Cover

Über dieses Buch:

Wo ein Wille ist, da ist ein Weg! Und es kann doch nicht so schwer sein, für ihre beste Freundin Eske einen Traumprinzen aus dem Internet zu fischen, oder? Mit viel Elan macht sich Mona an die Arbeit – und hat auf einmal ein paar Probleme. Da wäre zum einen ihr liebenswerter, aber nur semi-aufregender Freund, der mit wenig Begeisterung auf Monas Plan reagiert. Zum anderen lernt sie in einem Chatroom Niels kennen, der nichts für Eske ist – aber vielleicht umso mehr für Mona? Damit steht das dritte Problem vor der Tür: Mona verliebt sich, und zwar so richtig. Ausgerechnet in diesen Typen, der zwar weiß, wie man einer Frau den Kopf verdreht – aber von echten Gefühlen so viel Ahnung hat wie eine Amöbe vom Stabhochsprung…

Der mitreißende Roman für alle Frauen, die schon einem beziehungsunfähigen Kerl der Güteklasse Horst begegnet sind – jener Sorte Mann also, bei der ungewiss ist, ob man sie küssen sollte … oder besser sofort mit einer Mistgabel aus der Stadt jagt!

Über die Autorin:

Tine Wittler, geboren 1973, studierte Kultur- und Kommunikationswissenschaften, bevor sie als Redakteurin und TV-Moderatorin arbeitete; ihre Erfolgssendung „Einsatz in 4 Wänden“ wurde mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Die vielseitige Künstlerin ist heute als Roman- und Sachbuchautorin, Sängerin und Songschreiberin sowie als Filmproduzentin erfolgreich. Die »Wirtin Wittlerin« betreibt außerdem in Hamburg die »parallelwe.lt KULTURBAR« und im kleinen Dörfchen Jabel bei Lüchow »Wittlerins Wohnzimmer«. Sie pendelt zwischen ihren Wohnsitzen in Hamburg und dem Wendland.

Bei dotbooks veröffentlichte Tine Wittler neben Die Prinzessin und der Horst auch ihre Romane Horst go home, Parallelwelt, Irgendwas is immer und Wir wär’n dann so weit.

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eBook-Neuausgabe Juni 2018

Copyright © der Originalausgabe 2002 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: HildenDesign, München (www.HildenDesign.de), unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock.com/Anton Malina und Shutterstock.com/Notion Pic

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-96148-233-7

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Tine Wittler

Die Prinzessin und der Horst

Roman

dotbooks.

Für Martyn
in Liebe und Respekt.

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»Dieses Buch handelt überwiegend von psychisch und physisch deformierten Menschen, deren emotionales Leid sich in schockierendem sozialen Fehlverhalten manifestiert.«

ALMUTH KOOK,
Co-Autorin und – trotz allem – noch immer beste Freundin

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Zur Warnung und Belehrung!

Sollte irgendwer versuchen, aus dem folgenden Material Rückschlüsse auf real existierende Personen zu ziehen, dann muss ich ihm leider sagen: Ich will das nicht. Alles ist natürlich frei erfunden, und zwar so frei, dass es verdammt anstrengend war.

TINE WITTLER,
Hamburg, im Juni 2001

EINS

Eske

Mona schreibt jetzt ein Buch. Sagt sie. Ausgerechnet Mona schreibt ein Buch. Ich kann kaum glauben, dass es mich treffen muss. Mona nervt sowieso ständig. Sie selbst erwartet immer, dass man sich um sie kümmert, aber auf meine Gesundheit nimmt sie überhaupt keine Rücksicht. Es tat meiner wirklich schlimmen Erkältung gar nicht gut, nach einem 14-Stunden-Arbeitstag nachts um halb eins bei Dauernieselregen zu einer Bücherverbrennung an die Elbe gezwungen zu werden. Es ist immerhin Ende Oktober. Ich musste mit. Ich wäre sonst eine schlechte Freundin gewesen. Jetzt bin ich fast eine tote Freundin, nachdem wir eine halbe Stunde in der Nässe vergeblich versucht haben, Feuer zu legen. Danach saßen wir eine weitere halbe Stunde am Wasser, um die Papiere ihres Möchtegernlovers in die Elbe auf eine Reise ohne Wiederkehr zu schicken. Wäre es nicht so windig gewesen und hätte ich nicht günstig auf der Windseite gesessen (was ich aufgrund meines dünnen Büro-Outfits zunächst als eher ungünstig betrachtet hatte), hätte ich jetzt vermutlich auch noch einen Hörsturz von Monas Schreianfall.

Trotzdem war diese ganze Aktion ein Schritt in die richtige Richtung, um sich von dem Psycho zu trennen. Ich wollte dann eigentlich noch mein Leergut im Container neben dem Parkplatz loswerden, das ich seit Wochen mit mir rumkutschiere, aber Mona meinte, das wäre der Situation nicht angemessen, und aus dramaturgischen Gründen sollte ich das ihr zuliebe unterlassen. Ich habe das sofort eingesehen, weil es mittlerweile zwei Uhr nachts war und sich womöglich Anwohner gestört gefühlt und mein Kennzeichen gemerkt hätten. Danach konnten wir dann endlich ins Familieneck und uns mit Whisky aufwärmen.

Mona Rittner ist leider meine beste Freundin. Deshalb erwartet sie, dass ich ihre Schreibblockaden mit ihr durchstehe, wenn sie jetzt ein Buch schreibt. Das tut sie erst seit zwei Tagen, aber ich bin jetzt schon angeätzt. Immerhin hatte Mona in diesen zwei Tagen auch schon zwei Schreibblockaden. Normalerweise könnte ich vielleicht sagen, verschon mich mit deinem Buch und mit den Schreibblockaden, und such dir andere Freunde, aber so einfach ist das nicht. Dieses Buch ist ja nicht einfach nur ein Hobby für die unterbeschäftigte moderne Frau, sondern die schriftliche Verarbeitung von Liebeskummer. Und sich dem Liebeskummer von Freundinnen zu widmen ist nun mal die allererste Pflicht und vorrangigste Aufgabe einer ebensolchen. Mit anderen Worten: Ich bin gefangen in einem Teufelskreis.

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Mona

In München eine Citibank zu finden war nicht leicht. Genau genommen war es schwieriger, als einen moralisch gefestigten Talkgast dazu zu bewegen, One-Night-Stands als Notwendigkeit für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung zu betrachten. Mir völlig unbekannte Geldinstitute mit Namen, die penetrant nach Geldwäsche rochen, gab es massenhaft. Aber das gesuchte, mir stets ein Gefühl von Schuldbewusstsein vermittelnde blaue Schild tauchte einfach nirgendwo auf. Mir blieb nichts anderes übrig, als einen Bayern anzusprechen. Es sei denn, ich wollte weiter ziellos hier herumstolpern und Gefahr laufen, am Ende total ausgelaugt einem bei der Konkurrenz angestellten Geldautomaten zusätzliches Geld für einen mickrigen Papiertransfer in den Rachen zu stecken. Erst später sollte ich erkennen, dass diese Verfahrensweise meinem Seelenheil durchaus zugute gekommen wäre, denn nur die Konkurrenzmaschine verschweigt höflich den Kontostand, weil man sich ja schließlich noch nicht so gut kennt.

Ich begann, nach einem Opfer Ausschau zu halten und entschied mich bald für die Bedienung in einem billigen Café. Sie war jung, hatte dunkle kurze Haare und bewegte sich wie eine, der es egal ist, zu spät zu kommen. Aber sie sah freundlich aus. Und nicht sehr bayrisch. Also setzte ich mich auf einen der Plastikstühle vor dem großen Schaufenster und bestellte einen Milchkaffee. Den gab es nicht. Ich nahm vorlieb mit dem normalen Schwarzen, kippte die Plastiksahne hinein und rauchte dazu meine Kaffeezigarette. Obwohl es um mich herum eine Menge zu sehen gab und ich etwas zu erledigen hatte, kramte ich mein Buch hervor. Es war ein sehr gutes Buch über bindungsphobische Männer, und es ließ sich meiner vorsichtigen Interpretation nach nicht leugnen, dass ich ein solches Exemplar gerade an der Hand hatte. Das gab ich nur ungern zu. Ich war schließlich eine, die ihr Leben im Griff hatte. Eine, die sich von Männern nicht ins Bockshorn jagen ließ und sich mit mehr oder weniger emotional verkrüppelten ebensolchen gar nicht erst beschäftigte. Hatte ich jedenfalls gedacht. Aber manchmal vertut man sich eben. Also war das Wasser auf meine liebeskranken Mühlen Was da stand, kam mir so verflixt bekannt vor! Im Moment war ich gerade beim mittleren Stadium einer bindungsphobischen Beziehung angelangt, und ich war, gelinde gesagt, entsetzt. Jeder zweite Satz trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Aber darauf nahm ich keine Rücksicht. Ich las weiter. Ich musste rational an dieses Problem herangehen, das erschien mir mittlerweile das einzig Richtige. Dann fiel mir wieder ein, dass ich auch deshalb ein Problem hatte, weil ich kaum mehr Bargeld bei mir trug. Ich war ein bedauernswertes Geschöpf, eindeutig. Also packte ich das Buch weg, zahlte und erkundigte mich bei der netten Bedienung nach der nächsten Citibank-Filiale. Sie schickte mich in die Sonnenstraße.

Die Sonnenstraße war alles andere als sonnig. Im Gegenteil: Sie war ein Moloch und schleppte viel zu viel Verkehr auf sich herum, der gesäumt wurde von der vermutlich längsten Baustelle der Welt. Überall rumorte und krachte es, und die Verkehrsführung machte so wenig Sinn, dass sich alle dagegen wehrten und aneinander gerieten und sich anbrüllten. München machte mich, was das betraf, sowieso verrückt. Zu Hause in Hamburg bewegte ich mich sicher und schlau, aber hier brachten mich die Straßenbahngleise und die unverschämt willkürlich angelegten Fußgängerüberwege immer völlig aus dem Konzept. Die Sonnenstraße jedenfalls war gemeingefährlich. Ich musste an Niels denken und wie er mir erzählt hatte, dass er vorzugsweise an solchen mehrspurigen Straßen wohnen wollte. Straßen, die jeden vernünftigen Menschen verrückt machen und an denen man sich, wenn überhaupt, nur unter der Voraussetzung eines todesähnlichen Schlafes sowie einer Dreifachverglasung niederlässt. Damals war mir noch nicht bewusst geworden, wie offensichtlich er damit seine ständige Bereitschaft zur Flucht ausdrückte. Dabei hatte Niels es fast wortwörtlich so gesagt. Aber ich hatte ja nicht hören wollen. Nicht hören und nicht sehen. Wer nicht hören will, muss fühlen. Ha. Dabei hätte ich wirklich von allein drauf kommen können.

Die Eingangshalle zur Bankfiliale war grottenhässlich, aber ich war ja auch nicht zu meinem Vergnügen dort. Am Automaten zog ich schnell vierhundert Mark, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Laut Kontostand war ich ein Sozialfall. Ein arbeitsloser Sozialfall, um genau zu sein. Auch das noch. Aber das war mir für den Moment egal. Sie hatten es ja nicht anders gewollt in der Krawallredaktion. Pah. Die würden schon noch erkennen, dass ihnen mit mir ein guter Fang durch die Lappen gegangen war. Niels war mit mir übrigens auch ein guter Fang durch die Lappen gegangen. Ich hätte ihm zuliebe das eben gezogene Geld sofort in einen Haufen Tickets fürs Weserstadion investiert. Westkurve, Ostkurve, VIP-Lounge – wo auch immer Niels gewollt hätte. Schade nur, dass ich nie dazu gekommen war, ihm das zu sagen. Was jetzt? Fest stand: Ich wollte etwas kaufen. Ich hatte Urlaub, Zeit und Geld in der Tasche, und es waren noch mindestens vier Stunden bis zu meiner Verabredung. Also nahm ich die nächste Bahn zurück zum Marienplatz.

Neben mir hatte jemand seinen Walkman bis zum Anschlag aufgedreht. Danke für den Tipp. Ich würde also Musik kaufen gehen. Ein heikles Thema! Insbesondere im Zusammenhang mit Männern darf die Bedeutung von Musik keinesfalls unterschätzt werden. Meine einstmalige Affäre Guido zum Beispiel, die nicht nur ein Geschmacks-, sondern auch ein Potenzproblem hatte, womit ich aber ganz gut klargekommen war, stand auf Heavy Metal. Er war Pharmareferent, sechsunddreißig Jahre alt und besaß eine schwarz furnierte Schrankwand mit Chromscharnieren und Glastüren, die einen das Fürchten lehrte. Das hätte mich von Anfang an stutzig machen sollen. Auf einem kleinen Ausflug in seinem Opel Omega (ein Dienstwagen, aber das macht es nicht besser) unternahm ich irgendwann ein kleines Experiment und spielte ihm die legendären Chemical Brothers vor. Er trommelte dazu quietschfidel auf dem Lenkrad herum und machte gar nicht den Anschein, als würde ihm missfallen, was er hörte. Trotzdem zog er es gleich darauf vor, Menschen, die unter Zuhilfenahme jeglicher Elektronik Musik produzierten, übelst zu beschimpfen. Danach beschallte er mich »zum Ausgleich« mit Schwermetallmusik unerträglichsten Grades. Damit war er gnadenlos durchgefallen. Zwei Tage später machte ich Schluss.

Ganz besonders eigensinnig in Sachen Musik war auch Florian, mein derzeitiger Münchner Gastgeber und ehedem meine erste große Liebe. Kennen gelernt hatte ich ihn auf der Uni. Ich war neunzehn gewesen und jung und unerfahren. Und nicht ganz dicht, was Florian betraf. Jedenfalls sahen das all meine Freundinnen so. Florian und ich hatten eigentlich auch nur Freunde sein wollen. Aber dann verliebte ich mich in ihn, irgendwie, und wir stiegen miteinander ins Bett. Diese Reihenfolge an sich war super, aber gebracht hatte mir das Ganze letztendlich doch nur eine Menge Ärger. Ich war Florians Erste gewesen und er damals noch viel unerfahrener als ich. Ein Wunder, dass wir überhaupt irgendwas auf die Reihe gekriegt hatten. Sextechnisch. Aber wenigstens hatte ich so die Genugtuung, dass ihn unser erstes Mal bis an sein Lebensende verfolgen würde. Ich erinnere mich noch genau, welche Platte auflag, als wir zum ersten Mal miteinander schliefen: Tasmin Archer mit »Sleeping Satellite«. Dazu grabbelte Florian nervös nach einem Kondom in einem roten Plastiktischmülleimer. Kurz darauf gestand ich ihm meine Liebe, ein gnadenlos selbstzerstörerisches Unterfangen, und zum ersten Mal musste ich richtig fiesen Liebeskummer einstecken. Florian ertrug das nicht, jedenfalls verschwand er daraufhin einfach aus meinem Leben. Von wegen Freunde. Ha.

Erst im November 1999 kreuzte er unter dubiosen Umständen wieder auf. Mittlerweile empfand ich das als Glücksfall, obwohl ich Florian zwischendurch am liebsten den Kopf abgerissen hätte. Oder ein anderes Körperteil. Aber bei wem hätte ich sonst dieser Tage in München unterkriechen sollen? Was die Musik betraf: Früher hatte er mich mit gregorianischen Gesängen gefügig gemacht, das versetzte meine Mitbewohner im Studentenwohnheim von Anfang an in Angst und Schrecken. Mich ehrlich gesagt auch, aber damals konnte ich wohl einfach nicht anders. Florian arbeitete jetzt als Konzertmanager für Klassik in einer etablierten Agentur, trug Sachen, die man bügeln musste, und sah sich gerade nach einer Eigentumswohnung um. Dazu braucht man wohl nicht mehr viel zu sagen. Sei’s drum. Ich würde ihm als Gastgeschenk eben Musik kaufen. Ein Zeichen wahrer Freundschaft, besonders, da er keinen Plattenspieler mehr besaß und ich daher einen dieser verketteten Mega-CD-läden würde betreten müssen. Und die waren mindestens so schlimm wie Supermärkte. Sie machten mich einfach wahnsinnig! Aber vom Wahnsinn war ich ja eh nicht mehr weit entfernt, also stieg ich hinunter in die Kellergewölbe einer WOM-Filiale.

Dort war ich mit Abstand die Älteste. In den Schlangen an der Kasse standen junge Mädchen, denen es offensichtlich nicht genügte, von brutal dynamischen Privatsendern mit kunterbunten Charts und Clips und Clipcharts ruhig gestellt zu werden. Hinter den Kassen rackerten geduldig milchgesichtige Bürschchen, echte Kellerexistenzen. Sie waren schon jetzt viel zu routiniert, um die über den Tresen wandernden Schöpfungen auch nur eines Blickes zu würdigen. Sie verzogen keine Miene, egal, was ihnen vorgelegt wurde.

Ich versuchte, mich zu orientieren. Den Sortierungsgepflogenheiten des Hauses konnte ich keinerlei Logik abgewinnen, obwohl ich mir wirklich Mühe gab. Angestrengt und mit zusammengekniffenen Augen schlenderte ich von Pop zu Dance zu Soul zu Hip-Hop und wieder zurück, und als ich bei den Neuerscheinungen schließlich das 95er-Album von Moloko stehen sah, wurde mir bewusst, dass das so nichts werden würde. Es war Juli 2000, Herrgott noch mal! Mir war zwar klar, dass in München die Uhren anders gingen, aber so anders? Die hatten Nerven. Gleich hinter Jazz gab es einen kleinen Tresen, über dem an Nylonfäden das Schild »Information« baumelte. Dahinter schlug sich ein gelangweilt dreinschauender Mittzwanziger in einem Band-T-Shirt mit der Blödheit der Kundschaft herum. Er hatte den kompletten Bestand des Geschäfts hinter seiner hohen Stirn eingebrannt, jedenfalls winkte er sofort ab, als ich ihm erklärte, was ich suchte. Für andere Sachen in der Richtung schickte er mich in eine Rubrik, die »Club Culture« hieß. Ohne Scheiß. Da ging ich hin und erwachte erst wieder, als ich mit fünf Platten im Arm vor dem Anhörpult anstand. Natürlich waren alle Abspielplätze besetzt, und hinter jedem von ihnen hatte sich bereits eine beträchtliche Schlange gebildet. Ich wartete.

Nach einer Viertelstunde war meine Geduld am Ende. Ich weiß nicht, irgendwie war ich wohl einfach nicht in der richtigen Stimmung. Solche Tage gibt es, und plötzlich war ich gar nicht mehr scharf darauf, mir Sachen anzuhören, die mir schon allein wegen der Idioten um mich herum wahrscheinlich überhaupt nicht gefallen würden. Ich beschloss, zwei von den fünf Platten einfach so zu kaufen. Also brachte ich die ausgemusterten CDs zurück und griff im Vorbeigehen wie ferngesteuert nach den Propellerheads. Schon wieder etwas, das mich an Niels erinnerte. Verdammte Axt. Ob er das Tape, das ich ihm damals aufgenommen hatte, überhaupt noch besaß? Egal. Für Sentimentalitäten war jetzt keine Zeit. Das Gastgeschenk für Florian war wichtiger. Schließlich fütterte er mich seit Tagen durch. Mühsam nährt sich das Eichhörnchen. Tapfer klemmte ich mir die CD unter den Arm. So würde wenigstens mal ein bisschen Schwung in Florians Bude kommen. Am Abend zuvor hatte ich feststellen müssen, dass er sogar dann klagende Streicher bemühte, wenn er mit seinem Mitbewohner Marmelade kochte. Was für eine abstruse Kombination!

Überhaupt hatte Florian mit seinem Mitbewohner mal wieder voll ins Schwarze getroffen. Ich hatte gleich Bescheid gewusst, als ich am ersten Tag meines Aufenthaltes in München die Küchenschränke auf ihren Inhalt inspiziert und das Vollkornzeug gefunden hatte, mit dem Bengt, so hieß der Mitbewohner, sein Brot backte. Ich hatte bei dieser Gelegenheit auch überlegt, ob ich Florians Kontoauszüge noch schnell gegenlesen sollte, es dann aber gelassen. Schließlich war ich nicht mehr in Florian verliebt, und sein Kontostand ging mich nichts mehr an. Zum Glück. Jemand, der seine Kontoauszüge in der Küche aufbewahrt, hat doch sowieso nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ich fand es völlig hirnrissig: Da hatte dieser Bengt einen sicherlich gut bezahlten Vollzeitjob, der ihn bestimmt anstrengte, jedenfalls machte er immer einen etwas ausgelaugten Eindruck, und zusätzlich belastete er sich auch noch mit so etwas wie Brotbacken! Ein Brot-selber-Bäcker! Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich mich in so einen niemals würde verlieben können. Diese Ansicht musste ich zumindest im Hinblick auf Bengt später revidieren. Das hätte ich mir denken können, denn ich war ja zu diesem Zeitpunkt bereits mit einer an Debilität grenzenden Verbohrtheit einem Blümchen-niedlich-Finder verfallen. Niels. Und diesen Bengt fand ich ab einem gewissen Punkt plötzlich auch irgendwie toll.

Es passierte, als ich mit ihm und Florian zum Open-Air-Kino im Westpark verabredet gewesen war. Als wir von dort aufbrachen, war es dunkel, und wie auf Kommando setzte ein feiner warmer Nieselregen ein. Florian schob sein Rad, Bengt saß auf seinem drauf und fuhr so langsam wie er konnte neben uns her. Als außerordentlich korrekte Verkehrsteilnehmer hatten sie ihre Fahrradlampen angemacht. Die Dynamos surrten wegen unserer geringen Geschwindigkeit nur zaghaft vor sich hin, und ihre zwei Lichtkegel arbeiteten sich auf dem Sandpfad stetig vorwärts. Links von uns war eine Art Spielplatz angelegt, lang und schmal wie der Weg, der an ihm entlangführte. Er war trostlos und von einem halbhohen Gitterzaun eingefasst, der mir noch nicht mal bis zu den Knien ging. Deshalb sah er nicht aus wie ein Spielplatz, sondern wie das Gehege eines Streichelzoos, und das sagte ich auch. Wir machten uns darüber ein bisschen lustig und überlegten, ob wir ein »Bitte-nicht-füttern«-Schild aufhängen sollten.

Dann sagte Bengt plötzlich: »Guckt mal, meine Lampe hat Grübchen!«

Und das war es. Es war diese Art Sätze, wegen deren sich Frauen in Männer verlieben, ob sie nun ihr Brot selber backen oder nicht. Irgendwie traf er mich ins Herz. Außerdem stimmte es einfach: Zwei kleine helle Punkte, einer links und einer rechts, begleiteten den Lichtstrahl vor dem Rad. Ich war gerührt und dachte über diesen Moment auch noch nach, als ich schon längst dampfend vom warmen Regen in der U-Bahn saß.

Wann hatte ich mich eigentlich in Niels verliebt? Ich wusste es nicht mehr. Ich konnte mich einfach nicht mehr daran erinnern. Ich konnte mich ja noch nicht mal mehr daran erinnern, wie es war, nicht in Niels verliebt zu sein. Vielleicht war es der Moment gewesen, in dem wir uns gestritten hatten und er mir dann aus einer Bar eine kleinlaute, herzzerreißende Entschuldigung schickte. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir uns noch nie im Leben gesehen. Vielleicht war es auch der Moment gewesen, als ich bei unserem ersten Treffen müde geworden war und er daraufhin meinen Kopf zu sich herangezogen und ihn auf seine Schulter gelehnt hatte und mich einfach nicht mehr loslassen wollte. Als er mich Wochen später zum ersten Mal küsste, steckte ich schon so tief in der Scheiße, dass mir die Beine wegsackten. Irgendwann war er einfach da gewesen, und es hatte alles ganz simpel angefangen. Im Grunde war Eske schuld, wie immer. Ich hatte den Vater ihrer Kinder gesucht und das totale Chaos gefunden.

Eske und ich hatten miteinander studiert, waren aber jahrelang aneinander vorbeigerannt. Im Nachhinein warn wir darüber froh, denn wenn wir uns schon früher getroffen hätten, wären wir wahrscheinlich überhaupt nicht mehr zum Studieren gekommen und heute nicht da, wo wir sind. Anfangs schien Eske mir immer ein bisschen aufgekratzt. Ich brauchte eine Zeit, bis ich begriffen hatte, dass das ihr Normalzustand war, auch wenn sie, was das Studium betraf, ein beeindruckendes Phlegma an den Tag legen konnte.

Männern fiel an Eske vermutlich in erster Linie ihre enorme Oberweite ins Auge. Mit ein wenig chirurgischem Geschick hätte man aus ihrem und meinem Busen zwei prima Paare nach »Fit-for-fun«-Manier zusammenschrauben können. Aber wie das so ist, hatte bei uns beiden die Ungerechtigkeit voll zugeschlagen. Eskes Brüste waren nach landläufigen Maßgaben eindeutig zu groß für sie und meine für mich eindeutig zu klein. Dabei hätte ich mindestens Eskes Körbchengröße benötigt, um den Dimensionen vom Rest meines Körpers auch nur annähernd gerecht zu werden. So aber war ich einfach eine runde Blonde, die noch nicht mal ein Mordsdekolleté vorweisen konnte, was ja manchen Männern genügt hätte, um großzügig über alles andere hinwegzusehen.

Eske war kleiner als ich und zum Glück auch um einiges leichter, aber als schlank ging auch sie nicht durch, jedenfalls nicht nach heutigen Idealen. Von daher passten wir hervorragend zusammen, weil wir beide ständig vollauf damit beschäftigt waren, uns um solche Ideale nicht zu scheren. Wir rauchten und soffen und tranken nicht genug Wasser und schliefen meistens auch nicht ausreichend und legten uns höchst selten Gurkenscheiben aufs Gesicht, und es grenzte an ein Wunder, dass wir nach dem Studium einer geregelten Arbeit nachgingen.

Eske hatte sehr eigenwillige Haare, die ihr manchmal kreuz und quer um den Kopf standen, und einen Mund, der eigentlich zu schmal war, den sie aber zu einer spitzenmäßigen Flunsch verziehen konnte. Ihre Augen waren graublau, aber ich fand, sie waren einfach nur blau. Besonders wenn die Sonne hineinschien. Sie konnte müde sein und total erschöpft und wirklich blass und verkatert und schlecht gelaunt, aber ihre Augen strahlten auch dann noch. Es gab Momente, da fand ich sie einfach nur wunderschön, und es gab Momente, da hätte ich ihr nonstop eine reinhauen können. Ich wusste, dass es ihr mit mir genauso ging, und deshalb waren wir beste Freundinnen geworden. In einem Punkt unterschieden wir uns allerdings kolossal: Eske hatte bereits einen beträchtlichen Kinderwunsch entwickelt, den sie ihrer Umwelt in regelmäßigen Abständen in Erinnerung rief. Vorzugsweise sülzte sie mich damit zu. Ich war ja ihre Freundin. Ich hatte keine Wahl. Ich musste es mir anhören. Sie bemühte dann gern die berühmte biologische Uhr und klang wie die etwas biedere Kolumnistin einer Frauenzeitschrift, die sich zwischen Kinderwunsch, Karriere und Älterwerden zerreibt. An besonders schlimmen Tagen beschäftigten wir uns mit der Namenssuche für ihre kleinen Hosenscheißer. Mit so etwas konnte man nie früh genug anfangen, fand Eske. Im Sommer ’99 wurden ihre Mutterfantasien extrem: Sie faselte permanent vom totalen Familienglück, zu dem ihr nur noch der passende Mann fehlte. Ansonsten war die Sache für Eske geritzt. Ihr dreißigster Geburtstag im August hatte die Situation nicht unbedingt gebessert, und irgendwann war das Maß voll. Ich beschloss, etwas zu unternehmen. Die Kompetenzen für ein solches Vorhaben besaß ich durchaus, denn trotz zeitweiliger Schwierigkeiten sah ich mich als so gut wie verheiratete und beziehungserfahrene Frau. Crispin und ich wohnten ja sogar zusammen. Ganz klar: Ich war die ideale Kupplerin für Eske.

Am Anfang beschränkte ich mich darauf, ihr Kontaktanzeigen aus der Morgenpost vorzulesen. Diese Strategie führte nicht zum gewünschten Erfolg. Das lag einerseits daran, dass das Profil der MOPO-Inserenten bei genauerer Prüfung unseren Ansprüchen nur selten standhielt. Zum anderen erforderten Kontaktanzeigen ein gewisses Maß an Initiative: Man musste darauf antworten, möglichst originell, und dann am besten auch noch ein wirklich gutes Foto beilegen, damit das Unternehmen überhaupt eine Chance auf Zweckerfüllung – also Treffen und Kindermachen – hatte. Das aber war eine schwierige Sache, denn wirklich gute Fotos von einem selbst sind erfahrungsgemäß so selten wie Männer ohne Psychohau. Außerdem blieb bei solchen Aktionen der Inserent anonym, während Eske zu einem gewissen Grade ihre Identität hätte preisgeben müssen, und das wäre durch das beigelegte Foto nicht besser geworden. Man hat schon Pferde kotzen sehen: Hinterher stand man auf irgendeiner Medienparty rum und fühlte sich von einer Gruppe fremder Arschgesichter beobachtet oder sogar ausgelacht und wurde das dumpfe Gefühl nicht los, dass einer von ihnen vielleicht der aus der Zeitung war, der seinen Freunden gerade am eigenen Beispiel klarmachte, warum das mit dieser Anzeige eine Schnapsidee, wenn nicht gar der blanke Horror gewesen sei. Dieses Risiko war Eske einfach zu groß, und ich konnte das verstehen. Wäre noch die Möglichkeit geblieben, eine eigene Anzeige aufzugeben, aber das grenzte unserer Meinung nach zu sehr an eine Art Verzweiflungstat: Eske war schließlich erst dreißig und nicht fünfunddreißig, und so nötig hatte sie es dann doch nicht. Diese Alternative schied aus.

Dann entdeckte ich das Internet. Oder vielmehr den Chatraum einer Frauenzeitschrift. Hier trieben sich rund um die Uhr suchende Singles herum, die nur darauf warteten, gepflückt zu werden. Unsere Probleme schienen gelöst! Hier konnte in aller Ruhe vorsortiert werden. Voller Elan stürzte ich mich in die Arbeit. Dabei gab ich mir die größte Mühe: Wer Kommafehler machte, schlüpfrig wurde oder sich als humor- respektive hirnamputiert erwies, flog gleich wieder raus. Ebenso all jene, die das Gespräch mit »Und was machst du sonst so – außer chatten?« oder »m, 180, 80, dunkle Haare, braune Augen, sportliche Figur, 19 x 5, und du?« eröffneten. Ich besorgte einen Ordner und legte hier die Steckbriefe aller in Frage kommenden Kandidaten ab. Diesen Ordner musste ich, wenn ich in der Redaktion war, noch nicht einmal verstecken, denn so etwas war dort nicht ungewöhnlich: Mehrere Kolleginnen hatten eine Ablage »mögliche Sexpartner« auf ihrem Schreibtisch. Eine von ihnen war sogar so dreist, darin die firmeninterne Telefonliste aufzubewahren. Also fiel mein Gebaren nicht weiter auf.

Es ist kaum zu fassen, welche Abgründe sich in dieser Zeit vor mir auftaten: Ich traf auf Männer, die an Skurrilität und Dämlichkeit sogar die gestörtesten Talkgäste in den Schatten stellten. Nächtelang führte ich in dieser obskuren Welt Charakterstudien durch und nahm dabei Identitäten an, vor denen ich mich selbst gruselte. Manchmal schoss ich dabei zugegebenermaßen über das eigentliche Ziel hinaus, dann loggte ich mich zum Beispiel als »Karrierefrau_mit_Hängebrüsten« ein und ließ die Puppen tanzen. Ich war entsetzt und entzückt zugleich! Crispin war nur entsetzt und überhaupt nicht entzückt, weil ich jede freie Minute am Rechner verbrachte, aber ich erklärte ihm, dass ich Eske den Freundschaftsdienst schuldig wäre und wir unter den gegebenen Umständen einfach mal selbstlos sein müssten. Gesund war das Ganze nicht, meistens musste ich mich während dieser Aktionen betrinken, um ein ihnen angemessenes Niveau zu erreichen. Dazu kamen Schlafmangel, zu viele Zigaretten und zu wenig Sex, aber das war mir die Sache wert.

Nach anderthalb Monaten Dauerchat war die Ausbeute trotzdem mager: Eske war wählerischer als erwartet, und so blieb Mitte Oktober schlussendlich nur einer übrig, den wir uns zu einem Date bestellten. Er hieß Uwe, war Mitte dreißig, Programmierer, wohnte direkt um die Ecke, kaufte bei Aldi und hatte eine Menge wirklich lustiger Geschichten auf Lager, mit denen er uns per E-Mail blendend unterhalten hatte. Deshalb bekam er den Zuschlag. Wir verzichteten vor der Verabredung sogar auf die Zusendung eines Fotos. Klar, dass uns das zum Verhängnis wurde. Uwe war tatsächlich amüsant, aber keineswegs ein für unsere Pläne zulässiger Genpool! Er wirkte irgendwie quadratisch, von den Haaren waren nicht annähernd so viele übrig, wie wir uns das gewünscht hätten, seine Brille entbehrte jeglichen Geschmacks, und sein Gesicht erinnerte an einen Rollmops. Er war gutmütig und hatte Humor, keine Frage, und er kaufte auch anstandslos eine Menge Drinks, aber Uwe war halt einfach raus, und das merkte er schnell und betrank sich daraufhin hemmungslos. Wir wollten uns keine Blöße geben und hielten auf seine Rechnung eifrig mit, aber als Eske später seinen rechten Arm um die Schulter und ich seine linke Hand im Nacken hatte, wussten wir, es war Zeit zu gehen. Diese Operation war eindeutig gescheitert, und als ich in der Nacht nach Hause kam, sagte ich Crispin, dass ich ihn liebte. Und wie froh ich wäre, dass er kein Uwe war.

»Ich bin auch froh«, sagte Crispin. »Dass du keine Eske bist. Sonst hätte ich dich vielleicht noch immer nicht gefunden.«

Nach diesem Erlebnis war ich aus verständlichen Gründen ein paar Tage ziemlich unmotiviert, was meine Mission betraf, aber die Hoffnung auf Eskes zukünftiges Familienidyll siegte. Sie hatte es einfach verdient, glücklich zu sein. Schon wenig später loggte ich mich nach Feierabend wieder ein in den Markt der virtuellen Möglichkeiten. Diesmal traf ich ihn.

Er nannte sich »Rockster«, und ich hatte ihn schon öfter in diesem Chatraum herumhängen sehen. Er verhielt sich meistens ruhig. Genau genommen hatte er noch nie öffentlich etwas von sich gegeben. Das hieß entweder, dass er sein Glück bereits gefunden hatte und nur über die Flüsterfunktion mit irgendwelchen anderen Trantüten kommunizierte, oder dass er sich, sozusagen als stiller Beobachter, einfach nur über die Blödheit und die Rechtschreibfehler der anderen amüsierte. Letzteres wäre mir sympathisch gewesen. Ich meine mich zu erinnern, dass ich ihn zuerst ansprach – wahrscheinlich mit so was atemberaubend Originellem wie »Bist ja auch wieder da«. Völlig vermurkst. Aber er antwortete. Vier, fünf Sätze dauerte unsere Konversation, und sie war bestimmt das Belangloseste, das man sich vorstellen kann. Ich stöhnte vermutlich über den Job und er darüber, dass er Hunger habe. Dann verabschiedete er sich – in die Mensa (Student? Student, also immerhin kein Vollidiot), wie er sagte, und ich fuhr den Rechner runter und dann nach Hause. Hätte ich gewusst, was da soeben in mein Leben getreten war, ich hätte sofort gekündigt, mir eine Papiertüte über den Kopf gestülpt und den Rest meiner Tage zurückgezogen in irgendeiner gemütlichen Käserei auf der Alm verbracht. Konnte ja niemand ahnen, dass ausgerechnet der hier nie in Eskes Ordner landen würde, sondern in meinem eigenen.

Die Tage nach der ersten Begegnung mit dem Rockster blieben ruhig, zumindest was das Privatleben betraf. Eske und ich waren noch immer schwer damit beschäftigt, den Uwe-Schock zu verarbeiten. In der Redaktion hatten wir beide viel zu tun. Wir standen kurz vor den nächsten Aufzeichnungen. Mir fehlten noch immer Gäste, die sich in der Sendung gegenseitig wirklich überzeugend und voller Inbrunst vorwerfen würden, Schweine zu sein. Also recherchierte ich mir tagsüber die Finger wund und war abends zu nichts mehr in der Lage als ein bisschen vor mich hin zu wohnen. Crispin war viel unterwegs bei Kunden und in der Werkstatt, ich bekam ihn kaum zu Gesicht, aber solche Phasen waren völlig normal. Ich hatte schon lange beschlossen, mir keine Gedanken darum zu machen, solange nur Crispins Müllberg auf unserem Esstisch weiterhin wuchs. Das war ein untrügliches Zeichen für die Stabilität unseres gemeinsamen Lebens.

Crispin sammelte alles, was nicht niet- und nagelfest war. Papierschnipsel, halb leere Blättchenbriefe, alte Tabakhüllen, Schrauben, Briefe, Sonnenbrillen, seltsame Werkzeuge, oftmals nicht ungefährlich, leere Verpackungen mit irgendwelchen Notizen drauf und andere Dinge ohne wirkliche Daseinsberechtigung landeten jeden Abend beim Hosentaschenausleeren auf dem Tisch. Im Laufe einer Woche wuchs dieser Haufen auf bedrohliche Höhe, weil ich jeden Abend wenigstens versuchte, die Grundfläche der Müllhalde einzugrenzen, indem ich die Sachen zusammenschob und stapelte, damit man morgens überhaupt seine Kaffeetasse fand. Einmal an den Tisch stoßen genügte völlig, um das gewagte Gebilde zum gaumäßigen Einsturz zu bringen. Ich fand das höchst enervierend und motzte oft genug herum, aber Crispin saß die Problematik einfach aus, behauptete jedes Mal, er hätte mit dem Aufräumen und Sortieren schon längst angefangen und verfiel dann wieder in tagelanges müllseliges Schweigen.

Wenn ich die Sachen wegräumte und auf seinen Schreibtisch legte, der eh schon zusammenzubrechen drohte, gab das meistens einen Höllenärger, denn natürlich fehlte dann plötzlich irgendetwas Wichtiges, das selbstverständlich ich, und nur ich, aus lauter Boshaftigkeit in den Müll geschmissen hatte, um Crispin zu ärgern. Nee, is richtig. In Extremfällen warf er mir sogar vor, ich würde ihm keinen Raum zur Entfaltung gönnen mit meinem Ordnungswahn, der nun wirklich keiner war. Ich wollte doch nur den Tisch benutzen können! Aber ich glaube, solange das unser einziges Problem war, führten Crispin und ich wirklich eine gute Beziehung. Auch wenn wir beide zu viel zu tun hatten. Crispin besonders. Die Leute rannten ihm mittlerweile die Bude ein, und sie begannen, lange Wartezeiten in Kauf zu nehmen, um einen echten Crispin in der Bude stehen zu haben.

Er entwarf ja auch wirklich gute Sachen. Nicht nur sehr stabile Esstische. Ich saß in diesen Tagen meistens allein dran, aber so war das eben. Es war okay. Und es war Spätherbst. Draußen wurde es langsam ungemütlich. Die Tage, an denen Eske und ich im offenen Käfer in die Redaktion brausen konnten und uns dabei nach Thelma-und-Louise-Manier mit flatternden Kopftüchern und riesigen Sonnenbrillen köstlich amüsierten, waren erst mal vorbei. Die Wintersaison begann, und damit hatte Eske mit ihrem Stinkegolf Fahrdienst.

Derzeit redete sie sich gerade ein, entgegen unserer Prinzipien gesünder leben zu wollen, und war dementsprechend schlecht gelaunt. Meiner Meinung nach hätte sie zu diesem Zweck als Erstes ihr Auto verschrotten müssen. Das Ding dünstete phasenweise so viel Benzin in den Innenraum aus, dass man nach einer halben Stunde Fahrt völlig benebelt war. Ich hatte ihr deshalb zum Geburtstag neben dem Kicker zum Bundesligastart auch einen Haufen riesiger Wäscheklammern für die Nase geschenkt, die natürlich ungenutzt durchs Cockpit flogen. Halt doch lieber bekifft ins Büro als beknackt aussehen auf der Fahrt. Nur das mit dem gesunden Leben hätte Eske sich unter diesen Umständen wirklich sparen können. Den ganzen Tag stopfte sie Obst in sich rein und war unleidlich, und unser letzter verkaterter Ausflug zur Pommesbude nebenan, dem einzigen Zeichen von überteuerter Zivilisation in der Dulsbütteler Peripherie, schien Monate her. Deshalb sank auch meine Stimmung langsam auf den Nullpunkt. Aber mit dem 27. Oktober folgte die absolute Krönung. Es war ein Mittwoch.

An diesem Morgen schmiss Eske während unserer Fahrt zur Arbeit aus purer Missgunst mein Frühstück aus dem offenen Autofenster. Ich hatte mir ein Franzbrötchen gekauft, weil Mittagessen wegen ihrer Fasterei ja wohl ausfallen würde, und nuckelte auf dem Beifahrersitz unbeteiligt daran herum. Das lag nicht daran, dass mir das Ding nicht schmeckte, sondern lediglich daran, dass ich noch nicht ganz wach war. Das nutzte Eske gnadenlos aus. Sie riss mir völlig unvermittelt das Ding samt Tüte aus der Hand und feuerte es voller Wucht durch das geöffnete Fenster mitten in den Gegenverkehr. Ich wurde stinksauer und regte mich auf. Der Tag war gelaufen! Eske lachte sich scheckig und schrammte deshalb auf dem Rest der Strecke nur knapp an ungefähr fünf bis fünfzehn Auffahrunfällen vorbei. Ich erlitt einen Herzinfarkt nach dem anderen. Dass die blöde Kuh ihre Aktion damit begründete, mir würde es auch mal ganz gut tun zu verzichten, brachte mich noch viel mehr auf die Palme.

Als wir im Büro ankamen, war ich ein Wrack. Eske erzählte allen von unserer lustigen Fahrt und machte mich zum Gespött der Redaktion.

Als ich meine Tasche in die Ecke pfefferte, verkündete ein schepperndes Krachen das Ende meines Kompaktpuders. Eine Katastrophe! Ohne Kompaktpuder sah ich schon nach einer Stunde aus wie ein frisch geölter Babyarsch, nur eben im Gesicht, weshalb ich grundsätzlich nie ohne Puder das Haus verließ. Jetzt war der Puder explodiert, samt Spiegel, und zwar in ungefähr eine halbe Million Einzelkrümel, die die Tasche versauten, die Tasten meines Handys blockierten und alles in allem eine massive Sauerei veranstalteten.

Als Nächstes fand ich auf meiner Mailbox die Nachricht vor, dass Bühnengast 1 nicht in meiner nächsten Sendung aufzutreten gedächte, wenn auch Bühnengast 2 zugegen sei, aber nur durch solch gewagte Konstellationen, und zwar vollständige, machen Talkshows überhaupt Sinn. Noch eine Niederlage! Hunger hatte ich auch. Ich beschränkte mich für den Rest des Tages aufs Hyperventilieren und versuchte gar nicht erst, meine Laune wieder über den Meeresspiegel zu heben. Während der Themenbesprechung knibbelte ich mir drei Fingernägel kaputt und handelte mir böse Blicke von der Redaktionsleitung ein, weil ich Eske mit Papierkugeln aus ihrem Jungsordner bewarf, den sie meiner Meinung nach nicht mehr verdient hatte. Jedes Mal, wenn ich mir einen Kaffee holen wollte, war die Kanne leer, und ich musste neuen kochen. Crispin und ich waren für den Abend verabredet, aber einer seiner Kunden hatte plötzlich und unerwartet Probleme mit einem Büromöbel, an dem am nächsten Tag wichtige Dinge mit wichtigen Leuten besprochen werden sollten, also sagte Crispin mir ab. Kurz: Es war ein Tag zum Abgewöhnen.

Am Nachmittag haute ich mich im Konferenzraum aufs Sofa, rauchte mir die Lunge aus dem Hals und dachte darüber nach, ob ich mich krankmelden und einfach nach Hause gehen sollte. Kopfschmerzen hatte ich schon, kein Wunder nach den vielen Kippen. Doch dann erinnerte ich mich daran, dass ich ja mit Eske gekommen war und kein Auto hatte und mit der Bahn mindestens anderthalb Stunden nach Hause. brauchen würde. Also verfiel ich bis achtzehn Uhr in dumpfes Schweigen. Um kurz nach sechs rief ich Bühnengast 1 an und beschimpfte ihn, bis er versprach, mich nie im Stich zu lassen, und danach ließ ich mich von Eske nach Hause fahren. Das tat sie anstandslos, offenbar hatte sie ein schlechtes Gewissen. Wenigstens etwas.

ZWEI

Eske

Die Tage nach Monas Schreibblockaden sind immer die schlimmsten. Ich komme mit einem Kater in die Firma und versuche einfach nur, den Tag zu überstehen. Ich kriege nichts geregelt, außer es mir mit ein paar Kollegen zu verscherzen, weil ich wieder so unleidlich bin. Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass Mona jeden zweiten Tag eine Schreibblockade hat, und ich kann mir in der Firma schon ein Alkoholproblem nachsagen lassen. Natürlich ist nicht jeder Kater ausnahmslos Monas Schuld. Ich bin ein freier Mensch und kann selber entscheiden, wann ich Caipirinha oder Apfelschorle trinke, aber das ist nicht so einfach. Erst wird man als Spielverderber beschimpft, und dann denkt man sich selber auch: Recht haben die anderen, also hoch die Tassen. Dann ist es wieder drei Uhr morgens, man hat mal wieder kein Halten gekannt, und das Geld reicht gerade noch für ein Taxi. Denn wenn man um diese Zeit die anderthalb Kilometer (Rittner behauptet, es seien nur achthundert Meter) zu Fuß gehen würde, wäre man ja noch später zu Hause. Aber man ist ja schließlich vernünftig. Säuferlogik.

Ich bin mir immer noch nicht sicher, wie ich es eigentlich finde, dass Mona jetzt ein Buch schreibt, und dann auch noch über sich. Sicher, eine schöne Beschäftigung und auch mal was anderes als ständig in die Kneipe zu gehen, aber mir behagt der Gedanke nicht, dass sie sich womöglich als die tollste Frau, die die Welt je gesehen hat, darstellen könnte. Vermutlich will sie in dem Buch langbeinig und langhaarig sein. Es ist ihr gutes Recht, es ist schließlich ihr Buch.

Genauso ist es allerdings auch mein gutes Recht, die Welt zu informieren, wie Rittner wirklich leibt und lebt. Vermutlich glaubt Mona die Dinge, die sie über sich schreibt tatsächlich, aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Rittner ist blond, dick (sie sagt, es sei eine Zwischengröße) und lacht über alles. Und gerade wegen dieser seltsamen Zusammenstellung ist Mona ein Gesamtkunstwerk und einfach großartig. Aber: Sie schreibt ein Buch. Meine große Sorge ist nicht nur, ob meine Leber dadurch dauerhaften Schaden nimmt, sondern auch, wie Mona mich in ihrem autobiografischen Roman darstellen wird. Ich will ja schließlich nicht schlecht dabei wegkommen. Nachher lesen Leute das Buch und denken, ich sei irgendwie geistesgestört oder hässlich oder zu dick oder zu alt. Dieses Buch birgt viele Gefahren für mein Image, denn schließlich bin ich eigentlich intelligent und witzig und sexy und mittelschlank. Natürlich habe ich einige seltsame Eigenschaften, aber wer hat die nicht.

Na ja, nicht wirklich seltsam, aber trotzdem. Ich bin eben Ostfriesin, das lässt sich nicht wegdiskutieren. Damit sind ein sehr eigener Humor und auch eine sehr eigene Freundlichkeit verbunden, die von Nicht-Ostfriesen gerne mal als Unfreundlichkeit ausgelegt wird. Ich bin ein sehr geselliger Typ, das wird von Mona bestimmt auch so dargestellt werden, aber sicherlich maßlos übertrieben. Ich glaube, ich habe eine Novemberdepression.

***

Mona

Zu Hause war niemand, nur der Katze, dessen vorwurfsvolles Geschrei schon auf dem ersten Treppenabsatz zu hören war, und wir wohnten immerhin im zweiten Stock. Die Nachbarn mussten denken, wir ließen das arme Tier regelmäßig bis zur Besinnungslosigkeit darben, dabei hatte die Welt selten ein so wohlgenährtes Exemplar gesehen! Der Katze hieß der Katze, weil er weder die Katze noch der Kater war, nicht Fisch, nicht Fleisch sozusagen. Er war ein gefräßiger silbergrauer Perser mit Bernsteinaugen und äußerst eigenwilligen Angewohnheiten. Eigentlich war der Katze, wie alle Perser, schlichtweg zurückgeblieben, aber er machte das durch seinen unvergleichlichen Charme wieder wett. Wenn man ihm an den Schwanz fasste, schmiss er sich sofort auf den Rücken. Das war aber auch das Einzige, was ihm an männlichen Eigenschaften geblieben war. Ansonsten verhielt er sich eher wie ein Mädchen: ziemlich zickig. Ich glotzte ihn oft stundenlang an, weil ich ihn so toll fand, und manchmal glotzte er zurück. Auch wenn wir zeitweise sehr unterschiedlicher Meinung waren, zum Beispiel in Sachen Bürsten, Hinternhaare schneiden (die von dem Katze) oder Spazierengehen auf dem Esstisch, liebten der Katze und ich uns heiß und innig. Ich fand, wir passten wirklich sehr gut zusammen. Trotz aller Streitereien. Wir stritten uns oft, denn wann immer ich zur Tür hereinkam, überschüttete der Katze mich grundsätzlich mit Vorwürfen. Irgendeinen Grund fand er immer: Du kommst zu früh, du kommst zu spät, ich habe Hunger, ich habe gerade auf der Fußmatte gelegen, ich wollte mich gerade auf die Fußmatte legen, es ist keine Fütterungszeit und ich habe trotzdem Hunger und du bist schuld, du hast meinen Spielkorken heute Morgen nicht rausgelegt und, und, und.

An diesem Abend hatte ich keine Lust auf Diskussionen, also warf ich dem Katze gleich etwas auf den Teller, kaum dass ich durch die Tür war. Dann widmete ich mich kurz meiner verpuderten Tasche. Die Situation war ausweglos, weil der Puder in jeder Ritze saß und auf dem schwarzen Nylon Flecken hinterließ, die durch Wässern und Reiben nur noch schlimmer wurden. Deshalb beschloss ich, mir eine neue zu kaufen, schmiss das verhunzte Teil in den Müll und setzte mich an den Esstisch. Aber allein am Esstisch sitzen war an diesem Abend auch scheiße. Ich vermisste Crispin. Ich wäre gern mit ihm zusammen gewesen. Ich wollte Gesellschaft. Also schnappte ich mir eine Flasche Bier, legte die erste Babyfox auf, machte schönes Licht und verzog mich nach oben an den Rechner.

Ich sah den Rockster sofort, und ich hatte kaum den Raum betreten, da sprach er mich auch schon an. Was uns dann ritt, weiß der Himmel. Es muss wohl so etwas wie ein Feuerwerk gewesen sein. Oder eine Art Dreißig-Kilo-Bombe, die explodierte und dabei keine gefährlichen Splitter ausspuckte, sondern Konfetti. Oder berauschende Substanzen. Lachgas. Wir brauchten noch nicht einmal Small Talk, um uns warm zu laufen. Stattdessen landeten wir postwendend in einer filmreifen Szenerie, in der er der Mann war und ich die Frau. Wir stritten uns beim Frühstück über zu weich gekochte Eier, das Aufräumen und das hässliche Kaffeeservice. Ich knallte mit den Türen, als er sich hinter dem Sportteil verschanzte, und warf mit dem Bügeleisen nach ihm. Er beschwerte sich über meine Mutter, dichtete mir eine Affäre mit dem Nachbarn an und schubste mich ins vorgärtliche Blumenbeet, zum Glück nur aus dem ersten Stock, in dem die gemeinsame Eigentumswohnung lag. Ich wurde hysterisch, als er ankündigte, gleich mit seinen Kumpels in die Kneipe gehen zu wollen, und stürmte ins Schlafzimmer zum Kofferpacken.

Wir überschütteten uns mit Vorwürfen, schrien uns an und zertrümmerten den halben Haushalt. Rein virtuell natürlich, aber so intensiv, dass ich alles um mich herum vergaß. Der Katze konnte völlig ungestört auf dem Esstisch herumwandern und mein Schwarzbrot anfressen. Er nutzte die Situation schamlos aus. Über den Rockster erfuhr ich dabei nicht viel, außer dass er Fußball mochte, einen Kumpel namens Kunz hatte und ein Kraftwerk-Poster besaß. Und eine Art, die mich faszinierte. Alles andere interessierte überhaupt nicht. Mir doch egal, was das für einer war! Aber wir verstanden uns super. Jedenfalls konnten wir uns hervorragend zanken und anbrüllen. Es war, als hätten wir schon seit Jahren zusammen in dieser Eigentumswohnung gesessen und nur auf den Moment gewartet, unsere Energien endlich aneinander auszulassen.

Ich machte mir zweimal fast in die Hose, nur weil ich mich nicht aufraffen konnte, aufs Klo zu gehen. Jede Sekunde war kostbar, ich wollte nichts verpassen! Wir preschten ungestüm vorwärts, immer weiter. Es war lustig, es war dramatisch, es war laut und voller Dynamik und Eigensinn, völlig durchgeknallt eben, und es machte einen riesigen Spaß. Da saß jemand, der gab mir ordentlich Kontra, und dieser Jemand benutzte dazu die gleichen Mittel wie ich! Die gleiche Sprache! Ich fühlte mich herausgefordert und plusterte mich auf. Ich setzte immer noch einen drauf, aber das nutzte mir gar nichts, denn der andere wich nicht zurück, und er gab schon gar nicht auf. Es war wie ein Kräftemessen, bei dem klar war, dass am Ende doch beide gewinnen würden.