Über das Buch

Als Noel einen zerknitterten Zettel findet, erfüllen sich alle Wünsche, die er darauf schreibt. Und er wünscht sich vieles — er vermisst seine Mutter, die die Familie verlassen hat, er ist einsam und hätte so gerne einen Freund. Doch mit jedem Wunsch, der wahr wird, geht auch etwas schief. Was steckt hinter dem geheimnisvollen Stück Papier? Am Ende ist der Wunschzettel der Anstoß für Noel, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und auf andere zuzugehen. Er findet eine neue Freundin und feiert Weihnachten gemeinsam mit Mama und Papa. Ein Adventskalenderbuch in 24 Kapiteln, mit dem das Warten auf Weihnachten besonders zauberhaft wird.

Janina Kastevik

NOEL und der geheimnisvolle Wunschzettel

Aus dem Schwedischen von Friederike Buchinger
Mit Abbildungen von Pe Grigo

Carl Hanser Verlag

Prolog

Stell dir eine Klasse vor, die in die Pause stürmt.

Stell dir Gedrängel vor den Klassenzimmern vor. Gerangel, Winterjacken, die hastig übergezogen werden, Mützen, die durch die Luft fliegen. Das Geschrei, das Gelächter. Und den Mief von feuchten Schneeanzügen.

Stell dir vor, wie alle raus auf den Schulhof rennen, Schneehöhlen bauen, Schlittschuh laufen oder zu zweit zusammenstehen und miteinander tuscheln.

Stell dir vor, dass jemand zurückbleibt. Jemand, der nicht mit in die Pause geht, sondern im stillen Schulflur stehen bleibt.

Das bin ich. Ich stehe da.

Allein.

1.

Warum bin ich immer der, der übrig bleibt?

Ich verstehe es nicht.

Ich denke oft darüber nach. Manchmal stelle ich mich vor den Spiegel und frage mich, warum ich nicht dazugehöre.

An meinem Aussehen liegt es nicht, das weiß ich. Ich sehe nämlich ganz normal aus. Dunkle Haare, vielleicht ein bisschen abstehende Ohren. Aber da ist nichts, was einem sofort auffallen würde. Und ich bin auch nicht komisch angezogen oder so.

Nein, es muss etwas anderes sein. Etwas, das man nicht sieht, das aber offenbar irgendwie falsch und komisch ist.

Ich habe mich bemüht, wirklich, das habe ich. Ich bin auf dem Schulhof hin und her gelaufen und kam mir dabei albern vor. Man kommt sich nämlich albern vor, wenn man so tut, als wäre man wahnsinnig damit beschäftigt, Kieselsteine durch die Gegend zu kicken, obwohl man eigentlich nur darauf wartet, dass jemand kommt und fragt, ob man bei irgendwas mitmachen möchte.

Einmal bin ich bei Tim und Hugo stehen geblieben und habe gefragt, was sie gerade machen. Aber da haben sie sich nur angeschaut, gekichert und an ihrer Schneehöhle weitergebaut. Sie wollten mich nicht dabeihaben, das konnte man merken.

Und nun sind bald Weihnachtsferien. Fast ein ganzes Halbjahr bin ich jetzt in der neuen Klasse. Aber in den Pausen bin ich immer noch allein.

»Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du etwas auf dem Herzen hast, Noel«, sagt Maggan immer und pustet mir dabei ihren Kaffeeatem ins Gesicht.

Als ob ich ausgerechnet ihr meine geheimsten Geheimnisse verraten würde! Ich habe gehört, was sie mal zu einer anderen Lehrerin über mich gesagt hat. Als ich auf dem Weg zum Lehrerzimmer war, weil ich dort etwas fragen wollte, hörte ich Maggans Stimme. Sie redete leise und verschwörerisch. Es klang nach Klatsch und Tratsch.

»Also er zeigt ja wirklich gar keine Eigeninitiative. Steht in den Pausen nur herum. Wenn jemand versucht, mit ihm zu reden, dann ist er mürrisch und patzig. Und außerdem ist er … na ja, schon ziemlich altklug.«

Mir war sofort klar, dass sie über mich sprachen. Und das war wie ein Schlag in den Magen, während ich da draußen vor dem Lehrerzimmer stand.

»Er fügt sich einfach nicht in die Gruppe ein«, fuhr sie seufzend fort. »Es kommt mir so vor, als würden die anderen Kinder ihm aus dem Weg gehen. Sie merken wohl auch, dass er ein bisschen schwierig ist. Ich weiß wirklich nicht, was ich mit ihm machen soll.«

So sieht Maggan mich also. In ihren Augen bin ich schwierig. Altklug. Diese hässlichen Worte, die bedeuten, dass man nicht reinpasst, dass man irgendwie falsch ist.

Danach weigerte ich mich, in den Pausen rauszugehen. Anfangs versuchte Maggan, mich trotzdem auf den Schulhof zu schieben, aber als sie merkte, dass es nichts half, bekam ich die Erlaubnis, drinnen zu bleiben.

»Dann machen wir es eben erst mal so. Bis … wir eine bessere Lösung gefunden haben.«

Manchmal, wenn ich allein im Klassenzimmer bin, stehe ich am Fenster und schau über den Schulhof. Ich presse die Nase gegen die Scheibe und starre all die fröhlichen, normalen Kinder dort draußen an.

Oder ich sitze an meinem Platz und lese, denn wenn ich lese, dann vergesse ich die leeren Flure, die einsamen Pausen und die seufzenden Lehrer mit ihren besorgten Blicken. Und ich vergesse Papas hängende Schultern und das Gefühl, dass alles düster und grau ist.

Ich habe ein rotes Notizbuch, in dem ich mir spannende Wörter aufschreibe. Meistens sind es schöne Wörter, die ich aufbewahren möchte, solche wie milde Brise, Serpentine und Smaragdgrün. Aber in diesem Winter füllte ich die Seiten mit den hässlichsten Wörtern, die ich kannte:

Eiterbeule

Schleimbeutel

Rotz

Aber das alles war natürlich vor der Sache mit dem geheimnisvollen Wunschzettel. Vor dem mysteriösen Obdachlosen mit dem Goldzahn, vor Wolke und allem anderen, was in diesem Winter passiert ist, als ich in die Fünfte ging.

Von alldem werde ich noch erzählen, aber dazu muss ich von vorn anfangen. Und zwar mit jenem Tag im Bus, auf dem Heimweg nach der Schule.

2.

Dichter Schnee fiel, als ich an der Bushaltestelle stand und wartete. Vor Kälte tropfte mir die Nase.

»Der schneereichste Winter seit einem Jahrzehnt«, hatten sie in den Nachrichten gesagt, und damit hatten sie wohl recht. Ich lebte nämlich seit fast elf Jahren und konnte mich jedenfalls nicht an mehr Schnee oder einen kälteren Winter erinnern.

Ich nahm mein Handy und tippte mit steif gefrorenen Fingern darauf herum. Vielleicht hatte Mama eine Nachricht geschickt?

Aber natürlich war keine Nachricht gekommen. Ich war enttäuscht und verletzt. War es wirklich so schwer, sich zu melden? Im Herbst hatte Mama viel zu tun gehabt, das wusste ich. Aber jetzt war sie schon seit mehreren Monaten in Liberia, und es verging immer noch so viel Zeit zwischen ihren Anrufen oder Mails.

Der Bus kam, und ich stieg schnell in die Wärme und ließ mich auf einen Platz am Fenster sinken. Ich wollte gerade Die unendliche Geschichte aus dem Rucksack ziehen, als sich jemand neben mich quetschte. Ich rückte ein bisschen zur Seite. Es gab doch so viele freie Plätze, warum musste diese Person sich ausgerechnet neben mich setzen?

Dann bemerkte ich den Gestank. Es müffelte nach Körper, nach Schmutz und ungewaschener Kleidung, vermischt mit dem scharfen Geruch von Schnaps. Na toll. Ein Penner.

Ich schielte verstohlen zur Seite. Da saß ein Kerl mit langen grauen, filzigen Haaren und schnaufte. Auf dem Kopf hatte er eine dicke Pelzmütze mit Ohrenklappen, und in den Händen hielt er schmuddelige Plastiktüten, voll mit leeren Getränkedosen und anderem Müll.

Er roch wirklich nicht gut, und ich drehte diskret den Kopf zum Fenster, um den stechenden Geruch nicht einatmen zu müssen. Hauptsache, der Typ fing nicht auch noch an zu reden.

Aber er saß nur stumm da und schaute geradeaus. Sein Gesicht und seine Hände waren übersät mit braunen Flecken, und ich konnte mir nicht verkneifen, sie anzustarren. Waren das Muttermale?

Der Bus legte sich in die Kurve, und genau da drehte sich der Mann zu mir um. Er grinste breit, und zwischen seinen braunen Zahnstummeln blitzte ein Goldzahn auf. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als zurückzulächeln. Ich fand, dass er eigentlich ziemlich nett aussah. Und er kam mir seltsam bekannt vor, aber ich konnte mich nicht erinnern, wo ich ihm vielleicht schon mal begegnet war.

Als der Bus an der nächsten Haltestelle bremste, sammelte der Mann eilig seine Tüten zusammen und hastete nach draußen. Die Türen schlossen sich. Und da sah ich, dass er etwas auf dem Sitz vergessen hatte. Einen kleinen Zettel, dreckig und verfleckt, aber sorgsam zusammengefaltet.

Ich nahm den Zettel und rannte schnell zur Tür. »Hallo!«, rief ich und wedelte mit dem Zettel. »Halt! Sie haben was vergessen!«

Aber der Bus war schon wieder auf die Straße gerollt. An der Haltestelle stand ein Papa mit Kinderwagen und starrte mich verwundert an. Von dem Penner war weit und breit nichts zu sehen.

Eine alte Dame mit einem weißen Pudel an der Leine versuchte, sich im Mittelgang an mir vorbeizuschieben. »Hör mal, junger Mann, hier kannst du nicht stehen bleiben«, sagte sie und fuchtelte genervt mit der Hand, damit ich ihr Platz machte.

Ich quetschte mich zurück auf meinen Sitz und stopfte den Zettel in die Jackentasche.

Dort blieb er dann und wartete darauf, dass ich mich an ihn erinnern und ihn wieder hervorziehen würde.

Um zu lesen, was darauf stand.

3.

Wenn ich jetzt so zurückdenke, dann ist es ein bisschen komisch, dass ich den Wunschzettel damals einfach wieder vergessen habe, obwohl er das ganze Wochenende in meiner Tasche steckte. Aber wahrscheinlich lag das nur daran, dass ich dachte, es wäre nicht mehr als ein schmuddeliges Stück Papier.

Am Samstag waren Papa und ich in der Stadt, um nach einer neuen Jacke für mich zu schauen, und das trug bestimmt auch dazu bei, dass ich nicht mehr an den Zettel dachte.

Wir hatten einen schönen Tag zusammen, Papa und ich. Es war klirrend kalt und sonnig, und in den Geschäften wimmelte es nur so von rotwangigen, dick eingemummelten Leuten, die Weihnachtsgeschenke kauften.

Wir bewunderten ausgiebig die weihnachtlich dekorierten Schaufenster und machten in einem gemütlichen Café Pause, wo die kleinen Tische ein bisschen wackelten und die Kaffeetassen Unterteller hatten.

Papa war fröhlich. Er pfiff Jingle Bells, und sogar die Sorgenfalte, die sich seit Mamas Abreise auf seiner Stirn gebildet hatte, war kaum zu sehen.

»Very good, Gummihut«, sagte er, als ich die Jacke anprobierte, und er bezahlte, ohne zu murren, obwohl sie ganz schön teuer war.

Ich lächelte ein bisschen. Es war lange her, dass Papa herumgeblödelt hatte. Und auch wenn seine Wortspiele meistens sterbenslangweilig waren, war es ein gutes Gefühl, dass er wenigstens versuchte, witzig zu sein.

Ja, denn seit Mama nach Afrika gegangen war und Papa und ich nach Kungsholmen gezogen waren, einen Stadtteil mitten in Stockholm, war Papa traurig. Er dachte natürlich, ich würde das nicht merken. Er dachte, wenn er nur oft genug »Ach, haben wir es gut« sagte und »Wir beide kommen super zurecht«, dann würde es irgendwann wirklich so sein.

Und ich wusste, dass ich Papa nur noch trauriger machen würde, wenn ich ihm erzählte, wie es mir in der Schule ging oder wie sehr ich Mama vermisste. Also behielt ich es für mich.

Als wir auf dem Heimweg waren, trafen wir zufällig einen Arbeitskollegen von Papa.

»Na? Habt ihr den Umzug gut überstanden? Kommt dein Junge mit allem zurecht?«, fragte er und klopfte Papa auf den Rücken.

Papa schaute mich an. »Eigentlich ist es ganz schön, mal ein neues Kapitel aufzuschlagen. Woanders neu anzufangen. Stimmt’s, Noel?« Er drehte sich wieder zu seinem Kollegen und sagte: »Na, du weißt ja, wie Kinder sind. Sie gewöhnen sich so schnell ein. In Nullkommanichts haben sie neue Freunde.«

Ich sagte nichts. Keinen Mucks sagte ich, obwohl sich meine Brust zuschnürte. Ich scharrte nur mit dem Schuh im schmutzigen Schneematsch und ermahnte mich streng: Reiß dich zusammen, Noel, mach dich nicht lächerlich. Fang jetzt nicht an zu heulen, fang bloß nicht an zu heulen.

Nie im Leben würde ich Papa erzählen, was für ein seltsames, missglücktes Kind er hatte, das in den Pausen allein herumstand und nicht einfach in Nullkommanichts neue Freunde fand.

Als wir nach Hause kamen, hängte ich meine alte Jacke in den Schrank. Dann probierte ich die neue an und blieb lange damit vor dem Spiegel stehen.

Ich hatte mir eine dunkelblaue, glänzende Daunenjacke mit Kapuze ausgesucht. Sie sah fast genauso aus wie die von Tim aus meiner Klasse. Hockey-Tim, in den alle Mädchen verliebt waren. Tim, der in den Pausen immer von einer ganzen Horde Jungs umringt war, die ihn bewunderten.