image

Lachszenen in der Literatur

Von Homer bis Houellebecq

Falko Ritter

2018

Wenn du nicht all deine Bücher lesen kannst, dann nehme sie wenigstens zur Hand, streichle ein wenig über sie, schau’ etwas hinein, lasse sie irgendwo auffallen und lese die ersten Sätze, auf die dein Auge fällt, stelle sie selbst aufs Bord zurück, ordne sie nach deinen Vorstellungen so, dass du wenigstens weißt, wo sie sind. Lass’ sie deine Freunde sein; lasse sie auf alle Fälle deine Bekannten sein.

Winston Churchill (1874-1965)

© 2018 Falko Ritter

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

978-3-7469-2985-9 (Paperback)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Hinweise

1 Theoretisches

1.1 Lachtheorien

1.2 Zur Interpretation des Lachens

1.2.1 Nutzen von Interpretationen in der Literatur

1.2.2 Vergleich: Interpretation auf dem Gebiet des Rechts

1.2.3 Skepsis gegenüber dem Interpretieren

1.2.4 Leserhorizont und Leserinteresse

1.2.5 Fazit

2 Lacharten

2.1 Beschreibungen und Adjektive

2.2 Positives Lachen

2.2.1 Positives Lachen, schallend

(1) Homer – Odyssee
(2) Boccaccio – Dekameron
(3) Shakespeare – Was Ihr wollt
(4) Cervantes – Don Quijote
(5) Rimbaud – Herz unter der Soutane
(6) Krüss – Timm Thaler
(7) Grass – Der Butt
(8) Strauß – Der junge Mann

2.2.2 Positives Lachen, verhalten

(1) Dante – Göttliche Komödie
(2) Hoffmann – Ophioch und Liris
(3) Mörike – Die schöne Lau
(4) Keller – Das verlorene Lachen
(5) Zola – Die Sünde des Abbé Mouret
(6) Fontane – L’ Adultera
(7) Hauptmann – Der Ketzer von Soana
(8) Anderson – Dunkles Lachen
(9) Hesse – Der Steppenwolf
(10) Hesse – Siddhartha
(11) Timm – Rot

2.2.3 Misslungene Versuche gemeinsamen Lachens

(1) Lessing – Minna von Barnhelm
(2) Klinger – Die Zwillinge

2.3 Neutrales Lachen

2.3.1 Kommerziell produziertes Lachen

(1) Hugo – Der lachende Mann
(2) Mann – Der Tod in Venedig
(3) Böll – Der Lacher
(4) Bernhard – Stimmenimitator, „Ernst“
(5) Gernhardt – Lied vom Lachen
(6) Walser – Tod eines Kritikers
(7) Houellebecq – Möglichkeit einer Insel

2.3.2 Gekünsteltes Lachen

Proust – In Swanns Welt

2.4 Negatives Lachen

2.4.1 Höhnisches und blasphemisches Lachen

(1) Klopstock – Der Messias
(2) Geßner – Der Tod Abels
(3) Moritz – Anton Reiser
(4) von Düffel – Vom Wasser

2.4.2 Lachen und Grausamkeit

(1) Wezel – Belphegor
(2) Maturin – Melmoth der Wanderer
(3) Finger u. a. – Batman
(4) Iweala – Du sollst Bestie sein

2.4.3 Ordinäres Lachen

Broch – Der Tod des Vergil

2.4.4 Auslachen

(1) Homer – Ilias
(2) Platon – Theaitetos
(3) Bibel – Neues Testament
(4) Hoffmann – Der Struwwelpeter

2.5 Besondere Lacharten

2.5.1 Verzweifeltes Lachen

(1) Kundera – Die Kunst des Romans
(2) Schiller – Verbrecher aus verlorener Ehre
(3) Tieck – William Lovell
(4) Büchner – Lenz
(5) Flaubert – Madame Bovary
(6) Canetti – Die Blendung
(7) Dürrenmatt – Richter und Henker
(8) Wolf – Kein Ort, nirgends
(9) Ransmayr – Die letzte Welt
(10) Schneider – Schlafes Bruder

2.5.2 Verlegenes Lachen

(1) Bibel – Altes Testament
(2) Bataille – Geschichte des Auges

2.5.3 Rätselhaftes Lachen

(1) Volksgut: Die Geschichte vom Korb
(2) Wolfram von Eschenbach – Parzival
(3) Muschg – Der Rote Ritter
(4) Kafka – Brief an Oskar Pollak
(5) Kafka – Die Sorge des Hausvaters
(6) Kafka – Der Prozess
(7) Chesterton – Schlimmstes Verbrechen
(8) Beckett – Watt

2.6 Breites Lachspektrum in einem Werk

(1) Klingemann – Nachtwachen

(2) Mann – Doktor Faustus

(3) Bernhard – Holzfällen

2.7 Miszellen

(1) Brant – Das Narrenschiff

(2) Jean Paul – Katzenbergers Badereise

(3) Jarry – Das Lachen in der Armee

(4) Mann – Tristan

(5) Bierce – Wörterbuch des Teufels

(6) Proust – Sodom und Gomorra

(7) Mann – Herr und Hund

2.8 Gedichte

(1) von Arnim – Das bucklige Männlein

(2) Rückert – Lachen und Weinen

(3) Heine – Ein Weib

(4) Joyce – Gedichte – Kammermusik

(5) Chlebnikov – Beschwörung d. Lachen

(6) Yôkishi – Haiku

3 Einzelthemen

3.1 Thema: Lachfeindlichkeit

(1) Basilius von Caesarea – Regulae

(2) Benedikt von Nursia – Benediktusregel

(3) Eco – Der Name der Rose

3.2 Lachen und Weinen

(1) Rabelais – Gargantua und Pantagruel

(2) Montaigne – Weinen und Lachen

(3) Hoffmann – Hund Berganza

(4) Roth – Hiob

(5) Plessner – Lachen und Weinen

3.3 Lachen und Nicht-Lachen

(1) Volksgut: Tausendundeine Nacht

(2) Caesarius – Der ernsthafte König

(3) Brüder Grimm – Die zwölf Brüder

(4) Goethe – Faust

(5) Lautréamont – Maldodor

(6) Raabe – Frau Salome

(7) Bernhard – Stimmenimitator, ’Autor’

4 Lachen in Gemeinschaft und alleine

5 Entwicklungen, Ergebnisse

5.1 Rückgang des Stellenwerts des Lachens in der Literatur

5.2 Veränderungen bei einzelnen Lacharten

5.3 Ursachen

5.3.1 Weniger Lachszenen

5.3.1.1 Negative Grundstimmung, Kulturpessimismus
5.3.1.2 Indiz: Katastrophenjournalismus
5.3.1.3 Indiz: Begründungen für Literaturauszeichnungen

5.3.2 Veränderungen in der ’Medienlandschaft’

5.3.2.1 Vorgeschichte
5.3.2.2 Deckung des ’Lachbedarfs’

5.4 Fazit

Literaturverzeichnis

Liste der Autoren – alphabetisch

Vorwort

„Lachszenen in der Literatur“ ist kein neues Thema. Der Bücherfreund weiß: Nicht nur im wirklichen Leben, auch in der Literatur wird gelacht. Das kann man mit Hilfe von Beispielen für lange Zeit zurückverfolgen. Die Art des Lachens ist sicher von den Befindlichkeiten der Gesellschaft und der einzelnen Menschen abhängig. Merkt man das an den „Lachszenen“ der Literatur?

Seit jeher hat Geschriebenes (Bücher im heutigen Sinne gab es ja erst recht spät) unter anderem den Zweck, die Menschen „zum Lachen zu bringen“. Den Ratschlag, dafür zu sorgen, legt Cervantes in dem Vorwort zu Don Quijote einem Freund in den Mund: „Strebet auch danach, dass beim Lesen Eurer Geschichte der Schwermütige zum Lachen erregt werde, der Lachlustige noch stärker auflache.“ Dazu Rabelais: „Und ich will euch lachen machen. – Lachen! das ist Menschenrecht!“

Dieses Ziel hofft man meist dadurch zu erreichen, dass man „komische“ Begebenheiten schildert. Das ist nicht einfach, denn es gibt keinen Konsens darüber, was man für „komisch“ zu halten habe. Abgesehen davon: Sind Printerzeugnisse, die sich dieses Ziel setzen, überhaupt noch zeitgemäß? Oder lacht der Mensch von heute lieber anders als mit einem Buch in der Hand? Auch die technische Entwicklung spielt da eine Rolle.

Vielleicht verspricht der Buchtitel zu viel: Lachen steht in der Literatur fast nie im Vordergrund. Die Sekundärliteratur einschließlich „Kindlers Neues Literatur Lexikon“ beweist das: In Kommentaren, Interpretationen, Rezensionen, die sich nicht von vornherein gezielt mit den Lachszenen befassen, ist vom Lachen oft schlechterdings keine Rede. Dessen sollte man sich, wenn man wie der Autor dieses Buchs oder andere zuvor nach Lachszenen förmlich fahndet, bewusst sein. Das Thema ist reizvoll, das darf aber nicht dazu führen, dass sich die Gewichte verschieben und dem Thema „Lachszenen in der Literatur“ eine unrealistische Bedeutung beigemessen wird.

Vorab ist noch zu bemerken, dass eine Liste von rund 100 Beispielen in den Augen eines Statistikers eine nur geringe Aussagekraft hat. Die Zahl der jährlich neu erscheinenden Bücher wird – je nach der Berechnungsmethode -unterschiedlich angegeben, aber die Schätzung von jährlich 80.000 dürfte ungefähr stimmen. Da stellt eine kleine Auswahl von rund 100 Büchern kein ausreichendes Panel dar, dennoch kann sie aber geeignet sein, Tendenzen aufzuzeigen.

Das Spektrum ist sehr breit, es werden auch Außenseiter berücksichtigt, die in der einschlägigen Literatur bisher nicht beachtet wurden, aber auch Derartiges gehört dazu.

Bad Neuenahr-Ahrweiler, im Mai 2018

Falko Ritter

Hinweise

Wer der Sache auf den Grund gehen will, benötigt die Volltexte. Die Beschaffung aus Buchhandlungen oder Bibliotheken ist mühsam und zeitaufwändig. Allerdings lässt einen das Internet in der Regel nicht im Stich: Fast alles ist auf einer der folgenden Seiten zu finden:

http://gutenberg.spiegel.de/

http://www.zeno.org

http://digi20.digitale-sammlungen.de

Die hier behandelten Literaturstellen sind kursiv wiedergegeben.

Da die einzelnen Werke meist in verschiedenen Ausgaben erschienen sind, werden bei den Zitaten nicht Seitenzahlen, sondern Kapitelüberschriften und Ähnliches genannt.

Ganz am Ende des Buches sind die Autoren der Werke alphabetisch aufgelistet, ggf. mit mehreren Fundstellen.

1 Theoretisches

1.1 Lachtheorien

Das Lachen wurde auch von Philosophen und Soziologen fast drei Jahrtausende lang beobachtet und kommentiert und hat deshalb einen theoretischen „Unterbau“, der sich hier nicht einmal komprimiert wiedergeben lässt. Die folgenden kurzen Auszüge können aber einen Eindruck davon vermitteln, mit welchen Fragen sich die Autoren auseinandergesetzt haben und welcher Terminologie sie sich dabei bedienen.

Was nun das Lächerliche betrifft ..., so ist bereits in der „Poetik“ dargelegt worden, wie viele Arten des Lächerlichen es gibt, von denen die eine sich für den freien Mann schickt, die andere dagegen nicht. Man mag also so auswählen, wie es zu einem jeden passt. Es steht aber die Ironie dem freien Manne eher zu Kopf als die Possenreißerei, denn (dabei) trägt er das Lächerliche zu seinem eigenen Vergnügen vor, der Possenreißer jedoch tut es zum Vergnügen anderer. (Aristoteles, Rhetorik, 1419b)

Es muss in allem, was ein lebhaftes, erschütterndes Lachen erregen soll, etwas Widersinniges sein (woran also der Verstand an sich kein Wohlgefallen finden kann). Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts. (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1793), § 54, Anmerkung)

Meiner im ersten Bande ausgeführten Erklärung zufolge ist der Ursprung des Lächerlichen allemal die paradoxe und daher unerwartete Subsumtion eines Gegenstandes unter einen ihm übrigens heterogenen Begriff, und bezeichnet demgemäß das Phänomen des Lachens allemal die plötzliche Wahrnehmung einer Inkongruenz zwischen einem solchen Begriff und dem durch denselben gedachten realen Gegenstand, also zwischen dem Abstrakten und dem Anschaulichen. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, Kapitel 8 – Zur Theorie des Lächerlichen (1892))

Beim Lachen sind also nach unserer Annahme die Bedingungen dafür gegeben, dass eine bisher zur Besetzung verwendete Summe psychischer Energie der freien Abfuhr unterliege, und da zwar nicht jedes Lachen, aber doch gewiss das Lachen über den Witz ein Anzeichen von Lust ist, werden wir geneigt sein, diese Lust auf die Aufhebung der bisherigen Besetzung zu beziehen. (Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (1905))

Das Lachen ist eine bestimmte soziale Geste, die eine bestimmte Art des Abweichens vom Lauf des Lebens und der Ereignisse sichtbar macht und gleichzeitig verurteilt. (Henri Bergson, Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen (1914))

Wo der Zyniker melancholisch-verächtlich lächelt, von der Höhe der Macht und ihrer Illusionslosigkeit herab, ist es für den Kyniker bezeichnend, so laut und ungeniert zu lachen, dass die feinen Leute den Kopf schütteln. Ihr Gelächter kommt aus den Eingeweiden, es ist animalisch fundiert und gibt sich hemmungslos. (Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft (1983), Zweiter Band, S. 275 ff.)

Gewiss enthält das Lachen in seinem Ursprung die Freude an einer Beute oder Speise, die einem als sicher erscheint. Ein Mensch, der fällt, erinnert an ein Tier, auf das man aus war und das man selber zu Fall gebracht hat. Jeder Sturz, der Lachen erregt, erinnert an die Hilflosigkeit des Gestürzten; man könnte es, wenn man wollte, als Beute behandeln. Man würde nicht lachen, wenn man in der Reihe der geschilderten Vorgänge weitergehen und sich‘s wirklich einverleiben würde. Man lacht, anstatt es zu essen. (Elias Canetti, Masse und Macht (1960))

Man sieht: Theorien über das Lachen haben eine andere Qualität als solche in den Naturwissenschaften. Sie lassen sich weder bestätigen (verifizieren) noch widerlegen (falsifizieren). Sie erfüllen also nicht die Voraussetzungen, die z. B. von Popper für Theorien grundsätzlich aufgestellt werden. Er sieht in der „Falsifizierbarkeit“ das „Kriterium des empirisch – wissenschaftlichen Charakters eines Theoriensystems“. (Vgl. Popper, S. 47 ff. und 211 ff.)

1.2 Zur Interpretation des Lachens

Oft stellt sich im realen Leben die Frage, wie ein Lachen zu verstehen ist. Das ist beim Lachen in der Literatur nicht anders. (Beispiele siehe unten 2.5.3.) Lachen, real und in der Literatur, ist der Interpretation grundsätzlich zugänglich, oft auch bedürftig. Manchmal gibt es separate Veröffentlichungen, die eine Deutung anbieten.

Stephanie Stadelbacher schreibt: „Lachen kann nicht immer so einfach gedeutet und bewertet werden wie es scheint, schließlich ist Lachen plural, vielfältig, mehrdeutig, zweischneidig, zwiespältig. Damit bleibt das ‚Lachen an sich‘ in gewisser Weise rätselhaft und kann immer nur im konkreten soziokulturellen sowie situativen Kontext verstanden werden.“ (Stadelbacher, S. 114)

1.2.1 Nutzen von Interpretationen in der Literatur

Welchen Nutzen haben Interpretationen für den Leser? Der Zugang zur Literatur gestaltet sich je nach den konkreten Interessen des Lesers sehr unterschiedlich: Das Interesse am literarischen Werk kann – unabhängig vom Niveau desselben – entweder oberflächlich sein oder tiefer gehen. Der nur oberflächlich (am „Plot“) Interessierte kauft ein Buch und liest es. Es gefällt ihm oder es gefällt ihm nicht. Er lobt das Buch und den Autor im Bekanntenkreis, kauft von demselben Autor erneut eines oder er unterlässt beides.

Bei tiefer gehendem Interesse befasst sich der Leser beispielsweise auch mit dem Klappentext und liest gegebenenfalls eine Rezension des Buches in seiner Tageszeitung. Dadurch bekommt die Lektüre für ihn ein wenig „Hintergrund“. Der Profi liest natürlich noch gründlicher. Der Schwerpunkt liegt für ihn in der „Sekundärliteratur“, also bei Texten über den Text. Das ist für das Verständnis nicht immer zwingend erforderlich, aber (vor allem bei „hermetischen“ Texten) doch eine Hilfe. Hier denkt man beispielsweise an die unten besprochenen Werke von Hesse, Kafka, Broch und Ransmayr.

Welchen Nutzen haben Interpretationen für den Leser, vor allem, wenn Deutungen desselben Werks inhaltlich differieren? Beispiele für Diskrepanzen der Interpretationen sind:

2.2.1 (6) James Krüss – Timm Thaler

2.5.1 (4) Georg Büchner – Lenz

2.8 (3) Heinrich Heine – Ein Weib

1.2.2 Vergleich: Interpretation auf dem Gebiet des Rechts

Ein Vergleich mit den Gegebenheiten der Interpretation in anderen Textwissenschaften bietet sich an, z. B. – der beruflichen Heimat des Autors entsprechend – in der Rechtswissenschaft. Hier ist die Situation ist eine ganz andere als bei der Literaturinterpretation:

In der Rechtswissenschaft und in der täglichen praktischen Rechtsanwendung entstehen auf zwei Ebenen Interpretationsnotwendigkeiten, nämlich einmal bei der Auslegung von Willenserklärungen, zum andern bei jener von Gesetzestexten. Bei einer „Willenserklärung“ (Vertragsangebot, Kündigung) muss von dem Erklärenden natürlich nicht die juristische Fachsprache benutzt werden. Deshalb wird es oft nicht sofort deutlich, was der Erklärende zum Ausdruck bringen wollte. Für diesen Fall hält das Gesetz Auslegungsregeln bereit:

§ 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB): „Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.“

§ 157 BGB: „Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.“

Auf einer anderen Ebene muss der Richter, der in einem Rechtsstreit zu einem Urteil kommen muss, wissen, wie eine bestimmte Formulierung des Gesetzes zu verstehen ist.

Hier ist die Situation für den Richter günstiger als bei der Literaturinterpretation: Für die Auslegung eines Gesetzestextes stehen die sogenannten Materialien zur Verfügung, das sind die das Gesetz vorbereitenden Drucksachen der gesetzgebenden Körperschaften (z. B. Bundestagsdrucksachen) einschließlich der Protokolle der Sitzungen der Ausschüsse und des Plenums. Außerdem gibt es „Kommentare“ aus der Feder von Rechtswissenschaftlern oder, im Fall der „Referentenkommentare“, der Mitarbeiter der für das Gesetz federführenden Ministerien. Das Rätsel, wie eine Gesetzesstelle zu verstehen ist, lässt sich also – entgegen einer weit verbreiteten Meinung – recht gut lösen. (Vgl. Larenz, Kapitel 4, Die Auslegung der Gesetze, S. 133 ff.)

Im realen Leben haben wir für die Deutung des Lachens eines Menschen, den wir lange und gut kennen, eine ungleich bessere Grundlage als bei einer Romanperson: Wir kennen seine Mimik und seine Körpersprache, der Anlass des Lachens kann zudem noch hinterfragt werden; es kann auch u.U. – von ihm selbst oder Beteiligten – im Nachhinein noch erläutert werden, wie ein bestimmtes Lachen verstanden werden kann.

Das alles fehlt im Romantext fast ganz. Grundlage der Interpretation können nur die verhältnismäßig wenigen Sätze sein, die der Autor über diese Person niedergeschrieben hat. Es sind über die Bedeutung eines Lachens also nur Mutmaßungen möglich, die mehr oder weniger plausibel, aber auch willkürlich und beliebig sein können.

In der Literatur gibt es den Text, sonst zunächst nichts. Ihn gehen wir an, vergleichend mit der sehr individuellen „Lacherfahrung“, sowohl der eigenen als auch der bei anderen beobachteten. Die Handelnden sind Kunstfiguren, sie leben nur in den sie betreffenden Passagen des Werks. Wir kennen von ihnen nur die wenigen (künstlichen) Situationen, die uns der Autor schildert. Was aus ihnen nicht erschlossen werden kann, ist reine Spekulation. Spekulationen aber, die sich nicht auf den Text gründen, sind fehl am Platze. Lachen lässt sich aus „fiction“ heraus nicht so interpretieren wie es das persönliche Umfeld, der Psychologe, Psychiater, Psychotherapeut mit dem real lebenden Menschen tun kann.

Es ist ähnlich wie beim „offenen Ende“ im Film: Es ist müßig darüber nachzudenken, wie die Handlung wohl „zu Ende gegangen“ ist. Der Autor hat die Schilderung der „fiction“ an einer bestimmten Stelle abgebrochen. Es gibt kein „Ende“, das uns der Autor lediglich verschwiegen hätte. (Christen, S. 14)

In Ausnahmefällen hat der Autor selbst das Werk schriftlich oder mündlich interpretiert, z. B. im Rahmen eines Briefwechsels (Beispiel: Marcel Proust, Briefe zum Werk) oder in einem Interview.

Es kann auch außerhalb des Werkes Fakten geben, deren Kenntnis für das Verständnis des Werkes hilfreich ist. Das gilt für historische Gegebenheiten oder auch den „Zeitgeist“ der betreffenden Ära, in der das Werk entstanden ist. Es steht also nicht nichts zur Verfügung, aber doch weniger als im wirklichen Leben. Vgl. zur Problematik der Literaturinterpretation: Vogt, S. 45 ff.

1.2.3 Skepsis gegenüber dem Interpretieren

Gerade Schriftsteller stehen dem Interpretationswesen sehr skeptisch gegenüber:

Theodor W. Adorno: „Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden.“ (Adorno (b), S. 255 f.)

Samuel Beckett: „No symbols where none intended“. Die (schlechte) deutsche Übersetzung lautet: „Weh dem, der Symbole sieht.“ Besser wäre vielleicht: „Es muss nicht mit allem etwas gemeint sein“. (Beckett, S. 271, Addenda, letzter Satz)

Luis Bunuel schreibt in seinen Erinnerungen Mein letzter Seufzer über seinen Film „El Angel Exterminador“ („Der Würgeengel“): „Die Hausherrin hat auch noch einen anderen Gag mit einem Bären und zwei Schafen vorbereitet, über den man aber nichts Näheres erfährt – was einige Kritiker, die überall Symbole entdecken wollten, nicht davon abgehalten hat, in dem Bären den Bolschewismus zu sehen, der der von ihren Widersprüchen gelähmten kapitalistischen Gesellschaft auflauert.“ (Bunuel, S. 230)

„Ich verstehe nicht, warum manche Leute sich darauf versteifen, Bildern, die ich willkürlich erfunden habe, eine rationale Erklärung geben zu wollen. In El Angel Exterminador opfert Nobile das letzte Schaf; vorher nimmt er den Verband von seiner Stirn und umwickelt damit die Augen des Tieres. Darin liegt keinerlei Symbolik, selbst wenn viele in dieser Szene die ’Darbringung des Sühneopfers’ sehen wollen.“ (Bunuel, zitiert nach Kreimeier aaO)

Hans Magnus Enzensberger: „ ... die ’idée fixe von der ‚richtigen Interpretation‘. An dieser Wahnvorstellung wird mit unbegreiflicher Hartnäckigkeit festgehalten, obwohl ihre logische Inkonsistenz und ihre empirische Unhaltbarkeit auf der Hand liegen. Wenn zehn Leute einen literarischen Text lesen, kommt es zu zehn verschiedenen Lektüren. Das weiß doch jeder. In den Akt des Lesens gehen zahllose Faktoren ein, die vollkommen unkontrollierbar sind: die soziale und psychische Geschichte des Lesers, seine Erwartungen und Interessen, seine augenblickliche Verfassung, die Situation, in der er liest – Faktoren, die nicht nur absolut legitim und daher ernst zu nehmen, sondern die überhaupt die Voraussetzung dafür sind, dass so etwas wie Lektüre zustande kommen kann. Das Resultat ist mithin durch den Text nicht determiniert und nicht determinierbar. Der Leser hat in diesem Sinn immer recht, und es kann ihm niemand die Freiheit nehmen, von einem Text Gebrauch zu machen, der ihm passt.“ (Enzensberger (b), S. 33)

Schließlich bestätigt auch das kurze Stück Ein eigenwilliger Autor aus der Sammlung Der Stimmenimitator von Thomas Bernhard [2.3.1 (4)] eine Erfahrung, die jeder Theater-und Kinobesucher macht: Die Einschätzung, was geeignet ist, belacht zu werden und was nicht, ist nicht bei allen Besuchern der Vorstellung dieselbe, mag auch die Reaktion des Bernhard‘schen Autors etwas übertrieben sein.

Umberto Eco: „Ein Erzähler darf das eigene Werk nicht interpretieren, andernfalls hätte er keinen Roman geschrieben, denn ein Roman ist eine Maschine zur Erzeugung von Interpretationen.“ (Eco, S. 9)

Susan Sontag beschreibt eine „werkkonservierende“ Methode der Interpretation: „Die Interpretation ist eine radikale Taktik der Konservierung eines alten Textes, der für zu kostbar gehalten wird, als dass er einfach abgelehnt werden könnte, und der deshalb neu aufpoliert wird. Der Text wird durch den Interpreten nicht wirklich ausgelöscht oder neu geschrieben, wohl aber verändert. Freilich kann er das nicht offen zugeben. Er gibt vor, ihn nur verständlich zu machen, indem er seine wahre Bedeutung aufdeckt. Bis zu welchem Grade die Interpreten den Text auch ändern...: sie müssen den Anspruch erheben, einen Sinn daraus abzulesen, der bereits vorgegeben ist.“ (Sontag (a), S. 14)

1.2.4 Leserhorizont und Leserinteresse

Schließlich ist auch zu bedenken: Für eine der positiven Folgen der Erfindung des Buchdrucks wird es gemeinhin gehalten, dass grundsätzlich jedermann in die Lage versetzt wurde, Bücher zu kaufen und zu lesen. Nun ist es ja durchaus in Ordnung, wenn ein Buch bestimmte intellektuelle Anforderungen stellt, die unterschiedlich hoch sein können. Ob man aber den Leser nicht manchmal überfordert, fragen sich die Autoren gelegentlich selbst. (Vgl. Brochs Kommentare zu „Der Tod des Vergil“, unten 2.4.3)

Auch Cervantes empfiehlt in seiner Vorrede zu Don Quijote den Schriftstellern, darauf zu achten, dass der „Mann von einfachem Verstande nicht Überdruss empfinde“. (Cervantes, Vorrede)

Es sollte aber nicht erwartet werden, dass der Leser, der ein Buch in der Hoffnung liest, es verstehen zu können, insgesamt über so breite und tiefe Literaturkenntnisse verfügt, dass er beispielsweise befähigt ist, mit Hilfe von Quervergleichen mit anderen Büchern zu einer (angeblich) richtigen Auslegung zu kommen. Vielleicht erwartet Stefan Busch diesbezüglich zu viel: Im Zusammenhang mit der Interpretation von John von Düffels Vom Wasser [2.4.1 (4)] denkt er darüber nach, ob der Gleichklang der „Lach-Stelle“ mit einer anderen eines anderen Autors, nämlich in Büchners Lenz[2.5.1 (4)] vom „späteren“ Autor von Düffel „intendiert“ wurde und was sich ggf. aus dieser Erkenntnis ergibt. Auf diese Weise könnte Buchlektüre zu einem Reservat für einen esoterischen Zirkel von Literaturwissenschaftlern werden. Das kann nicht der Sinn der Sache sein. (Vgl. Busch, S. 186)

Wobei noch zu bemerken wäre: Auch die Sekundärliteratur kann und soll beim Bücherleser grundsätzlich auf Interesse stoßen. Das wäre freilich in noch höherem Maße der Fall, würde man berücksichtigen, was Rüdiger Zymner anlässlich des Todes von Robert Gernhardt in einer Rezension des Gernhardtschen Versuchs einer Annäherung an eine Feldtheorie der Komik (1988) schreibt:

„Gernhardt tummelt sich hier verblüffend leichtfüßig und überraschend selbstständig in einem Gebiet, in dem man eigentlich seit Aristoteles nicht mehr viel Neues sagen kann – und wenn dies versucht wurde, so doch vielfach in einer derart gewunden-getragenen Art, in einem derart großen Abstand von Theorie und Gegenstand, ja in derart abschreckender Seriosität, dass die vergnügliche Praxis stets erheblich verlockender blieb als die steife Theorie. Anders nun Gernhardt! (Zymner aaO)

Gelegentlich nimmt das Interpretieren sogar nahezu skurrile Formen an: Die Sekundärliteratur über die Figur des Odradek in Kafkas Sorge des Hausvaters (1 ½ Druckseiten, knapp 3.000 Zeichen) hat einen sehr beeindruckenden Umfang. (Vgl. hierzu unten 2.5.3 (5) Franz Kafka – Die Sorge des Hausvaters)

1.2.5 Fazit

Angesichts dieses Befundes kann es als Ergebnis von Interpretationsversuchen im günstigen Fall nur halbwegs plausible Erklärungsmodelle geben. Das muss für den Leser kein Nachteil sein: Jeder hat sein eigenes Leseerlebnis. Interpretationen sind weder beweisbar noch widerlegbar.

Man muss es auch hinnehmen, wenn nach allen Versuchen der Interpretation Unklarheiten verbleiben. Tina-Karen Pusse hat Sympathie für eine „Lektürehaltung, die bestrebt ist, den Raum möglicher Deutungen möglichst lange offen zu halten und sich dabei nicht vor der Produktion von Aporien fürchtet, sie sogar als Sinneffekt des Textes fruchtbar zu machen bereit ist.“ (Pusse, S. 10 Fn. 8)