Erwin Seitz

NATUR
NAHES
KOCHEN

Rezepte und Warenkunde

Mit Fotografien von Jens Gyarmaty

INSEL VERLAG

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Inhalt

An den Leser

EINLEITUNG
Naturnahe Küche

WARENKUNDE

Milch und Milcherzeugnisse

Honig

Obst, Verjus, Balsamessig

Nüsse, Ölsaaten, Öle

Getreide und getreideähnliche Pflanzen

Kartoffeln und Hülsenfrüchte

Kräuter, Salat, Gemüse

Gewürze

Pilze

Weich- und Krustentiere

Meer- und Süßwasserfische

Wildgeflügel

HORIZONT

Europäisch-mediterraner Stil –
in Lebenskunst und Küche

REZEPTE

1 Feld & Garten
Haferflocken-Müsli
mit Früchten, Nüssen und Ölsaaten

2 Morgengruß
Rührei mit Kräutern

3 Zart & saftig
Sommersalat

4 Rhythmus der Jahreszeiten
Wintersalat

5 Hauptsache
Buntes Gemüse aus dem Ofen
mit Backpflaumen, Joghurt und
Raz el Hanout

6 Rauch & Pastell
Grünkern und Kohlrabi
mit Rahm, Schaf-Feta und Walnuss

7 Metzgede
Bratwurst auf Spitzkohl-Sauerkraut
mit Edelkastanienhonig und Sauerrahm

8 Süß-saures Spiel
Zander auf Spitzkohl-Sauerkraut
mit Rahm und Weißtannenhonig

9 Himmel & Erde
Apfelspalten, Kartoffelstampf, Blutwurst, Haselnuss

10 Wattenmeer
Scholle, Krabbe, Queller
auf Kartoffelstampf

11 Alpensee
Saibling auf Buchweizen-Risotto
mit Bergkäse und Buttermilch

12 Urkorn & Huhn
Perl-Emmer und Perlhuhn
mit Champignons und grünen Erbsen

13 Pasta di Gragnano
Spaghetti mit Kräuter-Pesto
und Garnelen

14 Gragnano e San Marzano
Eliche mit Sugo von San-Marzano-Tomaten
und Ziegenfrischkäse

15 Tradition der Gewürze
Meeresfrüchte in Safran-Curry
mit Mango und Pistazie auf Basmati-Reis

16 Seidenstraße
Curryspinat mit Seidentofu und
Cashewnüssen auf Basmati-Reis

17 Schwäbisch-Orientalisch
Gepökelter Schweinebauch auf Alblinsen
mit Joghurt und Raz el Hanout

18 Feld & Flur
Wachtel auf Belugalinsen
mit Holunderrahm und Haselnüssen

19 Im Süden am Meer
Kabeljau auf Cannellini-Bohnen
mit Oliven und Rosmarin-Sonnenblumenöl

20 Trocken gereift
Schweinekotelett auf weißen und grünen Bohnen
mit Majoran-Sonnenblumenöl und Schwarzkümmel

21 Heitere Zeit
Sommerliches Obst
mit Buttermilch und Balsamessig

22 Elixier des Bitteren
Exotische Früchte
in Schokoladencreme mit Rum

23 Schwarzwald & Tropen
Kirsche und Schokolade
auf Joghurt-Sauerrahm-Creme
mit Weißtannenhonig und Kirschwasser

24 Träumerei
Mascarpone-Kokos-Orangen-Creme
mit Brombeeren und Mohn

Danksagung

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An den Leser

Jahrelang bin ich zum Essen fast immer ausgegangen. Obwohl ich als freier Journalist und Autor viel zu Hause arbeitete, dort las und schrieb, nahm ich mir oft nicht die Zeit, etwas Gutes zu kochen. Und das, obgleich ich eigentlich gelernter Koch bin. Der Impuls, daran etwas zu ändern, war das Verlangen, mich gesünder als bisher zu ernähren.

Selbstverständlich hatte mich diese Frage schon früher beschäftigt, aber jetzt ging ich ihr konsequenter nach. Wie kann eine gesunde Ernährung im Alltag aussehen? Wie kocht man, wenn das Hantieren am Herd nicht allzu kompliziert sein soll – und zügig gehen muss? Zugleich wollte ich etwas vom Wissensschatz der klassischen europäischen Kochkunst bewahren, einer Kunst, mit der ich mich seit über zwanzig Jahren auseinandersetze. Bloß das Gesunde und Sinnhafte war mir zu wenig, die Speisen sollten auch Lust und Genuss vermitteln.

Meine Erfahrung als Gastronomiekritiker half mir. Nach und nach entwickelte ich Rezepte, die der Prämisse folgten: einfach, gut, gesund. Und fast beiläufig wurde mir dieses tägliche häusliche Kochen zum Erlebnis. Man wird für kurze Zeit wieder zum Handwerker, so wie die Urmenschen über Hunderttausende von Jahren am Lagerfeuer Handwerker waren: Spießbrater und Rotisseure. Das sitzt vermutlich tief in uns drin – und macht Freude.

Die Grundrezepte dieses Buches laden den Leser dazu ein, je nach Region und Saison eigenständig damit umzugehen und in 30 Minuten ein gesundes und köstliches Essen zuzubereiten, vom Frühstück über Hauptspeisen bis zu verführerischen Desserts. Die vorangestellte Warenkunde ist ein Wegweiser durch den Nahrungsmittel-Dschungel. Man erfährt alles Wissenswerte über alte Getreidesorten, heimische Süßwasserfische, Öle und Essige, Nüsse und Kräuter – und von den Geschichten ihrer Kultivierung, bis zu praktischen Tipps beim Einkauf, mit Bezugsquellen. Schließlich bietet das Buch neben einer Einführung zur naturnahen Küche auch einen Essay über europäisch-mediterrane Lebensart und Küche, die für mich bei der Entwicklung der Rezepte eine wichtige Rolle spielten.

Erwin Seitz, Berlin, im Mai 2018

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Einleitung
Naturnahe Küche

Einfach, gut, gesund

Für den Alltag suchen wir Speisen, die leicht und bekömmlich sind, ohne langweilig zu schmecken. Für den, der sie zu Hause selbst kocht, sollte die Zubereitung nicht allzu schwer sein und vergleichsweise wenig Zeit beanspruchen. Sagen wir: im Schnitt eine halbe Stunde. Diesen Aufwand sollte man sich gönnen. Denn ich will die natürlichen Nahrungsmittel begreifen und verstehen, sie schneiden und erwärmen, würzen und verwandeln, schonend, sanft, gentil.

Der aufgeklärte Mensch denkt über eine gesunde Lebensweise nach. Es geht um nichts Geringeres als um Wohlergehen und Glück. Schon Plutarch schrieb in seinem Werk Moralia im Kapitel über die Gesundheitsregeln: »Ganz stillschweigend sollten wir uns selbst an die Hand nehmen und unseren Gaumen und Geschmack daran gewöhnen, sich dem Bekömmlichen zu fügen, und das in aller Ruhe und Gelassenheit.« Man mag, so meinte er, Gutes und Süßes genießen, wenn man noch hungrig ist. Doch der Koch sollte nicht darüber hinaus noch Gaumenkitzel erregen. Plutarch warnt vor übersüßten Nachspeisen, Geschmacklosigkeiten, Angeberei. Es sei keineswegs unkultiviert, bei Seltenem und Teurem nein zu sagen, wenn man eigentlich schon satt ist.

Man sollte, meinte der Schriftsteller, der Natur keinen Zwang antun. Im Gegenteil: »Jeder sollte unter der Parole: ›Such nicht ständig was Besseres als Linsenbrei!‹ nicht immer über Kresse und Oliven hinauswollen zu fein Herausgebackenem und Fischspezialitäten und durch Überladen des Körpers diesen in Aufruhr und Zwietracht treiben, das heißt zu Unpässlichkeiten und Durchfall. Die Hausmannskost hält ja den Appetit innerhalb der natürlichen Grenzen.«

Nah an den frischen natürlichen Zutaten – und nah an der Natur des Menschen

Die naturnahe Küche wäre so etwas wie die zeitgenössische Form der Hausmannskost. Naturnah in zweierlei Hinsicht: nah an den frischen natürlichen Zutaten – und nah an der Natur des Menschen und seinen Organen. Aus Sicht der Medizin ist jene Küche die beste, die frische Waren verwendet und dabei für Abwechslung bei den Mahlzeiten sorgt: durch viel Gemüse und Obst, etwas Fisch und Fleisch. Aus Sicht des Feinschmeckers sind frische Zutaten ohnehin unübertroffen.

Je zügiger die frischen Waren in die Küche kommen und je weniger sie industriell bearbeitet werden, desto gesünder und reicher ist ihr Geschmack. Die Kochkunst sollte sich gegenüber den Waren nicht verselbständigen. Wie anmutig, wenn durch die bearbeiteten Zutaten noch etwas Natürliches hindurchscheint. Naturnahe Küche meint nicht schlicht unverfälschte Natur, sondern die Nähe zu ihr.

Das phantasiebegabte Gehirn des Menschen ist nicht dafür gemacht, um sich mit Simplem zu begnügen. Bei allem menschlichen Tun muss etwas Witz hinzukommen. Es ist unabdingbar, mit dem Essen nicht nur den Magen, sondern auch die Seele zu nähren. Es macht uns von vornherein glücklich, wenn wir wissen, dass die Zutaten gesund sind. Es freut uns ebenso, wenn sie fein schmecken und der Koch sich etwas dabei gedacht hat. Das Essen soll uns immer ein wenig verzaubern, mit überraschenden Nuancen und Harmonien.

Gute Küche hat zwei Pole. Hier Einfachheit, Natürlichkeit, Leichtigkeit – dort Komposition, Überraschung, Raffinesse. Frische und Güte der Zutaten sorgen schon oft von sich aus für Verzauberung. Sie werden so schonend wie möglich zubereitet, nicht zu stark zugeschnitten, nicht zu stark oder zu lange erhitzt, damit ihre gesunden Inhaltsstoffe, Säfte und Aromen so weit wie möglich erhalten bleiben und sich entfalten. Raffinement gewinnt die Speise durch eine gewisse Vielschichtigkeit, ausgeklügelte Geschmacks-Verbindungen, seit alters etwa Himmel und Erde – sautierte Apfelspalten (Himmel), Kartoffelstampf (Erde), gebratene Blutwurst und Haselnüsse. Ein Akkord des Fruchtigen, Cremigen, Herzhaften und Knackigen.

Die naturnahe Küche sucht gerade nach ein paar wenigen, aber pfiffigen Verbindungen. Die Krönung: wenn Flüssig-Sämiges hinzukommt, leichte Brühen und Soßen, weil diese Dinge dem Mundgefühl und den Geschmacksorganen schmeicheln. Komisch, wenn in der Hochküche die Soße oft nur noch als Zitat in Form bizarrer, dürrer Fäden und Tropfen erscheint, ganz so, als wolle der Koch partout ein van Gogh oder Jackson Pollock sein – oder als würde schon längst nicht mehr der Koch, sondern der Stylist und Fotograf die Anrichteweise bestimmen.

Die naturnahe Küche schaut sich auch etwas von der Hochküche ab: Produktneugierde, genaueres Garen, freieres Komponieren. Möglicherweise wird die Küche der Zukunft aber weniger von künstlerisch-avantgardistischen Konzepten, sondern mehr von Aspekten der Gesundheit, Muße und Nachhaltigkeit bestimmt, dem Wohlgefühl bei Tisch entgegenkommend.

Vom guten Umgang mit den Menschen

Unnötig, alles mit der Pinzette anzurichten. Ziel ist nicht perfekte Optik, sondern ein freundliches Bild auf dem Teller: »Sprezzatura«, elegante Lässigkeit, die der italienische Humanist Baldassare Castiglione in seinem berühmten Werk über den Hofmann mehr als alles andere schätzte. Es geht um den guten Umgang mit den Menschen und den Dingen: respektvoll, charmant, nicht übertrieben ambitiös. Vom Teller geht eine sanfte Bewegtheit der Farben, Formen und Aromen aus. Bevorzugt wird der schalenartige Teller – gern aus bunter Keramik –, ein Teller, der nicht so formell wirkt, aber ansprechend erscheint und Brühen gut aufnimmt; überzogenes Tellerdesign ist überflüssig.

Für das Kochen selbst ist keine außergewöhnliche Technik vonnöten. Es reichen – auf den kleinen Haushalt berechnet – zwei, drei scharfe Messer, zwei Holzbretter, ein Herd mit Backofen, drei gute Töpfe unterschiedlicher Größe, ein Dämpfeinsatz, zwei beschichtete Pfannen unterschiedlicher Größe, eine feuerfeste Form für den Ofen, ein Kochlöffel, ein Schneebesen, eine Schaum- und Schöpfkelle, ein Unterheber, eine Knoblauchpresse, eine Reibe, ein Entkerner, ein Mixgerät für Kräuter-Pesto, zwei, drei Schüsseln, ein Messbecher, eine Waage und eine Küchenuhr. Die Rezepte der naturnahen Küche benötigen nie mehr als zwei Töpfe auf dem Herd, bestenfalls ergänzt durch die Bratreine im Ofen.

Entscheidend für die naturnahe Küche sind die guten Zutaten, ergänzt durch ein paar Gewürze, Öle und Butter, durch Dinge, die ohnehin zum festen Bestand der Vorräte gehören. Wichtig ist ferner, wie erwähnt, die schonende Zubereitung der Waren, ebenso die stimmige Komposition, schließlich, als Krönung, eine leichte Brühe oder Soße – sei es, dass man eine Gemüsebrühe hinzugibt, die man selbst ansetzt, sei es, dass man die Flüssigkeit verwendet, die beim Dämpfen von Gemüse entsteht, sei es durch Zugabe von Buttermilch, Joghurt, Sahne, Kokosmilch, frisch gepresster Orange oder von Brühen, die beim Kochen von Grünkern, Linsen oder Weißen Bohnen übrig bleiben.

Es passt zur naturnahen Küche, einen Hauptgang zu servieren, gefolgt von einem Happen Rohmilchkäse, mundgerecht zugeschnittenem reifen Obst oder vielleicht einem Stückchen Bitterschokolade. Ebenso wird in der naturnahen Küche Getreide und Gemüse geachtet. Das alles wurde ja mehr oder minder zur selben Zeit, vor rund zehntausend Jahren, entwickelt: der Getreide-, Gemüse- und Obstanbau, die Herstellung von Keramik, die Erzeugung von Brot, Bier, Wein und Käse.

Kulinarische Grundlagen der frühen Hochkulturen im Nahen Osten waren kraftspendende, kohlenhydratreiche Getreidesorten: Einkorn, Emmer, Dinkel, Weizen, zudem Hülsenfrüchte, die einen etwas höheren Anteil an Eiweiß haben, wie Linsen und Dicke Bohnen. Im Fernen Osten kultivierte man Reis, in Süd- und Mittelamerika Kartoffeln, Mais oder Quinoa. Als um 5500 vor Christus auch nördlich der Alpen die Landwirtschaft einzog, gab es hierzulande schon Einkorn, Emmer, Dinkel und Hirse sowie Linsen und Gelbe Erbsen, etwas später auch Dicke Bohnen – Reis, Mais und Kartoffeln wurden erst später in Europa gebräuchlich.

Heutzutage funken unterschiedliche gesundheitliche und weltanschauliche Ideen in die Ernährungsformen hinein. Veganer und Vegetarier wollen kein Fleisch mehr haben. Andere konzentrieren sich dagegen wieder ganz auf die steinzeitliche Ernährungsweise der Jäger und Sammler vor der Erfindung der Landwirtschaft und bevorzugen die Paleo-Küche mit viel Fleisch, gestützt auf die Theorie von Robert Atkins, wonach die menschlichen Verdauungsorgane noch gar nicht auf die kohlenhydratreiche Getreidenahrung eingestellt seien.

Eine abwechslungsreiche, weitgehend pflanzliche Küche

Man muss nicht unbedarft in ältere Zeiten zurückfallen. Claus Leitzmann leitete lange Zeit das Institut für Ernährungswissenschaft der Universität Gießen. 2010 erschien sein Standardwerk Gesunde Ernährung. Die 101 wichtigsten Fragen. Seiner Erfahrung nach sind die menschlichen Verdauungsorgane anpassungsfähig. Angemessen ist für ihn eine weitgehend pflanzliche Küche, in der kohlenhydratreiche Nahrungsmittel die Basis bilden. Demnach sollten Getreide und Perl-Getreide, Risotto, Kartoffelstampf, Linsenbrei, Weiße Bohnen reichlich auf dem Speisezettel vertreten sein. Uralte Getreidesorten wie Einkorn, Emmer, Dinkel, Grünkern haben viele gesundheitsfördernde Inhaltsstoffe und sind fein und würzig.

Manche Fachleute sähen es gern, wenn auch noch helle Weizennudeln und geschälter Reis durch Vollkornprodukte und Hülsenfrüchte ersetzt würden. Aber man muss es nicht übertreiben. Helle Weizennudeln und weißer Reis schmecken gut und sind bekömmlich, nur sollte man nicht einseitig daran hängen. Man kann auch Kompromisse finden, wie beispielsweise Perlgraupen von Einkorn oder Emmer, die nur leicht aufgeraut und nicht vollkommen geschält sind.

Die Abwechslung erfreut. Perlgraupen, Reis, Kartoffeln, Linsen und Weiße Bohnen enthalten unterschiedliche kulinarische Bausteine, die der menschlichen Gesundheit guttun. Die Vielfalt der Düfte und Aromen unterhält zugleich den Gaumen wie das Gemüt. Die Zubereitung geht leicht von der Hand, und die kohlenhydratreichen Waren haben die angenehme Eigenschaft, lagerfähig zu sein und den täglichen Einkauf überflüssig zu machen. Sie sind in der naturnahen Küche die Basis für die Hauptspeisen, stets mit anderen Dingen angereichert: mit frischer Ware, die man wenigstens zweimal in der Woche kaufen sollte, hauptsächlich Gemüse, dazu Obst, Käse, Fisch oder Fleisch. Zweimal Fisch pro Woche wird von Leitzmann ausdrücklich empfohlen – und gegen einmal Fleisch in der Woche hat er nichts. Von rein pflanzlicher, veganer Ernährung rät er eher ab, da die Gefahr besteht, mit manchen Vitaminen und Mineralien unterversorgt zu sein.

Tim Spector, Professor für Genetische Epidemiologie am King’s College in London, folgt Leitzmann in vielen Punkten. In seinem Buch Mythos Diät. Was wir wirklich über gesunde Ernährung wissen bleibt er skeptisch gegenüber der Paleo-Küche und mag sich ebenso wenig vollends dem Veganismus oder Vegetarismus verschreiben. Er bevorzugt eine vorwiegend pflanzliche Küche, genauer: die kulinarische Lebensform des Flexitariers, der neben Pflanzen auch Milch, Milchprodukte, Eier, Honig und etwas Fisch und Fleisch aus artgerechter Haltung schätzt.

Für die Gesundheit

Für die Gesundheit, so meint Spector, ist nicht unbedingt das Zählen von Kalorien, sondern die Pflege der Darmflora entscheidend. Er ist weit davon entfernt, das Fett, auch tierische Fette, zu verteufeln. Er preist das Olivenöl, ebenso griechischen Joghurt mit 10 % Fett als Bestandteil der bewährten Kreta-Diät. Alles, was freundliche Bakterien und Hefen enthält oder fermentiert ist – wie Buttermilch, Joghurt, Sauerkraut, Gewürzgurke, Käse, Pilze, Brot, Wein und Bier –, fördert die Mikroben-Kultur im Verdauungstrakt. Förderlich sind ebenso Vollkornprodukte, Hülsenfrüchte, grüne Gemüse, Kohlgemüse, Knoblauch, Tomaten, Zwiebeln, Nüsse, Gewürze. Dagegen zerstört jede Form industrieller Verarbeitung von Lebensmitteln gesundheitsförderliche Bakterien und Hefen. Wer gut leben will, kann man daraus schließen, muss sich an gediegenes Kochhandwerk halten.

Auch die vorwiegend pflanzliche Küche kann aromatische Freuden bieten, die in der fleischgeprägten Küche nicht besser sind. Wer sich einmal mit der Gemüsebrühe, dem Gemüsedämpfwasser oder mit Buttermilch angefreundet hat, der möchte diese leichten Sachen nicht mehr missen: so mild, so zart oder feinsäuerlich, so aufnahmefähig, gerade wenn der Topf nicht mehr am Herd steht und die weiteren Zutaten frisch und nicht erhitzt hinzugegeben werden: gepresster Knoblauch, der Fülle und Kraft schenkt, geschälter und geriebener Ingwer, der für Frische sorgt, Curry, das Schärfe und Wärme hervorzaubert, Sahne, Butter, Joghurt, Käse, Olivenöl, Sonnenblumenöl, die wunderbar abrunden.

Es gibt nach heutiger Erkenntnis nicht vier, sondern fünf, wenn nicht sogar sechs wesentliche Geschmackselemente: salzig, süß, fett, herzhaft (umami), sauer und bitter. Das Herzhafte steckt vor allem im Fleisch, nicht zuletzt in Gerichten, die lange erhitzt werden, so in Schmorgerichten und in brauen Soßen, ja selbst in Gemüsebrühen mit Pilzen, die über Stunden leicht köcheln. Das ist schätzenswert und erinnert an Großmutters Küche.

In der naturnahen Küche verschieben sich jedoch die Akzente. Die Zubereitung eines Gerichts soll in der Regel ja nicht länger als eine halbe Stunde dauern, und die leichten Brühen und Soßen, die im Handumdrehen entstehen, sind nicht weniger köstlich als Schmorsoßen – und allemal bekömmlicher. Die Domäne des naturnahen Kochens ist nicht so sehr das Herzhafte, sondern mehr das Frische und Würzige: durch frische Waren, kurze sanfte Garzeiten, leichte Fonds, feinsäuerliche Zutaten und Obstnoten, wie Zitrone, Orange, Apfel-Balsamessig und dergleichen.

Selbst das klassische Kompositionsschema für Gerichte auf dem flachen Teller wirkt längst altbacken: ein Hauptelement (Fisch oder Fleisch) und zwei Nebenelemente (Gemüse und eine sogenannte Sättigungsbeilage aus kohlenhydratreichen Produkten) – die britische Anthropologin Mary Douglas spricht von der stereotypen Formel: A + 2b. Der Vorrang von Fisch und Fleisch verliert sich, es herrschen eher demokratische Verhältnisse auf dem Teller.

Sich bloß nicht ideologisch zu stark einschränken lassen. Nicht einseitig werden, vegan, vegetarisch, sondern abwägen, auswählen, offenbleiben, auch für etwas Fisch und Fleisch. Nicht zu provinziell werden, nicht einseitig auf Regionalität setzen, sondern Stufen bei der Wahl der Produkte einführen: schwerpunktmäßig lokal, regional, dann auch europäisch, kosmopolitisch. Behutsam menschliche Möglichkeiten nutzen, einer gesunden Lebensweise folgen. So kann sich Lebensart entfalten.

WARENKUNDE

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Milch und Milcherzeugnisse

Der feine, leicht süße Ton in der Milch macht Menschen glücklich. Für viele ist er der Maßstab des guten Geschmacks. Einst ein Symbol der Reinheit, Arglosigkeit, frommen Denkungsart, kommt die Milch heute aber ins Gerede. Es gebe viel zu viel davon; sie sei viel zu nährstoffreich und führe zu Übergewicht. Außerdem litten Kühe unter der Massentierhaltung. Und schließlich sei bekannt, dass Rinder als Wiederkäuer Methan erzeugen, das als Treibhausgas in die Atmosphäre steigt.

Plötzlich stehen Rinder, Kühe und Milch am Pranger, sei es aus umweltgefährdenden, sei es aus gesundheitlichen oder tierrechtlichen Gründen. Aber welche Lebensmittel können dann heute überhaupt noch unbedenklich verzehrt werden? Nur noch Früchte und Nüsse, die von selbst vom Baum fallen? Wir können ja als Menschen nur existieren, wenn wir uns von anderen organischen Wesen ernähren, seien es Pflanzen, seien es Tiere. Und sollten nicht Pflanzen ebenso wie Tiere empfindungsfähig sein? Das ist eine Gratwanderung. Oder muss man den Schluss ziehen: Die Natur hat aus sich selbst heraus eine biologische Welt hervorgebracht, die moralisch unmöglich ist.

Alles in Maßen! Wenn man die Treibhausgase der Rinderzucht vermindern möchte, so dürfte es kulinarisch leichter fallen, auf den Verzehr von Rindfleisch zu verzichten als auf den von Milch und Milcherzeugnissen – zu köstlich und reichhaltig sind die Aromen dieser Produkte: wie Rahm, saure Sahne, Butter, Buttermilch, Joghurt, Quark, Käse; zu viele Speisen können damit bereichert und verfeinert werden. Milcherzeugnisse gehören zu den bedeutendsten Kunstwerken des Lebensmittelhandwerks. Das gibt man nicht so leicht dahin.

Das Rind liefert als Milchvieh der menschlichen Nahrung drei- bis fünfmal mehr Energie denn als Mastvieh. Und manche Weidelandschaften im Gebirge, in den Marschen oder in feuchten Tälern wären für den Ackerbau ohnehin nicht geeignet. Wenn man solche Regionen als Ressourcen menschlicher Ernährung nutzen möchte, dann geht das nur mit Hilfe der Wiederkäuer. Die Kühe können dort weiden und das Gras verdauen, das Landschaftsbild pflegen und Milch geben.

Vielleicht wäre die alttestamentliche, sprich frühbäuerliche Art der Rinderzucht akzeptabel: Man hält Milchkühe und schlachtet den größten Teil des Nachwuchses als Kälber. Gelegentlich gäbe es auch mal Fleisch von erwachsenen Tieren. Milchkühe sind als Haustiere an den Menschen gewöhnt und erwarten, dass sich der Bauer um sie kümmert und sie melkt. Solange sich die Tiere in kleineren bis mittleren Betrieben bei artgerechter Haltung wohl fühlen, bei der sie im Sommer auf der Weide sind, ist nicht viel gegen eine maßvolle Milchviehwirtschaft zu sagen.

Ideal, wenn ein Biohof mit Milchvieh eine eigene kleine Molkerei betreibt. Vorbildlich der Hof Marienhöhe in der Mark Brandenburg bei Bad Saarow. Das ehemalige Rittergut wurde 1928 in einen Demeter-Hof verwandelt; der Gründer, Erhard Bartsch, kannte noch persönlich Rudolf Steiner, der mit seinen Ideen einer biodynamischen Landwirtschaft die Demeter-Bewegung in Gang setzte. Der Philosoph verband Kenntnisse der modernen Naturwissenschaft mit der Goethe’schen Vorstellung von der Ganzheit der Natur. Er sah es als die wichtigste Aufgabe an, das Erdreich durch richtiges Düngen zu stärken, unter anderem mit Hilfe von Kuhmist, der in Kuhhörnern in der Erde vergraben wird. Nur ein lebendiger Boden könne die Energien verwerten, die Gestirne wie Sonne und Mond auf die Erde senden. Chemischer Dünger führe dagegen lediglich zu »angeregter Wäßrigkeit« im Boden und lasse die Pflanzen anschwellen, ohne dass sie Geschmack und Feinheit entwickeln; organischer Dünger aber bewirke »belebte Erdigkeit« und verleihe den Pflanzen Delikatesse.

Auf den Wiesen der Demeter-Höfe gibt es viele Kräuter, die für duftendes Gras und Heu sorgen – bestes Futter für die Kühe. Jene auf dem Hof Marienhöhe zählen zur alten Rasse des Roten Höhenviehs. Es ist ein kleinrahmiges Mischnutzungsrind mit feinfaserigem Fleisch und Milch mit aromareichem Fettgehalt, bis zu 4,5 %. Die Kühe fressen nur frisches Gras und Heu und erhalten keine Heu-Silage. Gelegentlich kommt ein wenig Möhre und Getreideschrot dazu.

Ambrosia

Die erstklassige Milch dieser Kühe wird größtenteils als Rohmilch in der Molkerei verarbeitet. Diese nicht erhitzte Milch hat eine besonders feine Fettstruktur und verfügt über freundliche Mikroben, die in den Milcherzeugnissen für sanfte Geschmacksfülle sorgen. Für die Butter beispielsweise wird der Rahm der Rohmilch zunächst mit weiteren Milchsäurebakterien versetzt, damit sich eine Balance aus Süße und Säure herstellt. Dieser Rahm darf zwei Tage reifen, bevor er in das Butterfass aus Edelstahl gegossen und dort geschüttelt und geschlagen wird, bis die Butter »kommt«. Die fertige ungesalzene Sauerrahmbutter schmeckt ungemein seidig, reintönig und feinaromatisch. Nicht minder köstlich ist die saure Sahne, die ich am liebsten pur aus dem Glas löffeln möchte. Sollte es im Himmel für die Götter tatsächlich Ambrosia geben, dann schmeckt diese Speise vermutlich so ähnlich wie die saure Sahne vom Hof Marienhöhe – so geschmeidig dickflüssig, feinsäuerlich und süß.

Entscheidend für beste Milcherzeugnisse sind demnach das Futter, die richtige Rasse, Rohmilch sowie schonende, längere Reifeprozesse bei der Herstellung. Neben dem Roten Höhenvieh hat in hiesigen Breiten das mittelgroße Braunvieh (das eigentlich eher grau bis graubraun ist) einen guten Ruf als Milchvieh, vor allem im Allgäu und in der Ostschweiz. Einige Biobauern halten auch das englische Jersey-Rind mit einem Milchfettgehalt von bis zu 6 %.

Viele Biomolkereien von kleinerer bis mittlerer Größe bieten mittlerweile ein umfangreiches Sortiment an, das man entweder vor Ort oder auf städtischen Bio-Bauernmärkten sowie in Bio-Supermärkten bekommen kann: eben Milch, Rahm, saure Sahne, Butter, Buttermilch, naturreinen Joghurt, nicht zuletzt Käse: Quark und Frischkäse ebenso wie gereiften Käse, ob von Kuh-, Schafs- oder Ziegenmilch. Immer öfter gibt es daneben heimischen Mozzarella aus Büffelmilch.

Milch und Milcherzeugnisse sind vorzügliche Botschafter des Lokalen und Regionalen. Gerade Rohmilchkäse lässt die Eigenart einer Gegend anklingen und schickt die menschliche Phantasie hinaus aufs Land: zu den Düften der Blumen, zum Geruch der Ziege. So stößt man etwa auf den Höhen der Schwäbischen Alb auf den Hof Loretto mit Ziegenkäserei. Die Rohmilch der Abendmelkung kommt in Kannen, die über Nacht in Brunnenwasser kühlen, während die Milch leicht vorsäuert. Morgens um vier Uhr wird Sauermilch hinzugefügt, um acht Uhr kommt die Milch der Morgenmelkung dazu und dann das Kälberlab, damit sich Molke und Bruch trennen. Die Bruchmasse wird von Hand geschöpft und in kleine, zylindrische Gefäße gefüllt. Nach zwei Tagen ist ein frischer weißer Weichkäse auf dem Tisch. Er duftet wunderbar delikat, milchig und fruchtig, ist leicht körnig, schichtig und doch cremig – man schmeckt, dass die Masse schonend zart behandelt wurde.

Hofgemeinschaft Marienhöhe

Marienhöhe 3, Bad Saarow.

www.hofmarienhoehe.de

Loretto

Loretto 8, Zwiefalten.

www.loretto-ziegenhof.de

Lobetaler Bio-Molkerei

Sydower Feld 1, Biesenthal.

www.lobetaler-bio.de

Besonders fein: Sahne, saure Sahne und naturreiner Joghurt.

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Honig