!

Noch bevor ich in den Lichtkreis der nächsten Straßenlampe geriet, tauchte ich schnell in eine Seitengasse ein und ließ mich von der Dunkelheit unsichtbar machen soweit es möglich war. In einer stockdunklen Ecke hinter ein paar Mülltonnen kauernd lauschte ich mit angehaltenem Atem. Wartete.

Schritte näherten sich.

Also hatte der Schatten doch nicht nur beweglich ausgesehen wegen der blöden Lampe, wie ich noch gehofft hatte.

Die Schritte verursachten kaum ein Geräusch auf dem leicht feuchten Asphalt der Gasse.

Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass es Übung brauchte, um sich so lautlos durch die Straßen zu bewegen.

Mittlerweile tat ich es instinktiv, aber früher hatte ich mich dabei stark konzentrieren und auf jede Unebenheit des Bodens, Steine und Abfall achten müssen.

Nach vielleicht zwei weiteren Schritten hörte ich nichts mehr. Keinen einzigen, verdammten Laut, sosehr ich auch lauschte und dabei selbst so flach atmete. Das musste allerdings nichts heißen. Einmal hatte ich gesehen, wie Leo sich vollkommen geräuschlos, als würde er schweben, auf einem verdammten Kiesstreifen bewegt hatte. –So gut wie er war ich naheliegenderweise nie geworden.

Mir kam eine verrückte Idee. Überhaupt waren meine Ideen öfters verrückt, doch ein paar davon stellten sich regelmäßig als gutartig verrückt heraus, weshalb ich vor der Umsetzung dieser nicht lange überlegte.

Langsam, und bedacht, so leise wie nur lebensmöglich zu sein, ließ ich meine Hand in die Tasche meiner Lederjacke gleiten und zog Stück für Stück mein kleines Notizbuch heraus. Eine Lichtreflektion fiel darauf und ließ das filigrane Muster auf dem Einband und den mattschwarz glänzenden Stift aufblitzen, der an seinem silbernen Faden vom Notizbuch baumelte.

Einen Sekundenbruchteil später war mein Versteck wieder in Finsternis getaucht. Es machte mir nichts aus.

Ich griff nach dem hin und her baumelnden Stift und hielt ihn fest, während ich das Notizbuch auf der Seite aufschlug, in der das schwarze Seidenband herauslugte –es kennzeichnete bei mir stets die nächste leere Seite.

Jetzt kam der Teil, den ich am liebsten irgendwie übersprungen hätte, der jedoch unvermeidlich war.

Mit fest zusammengekniffenen Augen klickte ich hinten auf den Kugelschreiber, damit die Miene zum Vorschein kam…

Ein Klicken, das sich in meinen Ohren wie ein Pistolenschuss anhörte, tönte durch die Gasse. Mist.

Wenn ich hier lebend rauskomme, besorge ich einen Kuli, den man zum Öffnen dreht“, nahm ich mir vor. Ich setzte den Stift aufs Papier, öffnete die Augen und hob dann langsam den Kopf.

 

 

 

2: Mr Grünauge

 

 

Ich blickte in grüne Augen, in denen ich goldene Sprenkel zu erkennen glaubte. Allerdings konnte es auch sein, dass das Licht, das von der Straße hereinschien und die Gestalt des jungen Mannes vor mir nur spärlich beleuchtete, mir einen Streich spielte.

Wie auch immer, ich hatte noch nie so schöne Augen gesehen – ob nun mit oder ohne Sprenkel.

Wir haben keine Zeit für sowas“, erklärte mir mein Unterbewusstsein schnippisch und holte mich damit aus meiner Versunkenheit zurück, „also hör auf, dich wie ein liebeskranker Teenager zu benehmen!“

Es hatte recht. Himmel, wieso musste ich ausgerechnet jetzt anfangen, mich für Jungs zu interessieren? Die in der Schule ließen mich schließlich auch kalt.

Die in der Schule sehen ja auch nicht so gut aus“, schnurrte es in mir.

Typisch, dass die sich ausgerechnet jetzt meldet“, dachte ich genervt.

Meine Libido meldete sich äußerst selten zu Wort, aber wenn, hatte sie es faustdick hinter den Ohren. Allerdings musste ich zugeben, dass auch sie recht hatte. Mann, wie oft musste ich meinen inneren Quälgeistern heute denn noch Recht geben?

Er sah definitiv tausendmal besser aus als alle Jungs an meiner Schule.

Was mich jedoch erstaunte, war die Tatsache, dass er so verdammt jung aussah, allerdings… gab es überhaupt eine Altersbegrenzung für Mörder?

Dieser Typ… nein, Mann… ach verdammt, nennen wir ihn einfach Grünauge, sah aus, als wäre er gerade mal zwei Jahre älter als ich. Höchstens!

Seine Augen allerdings vermittelten einen anderen Eindruck. Nein, nicht weil sie so schön waren, dass man sich in ihnen verlieren konnte – nicht, dass das nicht möglich wäre –, sondern, weil sie sehr viel älter schienen als sie sein sollten.

Sie schienen schon sehr viel gesehen zu haben.

Sie wirkten irgendwie… alt. Und damit meine ich nicht Opa-alt, sondern einfach… naja, eben als hätten sie schon viel gesehen.

Was du nicht sagst.“

Es war nicht das erste Mal, dass ich mehr in Augen sah, als da eigentlich sein sollte. Ich kannte Menschen auf der Straße, die hatten auch so einen Ausdruck in den Augen. Dass sie schon zu viel gesehen hatten.

Zum Beispiel Terry, der im Krieg gewesen war, oder Bill, der sich knapp aus einem Haus hatte retten können, das explodierte, und danach die ganzen Toten gesehen, beim Bergen geholfen und gewusst hatte, dass er selbst das hätte sein können. Er hatte mir davon erzählt: ich hatte Alpträume gekriegt.

Wenn man auf der Straße lebt, weiß man, was es bedeutet, nichts zu haben, außer den Dingen, die man vielleicht noch in einer Tüte mit sich herum trägt. Und man sieht vieles, was den anderen verborgen bleibt.

Ich fragte mich oft, ob auch in meinen Augen dieser Ausdruck zu sehen war. Vielleicht hin und wieder.

Aber zurück zu Grünauge. Der Ausdruck in seinen Augen war dem Ausdruck von Terry und Bill zwar ähnlich, und doch anders. In ihnen schien aber ein Feuer zu brennen.

Ich wurde nicht schlau aus ihm oder der Bedeutung dieses Feuers. Und das nicht, weil ich verlernt hatte, wie man Leute nach Leos Regeln einschätzte, sondern, weil er anders war.

Ich weiß, es hört sich bescheuert an, aber ich spürte das einfach. Und wenn ich eins tat, dann mich auf meine Instinkte verlassen. Das war Leos oberste Regel und er hatte mir eingeschärft, sie niemals zu vergessen.

Du schweifst schon wieder ab! Konzentrier dich, Cat!“, schnauzte mein Unterbewusstsein, und holte mich zurück.

Wenn ich weiter so in Gedanken versinke, werde ich noch meinen eigenen Mord verpassen“, stellte ich mit schwarzem Humor fest, obwohl mir klar war, dass diese Gedankengänge höchstens drei Sekunden in Anspruch genommen haben konnten.

Automatisch dachte ich an die Gemeinschaftsstunde, in der Ms Clark uns im Brustton der Überzeugung erklärt hatte: „Wenn euch jemand etwas antun will, dann schreit so laut ihr könnt um Hilfe und lauft weg. Das verschreckt jeden Angreifer.“

Ich muss wohl nicht hinzufügen, dass Ms Clark noch nie auch nur annähernd in eine solche Situation gekommen war und sich wahrscheinlich in ihrem ganzen Leben nur oberflächliche Gedanken um ihre Sicherheit, ach was, um irgendetwas gemacht hatte.

Sie war jemand der wiederkäute, was man ihr beibrachte, machte, was man ihr sagte und nichts hinterfragte: Also meist eine verdammt praktische Angestellte.

Schluss jetzt“, rief diesmal ich selbst mich zur Ordnung und musterte interessiert Grünauges restliche Erscheinung, die hauptsächlich im Schatten lag. Dennoch musste man schon enorm kurzsichtig sein, um die Muskeln nicht zu sehen, die sich unter seiner offenen Lederjacke, beziehungsweise seinem Shirt abzeichneten. Trotz dieser war er von schlankem Bau.

Sein Gesicht verfügte über ausgeprägte Wangenknochen und war, wie auch der Rest von ihm, nun ja… perfekt. Will sagen meinem Schönheitsideal entsprechend. Wie glücklich ich mich doch schätzen konnte!

Sein Haar war pechschwarz und glänzte wie die Federn einer Krähe – jetzt wurde ich auch noch poetisch – und reichte ihm bis knapp oberhalb der perfekten Wangenknochen.

Hätte er nicht schon seinen Job im Ermorden von Leuten gewählt, bei dem er in dieser Saison eine steile Karriere hinlegte, hätte sich wahrscheinlich jede Modelagentur um ihn gerissen.

Aber wer sagte denn, dass sich das Eine nicht mit dem Anderen kombinieren ließe?

Vor meinem inneren Auge entstand ein Bild von ihm, wie er eine Pose einnahm, die so gern in Werbungen benutzt wurde: Er mit noch etwas feuchten Haaren, als käme er gerade… keine Ahnung, vom Joggen oder so, und einige Wassertropfen fielen aus seinem glänzenden Haar auf das schwarze Shirt, das sich wie eine zweite Haut an seinen geschmeidigen und dennoch muskulösen Körper schmiegte und so gut wie nichts der Fantasie überließ…

Lecker“, kam es auch sofort von meiner Libido.

Schluss, Schluss, Schluuuuss!!! Vergiss nicht, dass er in deiner Vision wohl nicht vom Joggen, sondern vom Morden zurückkäme!“, rief ich mich so energisch zur Ordnung wie ich es noch nie getan hatte. Mittlerweile starrte ich ihn nun wirklich zu lange wortlos an.

Vermutlich glaubte er, es hätte mir die Sprache verschlagen… okay, ähm, damit läge er vermutlich gar nicht so weit daneben, aber… Ach, war ja auch egal. Immerhin starrte er mich ja genauso fasziniert an wie ich bestimmt ihn.

„Du hast schöne Augen, weißt du das?“, fragte mein Gegenüber unvermutet mit der schönsten Stimme die ich jemals gehört hatte –und nahm mir so blöderweise die Möglichkeit, als erste etwas zu sagen, um den Eindruck der Sprachlosigkeit zu widerlegen. Ich blinzelte erst mal verblüfft.

Oookaaay.

Ja, tatsächlich wusste ich als Realistin und gute Beobachterin, dass ich schöne Augen hatte. Sie waren dunkelbraun und einen Tick dunkler als mein Haar, doch das Besondere an ihnen war, dass die Zeichnung einer Sonnenblume um die Iris verlief. So etwas kam relativ selten vor, zumindest in so symmetrischer Form, und ich bekam von den Leuten oft zu hören, dass ich schöne Augen hatte. Wenn sie es denn bemerkten.

So oft jedenfalls, dass ich gar nicht mehr wirklich hinhörte, doch als er es sagte, berührte es etwas in mir, eine Tatsache, die mich verblüffte. Scheiße! Ich hatte mich doch nicht etwa in ihn verliebt?!

Sowas wie Liebe auf den ersten Blick gibt’s nicht, das sind nur chemische Reaktionen“, redete ich mir hastig ein.

Blöd nur, dass ich mir selbst nicht glaubte.

Meine Mum hatte sich auch auf den ersten Blick in meinen Vater verliebt, das hatte sie mir zumindest oft erzählt, und ich hatte ihr geglaubt. Auch, weil mein innerer Lügendetektor, der mich noch nie getrogen hatte, bei ihrer Behauptung nicht angeschlagen hatte. Meine Mum hatte nicht gelogen. Und sie hatte sich auch nie mehr ent-liebt.

Bei ihr war es keine vorrübergehende chemische Reaktion gewesen, sondern Liebe auf den ersten Blick und für immer und ewig.

Auch, wenn mein Dad nicht mehr da gewesen war.

…Naja, aber da gab es doch sicher Ausnahmen, oder? Bei Liebe auf den ersten Blick? Oder? Oder?!

„Ja, ich weiß und danke“, antwortete ich endlich und hoffte, dass er von meinem inneren Monolog nichts mitbekam.

Wieso sagt er überhaupt sowas? Ist er ein Psychopath?“ –Nein, eher nicht, ich hatte in seinen Augen keinen Wahnsinn oder ähnliches erkennen können. Allerdings: ist nicht jeder Mörder ein Stück weit Psychopath?

Dass er der Mörder war, stand jedenfalls außerfrage, denn er hielt ein Messer in der Hand.

Oder sollte ich eher Dolch sagen? Denn für ein Messer war das Ding definitiv zu lang... nicht, dass ich Erfahrung mit Messern gehabt hätte. Stattdessen hatte ich Erfahrung im Kampf mit dem Katana, dem Degen und Bogen.

Und ich hatte eine Abhandlung über Waffen vergangener Zeiten gelesen, also Blankwaffen.

Außerdem beherrschte ich die Grundlagen von fast jeder Kampfsportart.

…Ich hatte in der Highschool einen Kampfkurs belegt, in dem wir alle zwei Monate die Grundlagen einer anderen Kampfsportart durchnahmen.

Als total ahnungslos konnte man mich also auch nicht bezeichnen, wenn ich jetzt so darüber nachdachte.

Bloß hatte ich das dumme Gefühl, dass mir das bei diesem Typen nicht viel nutzen würde.

An der Waffe jedenfalls, ich entschied mich für Dolch, also an dem Dolch befand sich ein dunkelroter Fleck, und ich bezweifelte stark, dass der von Rost kam: Grünauge wirkte nicht wie jemand, der seine Waffen verrosten lassen würde.

Hör auf, über die Waffe nachzudenken, das macht dich nur verrückt!“, befahl mir meine Stimme der Vernunft.

Zu spät“, gab mein Unterbewusstsein beleidigend humorvoll zurück.

Gehorsam wandte ich den Blick vom Dolch ab und sah ihm wieder in die Augen.

„Wie ist dein Name?“, erkundigte er sich mit seiner schönen Stimme.

„Nenn mich Cat“, erwiderte ich und war überrascht, wie normal meine Stimme klang. Mein früherer Straßenname erschien mir als die beste Antwort auf seine Frage. So sagte ich zwar die Wahrheit, denn immerhin war Cat mein Name, nannte ihm aber zugleich nicht den Namen, unter dem man mich finden könnte.

„Verstehe“, sagte er und ein Funkeln trat in seine Augen, was zu den goldenen Sprenkeln ziemlich gut aussah. Mittlerweile war ich mir ziemlich sicher, dass sie wirklich da waren. Also die Sprenkel. Weil ich ihm ja jetzt wirklich schon eine Weile in die Augen sah.

Ich konnte seiner Stimme nicht anhören, ob es ihm missfiel, dass ich ihm offensichtlich einen Spitz- und nicht meinen bürgerlichen Namen genannt hatte, doch er drang nicht weiter.

„Wen hast du gerade umgebracht?“, wollte ich nun geradeheraus wissen und war von mir selbst schockiert.

Ich wusste zwar, dass ich diese Frage einfach hatte stellen müssen, aber dass ich das tatsächlich getan und dabei auch noch so normal geklungen hatte, war dann sogar für mich verblüffend.

Auch er sah einen Sekundenbruchteil überrascht aus.

Ich hatte keine Antwort erwartet, doch er widerlegte das: „Ich habe einen der Mörder umgebracht.“ Er sagte es mit dem vollkommen normalen und nüchternen Ton, in dem man auch über die Dinge spricht, die man noch einkaufen muss.

„Wer jemand anderen umbringt, wird automatisch selbst zum Mörder“, sagte ich. Es war eine simple Feststellung.

„Ja, das ist richtig, aber ich habe verhindert, dass noch weitere Menschen ermordet werden“, gab er ohne Zögern zurück und seine Stimme klang sanft.

Das war ein gutes Argument, auch wenn es sich nicht so angehört hatte, als wolle er sich überhaupt rechtfertigen.

„Es gibt also mehrere Mörder?“, hakte ich vorsichtig nach. „Man erzählt sich aber nur von einem.“ Ja, okay, das klang jetzt blöd. Aber war doch so!

„Woher sollte ‚man‘ das wissen, wenn ‚man‘ nie eine Spur gefunden hat? Vielleicht will ‚man‘ nur eine Massenpanik verhindern, schließlich würden die Leute noch mehr ausrasten, wenn sie dächten, dass gleich mehrere Mörder ihr Unwesen in der Stadt treiben. Wahrscheinlich würde eine Massenflucht einsetzen und die Leute würden die Supermärkte stürmen und sich in ihren Häusern verschanzen.“

Hat der etwa immer so gute Argumente drauf? Und was mache ich hier überhaupt?! Ich diskutiere in einer dunklen Gasse mit einem Mörder! Hab ich denn völlig den Verstand verloren?!“

Definitiv. Wie ich schon sagte“, meldete sich die Stimme meines Unterbewusstseins hilfreich zu Wort.

Haha.“

„Was willst du mit dem Notizbuch?“, riss mich Mr Grünauge aus meinen Gedanken.

„Was willst du mit dem Dolch?“, schoss ich zurück.

„Ich muss ihn reinigen, bevor ich ihn wegstecke“, erklärte er geduldig. „Deswegen hab ich ihn in der Hand behalten. Außerdem bin ich gern auf alles vorbereitet. –Jetzt du“, verlangte er.

„Ich will ein Portrait von dir zeichnen. …Ich bin in Kunst nicht schlecht.“

„In völliger Dunkelheit?“, kam es ungläubig zurück.

„Ich erkenne genug, außerdem kann ich auch mit geschlossenen Augen zeichnen.“

Mr Grünauge wirkte amüsiert und mir fiel auf, dass ich längst keine Angst mehr vor ihm hatte. Mit mir stimmte etwas ganz gewaltig nicht, definitiv nicht.

„So? Und dann?“, wollte er wissen.

„Dann schreibe ich oben auf die Seite ‚Mörder‘ und lege es hier hin, damit die Polizei endlich einen Hinweis bekommt und weiß, wer mich umgebracht hat“, erklärte ich ihm völlig ernst.

„Äh, ja.“ Er kämpfte gegen ein Lächeln, ich sah es ihm sogar trotz der schlechten Beleuchtung an. „Der Plan hat aber zwei Haken.“

„Die wären?“, fragte ich. Außerdem fragte ich mich, warum ich ihm das gerade erzählt hatte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, bei ihm sicher zu sein.

Vielleicht hatte ich Fieber?

Vielleicht war das hier alles nur ein Fiebertraum und in Wirklichkeit lag ich bewusstlos und glühend vor Fieber irgendwo auf der Straße.

Nicht gerade positive Gedanken, das musste ich zugeben, aber daran war ich ja gewöhnt.

Wenn es wirklich so ist, würde ich den Traum vorziehen“, erklärte meine Libido.

Grünauge unterbrach mal wieder meine Überlegungen, als er fortfuhr. „Zum Einen: was würde mich daran hindern, dir das Portrait abzunehmen, nachdem ich dich umgebracht hätte?“ Er machte weiter, ohne mir Zeit für eine Antwort zu lassen. „Und zum Anderen will ich dich gar nicht umbringen, ‚Katze‘.“ Er machte eine kurze Pause und blickte mir tief in die Augen.

Ich stellte fest, dass es mir gefiel, wie er meinen Namen aussprach, und dass ich ihm auf der Stelle glaubte. Mein Lügendetektor sprang nicht an. Würde der bei ihm überhaupt funktionieren? Manchmal wurde ich dadurch in die Irre geführt, dass derjenige selbst glaubte, was er sagte.

„Ich bin kein Mörder“, fügte er dann hinzu, als hätten wir das schon längst geklärt.

Ich war da aber nicht so überzeugt. Und außerdem, wollte er mich jetzt ernsthaft am Leben lassen, obwohl ich jetzt so einiges wusste? Ihn sogar gesehen hatte?

Ich beschloss, ihm zu verschweigen, dass ich auch sehr gut aus dem Gedächtnis ein Portrait zeichnen konnte. Ein fotografisches Gedächtnis kann so ungeheuer praktisch sein. Als er mein skeptisches Gesicht sah, fügte er hinzu: „Naja, zumindest kein Mörder der üblichen Sorte.“

Das konnte selbst ich nicht bezweifeln. „Na schön. Aber du weißt, wo und vielleicht sogar wer die Mörder sind, und kannst die Polizei zu ihnen führen. Schließlich hast du einen von ihnen umgebracht“, sagte ich mit einem kurzen Blick auf den Dolch. „…Das erwähnst du bei der Polizei aber lieber nicht“, fügte ich kurz darauf hinzu.

„Ach, und wie soll ich der Polizei erklären, woher ich angeblich weiß, wo und wer die Mörder sind? Was übrigens nicht stimmt, ich weiß nur, wie ich sie erkenne. Und was sollte die Polizei überhaupt gegen sie unternehmen?“ Amüsiert sah er mir schon wieder so tief in die Augen.

Oh je, da waren weitere gute Argumente in Anmarsch.

„Wie meinst du das?“ Verständnislos blinzelte ich zurück.

Er lachte. „Du hast es doch schon gemerkt. Dass ich anders bin. Das kannst du nicht bestreiten. Du hast es gespürt, sobald du mir in die Augen gesehen hast. Ich konnte es dir ansehen. Es ist sehr selten, dass ein Mensch so etwas instinktiv erkennt.“

So viel zu meinem Pokerface.“

Was hatte er mir noch angesehen? Eine beunruhigende Frage. In anderer Weise als die Tatsache, dass ich mich hier mit einem Mörder in einer dunklen Gasse aufhielt.

Er fuhr mit seinen Fingern meine Wangenknochen nach. Ich erstarrte bei seiner Berührung. Zärtlichkeit stand in seinem Blick. Was war das denn jetzt?!

Ich musterte ihn und hatte Mühe, mich auf seine Worte zu konzentrieren.

Was wollte er damit sagen? Als wäre er von sich selbst überrascht, nahm er seine Hand weg und runzelte die Stirn.

„Meinst du damit, die Zeitungen haben recht, wenn sie von übernatürlichen Mördern reden?“, fragte ich hastig, um mich sowohl von dem Kribbeln, als auch von der Erkenntnis abzulenken, wie gut er aussah, wenn er die Stirn runzelte.

Nun sah er wieder ernst aus. „Ja.“

Oh. Mein. Gott. Oh mein Gott! Aber das bedeutet… Oh Mann, das heißt… dass er… Moment… übernatürliche Mörder?!“

Entweder das, oder der Typ vor dir ist wirklich verrückt“, brachte meine Vernunft mir einen ganz neuen Blickwinkel nahe.

„Shit“, brachte ich zu all dem bloß heraus.

„Ganz genau“, bestätigte er.

„Das ist aber gar nicht gut“, sagte ich nach einer Weile, in der ich schweigend dagesessen und meine Gedanken geordnet hatte.

„Nein, ist es nicht, und deswegen bin ich hergekommen.“

„Und… kannst du das zufällig auch beweisen?“

Endlich. Wurde aber auch mal Zeit, dass du die naheliegendste Frage stellst“, stöhnte mein Unterbewusstsein.

Ich ignorierte es, obwohl ich wusste, dass es mal wieder recht hatte. Das ätzte.

Eine seiner Brauen hob sich. „Glaubst du, dass ich lüge?“

„Ich glaube, dass du selbst von der Wahrheit deiner Worte überzeugt bist“, gab ich schluckend zurück.

Verständnisvoll nickte er. „Na schön. Dann sieh her.“ Er wechselte den Dolch von der rechten in die linke Hand und streckte die freie Rechte dann aus, Handfläche nach oben. Keine Sekunde später schwebte dort unvermutet ein rundes, schimmerndes… Gebilde.

Es war grüngrau, goldene Funken stoben davon auf und es verströmte Wärme. Mit großen Augen starrte ich es an. „Was ist das?“ Vorsichtig streckte ich eine Hand aus. Einer der goldenen Funken landete darauf und erlosch beim Kontakt mit meiner Haut, ohne, dass etwas von ihm zurückblieb.

„Ein Abbild meines inneren Energiekerns. In manchen Kulturen auch als Seele bekannt.“

Sieht es deshalb ein bisschen aus wie seine Augenfarbe? Von wegen, Augen gleich Fenster zur Seele?“, überlegte ich, während meine Vernunft feststellte: „Es dürfte sich um eine ziemliche Ehre handeln, das Abbild seiner Seele ansehen zu dürfen.“ Oh. Ja, da war vermutlich was dran.

„Wir Paranormalen bevorzugen den Ausdruck Energieball. Ich könnte das hier auch mit einem Element meiner Wahl verbinden und als eine Art Waffe einsetzen“, erzählte er weiter. Absurd, aber das schreckte mich nicht weiter.

„Er… sie… es ist wunderschön“, lächelte ich unsicher.

Er zuckte nur die Schultern und ließ es erlöschen, oder was auch immer. Jedenfalls war danach nichts mehr davon zu sehen.

Als ich probeweise mit beiden Händen dort durch die Luft fuhr, wo es eben noch geschwebt hatte, war diese lediglich ein wenig wärmer als die umliegende. Ein Trick konnte das schon einmal auf keinen Fall gewesen sein.

„Überzeugt?“, wollte er wissen, als hätte er meine Gedanken erraten.

Vorsichtig und etwas verlegen nickte ich und sofort fiel mir die nächste essentielle Frage ein: „Wieso erzählst du mir das alles?“

„Das werde ich dir erklären, aber vielleicht sollten wir erst mal diese Gasse verlassen, hier wird’s langsam ungemütlich.“

„Okay, gern“, stimmte ich zu.

Er erhob sich anmutig aus der Hocke und half mir auf.

„Danke“, sagte ich, steckte Notizbuch samt Stift weg und dankte den Göttern, dass sie mich mit dem Fluch des Rotwerdens verschont hatten. Dann warf ich noch einen Blick auf meine Armbanduhr. Mittlerweile war es halb neun. Ich hatte also doch noch genug Zeit.

Gemeinsam verließen wir die Gasse.

Nach ein paar Schritten fiel mir auf, dass der Dolch aus seiner linken Hand verschwunden war. Ich beschloss, ihn nicht danach zu fragen. Seltsam, aber es gab wichtigere Dinge.

„Na, hast du deinen Plan, ein Portrait zu zeichnen, aufgegeben?“

Hat er mich gerade aufgezogen?“

Ich zuckte mit den Schultern und setzte meinen Weg Richtung Mohnblume fort; Mr Grünauge folgte mir. „Vielleicht hol ich’s später nach, aber jetzt will ich erst mal deine Erklärung hören. Du kannst anfangen.“

„Sehr wohl, Mylady“, bemerkte er spöttisch, machte aber gleich weiter. „Ich bin ein Kadri und ein Engelskrieger. Bevor du fragst: Ja, ich bin tatsächlich ein Engel. Und wenn ich möchte, habe ich Flügel. Und ein Kadri bin ich, weil ich zum Orden der Kadri gehöre. Nicht alle Engel oder Krieger gehören zu den Kadri, musst du wissen. Und auch nicht alle Kadri sind unbedingt Engel, aber das würde jetzt zu weit führen.

Bleiben wir erst mal bei den Engeln. Einige schließen sich auch mit anderen zusammen, einige schließen sich Christian oder Lucien an, das sind zwei Engelsführer seit Jahrtausenden, oder bleiben ganz für sich. Manche leben auch wie Menschen unter denselben. Uns, die Paranormalen, gibt es überall auf der Welt, und darüber hinaus in nochmal anderen Welten.“

„Andere Welten?“ Mir gingen Narnia und Alice im Wunderland durch den Kopf.

„Ja, es gibt mehrere, die unterschiedlich oder gleich hoch entwickelt sind. Mehrere Menschenwelten, fast unzählige Fae-Welten…“

Ich machte ein verständnisloses Gesicht.

„Fae kennst du wohl aus Filmen als Feen, Elfen und Elben. Das Volk der Fae wird auch gern kurz als ‚die Fae‘ zusammengefasst.“

„Fae? Was ist das für ein Name?“

„F-A-E“, buchstabierte er mir, „gesprochen ‚fäi‘.“

„Du bist sicher, dass du kein Y vergessen hast, ja?“

„Du meinst F-A-Y-E? Ja, so kann man sie auch schreiben. Fae ist dasselbe, nur in ihrer Sprache, die auch Fae heißt.“

„Okay, und was ist jetzt mit den Elfen und Feen?“

Er grinste amüsiert. „Wie kommt es, dass immer alle so fasziniert davon sind?“

Ich zuckte die Schultern. „Engel sind out. Du solltest dich damit abfinden.“

„Autsch, das war fies. Pass auf, sonst erkläre ich gar nichts mehr.“

„Sorry, bin schon still.“

„Also, Elfen und Feen gehören zum Volk der Fae.“

„Den Fae“, fasste ich es kurz.

„Genau. Aber sie sind eigentlich die sogenannten ‚Kleinen‘ beim Volk der Fae. Obwohl sie auch menschengroß werden können. Die Fae, auch die Normalen genannt, was sie aber auf keinen Fall schwach macht, bilden den größten Anteil des Volks der Fae und haben Menschengröße.“

„Da scheinen Bücher das aber ziemlich falsch darzustellen.“

„Wie so oft. Und wir sind ziemlich vom Thema abgekommen.“

„Richtig, du wolltest mir mehr über eure generelle Orga erzählen.“

„Der Gesellschaft der Paranormalen, ja. Also… Wir alle haben uns den Regierungen zu beugen, denen wir angehören. Die zwei Hauptaufgaben der Kadri sind es, jeden zu beschützen, der Schutz braucht und die Existenz der Paranormalen vor den Unwissenden geheim zu halten.“

„Äh, wäre so eine Unwissende nicht ich?“

Grünauge wurde ernst. Ich zog seinen amüsierten Anblick vor, wie ich feststellte. „Die Kandidatin hat hundert Punkte.“

Weil er so düster klang, brachte mich der Spruch nicht zum Lächeln. Ein unwohles Gefühl stieg in mir hoch.

„Um dir die ganzen Verhältnisse zu erklären, würde es jetzt zu lange dauern, deshalb nur so viel: Es gibt immer Wesen, die aus der Reihe tanzen.

Einige glauben, besser als die Menschen zu sein. Tatsächlich ist dieser Glaube sehr verbreitet, aber nur die wenigsten Paras bringen deshalb Menschen um, so wie es gerade in dieser Stadt geschieht. Die meisten empfinden das als unter ihrer Würde. Und diejenigen, die es eben doch tun, werden beseitigt –meist von uns.“

Ich starrte ihn fassungslos an. Oookaaay. „Heißt das, ihr Kadri seid sowas wie das FBI, nur was das Paranormale angeht?“

Er nickte. „So könnte man es wahrscheinlich ausdrücken. Vielleicht etwas mehr in Richtung Men in Black.“

Ich nickte auch und erklärte „Die Filme mochte ich schon immer“, während ich mich unwillkürlich fragte, wie Mr Grünauge wohl im Anzug aussehen würde. Blinzelnd vertrieb ich die Vorstellung aus meinem Hirn, um einen klaren Kopf zu behalten.

Manno!“, quengelte meine Libido.

Ich ignorierte sie. „Im Klartext heißt das, dass hier mehrere übernatürliche Leute aus der Reihe tanzen und du das unterbinden sollst“, stellte ich fest.

„Richtig.“

„Wieso sind sie hier in Chicago?“, hakte ich nach.

„Ich bin mir nicht sicher. Zum einen wahrscheinlich, weil hier so viele Menschen leben. Das bedeutet viel Energie auf einem Haufen; entschuldige, dass ich es so ausdrücke.“

Es störte mich nicht im Geringsten. „Energie?“

„Ja, jeder Mensch hat Energie in sich. Lebensenergie. Abtrünnigen verschafft es den Kick, Energie auszusaugen. Natürlich könnten sie das auch bei Paranormalen, aber es ist meist schwieriger, diese zu überraschen und zu überwältigen. Deswegen nehmen sie sich meist Menschen vor.“

„Wie saugen sie Energie aus?“

„Das ist dummerweise ziemlich leicht, wenn man über keine Schutzzauber verfügt. Sie müssen nur nahe genug an einen drankommen, dann brauchen sie nur noch die Hand auszustrecken oder dich zu berühren und die Energie zu rufen. Und wenn sie nicht rechtzeitig mit der Aussaugung aufhören, töten sie ihre Opfer. Je mehr Energie ein Abtrünniger in sich aufnimmt, desto stärker wird er.“

„Das hört sich… ziemlich bedrohlich an.“

„Das kommt daher, dass es so ist“, stellte er trocken fest.

Wieso ist er so logisch?“, fragte ich mich ein wenig quengelig.

Wieso bist du so einfältig?“, machte mein Unterbewusstsein mich nach.