Thomas Montasser

Der Sommer der Pinguine

Roman

Mit Illustrationen von Isabel Pin

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Insel Verlag

Der Sommer der Pinguine

»Es wäre vieles leichter auf der Welt, wenn die Menschen nicht nur immer das sehen würden, was sie sehen wollen.«

Rufus Gladstone

1.

Diese Geschichte trug sich vor nicht allzu langer Zeit in London zu, und zwar an einem schönen Spätsommertag. Es war die sogenannte Last Night of the Proms, also jener Abend, an dem die Saison der traditionellen Promenadenkonzerte zu Ende geht und damit auch die sehr kurze Zeit, in der sich die Londoner wie Italiener fühlen – auf sehr englische Art natürlich.

Genau genommen nahmen die Ereignisse ihren Anfang bereits tags zuvor, als Mrs. Annetta Robington, eine Geographielehrerin aus Great Missenden – das im Gegensatz zu seinem Namen eher ein sehr kleines Örtchen ist –, auf ihrem Weg vom British Museum zum Hyde Park der Versuchung nicht widerstehen konnte, eine kleine Buchhandlung im ebenso lebhaften wie bezaubernden Stadtteil Mayfair zu betreten. Sie hatte die Entfernungen in London unterschätzt. Wer die Laufwege von Great Missenden gewöhnt ist, sieht sich in einer Stadt wie London plötzlich mit sehr abweichenden Dimensionen konfrontiert.

Es war aber nicht allein die Hoffnung auf einen Augenblick des Ausruhens in der kühlen Stille eines offensichtlich gepflegten und kultivierten Ladens, es war auch die Neugier. Der Buchhändler schien ein natürliches Gespür für Mrs. Robingtons Interessen zu haben: So gut wie jedes Buch, das er in der Auslage präsentierte, hätte sich auch in Mrs. Robingtons kleiner Bibliothek befinden können. Von Darwins letzte Reise über Sibirischer Sommer bis hin zu Die souveräne Lehrerin. Ein seltsam vielseitiges und, wie es Mrs. Robington in den Sinn kam, als sie über die Schwelle trat, vieldeutiges Sortiment.

Das Dämmerlicht des Ladens und die plötzliche Ruhe, als die Tür mit leisem Klingeln hinter ihr zusank, bewirkten ein leichtes Schwindelgefühl bei der Kundin, die wir uns als Frau mittleren Alters vorstellen dürfen, deren energischste Jahre vielleicht schon hinter, während die besten zweifellos noch vor ihr lagen – doch das ahnte sie zu diesem Zeitpunkt freilich nicht. Aus den Augenwinkeln registrierte sie den Buchhändler, der hinter der Ladentheke und einer Kasse kaum zu sehen war, ihr aber einen freundlichen Gruß entbot.

Genussvoll sog Mrs. Robington die nach Papier und Druckerschwärze riechende Luft ein und spürte einen leichten Kitzel in den hinteren Gehirnarealen. Hatte das jemals schon jemand untersucht? Gab es dort in der Nähe des Stammhirns eine Region, die auf den Duft von Büchern ganz besonders intensiv reagierte? Seufzend stieß sie die Luft wieder aus, bemerkte, wie sich eine angenehme Kühle über ihre nackten Arme breitete, und wandte sich den Tischen und Regalen zu, auf denen all die verlockende Literatur präsentiert wurde, die ein offenbar ebenso belesener wie empathischer Buchhändler für seine Kunden in diesem entzückenden Ladenlokal zusammengestellt hatte. Man konnte aus der Auswahl manche Vorliebe des Inhabers herauslesen, die Liebe zur nordischen Literatur etwa, ein Faible für Werke aus der beginnenden Neuzeit, Kulinaria, die sich mit den diversen Arten, Fisch zuzubereiten, beschäftigten – und ein ganzes Regal mit Büchern über den Lebensraum Antarktis, wie Mrs. Robington mit einer Mischung aus Erstaunen und Neugier feststellte.

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Langsam wich die Erschöpfung des langen Fußmarsches an diesem heißen Tag der Erquickung, die eine gut geführte Buchhandlung jederzeit zu spenden fähig war. Erfrischt von der Vielfalt der literarischen Verlockung, setzte sich Mrs. Robington auf einen der Hocker, um sich ganz in die Botanik der ostafrikanischen Inseln, die Erzählungen von Henry James, die Memoiren einer siamesischen Konkubine und zuletzt einen Bildband mit historischen und zeitgemäßen Fotografien von Pinguinen in bisweilen unfassbar detaillierten Aufnahmen zu vertiefen. Sie vergaß Zeit und Raum. Erst als die Dämmerung nach draußen übergegriffen hatte, schreckte sie hoch und blickte auf die Uhr. Der Zug nach Aylesbury, den sie hatte nehmen wollen, war längst abgefahren, der nächste würde wegen der unvermeidlichen Eisenbahnerstreiks erst in gut zwei Stunden gehen. Wenn überhaupt. Sie räusperte sich, stand auf und strich ihr Kleid glatt. Vor ihr lag ein Stapel Bücher, in denen sie gelesen hatte und der sie nun anhänglich betrachtete. Die konnte sie keinesfalls alle mitnehmen. Erstens hatte sie nicht genug Geld bei sich und zweitens hätte sie nicht gewusst, wie sie sie alle transportieren sollte. Nun gut, aber zumindest ein oder zwei davon sollte sie kaufen, nun da sie so lange die unaufdringliche Gastfreundschaft des Buchhändlers genossen hatte. Nachdem sie ein wenig mit sich gerungen hatte, trug sie einen leichten Sommerroman über ein Wochenende am Comer See und einen ziemlich voluminösen Band mit antiken Landkarten zur Kasse und legte die beiden Bücher auf die Theke. »Die hätte ich gerne«, sagte sie und stutzte. »Ich … ich …« Konnte es wirklich sein? Oder spielte die Atmosphäre dieser verwunschenen kleinen Buchhandlung noch mit ganz anderen Arealen ihres Gehirns? Mrs. Robington war niemand, der an Elfen und Trolle glaubte. Nie gewesen. Im Gegenteil: Als Angestellte im öffentlichen Dienst des Vereinigten Königreichs war sie dem Übersinnlichen eher wenig zugeneigt und überhaupt eine durch und durch rationale Person. Worauf sonst hätte man ein Weltreich bauen können, wenn nicht auf die Zuverlässigkeit und den Realismus der Engländer.

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Und doch: Was sie sah, ließ sich beim besten Willen nicht mit den Gesetzen der Wirklichkeit vereinbaren und konnte nur damit zusammenhängen, dass sich die eindrucksvollen Fotografien der Bewohner von Grahamland und den Südlichen Shetlands in ihre Netzhaut eingebrannt hatten. »Pinguine gibt es nur am Südpol«, flüsterte sie und schloss für einen Moment die Augen. Wenn sie sie wieder öffnete, würde alles verschwunden sein, das Trugbild würde sich auflösen und dahinter würde ein netter älterer Herr sichtbar, dessen leicht angeknittertes weißes Hemd in einem dunklen Tweedjackett steckte und von einer schlecht sitzenden Fliege mit Paisleymuster zusammengehalten wurde.

»In der Tat, ein weit verbreiteter Irrtum«, murmelte der Buchhändler und griff nach den beiden Werken, die vor ihm lagen. »Diese hier?«

»Wie bitte?«

»Diese Bücher?«

»Nein, ich meine das, was Sie zuvor sagten: ein weit verbreiteter Irrtum.« Fassungslos starrte Mrs. Robington den Buchhändler an.

»Ein Scherz, nichts weiter«, erklärte er. Doch die zarten Federn seiner Brauen zitterten bei diesen Worten, und das tiefe Schwarz seiner Augen schien ihren Blick zu fliehen.

»Aber Ihr Federkleid«, stotterte die Lehrerin und deutete unsicher auf seine Brust.

»Alfred Twickenham, Schneider in der achten Generation. Savile Row Nr. 14.«

»Und die Spitzen an den Ohren …«

»Jenson’s Hair Cut. 12 Pfund 50 – ohne Trinkgeld.« Der Buchhändler klopfte auf die Bände, die immer noch vor ihm lagen. »Sie zahlen bar?«

»Gewiss«, hauchte Mrs. Annetta Robington, die es nicht glauben mochte. Doch die ebenso souveräne wie trockene Reaktion des Gentleman ließ ja wohl keinen Zweifel daran, dass ihr Geist ihr einen Streich gespielt hatte, dass sie ihrer eigenen Phantasie erlegen war. Sie lächelte entschuldigend und reichte dem Pinguin eine Zwanzigpfundnote, verzichtete auf das Wechselgeld und verließ den Laden mit sehr gemischten Gefühlen.

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Als die Tür hinter ihr zuschwang, blickte sie noch einmal zurück und betrachtete den alten Mann hinter seiner Kasse. Eine eigenartige Besorgnis schien sich in seiner Miene widerzuspiegeln. Ein kummervoller Zug lag über seiner Stirn und um seinen Schnabel.

*